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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Landlust auf Russisch

    Landlust auf Russisch

    Öko und Abgeschiedenheit, das gehört für sie zusammen, wobei meist auch eine Prise Esoterik dazukommt: Die ersten sogenannten Ökodörfer entstanden in Russland in den 1990er Jahren. Oftmals versuchten Menschen aus den Städten dort ein Leben abseits der offiziellen Strukturen.

    Soziologen erklären den damaligen Boom damit, dass nach der Perestroika die alten Sicherheiten fehlten, gleichzeitig habe es vermehrt Nachrichten über Kommunen und alternative Lebensformen aus dem Ausland gegeben. Auch der Zugang zur einheimischen esoterischen Literatur sei nun viel einfacher gewesen. Eine zweite Welle gab es in den 2000er Jahren, inspiriert durch die esoterische Romanfigur Anastasia.

    Russlands Ökodörfer bestehen bis heute – und es gibt auch Neugründungen. Olga Dimitrijewa hat für Zapovednik einige besucht. Und traf dabei nicht nur auf Anastasianer und Eskapisten.

    Zuhause auf dem Land: Die Geschichte der Taiga-Bewohnerin Anastasia inspirierte die Ökodorf-Bewegung – Fotos © Alexandra Karelina/Zapovednik
    Zuhause auf dem Land: Die Geschichte der Taiga-Bewohnerin Anastasia inspirierte die Ökodorf-Bewegung – Fotos © Alexandra Karelina/Zapovednik

    Die 1970er Jahre markieren in der UdSSR eine Zeit des Stillstands. Der 24-jährige Wladimir Pusakow, zukünftiger Begründer eines bekannten russischen Ökodorfs, siedelt in dieser Zeit aus der Ukrainischen Sowjetrepublik nach Nowosibirsk über. Er heiratet und heißt trotz späterer Scheidung von nun an Megre. 20 Jahre später verdient Megre sein Geld mit der Organisation von Flusskreuzfahrten auf dem Ob. Während einer seiner Reisen begegnet er in der Taiga der Einsiedlerin Anastasia. Sein erstes Buch über sie erscheint 1996.

    Die Handlung ist schnell erzählt: Anastasia, eine Frau von unglaublicher Schönheit, besitzt okkulte und paranormale Fähigkeiten, lebt alleine in der sibirischen Taiga, kommt ohne Heim und Kleidung aus, lehnt alle zivilisatorischen Errungenschaften ab, ernährt sich von Wurzeln und Beeren, die Eichhörnchen für sie sammeln, ist per du mit Bären und Wölfen, und wenn sie nicht gerade mit der Natur kommuniziert, dann bringt sie den Datschniki den richtigen Umgang mit Pflanzen bei (indem sie ihre Ratschläge per Telepathie übermittelt).

    Megres Gegner haben mehr als einmal versucht, Anastasia als eine fiktive Figur zu entlarven, auch der Autor selbst hat das thematisiert. Aber die Fans der Einsiedlerin schreckt das nicht. „Ich existiere für die, für die ich existiere“, so lautet der Slogan auf dem Umschlag des ersten Bandes der Anastasia-Serie Die klingenden Zedern. Die Geschichte der Taiga-Bewohnerin inspiriert die zweite Welle der Ökodorf-Bewegung in Russland Anfang der 2000er Jahre.

    Das Ökodorf als „ein Versuch, das Leben anders zu organisieren“
    Das Ökodorf als „ein Versuch, das Leben anders zu organisieren“

    Wie viele Ökodörfer es in Russland heute gibt, ist nicht bekannt. 2012 schätzte ZIRKON die Zahl auf circa 200, 60 Prozent davon zählen die Forscher zu den sogenannten Familienlandsitzen der Anastasianer [Posselenija rodowych pomesti – PRP]. Vier Jahre später spricht die Stiftung Anastasia von 364 existierenden Familienlandsitzen unterschiedlicher Größe. Die Internetseite poselenia.ru zählt 449 Dörfer, die meisten davon ebenfalls Familienlandsitze, wobei diese Statistik auch Siedlungen im Ausland einschließt. Demnach lebten im vergangenen Jahr 5000 Menschen ständig, auch im Winter, in Ökodörfern.

    Neben den Anastasianern nennt die ZIRKON-Studie ein ganzes Spektrum von alternativen Siedlungen, die sich als Ökodörfer ohne spezifische Glaubensausrichtung beschreiben lassen. Diese Siedlungen wurden zum einen gegründet, um einen ökologisch reinen Lebensraum zu schaffen, zum anderen sind sie Ideengemeinschaften (das heißt, Gemeinschaften, die bewusst auf ein enges Zusammenwirken ausgelegt sind).

    Von der Stadt aufs Feld

    Ziel des ZIRKON-Projekts ist es, alle bestehenden Formen von Ökodörfern zu beschreiben. Artemi Posanenko, Analytiker vom Projekt- und Lehrlabor der Stadtverwaltung an der Moskauer Higher School of Economics (HSE), hat sich dagegen vor allem mit den Familienlandsitzen beschäftigt. „Anfangs interessierte mich das Thema der räumlichen Isolation. Ich war schon immer von der Einöde fasziniert, habe mich immer gern in die entlegensten Winkel verdrückt.“

    Artemi Posanenko und ich unterhalten uns mitten im Zentrum von Moskau, in der Wyschka [wie die Hochschule inoffiziell genannt wird – dek]. „Dann war ich plötzlich mit Selbstisolation konfrontiert. Und wollte Gemeinschaften, die unfreiwillig von der Außenwelt abgeschnitten wurden, mit solchen vergleichen, die die Isolation bewusst anstreben.“

    Der Soziologe sagt, die Menschen, die er beobachtet, kämen aus der Stadt, seien verhältnismäßig jung (im Schnitt 35 bis 45), hätten studiert und nicht selten Erfahrung in der Unternehmensführung. Allerdings, so fügt er hinzu, hätten die Umsiedler meist keinen geisteswissenschaftlichen Hintergrund, sondern einen technischen oder naturwissenschaftlichen. Damit ließe sich auch ihre Neigung zu esoterischer Literatur erklären, die „Antworten auf alle Fragen bietet“. Bereits dieses grobe Porträt der neuen Dörfler lässt erahnen, dass sie an das Leben auf dem Land zunächst eher wenig angepasst sind.

    Einer der Schlüsselgedanken in Megres Anastasia-Büchern ist die Idee der Selbstversorgung. „Auf dem Land angekommen, säen die Städter das Saatgut auf ihrem Grundstück so aus, wie Anastasia es in Megres Büchern lehrt: Sie behalten es zunächst eine Weile im Mund, setzen es in die ungepflügte Erde und kümmern sich nicht weiter um die Pflanzen“, heißt es im Bericht des ZIRKON. „Und dann stellen sie fest, dass die Saat nicht aufgeht.“

    Sie säen das Saatgut so aus, wie Anastasia es in Megres Büchern lehrt. Und dann stellen sie fest, dass die Saat nicht aufgeht

    Enttäuscht von Anastasias Ratschlägen, wenden sich die Umsiedler anderen alternativen Formen der Bewirtschaftung zu. Zum Beispiel der Permakultur, einem Landwirtschaftssystem, das auf den Wechselwirkungen der natürlichen Ökosysteme beruht.

    „Es gibt sehr viele, die damit experimentieren, aber nennenswerte Ergebnisse erzielen sie nicht“, berichtet Posanenko. „Obwohl manche eine ganz anständige Ernte haben. Aber während sich in den ländlichen Gebieten die echten Dörfler, nicht die Zugezogenen, mehr oder weniger das ganze Jahr über mit ihren eigenen Garten-Erträgen versorgen können, sind in den neuen Dörfern meist alle Lebensmittel bis zum Jahresende aufgebraucht und müssen dann eingekauft werden.“

    Zwischen Stadt und Land

    Stepan lebt auf dem Familienlandsitz Shiwoi Rodnik [dt. Lebendiger Quell] im Bezirk Abinsk der Region Krasnodar. Die Geschichte seiner Umsiedlung ist recht typisch: junger Fachmann, Ingenieur, Veganer. Mit etwa 25 Jahren begannen seine Frau und er, sich Gedanken über Kinder und Gesundheit zu machen. Sie wollten aus der Stadt raus, aber „auf dem Land gibts ja auch solche und solche – die einen trinken, die anderen sonst was. Ob das die richtige Umgebung für Kinder ist …“ Schließlich fanden sie eine Siedlung, kauften ein Haus von einer Familie, die mit den Strapazen des Landlebens nicht zurechtkam, und zogen um.

    Die Geschichte von Stepans Umsiedlung ist recht typisch: junger Fachmann, Ingenieur, Veganer

    Jetzt hat Stepan zwei Kinder. Seine Frau und er kümmern sich um ihr Grundstück und führen ein kleines Unternehmen: „Honig und noch ein paar ökologisch produzierte Lebensmittel. Gewürze – einen Teil bauen wir selbst an, einen Teil kaufen wir ein. Manchmal stellen wir eigene Gewürzmischungen her, sowas wie Chmeli-Suneli oder Curry. Weil das Industrie-Zeug aus minderwertigem Müll gemacht wird. Das hat nicht das Aroma, das es haben sollte.“

    Den Honig und die Gewürze vertreibt Stepan über eine Gruppe in VKontakte. Viele Kunden hat er nicht, aber dafür sind es Stammkunden, die große Chargen einkaufen. [ZIRKON-Forscherin] Darja Malzewa räumt ein, dass es bei Weitem nicht allen gelingt, ein lokales Business aufzubauen, oder aber es läuft nicht besonders erfolgreich.

    Stepan lebt auf dem Familienlandsitz Shiwoi Rodnik in der Region Krasnodar
    Stepan lebt auf dem Familienlandsitz Shiwoi Rodnik in der Region Krasnodar

    Artemi Posanenko erklärt, wovon die Bewohner der Familienlandsitze meistens leben: Es gibt Privatiers, die Wohnungen in der Stadt vermieten, Saisonarbeiter, ein paar Rentner. Unternehmer, die ein Geschäft unabhängig von der Siedlung haben. Lohnarbeiter, die in Nachbarorte pendeln. Manche leben von Erspartem, das sie vor der Umsiedlung aufs Land auf die Seite gelegt haben. „Die Privatiers und Unternehmer sind die größte Gruppe“, sagt Posanenko, „Solche, die es schaffen, dort Geld zu verdienen, wo sie leben, wenigstens ansatzweise, gibt es bisher nur wenige.“

    Innerhalb der Siedlung haben die Menschen vielleicht ein kleines Sägewerk, eine Schmiede, stellen Bioprodukte her. Manche versuchen, den Ökotourismus für die Städter anzukurbeln.

    Eine relativ weit verbreitete Art, Geld zu verdienen, sind Seminare auf dem Land – für manche Siedler besteht also die Haupteinnahmequelle darin, Vorträge darüber zu halten, wie man ein Ökodorf aufbaut. „Ist doch witzig – sie erzählen den Menschen: Ihr werdet dort damit Geld verdienen, dass ihr erzählt, wie ihr damit Geld verdient“, sagt Posanenko.

    Haupteinnahmequelle mancher Siedler ist es, Vorträge darüber zu halten, wie man ein Ökodorf aufbaut. Sie erzählen den Menschen: Ihr werdet damit Geld verdienen, dass ihr erzählt, wie ihr damit Geld verdient

    Dorfbewohner Stepan gibt zu, dass er sein Geld vor der Umsiedlung verdient habe – vom „Kohlescheffeln“ hat er die Nase voll.

    „Wenn jemand aus der Stadt in eine Lehmhütte mitten auf freiem Feld zieht, dann macht das natürlich etwas mit seinem sozialen Status. Aber sie haben nicht das Gefühl, etwas zu verlieren, sondern etwas dazuzugewinnen“, sagt Darja Malzewa. „Doch man muss auch bedenken, dass die Menschen dazu neigen, ihre Entscheidungen zu rechtfertigen. Zum Beispiel hörte ich einmal von zwei Bewohnern, dass sie ein Geschäft hatten, und alles sei gut gewesen, aber irgendwann hätten sie einfach keine Lust mehr gehabt. Dann kam die Tochter zu Besuch und erzählte mir, das Geschäft sei nicht gut gelaufen, es ging bergab, und deshalb seien sie weggegangen.“

    Partei der Abschotter

    Eines der Merkmale, das die Ökodörfer von anderen Ortschaften in Russland unterscheidet, ist die geringe Einbindung in offizielle Strukturen. Ursprünglich waren die meisten Ökodörfer als ein Raum angelegt, der außerhalb der staatlichen Einflusssphären existiert. Als ZIRKON 2011 seine Studie zur Ökodorfbewegung plante, sahen die Wissenschaftler in dem Phänomen zunächst eine Form von Eskapismus. Doch tatsächlich können und wollen sich die neuen Dörfler gar nicht immer von der Gesellschaft abschotten.

    Wir hatten angenommen, diese Menschen seien auf Isolation aus. Aber als wir dann zu forschen begannen, wurde deutlich, dass es einfach ein Versuch ist, das Leben anders zu organisieren

    „Manche schließen sich nicht ans Stromnetz an, sondern stellen Solarbatterien auf. Schulen sollen aufgebaut werden, damit die Kinder nicht mit dem offiziellen Bildungssystem in Berührung kommen“, sagt Artemi Posanenko. Damit sind die örtlichen Behörden nicht immer einverstanden. Noch weniger gefällt ihnen die Zweckentfremdung der Flächen. Für die Siedlungen wird Boden erworben oder gepachtet, der eigentlich für die landwirtschaftliche Nutzung vorgesehen ist – er ist am günstigsten zu kaufen und am niedrigsten besteuert, und offiziell gilt er nicht als Bauland.

    Doch der Kontakt mit staatlichen Strukturen geht nicht immer nur von den Behörden aus. So gründete eine Gruppe von Familienlandsitz-Bewohnern eine eigene politische Partei.

    „Es sieht völlig anders aus als ein normales Dorf – überall seltsame Bauten“
    „Es sieht völlig anders aus als ein normales Dorf – überall seltsame Bauten“

    „Die Rodnaja Partija ist eine beim Justizministerium eingetragene Partei“, sagt Posanenko. „Das sorgt für große Konflikte innerhalb der Siedlungen, denn sie bleiben nicht einfach nur im System (obwohl das für sie so ein Schimpfwort ist), sondern klinken sich auch noch aktiv ins politische System ein. Manche werben eifrig: Kommt, tretet ein, zahlt Beiträge. Die anderen finden das ganz schlimm.“

    „Anfangs trug unsere Studie den Titel Ökodörfer als Form der Binnen-Emigration“, sagt Darja Malzewa. „Das heißt, wir hatten angenommen, diese Menschen seien auf Isolation aus. Aber als wir dann zu forschen begannen, wurde deutlich, dass das kein ‚Weggang‘, sondern ein ‚Übergang‘ hin zu einer anderen Daseinsform ist. Einfach ein Versuch, das Leben anders zu organisieren.“

    Das neue Dorf

    Das Ökodorf Kowtscheg [dt. Arche] wurde Anfang der 2000er Jahre auf Brachland erbaut. Dann brauchten sie sieben Jahre, um „sich ins System einzugliedern“, und 2009 erhielt Kowtscheg den offiziellen Status eines Dorfes. Aber, so Artemi Posanenko, ein gewöhnliches Dorf ist Kowtscheg trotzdem nicht geworden. Artemi zeigt mir Satellitenansichten der Siedlung: „Es sieht völlig anders aus als ein normales Dorf. Da, überall seltsame Bauten, verstreut in wuchernden Feldern. Ganz unverwechselbar.“

    Sie haben ihre eigene Weltsicht, eine eigene Schule. Formal ist es ein Dorf, aber ansonsten hat es nichts mit einem gewöhnlichen Dorf zu tun

    Posanenko betont, dass es nicht nur optische Unterschiede gibt: „Sie haben ihre eigene Weltsicht, eine eigene Schule, sie versuchen die Kinder zu Hause zu erziehen, unabhängig vom offiziellen Bildungssystem. Es gibt kollektive Veranstaltungen. Forstschutz. Tage der offenen Tür, Vorträge, Workshops, Feste. Sie unterscheiden sich im Lebensstil, im Denken, in der Bevölkerungszusammensetzung und demografischen Struktur grundlegend von anderen Dörfern. Formal ist es ein Dorf, aber ansonsten hat es nichts mit einem gewöhnlichen Dorf zu tun.“

    Betrachtet man die Ökodörfer als eine neue Gemeindeform, so sehen die Forscher ihre Zukunft in Russland weniger optimistisch. Nach Darja Malzewas Ansicht hängt alles davon ab, inwieweit sie bereit sein werden, auch Technik einzusetzen. „Wenn sie auf dem Stand des Archaischen stehenbleiben, verlieren sie ihre Anhänger, gewinnen keine neuen hinzu und erfahren keine Verbreitung.“

    Artemi Posanenko setzt, was die Zukunft der Ökodörfer angeht, den Akzent woanders: „Der Status, unter dem die landwirtschaftlichen Flächen bewohnt werden, ist ziemlich brüchig. Es kann jeden Moment passieren, dass sich jemand mit mehr Einfluss für dieses Land interessiert, und dann werden die Behörden Hebel finden, um die neuen Siedler zu vertreiben. Deshalb braucht es die Institutionalisierung.“

    Es kann jeden Moment passieren, dass sich jemand mit mehr Einfluss für dieses Land interessiert, und dann werden die Behörden Hebel finden, um die neuen Siedler zu vertreiben

    Die Alternativen: Entweder man strebt den Status einer Ortschaft an, wie im Fall von Kowtscheg, oder man erreicht die Verabschiedung eines Ökodorf-Gesetzes. Ein dritter Weg, den die Forscher in der Praxis bereits beobachtet haben – die Verwandlung des Ökodorfs in eine Datschensiedlung – bedeutet faktisch das Ende des Ökodorfs in seinem ursprünglichen Sinn.

    Es gibt nicht sehr viele Möglichkeiten, außerhalb des Staates zu leben: „Wenn man sich in der Taiga ansiedelt, wo es kein Öl gibt, keine Durchfahrtsstraßen und so weiter, wird sich vermutlich niemand für dieses Land interessieren, und man kann dort in aller Ruhe sein Einsiedlerleben leben. Zum Beispiel eine Siedlung im Gebiet Tscheljabinsk, in der ich war – die einzige wirklich räumlich isolierte.“ Gleichzeitig schließen die Forscher nicht aus, dass es Dörfer gibt, die die Idee der Abschottung verwirklicht und sich nicht auf den einschlägigen Internetseiten registriert haben.

    Ökodorf Shiwoi Rodnik – die Ideologie tritt oft zurück, sobald es darum geht, praktische Probleme zu lösen
    Ökodorf Shiwoi Rodnik – die Ideologie tritt oft zurück, sobald es darum geht, praktische Probleme zu lösen

    „Wenn man sie lässt, ist das für manche ein Weg. Natürlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass er zum Mainstream wird und sich eine neue Kultur daraus entwickelt“, resümiert Posanenko. „Aber ich glaube nicht, dass diese Dörfer verschwinden werden. Es gab eine Zeit, da verdoppelte sich die Zahl der Siedler laut offiziellen Angaben einmal in drei Jahren. Dieses Tempo wird zurückgehen. Aber ich glaube nicht, dass die Spitze schon erreicht ist. Ich denke, das Phänomen wird weiter wachsen und gesellschaftlich sichtbar werden. Man wird sagen: Ja, in Russland gibt es diese Form der ländlichen Siedlungen.“

    Die Ideologie, die ursprünglich eine große Rolle im Leben der Ökodörfler eingenommen hatte, tritt oft zurück, sobald es darum geht, praktische Probleme zu lösen. Doch der Wunsch nach dem Landleben unter Gleichgesinnten bleibt: „Ich kann nicht sagen, dass ich ein Anastasianer bin oder so etwas“, sagt Stepan. „Die Zeit, als ich auf der Suche nach mir selbst war, ist eigentlich vorbei. Wir haben uns gefunden.“

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  • „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil II

    „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil II

    „Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen“, erklärt Boris Kolonizki, renommierter Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg, über die dramatischen Ereignisse vor 100 Jahren im damaligen Petrograd.

    Im zweiten Teil des Longread-Interviews, das The Village zum Jahr 1917 mit ihm geführt hat, hinterfragt er die Bedeutung zentraler Personen.

    Welche Rolle spielte der Zar selbst bei seinem Sturz in der Februarrevolution? Welche politischen Kräfte rangen danach um die Macht, wie bedeutend war Lenin? Und warum drohte abermals ein politischer Umbruch?

    V. Zur Rolle Nikolaus II.

    „Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen.“ Zar Nikolaus in der sibirischen Verbannung, nach seiner Abdankung / Foto © Library of Congress
    „Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen.“ Zar Nikolaus in der sibirischen Verbannung, nach seiner Abdankung / Foto © Library of Congress

    Alexey Pavperov: Die gängige Meinung ist, dass Zar Nikolaus II. die Hauptschuld an der Februarrevolution trägt. Gerade seine Inkompetenz, sein Konservatismus, seine Fehler und der katastrophale Mangel an Respekt gegenüber dem kaiserlichen Thron hätten die Revolution erst ermöglicht.

    Boris Kolonizki: Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen. Andererseits, wie ich schon sagte, in den Jahren des Ersten Weltkriegs steckten alle beteiligten Länder in einer sehr schwierigen Lage. Die Lage Russlands kann man allerdings als besonders schwierig bezeichnen. Objektiv gesehen stellte das Land damals die größte Armee der Welt, ohne dabei der fortschrittlichste, führende Staat zu sein. Dafür war eine gigantische Mobilisierung nötig.

    Eine Frontlinie aufzubauen, das ist eine ingenieurtechnische Mammutaufgabe, vergleichbar mit dem Bau der Sibirischen Eisenbahn, eine riesige nationale Baustelle. Eine Zehn-Millionen-Mann-Armee musste versorgt werden: Verlegung, Waffen, Nahrung und medizinische Versorgung, Abtransport der Verletzten. Selbst einem erstklassigen Politiker hätte das große Probleme bereitet.

    Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form.

    Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form

    Nikolaus II. hat haufenweise Fehler gemacht. Zum Beispiel personelle: Manche Leute waren, wie die Februarrevolution gezeigt hat, eindeutige Fehlbesetzungen, was zu unprofessionellem Verhalten oder sogar zu Illoyalität gegenüber dem Zaren geführt hat.

    Schwere Fehler machte er im Kampf um die öffentliche Meinung. Heute wird viel zu viel über die Ermordung Rasputins gesprochen, wichtig ist jedoch nicht der Mord an sich, sondern wie das Regime darauf reagierte. Da ist ein Mensch getötet worden, aber es wird nicht ermittelt. Was für eine Regierung ist das bitte?

    In Ewa Bérards Buch Pétersbourg impérial [dt. Das imperiale Petersburgdek] wird die These aufgestellt, der Zar hätte Petersburg nicht besonders gemocht und den Großteil seiner Zeit in Zarskoje Selo verbracht. Er hätte die öffentliche Meinung ignoriert und sich während offizieller Veranstaltungen zurückgezogen. Der Zar soll die Stadtbevölkerung, die Bourgeoisie, missachtet und gefürchtet haben.

    Könnte man sagen, dass das fehlende Verständnis zwischen der Stadt und dem Zaren eine bedeutende Rolle während der Revolution gespielt hat?

    Kriegsminister Alexander Kerenski. „Als der Zar Kerenski kennenlernte, sagte er: ‚Wie schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.‘ Aber wer hatte sie denn daran gehindert?“ / Foto © Kommersant-Archiv

    Es gab ein Petersburg, das er nicht mochte. Und es gab eins, das er durchaus mochte. Die Paraden auf dem Marsfeld, und die Gesellschaft der Gardeoffiziere, die liebte er zweifelsohne. Petersburg war zu diesem Zeitpunkt eine sehr militärische Stadt.

    Manchmal gelangen ihm auch kluge Schachzüge, da nutzte er die politische Infrastruktur der Stadt. Im Februar 1916 besuchte er die Staatsduma und sorgte damit für einen Medienhype, der wochenlang anhielt.

    Ich denke, es hat nicht so sehr mit der Stadt zu tun, sondern vielmehr mit seiner Einstellung zu Russland insgesamt, zu dessen Geschichte, dessen sozialer Struktur. Er liebte ein imaginäres Russland der Bauern, die er den gebildeten, vom westlichen Einfluss verdorbenen Klassen gegenüberstellte.

    Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an

    Er und – in noch größerem Maße – Zarin Alexandra Fjodorowna glaubten an die Existenz eines ungemein religiösen Bauernvolks als Träger von höchsten moralischen Werten und monarchistischer Gesinnung, und betrachteten alle anderen als eine Art Sperre, die nur stört.

    Das Volk versteht den Zaren, und das wird Russland auf ewig retten – so sah das imaginäre Land aus, das Nikolaus in Wirklichkeit nicht besonders gut verstand.

    Aus dem Schriftwechsel zwischen dem Zaren und seiner Gattin geht ihr Verhältnis zum Geschehen deutlich hervor: Petersburg und Moskau lärmen, sind voller Klatsch und Tratsch, aber diese beiden Städte sind nur zwei kleine Punkte auf der riesigen Landkarte Russlands.

    Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an.

    Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. [Die Dichterin Sinaida – dek] Hippius bezeichnete ihn als „Charmeur“: Er konnte die Menschen in seinen Bann ziehen. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme – dem eines zurückhaltenden, durchaus intelligenten Menschen. Er konnte mit seinem Charme bestechen.

    Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme

    Dabei zeichnete ihn eine gewisse Unbeständigkeit aus. Manchmal ließ er wichtige Mitarbeiter gehen, ohne ihnen noch ein Hintertürchen offen zu lassen. Man muss jedoch die Kunst beherrschen, sich von jemandem zu verabschieden und ihn sich zugleich für den Notfall noch warmzuhalten. Außerdem verkannte er mitunter den Einfluss der öffentlichen Meinung, der Oppositionsparteien und der Geschäftswelt  – seine Denkweise war nicht sehr modern.

    Als er Kerenski kennenlernte, sagte er: „Wie schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.“ Aber wer hatte sie denn daran gehindert?

    Gut, Kerenski war vor der Revolution eine absolute Randfigur. Aber was ist mit dem Kadettenführer Pawel Nikolaewitsch Miljukow?! Man kann sagen, was man will, aber der war ein russischer Patriot. Sein Sohn, ein Offizier, war im Ersten Weltkrieg gefallen. Stellen Sie sich vor, der Imperator hätte einen Brief an ihn gerichtet, oder ihn sogar eingeladen, irgendwie seine Unterstützung geäußert, von Mensch zu Mensch – ein halbes Jahr später hätten die Kadetten strammgestanden und den Kaiser hochleben lassen.

    Politische Zugeständnisse waren eine Zeit lang gar nicht so wichtig, ein paar simple kommunikative Gesten hätten schon gereicht.


    VI. Über die Helden der Revolution und den Weg zum Bürgerkrieg

     „Der kritische Punkt war der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung  herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt.“ / Foto © Kommersant-Archiv
    „Der kritische Punkt war der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt.“ / Foto © Kommersant-Archiv

    Lassen sich denn mit Gewissheit Personen nennen, deren Handeln im Zeitraum zwischen den beiden Revolutionen eine maßgeblich negative Rolle spielte und letztlich zur Verstärkung des Konflikts, zur Gewalteskalation und zur Zerrüttung der Lage in Petrograd geführt hat?

    Das kommt auf den Blickwinkel an. Für die einen war die Fortsetzung des Krieges ein positiver Faktor, für die anderen war es gerade umgekehrt. Genauso ist es mit der gewaltsam durchgeführten Agrarreform. Die Antwort hängt vom jeweiligen Interesse ab.

    Ich glaube, Wörter wie „positiv“ und „negativ“ sind sowieso nicht sehr gut als Erkenntnisinstrumente geeignet. Und trotzdem benutzen wir sie.

    Aus meiner Sicht gibt es nichts Schlimmeres als den [Russischen – dek] Bürgerkrieg. Das ist ein in höchstem Maße wichtiges Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, es hat uns stark beeinflusst und tut das immer noch. In gewissem Sinne befinden wir uns bis heute in seinem Wirkungsfeld.

    Die große Frage ist für mich der Weg von der Revolution zum Bürgerkrieg. Jede Revolution ist ein potentieller Bürgerkrieg. Und in der Regel wird jede Revolution von kleinen, lokalen Bürgerkriegen begleitet. Sie können ganz unterschiedliche Ausmaße annehmen.

    In Russland war der kritische Punkt der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Deswegen überschätzen wir die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen.

    Wir neigen generell dazu, die Geschichte zu personifizieren – Kerenski, Kornilow, Lenin, Nikolaus II. – und ebenso den Konflikt zwischen Kerenski und Kornilow auf einen psychologischen zu reduzieren. In Wirklichkeit ist die Vorstellung naiv, dass da irgendein Staatsoberhaupt sitzt und alles entscheidet. Er hat immer einen Kreis von Unterstützern, eine Referenzgruppe, er muss manövrieren. Er arbeitet in einem Team, es ist ein großes Orchester.

    Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins

    Wir sind ein kulturell sehr gespaltenes Land. Es herrscht völliges Unvermögen, sich gegenseitig zuzuhören: Alle fordern lauthals einen Dialog, aber es endet immer in vielen verschiedenen gleichzeitigen Monologen, die auch noch extrem laut vorgetragen werden. Wir reden von einer nationalen Aussöhnung, aber alles endet mit grob aufgezwungener Buße. 


    VII. Von der Februar- zur Oktoberrevolution

    Mitglieder der Provisorischen Regierung. „Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten“ / Foto © Wikipedia/gemeinfrei
    Mitglieder der Provisorischen Regierung. „Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten“ / Foto © Wikipedia/gemeinfrei

    Was war der Grund für das Chaos und die Desorganisation im politischen Leben Russlands nach der Februarrevolution? Warum fanden sich keine Kräfte, die entschlossen die Macht übernehmen und die Situation unter Kontrolle halten konnten?

    Darüber sind sich die Historiker nicht einig. Faktisch entstand während der Februarrevolution eine Konstellation, die mit dem nicht sehr präzisen Begriff Doppelherrschaft bezeichnet wird.

    Das Schlüsseldokument, das die Konturen dieser Ordnung vorgab, war der Befehl Nr. 1 des Petrograder Sowjets, mit dem die Armee praktisch demokratisiert und das System der Kompaniekomitees eingeführt wurde. Von Anfang erhoben sie einen Regierungs- und Machtanspruch. Diese Macht konnte in verschiedenen Landesteilen und Regionen unterschiedliche Gestalt annehmen, aber sie war überall präsent.

    Manche Historiker sagen, dass es keine Doppelherrschaft war, weil in einigen Regionen eine gewisse Zusammenarbeit stattfand. In anderen Gebieten war die Lage noch verworrener. In Kiew beispielsweise wurde die Macht von den Organen der Provisorischen Regierung, dem Kiewer Sowjet und der Zentralna Rada beansprucht. In Finnland gab es die Machtorgane des Großfürstentums Finnland, die Militär- und Zivilorgane der Provisorischen Regierung und die Komitees, die dort besonders stark waren.

    Gewinner und Akteure waren keineswegs immer die Bolschewiki. Im Gouvernement Kasan beispielsweise begann der örtliche Bauernsowjet, der von Sozialrevolutionären geleitet wurde, mit einer Landreform, ohne sich groß an Petrograd zu orientieren.

    Das Machtsystem des Zarismus war also zerfallen, und auf seinen Trümmern begann der Kampf zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Kräfte.

    Ja. Wobei es einen Konsens gab in Bezug auf einige wichtige strukturelle Entscheidungen: Die Polizei wurde abgeschafft und durch eine Volksmiliz ersetzt. Man ging davon aus, dass eine ständige Polizei etwas Schlechtes sei. Stattdessen sollte jeder freie Bürger zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. Eine Miliz, also praktisch eine Volkswehr. So eine naive, utopische Idee.

    Jeder freie Bürger sollte zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. So eine naive, utopische Idee

    Außerdem wurde die lokale Machtstruktur abgeschafft – anstelle der Gouverneure wurden Kommissare ernannt. Diese Maßnahmen waren unumgänglich: Die Revolutionäre wollten die neue Ordnung festigen und absichern. 

    Ein weiterer wichtiger Punkt war die Abschaffung der Todesstrafe – eine humanitäre Forderung, für die alle Parteien eintraten, die der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Sowjet angehörten. Zu Kriegszeiten war das eine äußerst  schwierige Entscheidung, weil sie die Herrschaftsinstrumente einschränkte.
     
    Nach der Julikrise und dem ersten erfolglosen Versuch der Bolschewiki, die politische Macht zu ergreifen, schwang die gesellschaftliche Stimmung massiv nach rechts um. Im September jedoch, bei der Niederschlagung des Kornilow-Aufstands, musste Kerenski bolschewistische Aktivisten aus dem Gefängnis entlassen, sich bolschewistischer Agitatoren bedienen und Waffen an die Arbeiter verteilen. Danach lag die Initiative im politischen wie im gesellschaftlichen Bereich wieder bei den Bolschewiki, die sich kurz zuvor noch in der Illegalität befunden hatten und von der Gesellschaft als negative, destabilisierende Kraft wahrgenommen wurden.

    Was sagen diese Umschwünge über die Situation in Petrograd aus?

    Wenn es um die Revolution geht, sollten wir nicht allein von den Bolschewiki reden. Ich würde eher von den Bolschewiki und ihren Verbündeten sprechen. Während der Julikrise spielten etwa die Anarchisten eine große Rolle. Sehr wichtig für die Bolschewiki war das Bündnis mit den linken Sozialrevolutionären. Dann gab es noch verschiedene Organisationen der Menschewiki-Internationalisten, verschiedene nationale Gruppen, parteilose Aktivisten und andere.

    Die Radikalisierung war nicht unbedingt immer eine Bolschewisierung. In den Sowjets und Komitees, von denen die Legalisierung der Revolution entscheidend abhing, gehörten viele nicht der Partei der Bolschewiki an. In manchen Fällen zum Beispiel sprachen sich die gleichen Leute, die Kerenski im Juli noch unterstützt hatten, im September gegen ihn aus.

    Ich würde nicht sagen, dass sich die Partei der Bolschewiki vollständig in der Illegalität befand. Die Situation war überall im Land unterschiedlich. Aber selbst in Petrograd schaffte es die Partei, eine Zeitung herauszubringen, die zwar immer wieder eingestellt wurde, aber jedesmal unter anderem Namen neu erschien.

    Am Anfang sehen wir den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen

    Und eigentlich geht es nicht um die Bolschewiki, sondern um die Macht. Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten – und das Verhalten derjenigen, die demobilisiert wurden. Wir schauen – glücklicherweise meist im Fernsehen – auf Revolutionen in anderen Ländern. Am Anfang sehen wir eine ungeheure Begeisterung, den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen – die Wirtschaft, die Kriminalität und so weiter und so fort.

    Ohne diese naive Begeisterung ist beispielsweise das Phänomen Kerenski gar nicht vorstellbar – ein Führer und Retter, an den alle glauben. Nach einiger Zeit sind dann die einen nach rechts abgewandert, in Richtung Konterrevolution. Sehr viele (ich würde sogar sagen, die meisten) haben die Politik ganz aufgegeben: Sie hatten die ständigen Diskussionen satt, waren müde davon. Der Winter stand vor der Tür, die Leute kümmerten sich um Heiz- und Lebensmittel sowie um ihre Lieben, und dann nahm auch noch die Kriminalität zu.

    Bei einigen hielt sich die Revolutionsbegeisterung. Etwas klappt nicht? Dann muss man eben noch härter und entschlossener handeln. Eine solche Radikalisierung der Linken spielte den Bolschewiki und ihren Verbündeten in die Hände.

    Ja, unser Bild von diesen Geschehnissen ist wohl tatsächlich zu stark vereinfacht. Und es ist normal, dass zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Kräfte die Initiative übernehmen und die Sympathie der Gesellschaft gewinnen.

    Es geht nicht nur um Sympathie, es geht um den Grad der Beteiligung. Die einen unterzeichnen per Mausklick eine Petition. Andere nehmen an Kundgebungen teil. Und wieder andere beteiligen sich an Protestaktionen. Das sind sehr unterschiedliche Dinge.

    1917 drückten die einen ihre Sympathien aus, indem sie zu Hause Zeitung lasen und die Passagen, die ihnen gefielen, rot anstrichen. Andere gingen auf die Straße. Manche nahmen die Organisationsarbeit in die Hand. Manche stellten Geld zur Verfügung.

    Die Sympathie für eine populäre Person kommt nicht immer in Form aktiver politischer Handlungen zum Ausdruck. Politik ist eine vielschichtige und mehrdimensionale Angelegenheit.


    dekoder dankt Robert Kindler für seine Unterstützung bei der Aufbereitung des Interviews.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Unter die Haut

    Unter die Haut

    Eine geplante Gesetzesnovelle, die weniger harte Strafen für häusliche Gewalt vorsieht, sorgt derzeit für Diskussionen. Vor dem Hintergrund dieser Debatten zeigt Takie Dela eine Fotoreportage des Ufaer Fotografen Wadim Braidow: Er hat Shenja in ihrem Tattoostudio besucht und auch ihre Klientinnen getroffen. Über sie schreibt Braidow: 

    „Zu Shenja kommen Frauen, die von ihren Männern verprügelt wurden – sie brauchen Trost und wollen vergessen. Shenja ist keine Psychotherapeutin, sie ist Tattookünstlerin. Mit den Tattoos übermalt sie Narben, die von der Gewalt geblieben sind. Geld nimmt sie dafür keines, Geschichten hat sie schon so viele gehört, dass sie ein Buch schreiben könnte.“

     Fotos © Wadim Braidow
    Fotos © Wadim Braidow

    Tattookünstlerin Shenja Sachar, 33

    Tätowierer führen ein fröhliches, sorgloses Partyleben. Immer hängt irgendwer in deinem Studio ab, dankbare Kunden laden dich auf Feten ein. Doch dann bin ich irgendwann auf einen Artikel über Flavia Carballo gestoßen, eine brasilianische Tattookünstlerin, die die Narben von Opfern häuslicher Gewalt übertätowiert, und ich dachte: „Warum sollte ich das nicht auch mal versuchen?“ Ich wollte technisch besser werden – immerhin sind Narben für Tätowierer eine Herausforderung – ja, und ein bisschen was Gutes zur Welt beisteuern.

    Ich veröffentlichte eine Anzeige auf Vkontakte, und dann gings los. Aus allen Ecken Baschkiriens schrieben mir Frauen. Junge und ältere, stille und hysterische – und alle hatten eines gemeinsam: den Schmerz. Sie alle sagten, sie könnten ihre Narben nicht mehr sehen, sie würden sie an den Tag erinnern, als der geliebte Mann seine Hand gegen sie erhob. Wenn es doch nur die Hand gewesen wäre. Narben von Stichwaffen sind für mich keine Seltenheit, einmal war sogar eine Schusswaffe dabei. Ich, in meiner ruhigen und fröhlichen Welt, konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass so viele Frauen zu Hause Gewalt erleben.

    Ich habe schon an die hundert Kundinnen behandelt, und ich weiß, sie wollen bei mir auf der Liege ihr Herz ausschütten und nachdem sie aufgestanden sind, nie wieder an diese Geschichte denken. Ich habe so viele Geschichten gehört, dass ich ein dickes Buch schreiben könnte. Ich versuche, den Frauen eine Freundin zu sein, und irgendwie klappt das – viele von ihnen kommen mit was Süßem wieder, einfach auf einen Plausch. Und sagen: „Zwei Stunden lang hast du uns Schmerzen zugefügt, damit wir den Schmerz vergessen, den wir jahrelang ertragen haben.“ 

    Derzeit nehme ich eine Kundin pro Woche, für mehr reicht weder die Zeit noch das Material. Ideal ist mein Studio nicht und kosten tut es auch. Ich muss überwiegend zahlende Kunden bedienen. Gerade versuche ich mit meinem Partner und einem Kollegen ein eigenes Studio zu eröffnen, das unabhängig ist von Vermietern. Ich will weiter versuchen, wenigstens eine Kundin pro Woche reinzunehmen. Auch wenn die Selbstkosten bei jedem von diesen Tattoos zwischen 2000 und 4000 Rubel [30 bis 60 EUR – dek] liegen, kann ich von diesen Frauen kein Geld nehmen. So haben meine Eltern mich nun mal erzogen. Anfragen habe ich viele, bestimmt um die zweihundert. Leider ist Gewalt, genau wie Krieg, immer da.


    Guldar, 28

    Vor sieben Jahren war ich mit einem jungen Mann zusammen, er arbeitete bei einer Behörde. Es war ernst, wir hatten schon die Nikah, die islamische Ehe, gefeiert, wollten standesamtlich heiraten. Irgendwann kam er angetrunken nach Hause, wir fingen an zu streiten. Er verprügelte mich. Trat mir mit den Füßen in die Brust und in den Bauch. Ich packte meine Sachen und ging zu meiner Mutter. Dann sagte ich zu ihm, dass ich ihn bei der Polizei anzeigen werde, drohte damit, für seine Kündigung zu sorgen. Er kam zusammen mit seinem Bruder zu mir, einem Anwalt, und sie erklärten mir hart und deutlich, dass ich das mit der Anzeige besser sein lasse.

    Nach diesem Gespräch packte ich schnell meine Sachen und floh von Belorezk nach Ufa. Es verging ein Jahr, die Verletzungen taten immer noch weh, also ging ich ins Krankenhaus. Es stellte sich heraus, dass in der Brust und im Bauch Schwellungen zurückgeblieben waren, innere Blutergüsse. Ich wurde ein paar Mal operiert. Jetzt habe ich diese Narben und kann keine Kinder mehr bekommen. Es fällt mir schwer, Beziehungen zu Männern aufzubauen, ich schäme mich, mich auszuziehen, schäme mich, diese Geschichte zu erzählen. Vor kurzem war ich im Urlaub. Als erstes habe ich mir Mehndi, Hennatattoos, auf die Narben machen lassen, sofort fühlte ich mich im Badeanzug viel selbstsicherer. Da hatte ich die Idee, die ganzen alten Erinnerungen mit Tattoos übermalen zu lassen.


    Ljaisan, 33

    Vor zwei Jahren hat mich mein Mann, er war völlig unzurechnungsfähig, mit dem Küchenmesser verletzt. Die Schnittwunde war tief, ich hatte einen Leberriss und innere Blutungen. Ich rief selbst den Notarzt, aber man hat mich sehr schlecht genäht, es blieben große Narben. Natürlich kam die Polizei ins Krankenhaus, ich sollte Anzeige erstatten. Ich habe es nicht getan. Mein Mann flehte mich an, zu ihm zurückzukommen.

    Nach meiner Entlassung versuchte ich, weiter mit ihm zusammenzuleben, aber es ging nicht. Er hat nie zugegeben, was er getan hat, sagte, dass er sich an nichts erinnere, und dass ich mich selbst mit dem Messer verletzt hätte. Da habe ich bereut, dass ich ihn nicht angezeigt habe. Aber ich denke, eines Tages wird ihm das Leben alles heimzahlen.

    Jetzt geht es mir gut, aber mit den Narben konnte ich diesen schwarzen Tag nicht endgültig hinter mir lassen. Deshalb habe ich mich zu der Tätowierung entschlossen.


    Lilja, 41

    Meine Geschichte handelt nicht von Gewalt, sondern von einer Verletzung aus der Kindheit. Meine Eltern sind Geologen und waren ständig auf Dienstreisen, sie waren überall in Baschkirien unterwegs und ließen mich bei meiner Oma. Als ich ein Jahr und zwei Monate war, haben die Großeltern einmal nicht richtig aufgepasst. Ich hatte mein Stühlchen genommen, es an den Herd gestellt und nach dem Teekessel gegriffen. Ich konnte ihn nicht halten und habe mich verbrüht. 84 Prozent meiner Körperoberfläche waren geschädigt, ich lag einen Monat lang auf der Intensivstation im Koma. Außerdem diagnostizierte man bei mir Infantilismus. Ich kann auch keine Kinder bekommen.

    Mein ganzes Leben habe ich mit diesen Brandnarben am Körper gelebt. In den 1990ern entschloss ich mich zu einer Reihe plastischer Operationen, aber schon nach der zweiten ging es mir so dreckig, dass ich abbrach. Jedes EKG, jede Untersuchung, Sauna, Strand – alles war für mich eine große nervliche Belastung. Jeder, der meinen Bauch sah, war sofort geschockt, oh weh, und wollte wissen, was mir passiert war. Letztens wurden wir bei der Arbeit untersucht, ich zog meine Bluse aus, und alle riefen „Oh!“. Aber jetzt fühle ich mich selbstsicherer. Für Narben schämt man sich, mit Tattoos gibt man an.

    Shenja wollte mich zuerst nicht behandeln. Sie arbeitet ja eigentlich mit Opfern von häuslicher Gewalt, Frauen, die von ihren Männer verletzt wurden. Aber als ich ihr meine Narben zeigte, sahen wir uns ein paar Minuten lang in die Augen, und dann sagte sie: „Leg dich hin.“ Ich bin ihr unendlich dankbar. Dieses Tattoo hat mein Leben verändert, weil ich mich jetzt für nichts mehr schämen muss.


    Wika, 28

    2009 war ich schwanger. Eines Tages holten mich mein Ex-Mann und sein Kumpel von der Arbeit ab und fuhren mit mir in den Wald. Mein Mann brüllte, er wolle dieses Kind nicht, irgendwelche alten Weiber hätten ihm gewahrsagt, es sei nicht von ihm. Er holte ein großes Küchenmesser hervor. Stieß es mir immer wieder gegen die Brust, aber schaffte es nicht, richtig zuzustechen. Dann gab er das Messer seinem Freund. Der nahm Anlauf und rammte es mir in die Brust. Ich wehrte es mit meiner Tasche ab, beim zweiten Mal traf er meine Achsel. Es floss viel Blut. Mein Mann erschrak, stürzte sich auf seinen Kumpel. Schlug ihn zusammen, setzte mich ins Auto und brachte mich ins Krankenhaus, durchbrach auf dem Krankenhausgelände sämtliche Schlagbäume. Die Ärzte riefen die Polizei, einer der Polizisten war ein alter Bekannter von mir. Er begriff sofort, was los war, und bestand darauf, dass ich die Wahrheit sage. Mein Mann wurde noch im Krankenhaus festgenommen. Er bekam acht Jahre, sein Freund, glaube ich, sechs. Die Ärzte konnten nicht nur mich retten, sondern auch das Kind. Der Chirurg sagte mir später, das Messer hätte die Schlagader um zwei Millimeter verfehlt.

    Ich habe daran gedacht und hätte auch Möglichkeiten gehabt, meinen Ex-Mann noch direkt in der Haft zu bestrafen. Aber als mein Sohn zur Welt kam, ließ das nach. Am liebsten denke ich weder an meinen Mann noch an jenen Tag. Aber jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel geschaut und diese Narbe gesehen habe, kamen sofort die Erinnerungen hoch. Als würde sie mich zurück in die Vergangenheit ziehen.

    In den Ufaer Nachrichten hörte ich von Shenja und dachte, dass mir das helfen würde, mit der Vergangenheit abzuschließen. Es war schwierig zu glauben, dass mich jemand umsonst tätowieren würde. Ich kam ins Studio, man sagte mir, doch, das stimmt, und gab mir eine Telefonnummer für die Terminvereinbarung. Shenja und ich sprachen miteinander und entschieden uns für einen Schmetterling. Der ist in vielen Kulturen ein Symbol für die Reinkarnation der Seele.

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  • Schläge als Privatsache?

    Schläge als Privatsache?

    „Wenn er dich schlägt, liebt er dich.“ So könnte man ein viel zitiertes russisches Sprichwort übersetzen. Jetzt soll eine Gesetzesnovelle dafür sorgen, dass häusliche Gewalt weniger hart bestraft wird. Demnach sollen gemeldete Erstfälle als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, wenn das Opfer keine ernsthaften gesundheitlichen Schäden erlitten hat. Nur, wer innerhalb eines Jahres zum zweiten Mal gewalttätig wird, dem drohen strafrechtliche Konsequenzen. Geplant ist dann etwa eine Höchststrafe von bis zu drei Monaten Haft. Derzeit liegt sie bei zwei Jahren.

    In erster Lesung hat die Duma das Gesetz bereits durchgewunken, am 25. Januar folgt die zweite. Kritiker bemerkten ironisch, jetzt sei es nach Logik der Abgeordneten in Ordnung, seine Frau ein Mal im Jahr zu schlagen, nur zwei Mal ginge nicht.

    Ljubow Borussjak, Soziologin an der Moskauer Higher School of Economics, beschreibt auf Republic die Hintergründe der Gesetzesänderung und fragt danach, was die Befürworter bewegt. Mit der Verteidigung „traditioneller Werte“ allein ist der Zuspruch ihrer Meinung nach nicht zu erklären. Man müsse stattdessen auch danach fragen, wie Gewalt allgemein assoziiert werde – und inwiefern die Angst vor einem willkürlichen Staat den Gesetzesbefürwortern in die Hände spiele. 


    Update: Anfang Februar unterzeichnete Präsident Wladimir Putin das Gesetz, nachdem die Duma die Novelle am 27. Januar 2017 in dritter und letzter Lesung angenommen hatte. 380 Abgeordnete stimmten dafür, drei dagegen.

    Nur hin und wieder rückt das Problem der familiären, häuslichen, ehelichen Gewalt ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Dann flacht das Interesse wieder ab bis zum nächsten Anlass für eine Berichterstattung. Diese Anlässe sind für gewöhnlich irgendwelche krassen Fälle. Im vergangenen Sommer haben sich zehntausende Frauen in Russland und anderswo am Internet-Flashmob #ЯнеБоюсьСказать [dt. #IchhabkeineAngsteszusagen] beteiligt und markerschütternde Geschichten von Gewalt erzählt, die ihnen widerfahren ist.

    Im November sorgte der Fall einer jungen Frau aus dem Gebiet Orjol für Entrüstung. Sie hatte die Polizei gerufen, weil ihr Partner sie bedrohte. Die Antwort, die sie am Telefon bekam, war schockierend: „Wenn man Sie umbringt, kommen wir natürlich und nehmen Ihre Leiche zu Protokoll, keine Sorge!“ Die junge Frau wurde tatsächlich getötet.

    Geschichten wie diese passieren dutzend-, wenn nicht hundertfach. Jetzt redet man über das Thema, weil ein Gesetzentwurf – vorerst in erster Lesung – angenommen wurde, der Gewalt in der Familie entkriminalisieren soll.

    Eine offizielle Statistik gibt es nicht

    Dass häusliche Gewalt in Russland enorm weit verbreitet ist, da sind sich viele sicher. Jedoch existiert keine offizielle Statistik. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass es im Strafgesetzbuch keine Paragraphen gibt, die explizit häusliche Gewalt unter Strafe stellen. Und selbst wenn es sie gäbe, würden sie nichts über das Ausmaß sagen: Kinder erzählen so gut wie nie, dass sie von ihren Eltern geschlagen werden, Frauen zeigen ihre Männer äußerst selten bei der Polizei an, und wenn sie es tun, ziehen sie die Anzeige häufig wieder zurück.

    Aufgrund fehlender offizieller Daten berufen wir uns auf die stichprobenartige Untersuchung Gewalt gegen Frauen in Russland: Demnach hat jede fünfte Frau körperliche Gewalt durch den Ehemann oder Liebhaber erlebt, jede zwanzigste wurde gewaltsam zu sexuellem Kontakt gezwungen. Drei Viertel der betroffenen Frauen haben jemandem von der Gewalt, die sie durchgemacht haben, erzählt (fast alle nur Verwandten und Freunden), zur Polizei gingen nur zehn Prozent. Ein Viertel der Frauen hat es für sich behalten.

    Stark ist der, vor dem man Angst hat

    Es ist nicht auszuschließen, dass selbst diese Zahlen untertrieben sind, denn Frauen, denen Gewalt widerfährt, empfinden Scham. Sehr oft, manchmal sogar im Todesfall, wird das Opfer nach der Tat öffentlich diffamiert: „Hat ihn bestimmt gereizt, bis ihm der Kragen geplatzt ist.“

    So seltsam es klingt, aber ganz abgesehen davon existiert bis heute die Vorstellung, Gewalt sei – solange sie nicht lebensbedrohlich ist – zwar unschön, aber normal. Für einen erheblichen Teil der Gesellschaft stellen Stärke und das Recht, sie anzuwenden, einen grundlegenden Wert dar. Das zeigen deutlich die Ergebnisse einer unlängst (im Dezember 2016) von der Stiftung Öffentliche Meinung durchgeführten Umfrage. Demnach beurteilen 86 Prozent der Russen ihr Land als frei und wohlhabend, sie schreiben ihm eine Vormachtstellung zu, vor der sich die Welt fürchtet. Dass man vor Russland Angst hat, wird als entschieden positiv empfunden. Ganz offenbar ist das eine Projektion auch der Verhältnisse innerhalb der Familie. Angst bedeutet Respekt; stark ist der, vor dem man Angst hat. Viele derjenigen, die gegen Gewalt in der Familie kämpfen und für die Schwachen einstehen, fallen heutzutage unter das Agentengesetz, verlieren ihre Finanzierung oder müssen gar ihre Arbeit einstellen, was als völlig gesetzmäßig erscheint. Das betrifft so etablierte NGOs wie das Frauen- und Kinderhilfszentrum Anna, das Hilfszentrum für Opfer sexueller Gewalt Sjostry [dt. Schwestern], das sich mit Crowdfunding über Wasser zu halten versucht, aber auch viele andere.

    Gayropa setzen wir unsere reinen, traditionellen Werte entgegen

    Obwohl die „Erziehung“ von Frauen mit Hilfe von Schlägen eine weit verbreitete Praxis ist, wird sie von der Gesellschaft doch verurteilt. Allerdings erfreut sich das Recht auf körperliche Bestrafung innerhalb der Kindererziehung vieler Befürworter. Leichte Schläge (ohne Gefahr für Leben und Gesundheit, versteht sich) gelten als traditionell, üblich und bewährtes Mittel der Disziplinierung. Einerseits sind wir ein europäisches Land und befinden uns mehr und mehr auf dem Weg zur Humanisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, einschließlich der familiären. Andererseits ist die außenpolitische Rhetorik Russlands seit einigen Jahren auf eine Konfrontation mit dem Westen gerichtet, und damit gegen viele der Werte, die diesem zugeschrieben werden. Dem in seinen Sünden versinkenden Gayropa setzen wir unsere reinen, traditionellen Werte entgegen. Mit diesen Werten wird die „normale“ Familie proklamiert, „normale“ Beziehungen zwischen Eltern und Kind, in die sich niemand einzumischen hat.

    Im Konzeptentwurf zur staatlichen Familienpolitik der Russischen Föderation bis zum Jahr 2025 wird „Eltern in Bezug auf die Erfüllung ihrer elterlichen Pflichten Gewissenhaftigkeit unterstellt“. Was im Klartext heißen soll, dass Eltern immer zum Wohle des Kindes handeln. Das ist einerseits gut, denn gesunde soziale Institutionen bedürfen keiner Einmischung von Außen. Andererseits sind damit die schwachen Familienmitglieder den stärkeren schutzlos ausgeliefert.

    Auf dem Recht des Stärkeren beharren auch Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche und verschiedener anderer Organisationen, die sich als orthodox ansehen. So äußerte die Patriarchenkommission zu Fragen der Familie und des Schutzes von Mutterschaft und Kindheit im vergangenen Sommer ihre „tiefe Besorgnis“ über die Verabschiedung einer Neufassung des Artikels 116 („Schläge“). Nach Ansicht des Patriarchats könnte die Änderung dazu führen, dass nun gewissenhafte Eltern strafrechtlich verfolgt würden, die ihre Kinder „in Maßen und sinnvoll“ bestrafen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche vertritt die Auffassung, dass körperliche Bestrafung von Kindern ein „traditioneller Wert“ der russischen Gesellschaft sei, der erwähnte Artikel wiederum „entbehrt moralischer und juristischer Grundlagen, richtet sich in seinem Inhalt gegen die Familie und das innerhalb der russischen Gesellschaft etablierte Verständnis von Elternrechten, ist diskriminierend, widerspricht den Grundprinzipien einer gesunden staatlichen Familienpolitik und lässt die traditionellen familiären und moralischen Werte der russischen Gesellschaft außer Acht“.

    Klapse und leichte Schläge auf den Hinterkopf halten 51 Prozent der Befragten für „normal“

    Wie „maß- und sinnvoll“ eine körperliche Strafe ist, wird dem Ermessen der Eltern selbst überlassen. Darüber, dass Eltern das Recht  zugesprochen werden soll, ihre Kinder physisch zu maßregeln, liest man viel auf der Homepage des Allrussischen Elternwiderstandes, deren Mitwirkende sich aktiv für traditionelle, orthodox begründete Werte einsetzen. Das Recht der Eltern auf Gewaltanwendung wird hier damit erklärt, dass dies die Norm für die heutige russische Gesellschaft sei: „Das Zentrum AKSIO hat eine umfassende Meinungsumfrage durchgeführt, befragt wurden 43.687 Menschen aus allen Regionen der Russischen Föderation. Das Hauptziel der Umfrage war die Messung der öffentlichen Meinung zu den (…) Änderungen im russischen Familiengesetz. Die Bestrafung von Kindern mit Klapsen und leichten Schlägen auf den Hinterkopf halten 51 Prozent der Befragten für normal.“

    Weil es normal ist, darf man sich also nicht in die Erziehung innerhalb der Familie einmischen. Schon erstaunlich, aber sogar einige Organisationen, die sich dem Schutz der Familie verschrieben haben, setzen sich gegen eine gesetzliche Einschränkung elterlicher Schläge ein und gegen das Recht von Kindern und Jugendlichen, sich zu verteidigen. So bezeichnet beispielsweise Tatjana Borowikowa, Leiterin der Organisation Viele Kinderchen – das ist gut!, Aushänge mit Seelsorgerufnummern für Jugendliche in den Schulen als „Einmischung in familiäre Angelegenheiten“. Solche Beispiele gibt es zur Genüge. Der Allrussische Elternwiderstand teilt mit, für die Entkriminalisierung von Schlägen seien 213.000 Unterschriften gesammelt worden, und notfalls werde die Hälfte aller russischen Eltern vor Gericht ziehen.

    Angst vor Willkür

    Was diese Leute antreibt, ist nicht die Angst vor Massenverhaftungen, sondern die Angst vor Willkür der Rechtsschutz- und Vormundschaftsorgane, die häufig nur formal die Rechte von Kindern schützen. Sie fürchten nicht den aus dem Westen kommenden Kinder- und Jugendschutz, von dem sie reden, sondern unseren eigenen Staat. Erst vor Kurzem entsetzte ein Vorfall die Öffentlichkeit, bei dem Vormundschaftsorgane und Polizei ohne jegliche Untersuchung zehn Kinder aus einer wohlsituierten Pflegefamilie genommen hatten, nachdem den Eltern Gewaltanwendung vorgeworfen worden war.

    Dieser Vorfall bestätigte nur die allgemein herrschende Vorstellung, jedes Gesetz könnte so ausgelegt werden, dass die Unschuldigen mehr leiden als die, die schuldig sind. Wer aber schuldig ist und wer nicht, in welchem Rahmen sich häusliche Gewalt bewegen darf, das versteht so gut wie niemand. Aber allen ist klar, dass noch die schlechteste Familie, in der das Kind nicht nur hin und wieder einen Klaps bekommt, sondern ständig Prügel, in den allermeisten Fällen immer noch besser ist, als ein Kinderheim, das heißt die Vormundschaft durch den Staat.

    Kinder werden nicht gehört – mit oder ohne Gesetz

    Die Gesellschaft hat Angst vor weiterer Einmischung ins Privatleben. Weil sie nicht daran glaubt, dass das dem allgemeinen Wohl dienen wird, sondern weil sie berechtigter Weise annimmt, dass man nach dieser Einmischung Hilfe braucht, die man nirgendwo bekommt.

    Organisationen, die trotz allem versuchen, Familien in der Not beizustehen, solche wie Anna und Sjostry, sind mittlerweile selbst auf Hilfe und Schutz angewiesen.

    Das Gesetz über die Entkriminalisierung von Gewalt in der Familie wird vermutlich kaum etwas zum Besseren oder Schlechteren verändern. Weil Kinder in ihrer Mehrheit stumm bleiben, hilft ihnen dieses Gesetz jedenfalls nicht. Die Mehrheit der Frauen wendet sich ohnehin nicht an die Polizei. Aber wenn Gewalt in der Familie als Ordnungswidrigkeit behandelt wird, rückt die Polizei bald nicht einmal mehr bei seltenen Anrufen aus – warum auch solch kleinen Vergehen Beachtung schenken?

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  • Verhütete Verhüterli

    Verhütete Verhüterli

    Man kann ohne Umschweife verraten, wie die Geschichte in dem kleinen Ort Bogoljubowo ausgegangen ist: Die Bewohner haben einen Sieg errungen. Ein großer Investor, den sie vertrieben haben, wollte dort im Hinterland von Moskau eigentlich knapp 200 Arbeitsplätze schaffen. Als bekannt wurde, was produziert werden soll, rief das orthodoxe Gläubige auf den Plan. Zu pikant schien das für ein Dorf, dessen Kloster Pilger aus dem ganzen Land anzieht und mit der Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche ein weltbekanntes Gotteshaus vor seinen Toren hat.

    Für Kommersant-Dengi ist Alexej Bojarski nach Bogoljubowo gefahren, um den Tumult zu begleiten, den es darum gab – und der sogar in internationalen Medien Beachtung fand. Seiner Reportage stellte Bojarski voran: „Allerdings sind nicht so sehr die Proteste der Gläubigen interessant, sondern der Umstand an sich, dass der Unternehmer ebenso wie die lokale Politikerelite überhaupt in Dialog mit ihnen getreten sind.“

    Etwa 200 Kilometer östlich von Moskau, Oblast Wladimir, im Dorf Bogoljubowo. Laut Volkszählung von 2010 hat das Dorf rund 5000 Einwohner. Entlang der Lenin-Straße (wie es sich gehört, ist das die Hauptstraße) sind wohl sämtliche hiesige Sehenswürdigkeiten versammelt: das Bogoljubower Muttergottes-Geburtskloster und eine alte Ziegelfabrik; irgendwo dazwischen liegt das triste zweistöckige Gebäude der Dorfverwaltung. Ein einsamer Passant rutscht direkt vor meinen Augen aus und stürzt – wüst Mat fluchend – auf dem vereisten Gehweg hin. Kaum aufgestanden, blickt er zu den Kuppeln hoch und bekreuzigt sich.

    Es heißt, das berühmte Kloster sei ein Anziehungsort für Pilger aus dem ganzen Land. Heute sind die Pilger allerdings vor dem Verwaltungsgebäude zu beobachten. Der Presseandrang ist wie bei einer Demo der Opposition: Minivans landesweiter und regionaler TV-Sender, Kameramänner, Korrespondenten mit Diktiergeräten, dazu ein hiesiger Videoblogger mit professionell zusammengekniffenem Auge und Selfiestick. Zum Gebäude strömt höchst unterschiedliches Publikum: graubärtige Männer, alte Frauen mit Wolltüchern, Nonnen in schwarzen Kutten, Frauen unbestimmten Alters mit einem Gesichtsausdruck von Erleuchtung.

    Die Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche an der Neri in Bogoljubowo ist weltbekannt / Foto © Nickolas Titkov unter CC BY-SA 2.0
    Die Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche an der Neri in Bogoljubowo ist weltbekannt / Foto © Nickolas Titkov unter CC BY-SA 2.0

    „Treten Sie bitte durch, und Sie, Mütterchen, hier entlang, bitte.“ Eine Frau im Pullover, sie hat sich als Lokalabgeordnete Olessja Paschtschenko vorgestellt, lenkt den Menschenstrom, der in einen Sitzungssaal mit großem Tagungstisch drängt. „Meine Damen und Herren Journalisten, Bürger von Bogoljubowo, kommen Sie, kommen Sie!“

    Am Tisch nehmen Vertreter der lokalen Regierungsbehörde Platz: der Leiter der Dorfverwaltung, die stellvertretende Leiterin der Bezirksverwaltung, der Vorsitzende des kommunalen Abgeordnetenbeirats. Außerdem zwei Damen in Kleidern wie Anfang des vorigen Jahrhunderts: die eine, mit stilisiertem schwarzem Barrett und Bluse, erinnert an eine Lehrerin aus Filmen über die Revolution, die andere mit Hütchen und Tüllschleier an eine feine Großstadtdame aus der gleichen Epoche.

    Die Abgeordnete Olessja Paschtschenko führt einen jungen, erkahlenden Mann in gutem Anzug zum Platz des Vorsitzenden – es ist der Eigentümer des Unternehmens Bergus Pawel Spitschakow. Sitzen will der Geschäftsmann nicht und quetscht sich stattdessen zwischen die zwei Flaggen unter dem Doppeladler. Ein Lachen scheint er sich dabei nur schwer verkneifen zu können. Dorfbewohner und Presseleute verteilen sich vor dem Tisch. Eins zu eins wie bei einer Disziplinarverhandlung vor der Gewerkschaftsversammlung. Nur dass nicht Lenin milde von der Wand herabblickt, sondern Wladimir Putin aus den Tagen seiner ersten Amtszeit.

    „Die Einwohner des Dorfes Bogoljubowo werden gebeten darzulegen, worauf sich die negative Einstellung zu dem Unternehmen gründet“, beginnt die Dienstälteste zu sprechen, Tatjana Sribnaja, stellvertretende Leiterin der Bezirksverwaltung. „Das Unternehmen ist absolut harmlos und vom Gesundheitsministerium der Russischen Föderation genehmigt.“ Aus der Menge ertönt es laut: „Dann erzählen Sie mal, erzählen Sie den Leuten, was die an unserem heiligen Ort produzieren wollen!“

    Und was will man hier wohl produzieren? Worum wird hier trotz Genehmigung durch das Gesundheitsministerium so ein Bohei gemacht? Um irgendetwas Radioaktives? „Kinderwindeln und Heftpflaster“, setzt der nun ernstere Geschäftsmann zum Bericht an und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Ab 2018 ist außerdem die Produktion von Latexartikeln geplant, darunter Verhütungsmittel.“ „Lümmeltüten aus Bogoljubowo!“, johlt jemand hinter mir.

    Eine Milliarde Kondome für die Heimat

    Etwa 800 Meter vom Kloster entfernt steht eine alte Ziegelfabrik. Eine ehemalige, muss man mittlerweile sagen, denn vor ein paar Monaten haben die Eigentümer entschieden, das Unternehmen zu schließen und das Gelände samt Werkshallen zu verkaufen. 200 Menschen standen vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes – für eine Ortschaft mit nur 5000 Einwohnern eine ernste Sache. Aber wie sich bald herausstellte, will der neue Eigentümer nun etwa genauso viele Arbeitsplätze schaffen.

    Roman Komow, Assistent von Investor Pawel Spitschakow, führt die Journalisten durch die Werkshallen, wo gerade die ehemaligen Anlagen abgebaut werden. Es stellt sich heraus, dass der Bergus-Besitzer quasi von hier ist: Ihm gehört das Unternehmen KIT (Kompanija innowazionnych technologiGesellschaft für innovative Technologien) in Wladimir, das Kopfhauben, Mundschutz, Überziehschuhe und Präservative herstellt. Laut Komow ist KIT der Marktführer bei Einwegmundschutz, sein Marktanteil liege bei 40 Prozent der gesamtrussischen Produktion. Der neue Standort sei notwendig für die Expansion des Unternehmens: In Bogoljubowo werde man Windeln der Marke Lelja herstellen, eine breite Palette an Heftpflastern, und außerdem werde die Produktion der Präservative Torex und Gladiator hierhin verlegt.

    Ich für meinen Teil habe von einheimischen Kondomen lange nichts mehr gehört. In der Sowjetunion stellte man das „Gummi-Erzeugnis Nr. 2“ her (vor allem in der bekannten Fabrik in Bakowka), erst in den 1980er Jahren trat das Latex-Kondom an seine Stelle. Im Laufe der letzten 20 Jahre hat es mehrere Versuche gegeben, heimische Marken auf den Binnenmarkt zu bringen: Wanka-Wstanka [dt. etwa Stehaufmännchen], Gussarskije und so weiter. Hergestellt wurde die Ware allerdings in China und Thailand. Auf die Ladentische gelangten dann die Produkte der Serpuchower Fabrik Elastomer (Marke Reflex) und verschwanden auch wieder. Der einzig nennenswerte einheimische Hersteller ist heute das Gummiwerk in Armawir, das die Präservative der Marke Eros produziert.

    Nun soll Bogoljubowo zum Zentrum der heimischen Kondomindustrie werden. Roman Komow sagt, Torex und Gladiator seien in Wladimir bisher quasi nur als Testreihe hergestellt worden; für den neuen Standort schaffe man Maschinen mit einer Produktionskraft von über 120 Millionen Stück pro Jahr an.

    „Das genaue Volumen des Kondommarktes in Russland ist unbekannt, aber, nehmen wir einmal an, es sind etwa eine Milliarde Stück pro Jahr“, schätzt Komow. „So gut wie alles davon ist Importware aus Südostasien und Deutschland.“ Er sagt, Bergus könne, die Konkurrenz mal außen vor gelassen, leicht den kompletten Import auf dem russischen Markt ersetzen. Von hier aus, aus Bogoljubowo.

    Anfang November sickerten diese Pläne zu den hiesigen religiösen Aktivisten durch. Ein kollektives Protestschreiben ging an Präsident Putin und Patriarch Kirill. Die Gemeindeglieder der Klosterkirche empörten sich über den „extremen Zynismus, an einem heiligen Ort mit dem Namen Bogoljubowo eine Fabrik zur Herstellung von Artikeln zu bauen, die sich gegen die Geburt von Kindern richten“.

    Das Schreiben wurde in der Lokalpresse zitiert, Nachrichtenagenturen griffen es auf. Und nun also haben die regionalen Behörden zur Klärung der Situation ein Treffen der Einwohner mit dem Eigentümer des Unternehmens organisiert.


    Mit Bibel und Unterschriftenlisten

    „Sind Sie gläubig? Getauft? Können Sie uns Ihr Kreuz zeigen? Zu welcher Gemeinde gehören Sie?“, der Fragenhagel, der auf den Unternehmer Spitschakow niedergeht, erinnert an die Aufnahmeprozedur in die Reihen der KPdSU. Spitschakow antwortet, er sei tief gläubiger orthodoxer Christ. Aber nicht aktiv. „Empfangen Sie Abendmahl und Sakramente von unserer orthodoxen Kirche?“ Das Volk lässt nicht locker. Der Geschäftsmann gerät ins Stocken.

    „Er hat es doch erklärt, Freunde: Er ist passiver Orthodoxer!“, ruft hinter mir laut der Videoblogger. „Ich bin nicht passiv“, verteidigt sich der Unternehmer, „der Glaube lebt für mich im Herzen … “ Es nützt nichts, man gab Spitschakow gleich zu verstehen, dass ihn bereits die Herstellung von Kondomen an sich als Unorthodoxen charakterisiert.

    Erhitzte Gemüter beim Treffen mit dem Investor in Bogoljubowo / Foto © Kristina Kormilizyna/Kommersant
    Erhitzte Gemüter beim Treffen mit dem Investor in Bogoljubowo / Foto © Kristina Kormilizyna/Kommersant

    Eine Frau mit einer Bibel in der Hand tritt vor. „Dieses Buch sagt uns ganz eindeutig, was das für eine Ware ist, die Sie da herstellen wollen …“, sie schlägt eine markierte Stelle auf, „Kapitel 38, 1. Buch Mose … ‚Aber da Onan wusste, dass die Kinder nicht sein Eigen sein sollten, ließ er seinen Samen auf die Erde fallen und verderben, wenn er einging zu seines Bruders Frau, auf dass er seinem Bruder nicht Nachkommen schaffe. Dem Herrn missfiel aber, was er tat, und er ließ ihn auch sterben.‘“

    So zeigt die versammelte Menge, dass die gegen die Kondomfabrik Protestierenden tiefschürfende Gründe für die Ablehnung jeglicher Verhütungsmittel haben. Gleich hier, auf dem Tisch, wird dann auch eine Unterschriftenliste für ein Abtreibungsverbot ausgelegt.

    Man fragt sich: Wenn die Bürger sich dermaßen gekränkt fühlen, weil neben dem heiligen Ort eine Präservativ-Fabrik entstehen soll, warum dulden sie dann zum Beispiel die Apotheke gleich gegenüber vom Kloster, die diese frevelhaften fremdländischen Artikel in großer Auswahl anbietet?

    Die Position der Verhütungsgegner wird deutlich von der Dame im antiquierten Barrett vertreten: Tatjana Fadejewa, eine ehemalige Bauingenieurin, vierfache Großmutter und Inhaberin einer Boutique für handgefertigte Mode nach Schnittmustern aus dem 19. Jahrhundert. Weil Bogoljubowo ein Hort der Heiligkeit für Gläubige sei, dürfe man ihrer Meinung nach nicht zulassen, dass der Name auf Artikeln wie Klopapier oder Kondomen geführt werde – laut Gesetz muss „Dorf Bogoljubowo“ als Herstellungsort auf der Verpackung genannt werden. Soweit ich verstehe, ist Fadejewa die Initiatorin jenes Protestschreibens, mit dem alles begann.

    Wie viele Menschen haben diesen Brief nun unterzeichnet? Einmal heißt es, gerade mal fünf Leute, dann ist von zweihundert die Rede, einige andere sprechen gar von tausend. Die Abgeordnete Olessja Paschtschenko sagt, ein Teil der Unterschriften stamme von Leuten, die hier als Moskauer Datschniki bezeichnet werden – das sind religiöse Aktivisten, die sich ein Haus im Bogoljubower Umland gebaut haben. Die Dame mit dem Tüllschleierhütchen ist so eine, vor ein paar Jahren ist sie aus Moskau hergezogen.

    „Ich bin zu allen Wählern persönlich hingegangen“, berichtet Olessja Paschtschenko auf der Versammlung. „Die Menschen sind belogen worden, ihnen wurde gesagt, das Unternehmen wäre gefährlich. Andere hatten noch überhaupt nichts von der Fabrik gehört, und sagten, sie würden liebend gern dort arbeiten, als sie davon erfuhren. Auch ich wurde einmal mit diesen Unterschriftenlisten angesprochen: Eine war gegen die Fabrik und die andere für die Errichtung eines Stalin-Denkmals.“

    Irgendwann nimmt der Dialog zwischen Volk und Wirtschaft eine konstruktive Wendung: Man schlägt Pawel Spitschakow vor, er solle seine Kondom-Produktion an einen anderen Standort verlegen, außerhalb von Bogoljubowo, und die Gemeindeglieder erklären sich bereit, bei der Suche nach einem neuen Ort zu helfen. Aber da zeigt sich, dass es keinen Weg zurück gibt: In das Projekt sind bereits rund 300 Millionen Rubel [umgerechnet rund 4,7 Millionen Euro – dek.] geflossen – in den Erwerb des Geländes, die Instandsetzung und den Umbau der Räume, den Kauf der Anlagen.

    „Also“, sagt Tatjana Sribnaja und fasst vor der Versammlung zusammen: „Wir haben den Projektleiter angehört, wir haben ihre Gegenmeinung angehört. Und jetzt macht jeder mit seiner Arbeit weiter. Das Unternehmen auf dem Gebiet von Bogoljubowo wird realisiert.“

    Das Kloster – mächtiger Akteur im Hintergrund?

    Auf den ersten Blick ist diese ganze Geschichte um den Protest reine PR. Sogar Tatjana Fadejewas Boutique hat ihren Happen abbekommen. Und was die Firma Bergus angeht, war das eine gewaltige Werbeaktion für ihre Präservative – das ganze Land kennt sie nun. In Anbetracht dessen, dass Roman Komow früher Journalist war, bin ich mir fast sicher, dass wir es hier mit einer gut geplanten Operation zu tun haben. Aber als Pawel Spitschakow plötzlich aufhört zu lächeln, während er den gläubigen Aktivisten Rede und Antwort steht, wird mir klar, dass die Situation tatsächlich gar nicht so witzig ist. Zu wirr sind unsere Zeiten, um über die zu lachen, die sie noch wirrer machen.

    Das Gesetz ist auf der Seite des Unternehmers: Die Eröffnung eines ökologisch unbedenklichen Betriebs auf selbsterworbenem Industriegelände kann ihm niemand verbieten. Öffentliche Anhörungen zu solchen Fragen sind nicht einmal vorgesehen. Warum also haben die Behörden dieses Treffen mit den Verhütungsgegnern organisiert?

    Hinter den gläubigen Aktivisten steht schweigend das Kloster, das nicht so einfach gestrickt ist. Mein Eindruck ist, dass die lokalen Behörden sogar etwas Angst vor ihm haben. Wieso auch nicht, schließlich konzentriert sich hier besonders viel Macht und Geld. Das kommunale Budget hat nach Aussage von Beamten allerdings wenig davon, denn das Kloster führt keine Steuern ab, und die pilgernden Touristen geben alles auf dem Klostergelände aus, sogar ein Hotel gibt es dort.

    Im 19. Jahrhundert war in Bogoljubowo in einem der Klostergebäude ein Krankenhaus eröffnet worden, das unter der Sowjetherrschaft natürlich an den Staat überging. Das Kloster kämpfte viele Jahre lang um die Rückgabe des Objekts. Schließlich, im Jahr 2013, wurde das Krankenhaus geschlossen und das Gebäude dem Kloster zurückgegeben; dort befindet sich jetzt besagtes Hotel für die Pilger. Und die Dorfbewohner sind praktisch ohne medizinische Versorgung geblieben. „Vielleicht fiel das mit der Politik der Krankenhauskürzungen zusammen, aber Fragen zum Verhältnis von Staat und Kirche stehen weiter im Raum“, sagt mir einer der Einwohner von Bogoljubowo.           

    In historischen Dokumenten geistert die Information herum, die Ziegelfabrik habe einst auch einen gewissen Bezug zum Kloster gehabt. Die hier lebenden Menschen schließen nicht aus, dass das Kloster einen bequemen Zeitpunkt wittert, sich die Fabrik einzuverleiben.

    „Und wenn unsere Gouverneurin Orlowa Sie persönlich darum bitten würde, sich einen anderen Standort zu suchen?“, fragt der Videoblogger den Geschäftsmann bissig. Eine Antwort bekommt er nicht, aber eines wird deutlich: Diese Möglichkeit ist gar nicht so wahnwitzig, wenn man bedenkt, dass sich Unternehmer auf offizielle Wortgefechte mit Kondomgegnern einlassen.    

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  • Verkehrsregeln für russische Medien

    Verkehrsregeln für russische Medien
    Pressefreiheit in Russland – wo verläuft die Linie?  Quelle – fishki.net, gesehen bei Ilya Krasilshchik

    RBC galt lange Zeit als das Investigativmedium Russlands. Mit fundierter Wirtschaftsberichterstattung und Recherchen etwa über Korruption bei Prestige-Bauprojekten, zu Putins familiärem Umfeld oder dem Vorgehen Russlands in Syrien und im Donbass sorgte RBC immer wieder für Aufsehen.

    2009 hatte der Oligarch Michail Prochorow die RBC-Medienholding, zu der ein Onlinemagazin, eine Printausgabe, aber unter anderem auch ein Fernsehsender gehören, in seine Onexim-Group aufgenommen. Unter Direktor Nikolaj Molibog und der neuen Chefredaktion war RBC seit 2013 zum führenden Investigativmedium in Russland aufgestiegen.

    Offensichtlich hatte sich RBC dabei jedoch zu weit vorgewagt: Nach Steuerrazzien in Prochorows Onexim-Group im April kam Mitte Mai der Schlag – die dreiköpfige Chefredaktion des Investigativmediums löste sich auf. Chefredakteur Maxim Soljus war entlassen worden, die beiden anderen, Jelisaweta Ossetinskaja und Roman Badanin, gingen aus Solidarität mit ihm ebenfalls [dekoder bildete die Debatte darüber ab].

    An ihre Stelle traten Jelisaweta Golikowa und Igor Trosnikow, die zuvor unter anderem für die staatliche Nachrichtenagentur TASS gearbeitet hatten. Als die beiden Ende vergangener Woche auf einer Redaktionssitzung anmahnten, im Journalismus seien „Verkehrsregeln“ zu beachten und es dürfe dabei eine gewisse „Linie“ nicht übertreten werden, gelangte ein Mitschnitt an die Presse, eine Abschrift davon wurde veröffentlicht (auch auf Englisch). Es folgte eine Diskussion über Meinungsfreiheit, aber auch darüber, inwiefern andere Medien korrekt handelten, wenn sie die Ausschnitte veröffentlichen.

    Oleg Kaschin kommentiert die Debatte auf slon.ru – und zeichnet das Verhältnis zwischen Macht und Medien im Russland unter Putin nach.

    Eine der größten unabhängigen Zeitungen Russlands hat einmal eine kleine Meldung aus der französischen Le Monde abgedruckt: Die Franzosen schätzten das Privatvermögen des russischen Premiers auf mehrere Milliarden Dollar und die russischen Journalisten befanden diese Information der Veröffentlichung würdig. Auweia, der Premierminister und die Präsidialverwaltung waren da anderer Meinung. Ein privates Blatt hätte das eigentlich getrost ignorieren können, doch plötzlich hieß es, der Hauptaktionär der Zeitung, ein großer russischer Konzern, sei nicht bereit, wegen irgendwelcher Journalisten einen Konflikt mit den Behörden zu riskieren, und wählte zwischen dem Premierminister und dem Chefredakteur der Zeitung, ohne groß zu zögern. Das Geld in den Portemonnaies der Staatsspitze zu zählen, ist für große Medien demnach tabu: doppelt durchgezogene Linie.

    Der Chefredakteur wurde entlassen, gefolgt von praktisch allen leitenden Redakteuren der Zeitung (die später ein neues unabhängiges Medium gründeten), die Zeitung wurde verkauft, der neue Inhaber musste neue Leute suchen – und übrig blieb im Grunde nur der Name.  

    Ein Denkmal für die zerschlagene Medienwelt

    Von Interesse sind vermutlich auch Ort und Zeit der Handlung. Der in dem französischen Beitrag erwähnte Premierminister hieß Viktor Tschernomyrdin, die Zeitung Izvestia, ihr Chefredakteur war Igor Golembiowski, der Aktionär Lukoil. Der Skandal, der die Izvestia beinahe ihre ganze Belegschaft gekostet hat, ereignete sich im April 1997, vor fast 20 Jahren.

    Wahrscheinlich war es der erste Konflikt dieser Art: Die Regierung übt über einen privaten Eigentümer Druck auf die Medien aus, der private Eigentümer sieht sich gezwungen nachzugeben, der Chefredakteur wird entlassen, ein Teil der Journalisten folgt ihm. Diese Technik, die sich unter Putin eingeschliffen hat und jetzt von allen nur noch mit ihm assoziiert wird, kam schon vor seinem Regierungsantritt erstmals zum Einsatz. Und wenn irgendwann mal jemand ein Denkmal setzen will für die unabhängige Presse Russlands, zerschlagen vom Kreml, dann muss dort als erstes Datum das Jahr 1997 eingraviert sein.

    Damals gab keiner der Redaktion die Schuld

    Es wäre jedoch nicht zutreffend zu behaupten, dass bei jenem Zusammenstoß mit der Izvestia alles genauso gewesen ist wie später bei anderen Medien. Das heißt, den Konflikt gab es genauso wie heute, den Druck auf den Aktionär, die Entlassung des Chefredakteurs, den Abgang der Belegschaft, doch etwas war anders: Niemandem in den anderen Medien fiel es in Berichten über den Skandal und in Kommentaren ein, die Schuld am Geschehenen dem Chefredakteur und seinem Team zuzuschieben.

    Golembiowski und seine Mitarbeiter verhielten sich genau wie alle „einzigartigen Journalistenteams“, die folgten, von Jewgeni Kisseljows NTW bis zu Galina Timtschenkos Lenta, doch niemand buhte, niemand lachte sie aus und vor allem sagte niemand, sie hätten ja nunmal wirklich gegen Abmachungen verstoßen, verbotenes Terrain betreten und würden nur zu Recht bestraft. Das gab es ganz bestimmt nicht.  

    „Einzigartiges Journalistenteam“ wurde zum Mem, zum Witz

    „Einzigartiges Journalistenteam“ – um diesen Terminus hat dann erst die Ära Putin jene Technik bereichert, mit der unabhängige Medien zerschlagen werden: Das war im Jahr 2001, der Fall NTW. Vom „einzigartigen Team“ sprach als erstes das Team selbst, als es sich auf eigenen Wunsch hin mit Wladimir Putin traf. Fast zeitgleich begannen diejenigen Medien, die von der Attacke nicht betroffen waren (und die übrigens nicht mehr so waren wie 1997, sondern eine inzwischen maximal kremlloyale Izvestia), die Wörter „einzigartiges Journalistenteam“ bei jeder Gelegenheit zu wiederholen und verwandelten sie innerhalb kürzester Zeit in ein Mem, in einen Witz. Der Begriff selbst schrumpfte durch den aktiven Gebrauch sehr schnell auf seine Abkürzung UShK zusammen (Unikalnyi shurnalistski kollektiw) – es war unmöglich, diese Abkürzung ernsthaft zu verwenden.

    Was ist ein UShK? Das sind Journalisten, die sich viel zu viel aufbürden, die sich dem Glauben an die eigene historische Mission verschrieben haben, obwohl sie in Wirklichkeit bloß die Interessen ihres Eigentümers bedienen, im Fall des damaligen NTW die von Wladimir Gussinski.

    Berechnendes Verfahren oder psychologische Projektion?

    Vermutlich wird man heute nicht mehr feststellen können, was das genau war: eine aufoktroyierte politische Technik, die es ermöglichte, den öffentlichen Unmut über die Zerschlagung des Senders NTW im Keim zu ersticken oder aber eine psychologische Projektion der Journalisten aus anderen Medien? Denen daran lag, in erster Linie sich selbst zu beweisen, dass die Abhängigkeit der Redaktionspolitik vom Eigentümer, die Einmischung der Staatsmacht in die Redaktionspolitik, die Loyalität, die in totale Unterwürfigkeit übergeht – dass dies allgemeine Gegebenheiten sind, die keine Ausnahmen kennen.

    Indem sie sich über die UShKs lustig machte, erklärte die journalistische Gemeinschaft der 2000er Jahre: „Einzigartige Teams“ gibt es nicht, wir sind alle gleich, und die, die so tun, als wären sie anders als wir, werden wir immer hassen und mehr als jede Zensur.

    Heute scheint es, als sei genau das (und nicht etwa die Absetzung der ziemlich langweiligen Sendung Itogi) das wichtigste Ergebnis der NTW-Zerschlagung: Die Regierung hat nicht nur gelernt, mit den Medien fertig zu werden, die nicht ihrem direkten Einfluss unterliegen, sondern auch, die Solidarität der restlichen journalistischen Gemeinschaft zu beschneiden. Denn die zeigte sich gern bereit, sich von den „einzigartigen Teams“ zu distanzieren.

    Kaum jemand spricht mehr von Meinungsfreiheit

    Zum Zeitpunkt der Zerschlagung von RBC (denn die Entlassung von drei der drei Chefredakteure der Mediengruppe ist natürlich nichts anderes als eine Zerschlagung, besonders, wenn man bedenkt, dass es eben diese Chefredakteure waren, die ein nicht besonders einflussreiches Medium mit schwierigem Ruf zur führenden unabhängigen Mediengruppe in Russland gemacht hatten, und dass auch das jetzige Team von eben jenen Chefredakteuren zusammengestellt wurde, die man in diesem Frühjahr entlassen hat) war diese Technik bereits zur Perfektion gebracht. Kaum jemand spricht noch von Meinungsfreiheit, schon gar nicht erlaubt sich irgendwer, die Worte „einzigartiges Team“ in den Mund zu nehmen, und innerhalb der Branche wird erbittert darüber gestritten, ob die Mitschrift eines Treffens zwischen dem zerschlagenen Kollektiv und den neuen aus einer staatlichen Agentur herangeholten Redaktionsleitern in andere Medien durchsickern darf.

    Ein Problem der Gesellschaft, nicht nur der Medien

    Wahrscheinlich ist es aber so, dass das, was im Moment ein Problem der journalistischen Welt zu sein scheint, in Wirklichkeit ein Problem der Gesellschaftsstruktur insgesamt ist:

    Loyalität gegenüber der Staatsmacht, die zu Unterwürfigkeit wird, das Akzeptieren von Regeln, die die Staatsmacht im Alleingang aufstellt und verändert und die Befolgung dieser Regeln; die Alternativlosigkeit zu dieser Staatsmacht und die faktische Unmöglichkeit einer nicht-marginalen Unabhängigkeit von ihr – es wäre seltsam, wenn in einem solchen Koordinatensystem ein vollwertiger Journalismus, eine journalistische Ethik und Gemeinschaft existierten.

    Jeder journalistische Streit ist heute ein Streit um den Umgang mit der Staatsmacht: sich fügen, sich widersetzen oder davonrennen?

    An einzigartigen Journalistenteams gibt es in Russland heute genau eines. Nur ist es riesengroß und auf verschiedene Medien versprengt, aber das hat keine Bedeutung: Medien, die man jederzeit aus dem Kreml anrufen und anbrüllen kann, unterscheiden sich nur in Details voneinander.

    Jeder journalistische Streit ist heute ein Streit um den Umgang mit der Staatsmacht: Soll man mit ihr koexistieren, gegen sie ankämpfen oder vor ihr davonrennen? So formuliert ist die Frage, was vom Durchsickern der RBC-Mitschrift zu halten ist, vielleicht weniger schwierig zu beantworten – versucht es mal.

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  • „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    63 Frauen-Haftanstalten gibt es in Russland. In nur 13 davon sind Schwangere untergebracht und Mütter, die in Haft ein Kind zur Welt gebracht haben. 637 Kinder zwischen null und drei Jahren wachsen derzeit innerhalb der sogenannten „Zone“ auf, in der Regel getrennt von ihren Müttern.

    Auch Maria Noel brachte ihr drittes Kind während der Haft zur Welt. Die Journalistin und Aktivistin lebt heute in Frankreich und setzt sich mit ihrer Initiative Tjuremnyje Deti (dt. Gefängniskinder) ein für die Kinder und vor allem für deren Mütter. Im Interview mit dem Online-Journal KYKY erzählt sie von ihren eigenen Erfahrungen als Schwangere und Mutter in Haft.

    Mit freundlicher Genehmigung der Fotografin Victoria Ivleva zeigt dekoder außerdem Bilder aus einer Foto-Serie, die in den Jahren 1990 bis 2013 in zwei unterschiedlichen Kolonien entstanden ist:

    Im Jahr 1990 porträtierte Ivleva in der Kolonie in Tscheljabinsk den Alltag der Frauen, die in Haft schwanger waren und ein Kind zur Welt brachten. Knapp 20 Jahre später kam sie dorthin zurück und setzte die Serie fort, fotografierte auch in einer weiteren Kolonie in Nishni Tagil. An den Haftbedingungen für Mütter und Kinder hatte sich in der Zwischenzeit kaum etwas geändert: Sie sind getrennt voneinander untergebracht, die Mütter sehen ihre Kinder meist nur ein bis zwei Stunden pro Tag.

    KYKY: Sie waren schwanger, als Sie in Untersuchungshaft kamen. Im wievielten Monat waren Sie?

    Maria Noel: Im fünften. Wadik ist mein drittes Kind, und es war fast ein Wunder, dass ich nochmal schwanger geworden bin. Ein paar Jahre zuvor hatte ich einen schweren Schlaganfall, und solche Schwangerschaften wie meine verlangen große Vorsicht. Natürlich war das der Gefängnisleitung und den Ärzten bewusst. Weder mein Tod noch der Tod meines Kindes wäre ihnen recht gewesen. Sie reichten Anträge bei Gericht ein, wollten mir helfen. Im Grunde genommen haben sie freilich nur versucht, sich selbst unnötige Schwierigkeiten vom Hals zu halten …

    Frauen in Uniformen © Victoria Ivleva (1990)
    Frauen in Uniformen © Victoria Ivleva (1990)

    Das Erste, was mich in meinem neuen Leben erwartete, waren Schikanen durch das Wachpersonal. Nein, keine physischen – emotionale. Ich hörte unzählige Variationen zum Thema „Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen“, „Dir war doch klar, was du da tust“, „Mutti“ und so weiter. Der Bauch war schon gut zu sehen, und allein die Tatsache, dass ich schwanger war, sorgte ständig für Gespött. So war es nicht nur bei mir, das ist allgemein üblich – „ein bisschen piesacken“. Alle Formen von Erniedrigung wurden da ausprobiert.

    Zum ersten Mal habe ich erlebt, dass man Frauen derart behandelt, Frauen im Allgemeinen und Schwangere im Besonderen. Das war ein Schock, ich habe die ganze Zeit geheult, aber die Wachleute haben sich über mich kaputtgelacht.

    Kaputtgelacht?

    Ja, das klingt jetzt vielleicht komisch, aber sie [die Verwaltung der Besserungseinrichtungen und Mitarbeiter des russischen Strafvollzugssystems FSIN – KYKY] haben Kinder eigentlich ganz gern. Ein bisschen von wegen „Ich bin ja selber Oma und bin besser klargekommen“. Und sie behandeln die Insassinnen wie missratene Frauen, wie verwahrloste Kinder.

    Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Mit der Erklärung, man müsse sie vor ihren ‚nichtsnutzigen Müttern‘ beschützen

    Erwartet eine Frau während ihrer Haft ein Kind, findet man für diese Schwangerschaft schnell Erklärungen: potentielle Vorteile, Dummheit, alles Mögliche, nur nicht, dass sie dieses Kind vielleicht liebt und sich darauf freut. Niemand wird sich mit dir freuen, niemand wird mit dir mitfühlen. Alles, was du jetzt noch hast, ist: dich selbst und das Kind, und die Menschen, die draußen auf dich warten. Das Einzige, was man tun kann und auch tun sollte, ist die Spielregeln zu verstehen. Und die gibt es. 2011 haben wir eine Art Handbuch zum Thema Schwangerschaft in Untersuchungshaft zusammengestellt – zur Lektüre empfohlen, wie man so schön sagt.

    „Ich hörte unzählige Variationen zum Thema ‚Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen‘“ © Victoria Ivleva (2012)
    „Ich hörte unzählige Variationen zum Thema ‚Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen‘“ © Victoria Ivleva (2012)

    Diese schiefe Einstellung der Frau gegenüber hängt mit einer verkrusteten Sichtweise zusammen – einer sowjetischen. Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Sie werden isoliert, mit der Erklärung, das sei „notwendig“, um sie vor ihren „nichtsnutzigen Müttern“ zu beschützen.

    Wir haben eine lange Geschichte, die in die Zeiten des Gulag zurückreicht. Obwohl sich heute in den Lagern vieles zum Guten ändert und man im Großen und Ganzen nicht sagen kann, dass die Frauen gänzlich wie Vieh gehalten werden, lebt das System nichtsdestotrotz auf einer unbewussten Ebene nach den Traditionen des Gulag. Wir haben eine enorme „Entmenschlichung“ erlebt, das geht nicht spurlos vorüber.

    Manchmal werden die Frauen mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt

    Haben Sie im Gefängniskrankenhaus entbunden?

    Ich nicht, nein. Ich hatte einen Kaiserschnitt und bin von einem der besten Ärzte von Ufa operiert worden. Ich habe da gemischte Gefühle. Nach der Entbindung waren 24 Stunden am Tag drei Wachleute bei uns im Zimmer … Nach einer Weile nimmst du diese Menschen nicht mehr als Fremde wahr. Sie sind weder Verwandte noch Freunde, aber du kennst sie, gewöhnst dich an sie …

    „Nach der Entbindung sind 24 Stunden am Tag Wachleute im Zimmer … Sie sind keine Fremden und keine Freunde“ © Victoria Ivleva (1990)
    „Nach der Entbindung sind 24 Stunden am Tag Wachleute im Zimmer … Sie sind keine Fremden und keine Freunde“ © Victoria Ivleva (1990)

    Allerdings ist meine Geschichte weder die Regel noch eine Ausnahme. Wenn es nicht genug Wachpersonal für die Begleitung gibt, werden die Frauen manchmal mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt. Es kommt vor, dass man am ersten Tag nach der Entbindung überstellt wird, und das Kind – als freier Mensch – bleibt entweder so lange im Krankenhaus wie nötig, falls eine Untersuchung ansteht, oder es wird, was öfter geschieht, zusammen mit der Mutter in die Haftanstalt gebracht.

    Der Faden zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet

    Der Faden, die Bindung zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet. Eine Frau, die im Gefängnis entbunden hat, muss ständig ihr Recht behaupten, Mutter zu sein. Nach deiner Verurteilung (oder sogar schon früher, sobald gegen dich ermittelt wird) hört du genauso still und leise auf, ein Teil der „großen Welt“ zu sein und fängst an, nach den Regeln und Gesetzen der „kleinen Stadt“ zu leben, in der alles von der Verwaltung abhängt, und nichts von dir.

    Wie ist die übliche Vorgehensweise nach einer Entbindung?

    Kind und Mutter kommen dorthin zurück, von wo sie in die Geburtsklinik gegangen sind. Zusammen oder getrennt. Wenn der Mutter eine Überstellung per Eisenbahn bevorsteht, dann wird sie zusammen mit ihrem Säugling in einem der berüchtigten stolypinschen Waggons abtransportiert. Nach Ankunft in der Kolonie kommt das Kind ins Säuglingsheim, das sich auf dem Koloniegelände befindet (in Chabarowsk liegt es außerhalb des Geländes). Die Mutter hat das Recht, das Kind in den arbeitsfreien Zeiten zu sehen. Sie selbst unterliegt denselben Bedingungen wie die anderen Insassinnen auch.

    Schlittenfahren mit der „Gefängnisoma“ © Victoria Ivleva (2012)
    Schlittenfahren mit der „Gefängnisoma“ © Victoria Ivleva (2012)

    Das Kind bleibt in der Kolonie, bis es drei Jahre alt ist. Wenn die Mutter dann noch ein weiteres Jahr oder weniger absitzen muss, kann der Aufenthalt des Kindes auf bis zu vier Jahre verlängert werden. Wenn die Mutter noch eine längere Haftstrafe vor sich hat und keine Verwandten, die das Kind aufnehmen könnten, kommt das Kind in ein Kinderheim.

    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder. Einige holen ihre Kinder später aus den Kinderheimen, aber der Prozentsatz ist gering. Nur sehr wenige verlassen die Kolonie gemeinsam mit ihren Müttern und kehren nie wieder dorthin zurück.

    Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die ‚da drin‘ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen

    Wie viele Stunden am Tag darf die Mutter mit ihrem Kind verbringen?

    Laut Gesetz: während der arbeitsfreien Zeit. Und wenn die Mama nicht arbeitet? Bei uns hat die ganze Einheit eine Zeitlang nicht gearbeitet, und es gab nichts zu tun außer „Sticken“ oder dem nie endenden „Putzen des Geländes“, aber trotzdem – morgens zwei Stunden und abends zwei Stunden. Dabei sind die Kinder doch so klein. Zwischen null und drei Jahren – das Alter, in dem die Mutter fast rund um die Uhr gebraucht wird.

    Besuchszeit – zwei Stunden morgens … © Victoria Ivleva (1990)
    Besuchszeit – zwei Stunden morgens … © Victoria Ivleva (1990)
    … zwei Stunden abends © Victoria Ivleva (2012)
    … zwei Stunden abends © Victoria Ivleva (2012)

    Hier entsteht folgendes Problem: Bei einer Frau, die zum ersten Mal entbindet, kann es unter Stress vorkommen, dass die Mutterliebe nicht automatisch anspringt. Liebe ist ja auch eine Art Prozess. Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die „da drin“ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen.

    Liebe ist ein Prozess © Victoria Ivleva (1990)
    Liebe ist ein Prozess © Victoria Ivleva (1990)

    Ich höre oft, sogar von Menschenrechtlern, Beschreibungen wie „Frau mit schwierigem Schicksal“ oder „die wird sowieso einsitzen“ – wie sarkastisch. Ja, das sind Frauen, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Und was nun? Soll man sie aufs offene Feld führen und mit dem Flammenwerfer abfackeln?

    Nicht jede Gefangene, die ein Kind hat, begreift sich als Mutter. Aber es ist falsch mit Gewohnheiten zu argumentieren, wie dem Rauchen, zum Beispiel: „Was ist denn das für eine Mutter, die raucht doch!“ Das ist schlichtweg Blödsinn. In der Zone rauchen alle, oder so gut wie alle, denn Zigaretten sind nicht bloß eine Gewohnheit, sondern auch eine Art zu kommunizieren und eine „Universal-Währung“. Darüber braucht man nicht zu sprechen. Worüber man sprechen müsste, ist Barmherzigkeit. Aber diesem Wort begegnet man leider immer seltener.

     

    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder; einige holen ihre Kinder später aus den Heimen, aber der Prozentsatz ist gering. © Victoria Ivleva (2013)
    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder; einige holen ihre Kinder später aus den Heimen, aber der Prozentsatz ist gering. © Victoria Ivleva (2013)

    Kann eine Mutter denn zum Beispiel dort, wo sich ihr Kind befindet, als Kinderfrau arbeiten?

    Theoretisch ja. Ich habe anfangs als Kinderfrau gearbeitet, dann fing ich an, Musikunterricht zu geben. Praktisch das gesamte Personal, das mit den Kindern arbeitet, besteht aus Menschen „von draußen“. Die Kinderfrauen werden unter den Insassinnen ausgewählt. In der Regel nach dem Prinzip der „Konfliktfreiheit“ mit der Verwaltung, und überhaupt nicht danach, ob jemand ein Kind hat oder nicht.

    Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun

    Ist das ein Privileg?

    Man hat gute Bedingungen, auch wenn man im Gegensatz zur Arbeit in der Produktion kein Geld verdient. Die Arbeit der Kinderfrauen in der „Mutti“-Einheit wird als Gemeinschaftsdienst angesehen und nicht entlohnt. Dafür konnte man dort essen, wenn Lebensmittel übrigblieben, obwohl das, wenn es jemand mitbekommt, bestraft wird. Die Kinder bekommen viel besseres Essen als die Gefangenen. In meiner ganzen Zeit dort gab es nur ein paar Mal Engpässe in der Verpflegung der Kinder, dann hatten die Kinder ein paar Tage lang Graupen und Suppe mit Dosenfleisch, bis das Essen im Lager ankam.

    Viele unterstellen den Frauen, die sich für die Arbeit mit Kindern melden, sie hätten es auf die guten Bedingungen abgesehen. Es gibt dort eine Dusche. Die ist eklig und grauenvoll, ja, aber immerhin mit warmem Wasser. Du kannst zweimal am Tag heiß duschen. Vergleichen Sie das mal mit einmal die Woche „Banja“. Aber auch hier, die Bedingungen unterscheiden sich je nach Kolonie.

    Spaziergang © Victoria Ivleva (1990)
    Spaziergang © Victoria Ivleva (1990)

    Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun. Dabei ist es wichtig, sich um ein gepflegtes Äußeres zu bemühen und sich angemessen zu verhalten.

    Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum ‚böswilligen Verstoß‘. Ich hatte 14 oder 15 davon

    Wie reagiert die Verwaltung auf Frauen, die versuchen, für die Rechte ihrer eigenen Kinder zu kämpfen?

    Ich persönlich war in einer seltsamen Situation: Ich stand völlig unter Schock, war aber alles andere als „stumm“. Wenn mir etwas nicht gefiel, dann habe ich das gesagt. Naja, und wenn eine stillende Mutter in den Hungerstreik tritt, ist das echter Quatsch. Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum „böswilligen Verstoß“. Ich hatte 14 oder 15 davon.

    Heute von diesen Verstößen zu erzählen, ist ziemlich komisch, besonders wenn man bedenkt, dass ich auf Bewährung vorzeitig entlassen wurde. Verstehen Sie, was ich meine? Verstöße und Belohnungen, ja alles liegt einzig in der Hand der Verwaltung.

    Der erste Leiter der medizinischen Abteilung (später wurde das leitende Personal ausgewechselt), der in unserer Kolonie dafür verantwortlich war, wie die Kinder untergebracht sind und was sie essen, war schon ziemlich alt. Er trank, und eigentlich war ihm alles schnurzpiepegal.

    Viele holen ihre Kinder nicht zu sich, weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind © Victoria Ivleva (2013)
    Viele holen ihre Kinder nicht zu sich, weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind © Victoria Ivleva (2013)

    Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem, mit dem die Frauen nach ihrer Freilassung konfrontiert sind?

    Die Wiedereingliederung. Die Frauen kommen raus – und haben keine Ahnung, wie sie in dieser Welt leben sollen, wo sie hin sollen. Viele vergessen während der Haft – tut mir leid, wenn ich das so sage –, wie man Essen macht. Viele holen ihre Kinder genau aus diesem Grund nicht zu sich: Weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind, weil sie denken, dass sie für ihre Kinder nicht sorgen könnten. Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen. Ins Lager schicken sie dich ja, um, metaphorisch gesprochen, deine Persönlichkeit „auszulöschen“. Wenn man schon über Humanismus sprechen will, dann muss man darüber schreiben, sprechen und es zeigen.

    Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld

    Nach Natalja Kadyrowas Dokumentarfilm Die Anatomie der Liebe [der Film porträtiert Mütter und ihre Kinder im Strafvollzug – dek] und ihrem Projekt Gefängniskinder – denken Sie, der Stein ist ins Rollen gekommen?

     

    Wir haben es geschafft, die Sichtweise der russischen Strafvollzugbehörde auf die gemeinsame Unterbringung von Müttern und Kindern herumzureißen. Es ist klar, dass das alles nicht sehr schnell passiert, aber es passiert etwas.

    Helden im eigenen Reich © Victoria Ivleva (1990)
    Helden im eigenen Reich © Victoria Ivleva (1990)

    Natalja Kadyrowa und ich haben uns erst kennengelernt, als der Film herauskam. Ich war mit meinem Projekt beschäftigt, und Natascha drehte zu diesem Zeitpunkt schon ihre Dokumentation. Ich war erst skeptisch, dachte: Naja, noch so ein Film. Aber es kam anders. Der Film ist wichtig, programmatisch, wie man sagt. Nach seinem Erscheinen fingen die Leute an, uns zu schreiben, uns anzurufen. Ein Jahr später wurde der Film im Ersten Kanal gezeigt. Nicht zur Primetime, sondern nachts, ja, aber immerhin.

    Wie alt ist ihr Sohn jetzt?

    Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld. Vor allem die weibliche. Jede Frau hat andere Schwierigkeiten: Die eine findet keinen Partner im Leben, die Nähe zu einem Mann rückt in den Hintergrund. Eine andere wird erneut straffällig, einfach weil sie wieder im „Milieu“ landet oder keinen Platz für sich findet außerhalb der Zone.

    Unser System des Strafvollzugs gehört in eine andere Epoche, es ist ein Leben, das von der großen Welt losgelöst ist. Viele kehren dorthin zurück. Sie kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen.

    Viele kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen

    Gibt es im heutigen Russland jemanden, der sich ernsthaft für die Hilfe ehemaliger weiblicher Häftlinge einsetzt?

    Es gibt die Bewegung Rus sidjaschtschaja [Einsitzende Rus, gegründet von Olga Romanowa]. Der Fonds kümmert sich unter anderem um Hilfe für Frauen nach ihrer Entlassung. Es ist wichtig zu verstehen, dass sie genau solche Menschen sind wie alle anderen: Sie müssen essen, sich die Zähne putzen, Zugang zu medizinischer Versorgung haben … Doch die Gesellschaft reagiert ganz simpel: „Selbst schuld.“ Das war’s, Punkt.

    Ich bin zutiefst überzeugt, dass eine Frau, wenn man sie aus dem einen Boden in einen anderen verpflanzt, fähig ist, Wurzeln zu schlagen: Haus, Kinder – alles ist möglich. Ich kenne solche Beispiele. Die Haltung: „Du bist selber schuld, also sieh zu, wie du es hinkriegst“ – die ist wirklich asozial.

    Frauen unter sich © Victoria Ivleva (2013)
    Frauen unter sich © Victoria Ivleva (2013)

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  • Griechenland, Europa, Putin

    Griechenland, Europa, Putin

    In der Beziehung zwischen Russland und der EU nimmt Griechenland eine besondere Stellung ein: Die Verbindungen zwischen den orthodoxen Staaten sind traditionell eng, beide betrachten sich als Erben der byzantinischen Welt.

    Seit 2014 und den Ereignissen in der Ukraine sind Russlands Freunde in EU-Europa rar geworden. Wohl nicht ohne Grund erinnerte Putin nun, kurz vor seinem zweitägigen Besuch in Athen und dem russisch-orthodoxen Mönchskloster auf dem heiligen Berg Athos, in einem Gastbeitrag in der konservativen griechischen Tageszeitung Katherimini an die historische Verbundenheit der beiden Staaten: Moskau sucht den Schulterschluss mit Athen.

    In Griechenland ist das politische Spektrum stark polarisiert, sowohl linke wie rechte Parteien sind einflussreich, bei einer schwachen Mitte. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in anderen EU-Ländern beobachten. Umso aufschlussreicher kann ein Blick auf die griechisch-russischen Konstellationen sein, wie ihn Leonid Ragosin von The New Times unternimmt: Wie stehen die unterschiedlichen Strömungen der griechischen Politik zu Russland? Ist Athen wirklich der engste Verbündete Moskaus in der EU?

    Im Oktober 2015 versammelten sich in einem verqualmten und graffitibedeckten Hörsaal der Athener Technischen Universität Vertreter von 30 linken Organisationen aus 15 europäischen Ländern zum „antifaschistischen Forum" – European Forum for Donbass. Der Stadtteil, in dem das sogenannte Polytechnio liegt, war immer eine Hochburg der Linksradikalen gewesen: Noch vor kurzem wagte sich die Polizei, mit der die jungen Kommunisten und Anarchisten traditionell auf Kriegsfuß standen, kaum hierher. Die Versammelten einte der Wunsch, die Bewohner des Donbass in ihrem Kampf gegen die „ukrainischen Faschisten“ zu unterstützen.

    In breiter Front

    Auf dem Podium saßen, vor einer mit roten Hammer-und-Sichel-Fahnen behängten Wand, griechische Kommunisten, Gäste aus dem Donbass und ein junger Deutscher in einem grünen Trikot mit einer – russischsprachigen – „Pro Gaddafi“-Aufschrift.

    Der Headliner der Veranstaltung, Sergej Marchel, war ein ehemaliger IT-Mann aus Odessa, der die Ukraine verlassen hat und jetzt in ganz Europa Veranstaltungen zur Unterstützung des Donbass organisiert. Er erklärte, die Teilnehmer hätten sich darauf verständigt, ein internationales antifaschistisches Forum zu gründen.

    „Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können“, erläuterte Marchel.

    Der griechische Organisator Andreas Safiris war selbst im Mai 2015 im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion in den Donbass gereist. „Dort werden einfache Menschen zu Helden“, erinnerte sich der von der Standhaftigkeit der Donbass-Bewohner begeisterte Safiris in unserem Gespräch. „Sechzigjährige Frauen erklärten uns, sie würden lieber hungern und sterben als unter die Herrschaft der ukrainischen Faschisten zu geraten.“

    Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern der Welt eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können

    Die griechische Delegation hatte damals unter anderem den Lugansker Separatistenführer Alexej Mosgowoi getroffen – die Reise fand zwei Wochen vor dessen Tod statt. Die Mosgowoi-Brigade „Prisrak“ [Gespenst – dek] genoss bei den europäischen Linken Kultstatus, weswegen sich Spanier, Franzosen, Griechen und zahlreiche andere ihren Reihen angeschlossen hatten.

    „Ich war aber doch erstaunt, da ein Foto von Mosgowoi mit einem Porträt von Zar Nikolaus II. zu sehen. Ich hatte den Eindruck, der Mann ist Monarchist“, berichtete ein Teilnehmer, der anonym zu bleiben wünschte. Der griechische Donbass-Besucher ließ sich jedoch dadurch nicht weiter beirren, schließlich müsse man „in breiter demokratischer Front gegen den Faschismus kämpfen“, das sei seine Meinung.

    Die Frage ist nur: Wen bezeichnet man eigentlich als Faschisten? Diejenigen, die in Griechenland den dortigen Linken als Faschisten gelten, sind schließlich selbst ebenfalls Russland- und Putinfreunde.

    Der Goldenen Morgenröte entgegen

    Mit Ilias Kasidiaris treffen wir uns an seinem Arbeitsplatz – dem griechischen Parlament, wo er die rechtsextreme Partei Chrysi Avgi vertritt, die „Goldene Morgenröte“. Der zweite Mann in der Organisation (er selbst) sowie weitere Führungsfiguren der Goldenen Morgenröte sind derzeit in ein Verfahren verwickelt wegen Gründung einer kriminellen Organisation, die mit politischem Terror, mehreren Morden und der Verbreitung nazistischer Ideologie in Verbindung gebracht wird. Wobei er letztere auch schon auf seinem eigenen Körper verbreitet: Seine in griechischer Ornamentik gestaltete Hakenkreuz-Tätowierung geriet griechischen Fotojournalisten bereits mehrfach vor die Linse.

    Die Goldene Morgenröte ist aus der neonazistischen Subkultur aufgestiegen, und obwohl ihre Mitglieder heute die Verbindung ihrer Ideologie mit dem klassischen Faschismus leugnen, ist die Nachfolge in ihrer Rhetorik und ihren Attributen doch klar erkennbar.

    Kasidiaris hat umfangreiche Pläne zur Stärkung des russisch-griechischen Bündnisses. Unter anderem will er, dass Russland Gasleitungen durch griechisches Territorium verlegt und bei der Förderung von Erdgas im griechischen Schelf behilflich ist. Der Mythos von der möglichen Energie-Autarkie Griechenlands ist bei den griechischen EU-Gegnern populär, wird allerdings von Geologen nicht bestätigt.

    „Da ja die Amerikaner eine Militärbasis auf Zypern haben – was unseren (den griechischen) Interessen ganz und gar nicht förderlich ist – warum soll man nicht auf [der griechischen Insel] Syros auch eine russische Basis aufbauen, wenn von russischer Seite ein solches Interesse besteht“, sagt der Abgeordnete. Ihm zufolge gab es solche Überlegungen bereits unter der Regierung Kostas Karamanlis, der von 2007 bis 2009 griechischer Ministerpräsident war.

    Alle Schuld den Amerikanern

    Was den Ukraine-Konflikt betrifft, so gibt Kasidiaris alle Schuld den Amerikanern, die den Kiewer Maidan angezettelt und das Land in den Krieg getrieben hätten. In Russland, so Kasidiaris, arbeite seine Partei eng mit Shirinowskis LDPR und der Partei Rodina [Heimat – dek] zusammen, die ehemals vom heutigen russischen Vizepremier Dimitri Rogosin geführt wurde.

    Zwei Vertreter der Goldenen Morgenröte nahmen an einem Kongress politisch weit rechts angesiedelter Organisationen teil, den Rodina im Frühjahr 2015 in Petersburg ausgerichtet hatte. Die Veranstaltung verfolgte in erster Linie das Ziel, eine Koalition zur Unterstützung des russischen Vorgehens und der prorussischen Kämpfer in der Ostukraine zu bilden. So gesehen unterschied sie sich nur wenig von der weiter oben geschilderten Zusammenkunft der Linken in Athen, nur dass hier Leute teilnahmen, die in Fachkreisen für gewöhnlich als Neonazis gelten.

    Einer von ihnen war Alexander Miltschakow, Spitzname „Fritz“ – ein bekennender Petersburger Nazi, Anführer des im Donbass aktiven Diversions- und Sturmtrupps Russitschi, der sich aus seinen Nazi- und Neopaganisten-Freunden zusammensetzt.

    Ein weiterer extrem wichtiger Kontaktmann der Goldenen Morgenröte in Russland ist der Philosoph Alexander Dugin, eine Kultfigur in Neonazikreisen in ganz Europa. Die Partei teile – so Kasidiaris – seine Überzeugung, dass Russland (und nicht, zum Beispiel, das moderne Griechenland) der Erbnachfolger des Byzantinischen Reiches sei. Allerdings, sagt Kasidiaris, hätten die Goldene Morgenröte und Dugin unterschiedliche Meinungen zur Türkei: Der Russe Dugin betrachte das Land als Verbündeten, während es für die rechten Griechen ein Erzfeind sei.

    2014 hatte Dugin, Professor an der MGU, zwei hohe Mitglieder der Goldenen Morgenröte in der Universität empfangen, die zum Abschluss des Treffens erklärten, sie würden Russland als den wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die „amerikanische Expansionspolitik“ betrachten.

    Syriza hin …

    Dugin – ein Mann von aufgeschlossenem Charakter – ist dabei nicht nur mit den griechischen Neonazis befreundet, sondern auch mit deren Erzfeinden von der linken Partei Syriza, die aktuell in Griechenland die Regierung stellt.

    Dugin hatte 2013 auf Einladung von Nikos Kotsiatis, der heute das Amt des griechischen Außenministers bekleidet, einen Vortrag an der Universität Piräus gehalten. Allerdings ließen wiederum die griechischen Grenzbeamten Dugin am 18. Mai 2016 nicht ins Land – „auf ein Ersuchen Ungarns hin“.

    Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat

    Bei Vertretern von Syriza, unter denen viele ehemalige Kommunisten sind, rufen die herzlichen Beziehungen der Ultrarechten mit Russland Eifersucht und Ratlosigkeit hervor. „Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat“, sagt Panos Trigazis, Koordinator der Arbeitsgruppe für außenpolitische Fragen im Syriza-Parteivorstand.

    Als die Partei im Zuge der Wirtschaftskrise und der Enttäuschung der Griechen über die Europäische Union an die Macht kam, schien es klar, dass dies die russlandfreundlichste Regierung aller Zeit in Europa werden würde. Noch in der Rolle der Opposition war Syriza für eine Aufhebung der Sanktionen eingetreten, die die EU aufgrund des russischen Vorgehens in der Ukraine verhängt hatte. Kurz vor seiner Vereidigung als Premierminister traf sich der Parteichef Alexis Tsipras mit dem russischen Botschafter.

    Wenn wir sagen, die Beziehungen zu Russland müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren wollen

    Den Posten des Verteidigungsministers in Tsipras Kabinett bekam Panos Kammenos, Chef der kleinen rechtspopulistischen Partei Unabhängige Griechen und ein persönlicher Freund des Unternehmers Konstantin Malofejew, der eine Schlüsselrolle bei der Angliederung der Krim durch Russland und der Organisation des bewaffneten Aufstandes im Donbass gespielt hatte.

    Informationen verschiedener europäischer und amerikanischer Medien zufolge war Kammenos in Moskau zu Gast bei der Hochzeit von Giannis Karageorgis – einem griechischen Reeder, mit dem Malofejew die Gründung einer TV-Senderkette in Griechenland und anderen Balkanländern plant.

    … Syriza her

    Doch das anfänglich herzliche Verhältnis zwischen dem Kreml und dem Vorstand von Syriza kühlte allmählich ab. Tsipras erhielt nicht die russischen Kredite und Verträge, mit deren Hilfe er gehofft hatte, das Land aus der Krise zu führen, und sah sich gezwungen, demütigende Kompromisse bei Verhandlungen mit den führenden Ländern der EU einzugehen.

    „Ja, die früheren Regierungen haben den Ausbau der Beziehungen mit Russland vernachlässigt“, bemerkt Panos Trigazis jetzt. „Aber wenn wir sagen, die Beziehungen müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren oder Europa verlassen wollen.“

    Übrigens gibt es innerhalb von Syriza selbst höchst unterschiedliche Sichtweisen auf Russland. Der Anführer der prorussischen Fraktion, Panagiotis Lafazanis, hatte bis Juli 2015 einen Ministerposten in der Tsipras-Regierung inne, verließ dann jedoch die Partei und wechselte in die Opposition. Zur selben Zeit verabschiedete sich Finanzminister Yanis Varoufakis aus dem Kabinett, der – im Gegensatz zu seinem Parteikollegen – Putins Politik wiederholt kritisiert und von diktatorischen Tendenzen in Russland gesprochen hatte.

    Griechenland muss viele Faktoren berücksichtigen, unter anderem die Zypern-Frage

    Trigazis ist nicht einverstanden mit Varoufakis' Sichtweise. „Wenn Russland eine Diktatur wäre, dann säße die Kommunistische Partei nicht im Parlament“, meint er. Seiner Ansicht nach erfülle Russland die Kriterien eines demokratischen Mehrparteiensystems. Außerdem, fügt er hinzu, spiele Russland eine Schlüsselrolle im Kampf gegen das Bestreben der USA, eine unipolare, auf Washington zentrierte Weltordnung zu errichten.

    Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht

    Im Hinblick auf das russische Schlüsselthema, die Ukraine, äußert Trigazis einen vorsichtig prorussischen Standpunkt: Syriza respektiere die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine, aber die müsse wiederum „die Gefühle von nationalen Minderheiten respektieren“. Und weiter: „Die ethnischen Russen in verschiedenen Regionen der Ukraine wollen mehr Autonomie. Ich denke, diese Frage kann auf demokratischem Wege gelöst werden.“

    Mit der Krim ist es noch vertrackter: Die Halbinsel, führt Trigazis aus, sei Teil eines föderalen Systems gewesen – so wie der Kosovo innerhalb Serbiens und des ehemaligen Jugoslawiens. „Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht“, sagt er, und fügt hinzu, man müsse die „historischen Ungerechtigkeiten“ bedenken, unter denen die Krim in der Vergangenheit gelitten habe.

    Aber in jedem Fall werde die Syriza-Regierung, offenbart Trigazis, das Thema Krim nicht aktiv vorantreiben oder gar die Krim als Teil der Russischen Föderation anerkennen, denn: Priorität hat es nach wie vor, auf die territoriale Integrität der Insel Zypern hinzuarbeiten, die 1974 teilweise durch die Türkei annektiert worden war.

    Zudem erkennt Griechenland auch die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an. Insofern tritt die Syriza-Regierung für einen umfassenden Ansatz ein, der sowohl den Zypern- als auch den Kosovo-Faktor zu berücksichtigen hätte.

    In der Praxis bedeutet das: Syrizas Unterstützung für die russische Position bezüglich der Ukraine wird sich auf reine Rhetorik beschränken. Bisher jedenfalls hat Griechenland keinen Versuch unternommen, von seinem Veto-Recht bei der Verlängerung der Sanktionen gegen Russland Gebrauch zu machen, und auch in Zukunft wird es das nicht tun.

    Der Grad der griechischen Loyalität wird von der russischen Polit-High-Society stark überzeichnet.

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  • Business-Krimi in drei Akten

    Business-Krimi in drei Akten

    Wer in Russland ein Unternehmen gründet oder betreibt, gerät immer stärker unter Druck: Die Zahl an Strafverfolgungen von Unternehmern in Russland ist im vergangenen Jahr um 20 Prozent gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls Business-Ombudsman Boris Titow in einem Bericht, den er voraussichtlich Ende Mai dem Präsidenten vorlegen wird. Kreml-Sprecher Peskow ergänzte sogleich, dass der Bericht öffentlichen Zahlen anderer Unternehmensverbände wie der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer (RSPP) widerspreche.

    Das Online-Magazin Sekret Firmy dagegen klagt darüber, „wie man in Russland Unternehmen zerstört“. Viktor Feschtschenko beschreibt „das Ende einer schönen Epoche“ für Unternehmer anschaulich am Schicksal von dreien von ihnen.

    Wie lange sie noch zu leben hat, weiß Jelena Boldyrewa selbst nicht. Sie hat eine Schwerbehinderung zweiten Grades, alle sechs Monate muss sie für eine Woche ins Krankenhaus, doch dort war sie schon seit vier Jahren nicht mehr – erst entließ sie der Ermittler der Staatsanwaltschaft von Armawir nicht aus dem Hausarrest, und jetzt sitzt Boldyrewa sogar in Untersuchungshaft.

    Seit all diesen Jahren wird ihr, der Ehefrau eines Einzelhändlers, der Trockenwaren verkaufte, „Verbreitung von Rauschmitteln über den Verkauf von Lebensmittelmohn“ vorgeworfen. Dabei gab es keinen einzigen Schuldspruch. Nur zwei Freisprüche.

    Boldyrewa ist eine von Millionen Unternehmern, die ihr Geschäft in Russland aufgegeben haben. Allein seit 2013 ist die Zahl der Unternehmer laut Berechnungen der Assoziation russischer Banken und des Soziologischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) von 4,3 auf 2,8 Millionen gesunken.
    Ein Staat, der will, dass möglichst viele seiner Bürger ihm nicht länger auf der Tasche liegen und in die Selbständigkeit gehen, müsste in einer solchen Situation Unternehmern das Leben maximal erleichtern und das Entstehen von Startups fördern.

    Doch Russland geht eigene Wege: Die Silowiki sperren Unternehmer weiter hinter Gitter – in den vergangenen drei Jahren hat sich die Zahl der „Wirtschaftshäftlinge“ in den Untersuchungsgefängnissen fast verdoppelt.

    Die schönen Zeiten sind vorbei

    Jene schöne Epoche, als man ein eigenes Unternehmen gründen, Millionen verdienen und wenigstens halbwegs sicher sein konnte, dass einem ohne schwerwiegende Gründe niemand auf die Pelle rücken würde, ist vorbei.

    Das Magazin Sekret Firmy [Firmengeheimnis – dek] ist drei bezeichnenden Geschichten von Unternehmern unterschiedlicher Größe und Ausrichtung nachgegangen, die vom Business in Russland enttäuscht sind.

    Illustrationen © Roman Wetschtomow/Sekret Firmy
    Illustrationen © Roman Wetschtomow/Sekret Firmy

    I. Clubleben

    In den 2000er Jahren gründeten die Russen Unternehmen noch freudiger als ein Jahrzehnt zuvor. Sie waren beflügelt durch den wachsenden Konsum, der auf den Aufschwung des Ölpreises folgte – er war zeitweise auf 143 Dollar pro Barrel gestiegen.

    Doch im Weiteren wähnten sich die Silowiki und andere Staatsbeamte immer mehr von Strafen ausgenommen. Nach dem Fall YUKOS begannen Unternehmer zu ahnen, dass es ohne unabhängige Justiz keinen Rechtsschutz gibt für Unternehmen, egal welchen Kalibers: Wenn deine Firma einem Beamten oder einem seiner Verwandten gefällt, dann muss man sich entweder davon verabschieden oder sich verständigen.

    Das „Tauwetter“ änderte nichts

    Das „Tauwetter“ unter Medwedew und sein Slogan als Präsident mit dem iPhone: „Hört auf, das Business zu verschrecken konnten niemanden darüber hinwegtäuschen – die Haftbefehle gegen Unternehmer wurden nicht weniger, und in 96 Prozent der Fälle wird ihnen stattgegeben.

    Ende der 2000er Jahre entstand der bekannte Butyrka-Blog von Olga Romanowa und Alexej Koslow. Jana Jakowlewa rief nach ihrer Inhaftierung im Chemiker-Fall die Menschenrechtsorganisation Business-Solidarnost ins Leben und unterstützt seitdem Unternehmer, die strafrechtlich verfolgt werden.

    Schwarze Pelzrobe, vier Goldringe und ein repräsentativer Nissan

    Der Moskauerin Natalja Malinowskaja schienen all diese Zusammenstöße weit weg, jenseitig. Sie hatte nur positive unternehmerische Erfahrungen. Jetzt ist sie 32, hüllt sich in eine schwarze Pelzrobe, trägt vier Goldringe und fährt einen repräsentativen schwarzen Nissan.

    2009 hat sie gemeinsam mit ihrem Ex-Mann das Unternehmen Nowy Gorod [Neue Stadt – dek] geleitet. Sie schufen Werbeflächen und errichteten außerdem die Skihalle Snesh.com, ein Volleyballzentrum in Odinzowo und den Eispalast Arena Balaschicha. Der Vertrag mit LUKOIL über das Design ihrer Tankstellen brachte 50 Millionen Rubel [damals rund 1.140.000 Euro] im Jahr ein.

    Die jungen Millionäre verheizten das Geld in Clubs, bis sie sich alle Hörner abgestoßen hatten, aber Malinowskajas Traum vom eigenen Nachtclub blieb. 2009 entdeckte sie geeignete Räume in Balaschicha, in einer ehemaligen Textilfabrik. Inhaber war die Firma Russki Trikotash, die Kleidung der Marke Twojo (Deins) herstellten.

    Von Seiten der Firma wurde der Vertrag von Ilja Ussolzew unterzeichnet, dem Generaldirektor der OOO Baumwollspinnwerk Balaschicha, nebenamtlich lokaler Abgeordneter der Partei Einiges Russland.

    Beim ersten, recht freundlichen Gespräch erwähnt er Beziehungen zu den staatlichen Machtorganen

    Malinowskaja erinnert sich noch an ein Foto in seinem Büro, auf dem Ussolzew Wladimir Putin die Hand schüttelt. Und beim ersten, recht freundlichen Gespräch habe der Abgeordnete beiläufig Beziehungen zu den staatlichen Machtorganen erwähnt.

    Der Club Sawod [Fabrik – dek] ging erfolgreich an den Start. Das Partyvolk pilgerte von Moskau nach Balaschicha, auf der Bühne standen die Band Vintage und kleine Stars der 90er Jahre. Unter der Woche fanden im Club Bankette, Firmen- und Geburtstagsfeiern statt. Wie Malinowskaja versichert, habe der Bürgermeister von Balaschicha den Laden regelmäßig an hochrangige Besucher empfohlen.

    Aber es nützte nichts. Im August bestellte Ussolzews Assistent Malinowskaja zu sich und schlug ihr vor – so ihre Worte –, seine eigene Security aufzustellen, die nicht so sehr für Sicherheit sorgen sollte als vielmehr dafür, Drogen unter die Besucher bringen.

    „Damals hatte ich noch nicht die Angewohnheit, alles, was mir gesagt wird, mit dem Diktiergerät aufzunehmen“, bedauert die Unternehmerin, die diese Aussage nun nicht mehr beweisen kann. Auf eine Gesprächsanfrage von Sekret hat Ussolzew nicht reagiert.

    Malinowskaja lehnte ab – und einen Monat später bekam sie die Rechnung: Die Inhaber des Gebäudes drehten ihr den Strom ab. Ussolzew verlangte zunächst 30.000 Rubel [damals rund 680 Euro] von ihr (sie zahlte, der Strom blieb aus), dann 70.000 Rubel [damals rund 1600 Euro] (sie lehnte ab), dann 300.000 Rubel [damals knapp 6800 Euro] (sie lehnte ab).

    „Natalja, hier verlangen irgendwelche maskierten Leute, dass wir die Räumlichkeiten verlassen“

    Am Morgen des 25. Oktober 2009 überwies Malinowskaja eine weitere Pachtzahlung auf das Konto des Russki Trikotash. Ein paar Stunden später bekam sie einen Anruf von ihren Mitarbeitern: „Natalja, hier verlangen irgendwelche maskierten Leute, dass wir die Räumlichkeiten verlassen.“

    Malinowskaja, überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse, bat sie keinen Widerstand zu leisten und alle hereinzulassen. Von da an blieb die Fabrik für Gäste geschlossen.

    An jenem Tag fuhr sie zum Club, wo sie ein Versiegelung-Protokoll und einen Mahnbescheid wegen Zahlungsverzug ausgehändigt bekam. Malinowskaja rief sofort bei der Bank an und erkundigte sich, ob das Geld eingegangen sei. Dort bestätigte man ihr, dass die Summe bereits auf das Konto des Empfängers überwiesen sei.

    Malinowskaja weinte vier Tage am Stück. Am fünften riss sie den Siegel ab und betrat den Club. Nach ihrem Besuch wurden die Türen zugeschweißt.

    Zu dieser Zeit traf sich Malinowskaja mit Ussolzew. Sie erzählt, der Abgeordnete habe zu ihr gesagt, er wisse, auf welche Schule ihr Kind gehe, und es sei kein Problem, ein Kilo Heroin bei ihr finden zu lassen, außerdem stehe die Partei hinter ihm und so weiter.

    Die Polizei weigerte sich, eine Anzeige aufzunehmen

    Die Inhaber des Russki Trikotash drückten sich erfolgreich vor einem Gespräch. Bei der Polizei weigerte man sich, eine Anzeige gegen Ussolzew aufzunehmen, bezeichnete den Konflikt als „Streit unter Wirtschaftssubjekten“. Dann erstattete Malinowskaja Anzeige gegen Unbekannt mit der Bitte um Aufklärung, wer die Türen des Clubs zugeschweißt habe, in dem sich ihr Besitz befinde.

    Die Registrierung des Dokuments war ein Problem für sich – die lokalen Beamten nahmen sich mal einen Tag frei, wurden krank oder fehlten am Arbeitsplatz. Doch eines Tages hatte Malinowskaja Glück: Einer der Beamten von Balaschicha hatte vor zu kündigen und somit nichts zu verlieren – er nahm die Anzeige entgegen und holte sogar eine Erklärung von Ussolzew ein.

    Der Generaldirektor der Firma behauptete, der Vertrag mit Sawod sei aufgrund von Mietrückständen einseitig gekündigt worden. Bereits im Dezember waren die Räumlichkeiten gegen eine höhere Pacht als Malinowskajas an einen anderen Club vermietet, der teilweise Einrichtung und Möbel benutzte, die die Unternehmerin seinerzeit für das Sawod gekauft hatte.

    Alle Höllenkreise der Bürokratie durchlaufen

    Erst drei Jahre später konnte Malinowskaja die Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihren Widersacher erwirken. So lange hatte sich die Staatsanwaltschaft von Balaschicha geweigert. Malinowskaja legte immer wieder Beschwerde ein, die Moskauer Gebietsstaatsanwaltschaft leitete den Fall zur Prüfung weiter, die Staatsanwaltschaft Balaschicha verlor die Papiere – so ging es endlos weiter.

    Irgendwann verkaufte die Unternehmerin ihren gesamten Besitz: „Wenn man vor Gericht ziehen will, braucht man Geld.“

    Nachdem sie alle Höllenkreise der Bürokratie durchlaufen hatte, wandte sich Malinowskaja an die Generalstaatsanwaltschaft, und erst mit ihrer Hilfe konnte sie ihr Anliegen durchsetzen.

    Vor Gericht ist der Fall zwar noch immer nicht, doch die Chancen, dass es irgendwann mal so weit sein wird, stehen laut Malinowskaja jetzt deutlich besser.

    Natalja Malinowskaja will nie wieder in Russland Geschäfte machen

    Vor dem Hintergrund dieser Geschichte ist die ehemalige Unternehmerin zur Bürgerrechtlerin geworden. Sie unterstützt Unternehmer aus dem Moskauer Umland und einfache Bürger, studiert und will Rechtsanwältin werden. Sie besucht auch die Schule der Menschenrechtler der Organisation Rus sidjaschtschaja [Einsitzendes Russland – dek] von Olga Romanowa.

    In Russland Geschäfte machen will sie nie wieder, und die Schuldigen in Fällen wie diesen sind für sie korrupte Beamte. Die Situation retten könnten ihrer Meinung nach faire Wahlen, auf Landes- und auf regionaler Ebene.

    II. Plattmachen, bis zum Schluss

    Über Skype spreche ich mit Alexej Sorkin, er lebt in Spanien. Als ich anfange zu fragen, unterbricht Sorkin das Gespräch: „Ich vertraue Skype nicht besonders, lassen Sie uns zu Viber wechseln.“ Vor zwei Jahren ist er aus Russland weggegangen, aus Angst um sein Leben, und Angst hat er noch heute.

    Der 46-jährige Sorkin hat die militärisch-ingenieurtechnische Universität in St. Petersburg abgeschlossen, aber bei der Armee dienen wollte er nicht.

    Es waren die 90er Jahre, Armeeangehörige fristeten ein ärmliches Dasein, und so begann er als Spediteur beim Konzern Orimi. Bis 2000 war er zum Direktionsleiter aufgestiegen, jedoch zerfiel das Unternehmen nach der Ermordung des Inhabers Dimitri Warwarin.

    Sorkin machte sein eigenes Ding

    Sorkin machte sein eigenes Ding und gründete die Firma Petro-Sorb-Komplektazija. Er hatte den Plan, Analysegeräte für Sprengstoffe herzustellen. Die Idee war ihm nach den Wohnhausexplosionen in Moskau gekommen – Sorkin hatte den Eindruck, dass die Ermittler nicht besonders sorgfältig arbeiteten.

    Mit Sprengstoffen kannte er sich seit der Uni aus, und wie man eine Produktion organisiert, wusste er dank seiner früheren Arbeit. Es fehlten nur noch Kontakte zum Innenministerium, dem potentiellen Hauptabnehmer der Ware.

    Sorkin verschickte ein paar Briefe – und es funktionierte, denn nach seinen Angaben hatte sonst niemand Analysegeräte in dieser Qualität und Bedienungsfreundlichkeit.

    Der Unternehmer ist sich sicher: Die Silowiki waren damals noch an der Optimierung ihrer Arbeit und nicht nur an korrupten Machenschaften interessiert, deshalb reagierten sie positiv auf das Angebot.

    Das Unternehmen machte 3,5 Millionen Dollar Umsatz. Aber irgendetwas ging schief

    2011 war Sorkin zum größten Lieferanten von Alkoholmessgeräten aufgestiegen, stellte außerdem Analysegeräte her sowie stationäre Videoüberwachungsanlagen und Dashcams mit eigener Software. Das Unternehmen erreichte einen Umsatz von 3,5 Millionen Dollar, es operierte in 60 Regionen Russlands. Aber irgendetwas ging schief.

    Ab 2009 fingen sie an, seine Firma von öffentlichen Ausschreibungen auszuschließen, aus merkwürdigen Gründen: Mal passte das Gewicht des Gerätes nicht, mal die Farbe eines Knopfes, mal die Bauweise (Dokumente, die den Ausschluss von Ausschreibungen belegen, liegen der Redaktion vor).

    Ab 2011 kamen die technischen Anforderungen für Ausschreibungen dann aus dem Hauptsitz des Innenministeriums in die Regionen. Und alle waren laut Sorkin im Interesse bestimmter Unternehmen verfasst, die von der Führungsetage des Ministeriums kontrolliert wurden.

    „Sorkins Firma plattmachen bis zum Schluss“     

    Im Büro tauchten immer öfter Inspektoren auf. Bald erreichte den Unternehmer über bekannte Beamte die Verlautbarung einer leitenden Person im Innenministerium: „Sorkins Firma plattmachen bis zum Schluss.“     

    Im Frühjahr 2013 kam Sorkin aus seinem Petersburger Büro der Petro-Sorb-Komplektazija, als ihm gleich ein grauer Škoda ins Auge sprang, den er schon mal irgendwo gesehen hatte. Als er an seinem Auto war, überprüfte er sicherheitshalber den Unterboden. Er fand nichts, setzte sich ans Steuer und fuhr los zu einem Termin.

    Der Škoda hielt sich in einiger Entfernung, aber Sorkin ahnte, dass er verfolgt wird. An einer Ampel konnte er im Auto seinen ehemaligen Mitarbeiter Jewgeni Kuryschew ausmachen. Zusammen mit ein paar anderen Angestellten hatte der erst vor kurzem zum Konkurrenten Alkotektor gewechselt.

    Sorkin ist sich sicher, dass das Unternehmen mit den höchsten Führungsleuten im Innenministerium verbandelt ist, er kann sogar konkrete Namen nennen.

    Der Geschäftsmann berichtet, er habe sich mit ihnen wegen des Ergebnisses einer Ausschreibung rechtlich angelegt, und sie hätten ihm daraufhin seine Mitarbeiter abgeworben, um Zugang zu Unternehmensunterlagen zu bekommen.

    Geräte in Millionenwert gestohlen

    Die Mitarbeiter selbst hätten dann eine identische Firma gegründet, Alkotektor – ein Unternehmen, das Alkoholmessgeräte und Anlagen zur Videoüberwachungsanlagen herstellt. Innerhalb eines Jahres habe sie Ausschreibungen des Innenministeriums im Wert von 120 Millionen Rubel [damals rund 2,7 Millionen Euro] gewonnen, und die gelieferten Geräte – so Sorkin – hätten die ehemaligen Mitarbeiter schlicht aus seinem Lager gestohlen.

    Die Alkotektor-Mitarbeiterin, die meinen Anruf entgegennahm, teilte Sekret mit, die Geschäftsführung sei auf Dienstreise und habe keine Zeit für Gespräche. Außerdem „wolle der Generaldirektor nicht über Sorkin sprechen“. Auf die Frage „Warum?“ antwortete die Mitarbeiterin: „Wenn Sie die Situation im Ganzen verstehen würden, dann müsste ich Ihnen das gar nicht  erklären.“ Diese Äußerung wollte sie nicht näher ausführen.

    Bei der Polizei sagte man ihm: „Sie wurden ja nicht umgebracht“

    Als Sorkin klar geworden war, dass man ihn beschattete, fuhr er zum Polizeihauptrevier von St. Petersburg und erstattete Anzeige. Dort sagte man zu ihm: „Sie wurden ja nicht umgebracht“, und weigerte sich, die Anzeige aufzunehmen.

    Der Unternehmer bekam es jetzt richtig mit der Angst zu tun. Er kannte die leitenden Köpfe im Innenministerium ziemlich gut und zweifelte nicht, dass sie bis zum Äußersten gehen würden. Aus diesem Grund zog er Anfang 2014 nach Spanien, wo er seit längerem ein Haus besaß.

    Etwas mehr als ein Jahr lebte Sorkin im Ausland. In dieser Zeit hat man ihm 50 Prozent seines Unternehmens Petro-Sorb-Komplektazija weggenommen, einen neuen Direktor eingesetzt, das Konto geplündert und die Firma faktisch in den Bankrott getrieben. Aber Sorkin gibt die Hoffnung nicht auf, sich die Firma zurückzuholen, und erhebt Klagen beim Schiedsgericht in St. Petersburg.

    Ein weitere Art zu kämpfen besteht für ihn in der Unterstützung der Opposition. Nach der Ermordung von Boris Nemzow kehrte er nach Russland zurück, um der Demokratischen Koalition bei den Wahlen in Kostroma zu helfen. Er arbeitete die gesamte Kampagne hindurch und reiste im Oktober zurück nach Spanien, um einige Wochen später wieder nach Russland zu fahren.

    Ein Signal, dass seine Anwesenheit in Russland nicht erwünscht ist

    Während Sorkin in Spanien war, wurde das Büro seiner neuen Firma durchsucht. Er hatte eine neue Firma mit zwei Büros in St. Petersburg und Spanien gegründet, die lokale Immobilien an Russen verkaufte. Es schien nicht weiter schlimm, es wurden nur Papiere zum Thema Petro-Sorb-Komplektazija entwendet. Aber er fasste dies als Signal auf, dass seine Anwesenheit in Russland nicht erwünscht ist. Deshalb hat er bis auf Weiteres nicht vor, in die Heimat zu reisen.

    Sorkin träumt von einer Rückkehr, sobald „Putins Regime gefallen ist“. Er hat keinen Zweifel daran, dass dieser Zeitpunkt in nicht allzu weiter Ferne liegt, und erhofft sich von einer neuen Regierung, dass sie alle Silowiki aus den Ämtern heben und ein unabhängiges Rechtssystem schaffen wird. Er selbst will dann den guten Namen seines Unternehmens wiederbeleben.

    Solange das noch nicht passiert ist, will er keine Geschäfte in Russland machen. Sorkin ist der festen Überzeugung, dass Putin und die von ihm geschaffenen Beziehungsstrukturen mit der Wirtschaft die Wurzel allen unternehmerischen Übels sind.

    III. Der Mohn-Fall

    Eines Tages im Juni 2011 kam Jelena Boldyrewa – sie handelt mit Trockenwaren, darunter auch mit Mohn – aus der Steuerbehörde ins Großhandelslager von Armawir. Graue einstöckige Lagerbauten, aufgetürmte Paletten, Verpackungen, Kartons und Papiermüll lagen auf dem sonnenheißen Asphalt. Sie ging hinter die Verkaufstheke und zwängte sich dort in ein winziges Kabuff, wo ihr Mann Dimitri sie erwartete.

    „Jemand von Set war gerade hier. Ich habe Instantnudeln und Makkaroni bestellt. Die haben gesagt, wenn wir noch ein bisschen mehr bestellen, geben sie uns neun Prozent Rabatt.“

    „Wir haben doch eigentlich alles.“ Boldyrewa verstand nicht gleich.

    „Naja, ich dachte, wir könnten mal was Neues probieren, die Produktpalette erweitern. Sie haben uns Gewürze angeboten, Mohn und so, da hab ich ja gesagt.“

    „Mehr gibt es da gar nicht zu berichten. Wir haben einfach angefangen zu handeln“, erinnert sich Boldyrewa. Ich besuchte sie letzten September in Armawir. Während des Gesprächs briet Boldyrewa Kartoffeln: „Der Laden brachte uns 100.000 Rubel [damals 2500 Euro] Gewinn im Monat, zum Jahreswechsel waren es sogar mehr. Jetzt haben wir unseren Porsche Cayenne verkauft, leben von meinen und Mamas 9000 Rubel Rente [120 Euro] und von dem, was mein Sohn hin und wieder verdient. Wir ernähren uns hauptsächlich von den Nudeln, die noch im Lager übrig waren.“

    Ein paar Monate nach dem ersten Mohneinkauf waren Mitarbeiter des Föderalen Dienstes für Rauschgiftkontrolle (FSKN) bei Boldyrewa im Lager aufgetaucht. „Sie waren höflich.“ Sie baten sie, am nächsten Tag mit ihren Papieren bei ihnen vorbeizukommen.

    Das Angebot, sich „freizukaufen”, lehnte sie ab

    Beim FSKN habe man Boldyrewa zunächst erklärt, dass im Mohn Spuren von Rauschgift enthalten sein könnten und der Handel damit deshalb verboten sei, man habe eine Verwarnung ausgesprochen und ihr dann angeboten, sich „freizukaufen“. Sie lehnte ab und man ließ sie gehen.

    Bis zum Februar 2012 arbeiteten die Boldyrews weiter, als wäre nichts gewesen. Dann stürzte alles mit einem Mal ein. Zwischen dem ersten FSKN-Besuch und jenem im Februar fiel den Boldyrews langsam auf, dass in ihrem Laden im Großlager regelmäßig vier etwas merkwürdige Kunden auftauchten. „Sie sahen blass aus, wirkten irgendwie lahm, sprachen langsam.“

    Die Unternehmerin ahnte, dass sie wahrscheinlich drogenabhängig waren, zumal sie Mohn kauften, aber sie wusste nicht, was sie mit ihnen machen sollte: „Hätte ich etwa ihre Blutwerte testen sollen? Oder vielleicht schreien: Verschwinde hier, du Junkie!?“

    Am 6. Februar 2012 verkauften sie gerade fünf Päckchen an einen hiesigen Lagerarbeiter und Alki, als plötzlich bewaffnete Leute ihren Laden stürmen. „Hände auf den Tisch, Telefone aus, und unseren Mitarbeiter packten sie am Kragen und zerrten ihn in das Kabuff“, erinnert sich Boldyrewa.

    Am nächsten Tag kamen sie in Vorbeugehaft

    Am nächsten Tag nahm das Gericht die Boldyrews, den Lagerwachmann Molotkow und den Fahrer Gadshijew in Vorbeugehaft. Allerdings wurde Boldyrewa wegen ihrer Behinderung nach drei Wochen entlassen und unter Hausarrest gestellt.

    Im Juni 2012 erklärte das Berufungsgericht der Region Krasnodar die Verfahrenseinleitung für rechtswidrig.
    Im Dezember fällte das Gericht in Armawir die gleiche Entscheidung.

    Es wurde festgehalten, dass die Boldyrews bei Großhändlern offiziell angekauften Lebensmittelmohn in Plastikverpackungen ohne Öffnungsspuren verkauft hatten und deshalb nicht wissen konnten, dass darin Rauschgiftsubstanzen enthalten waren. Die Angeklagten wurden gleich im Gerichtssaal auf freien Fuß gesetzt.

    Nach dem Prozess suchten sie Arbeit in Moskau

    Аnschließend machten sie sich auf zu Verwandten nach Moskau, um Arbeit zu suchen. Dort stand Boldyrewa regelmäßig um sechs Uhr in der Früh auf, stieg an der Station Timirjasewskaja in die Monorail und fuhr zu ihrer Arbeit als Kassiererin im Supermarkt Lenta an der WDNCh. Auch ihr Mann war dort untergekommen, als Wachmann.

    „Unser ganzes Leben lang waren wir Unternehmer, und jetzt sind wir selbst Verkäufer“, seufzt sie. Nach der Entlassung hatten sie für die Wiedereröffnung ihres Geschäfts kein Geld. In Moskau verdienten sie 2000 Rubel [damals knapp 50 Euro] am Tag.

    Eines Tages im Mai wurde Boldyrewa am Supermarkteingang von zwei Passanten in Zivil angesprochen: „Guten Tag, sind Sie Jelena?“ Im ersten Moment dachte sie, dass ihr eine Strafe wegen der fehlenden Anmeldung in der Hauptstadt blühe, aber sie hatte sich geirrt: „Wir würden gerne mit Ihnen über Ihren Fall in Armawir sprechen.“ Die ehemalige Unternehmerin atmete auf: „Ach so, na da wurde ich freigesprochen, alles in Ordnung, nach der Arbeit können wir reden.“ „Leider nein, wir müssen gleich aufs Revier fahren.“

    In der Polizeidienststelle teilte man Boldyrewa mit, der Freispruch sei durch das Regionalgericht Krasnodar widerrufen worden. Dasselbe Gericht, das das Verfahren zuvor für rechtswidrig erklärt hatte. Am nächsten Tag wurden sie in mehreren Etappen nach Armawir geschickt. Ihren Mann sperrte man wieder ins Untersuchungsgefängnis, Jelena kam unter Hausarrest …

    Jeder weiß alles über die Staatsanwälte und Ermittler hier

    Bogdan Boldyrew setzt sich hinter das Steuer seines alten Lada 7 mit störrischem Schaltgetriebe, und wir fahren zusammen zum Großhandelslager Armawir. Er besitzt keinen Führerschein, denn der kostet Geld. Aber er kennt alle Verkehrspolizisten – die Stadt ist klein. Und genauso weiß jeder alles über die Staatsanwälte und Ermittler hier.

    Er schildert mir die Legenden, die über die vier Junkies kursieren, die im ersten Prozess gegen seine Eltern mitgewirkt haben und bald nach dem Freispruch unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind, und erzählt, dass das FSKN-Gebäude in Armawir vor ein paar Jahren mit einem zwei Meter hohen Zaun abgeriegelt wurde, weil es zu viele gab, die mit den Mitarbeitern ihre offenen Rechnungen nach Knastgesetz begleichen wollten.

    Laut Bogdan hat jeder dritte junge Mann in Armawir wegen Paragraph 228 (Drogenbesitz) gesessen – die jungen Leute werden eingesperrt, um gute Zahlen vorzuzeigen.

    Sie kämpft weiter. Etwas anderes bleibe ihr sowieso nicht übrig

    Nach ihrer Rückkehr aus Moskau im Mai 2013 wurden die Boldyrews erneut freigesprochen. Das Gericht in Krasnodar lehnte den Entscheid wieder ab und gab den Fall zurück an das Gericht in Armawir. Letzteres hat bereits fünf Mal seine Nachuntersuchung angeordnet. Diese ganze Zeit über sitzen Boldyrew der Ältere, Molotkow und Gadshijew in U-Haft.

    Im Gespräch mit mir berichtet Boldyrewa nüchtern, dass das Leben ihrer Familie von außen betrachtet zerstört sei, aber sie versuche weiterzukämpfen, еtwas anderes bleibe ihr ohnehin nicht übrig. Die Schuld an ihrer privaten Katastrophe gibt sie – genau wie Sorkin – Putin und der „Willkür, die er angezettelt hat“.

    Im Dezember 2015 wurde der vorbeugende Hausarrest für Boldyrewa in eine Inhaftnahme umgewandelt. Nach Aussage ihrer Anwältin Ella Peschnaja habe die Gesundheitskommission die früher diagnostizierte Krankheit nicht feststellen können. Der Behinderungsgrad sei schließlich aufgehoben worden – weil der Ermittler sie nicht zwecks Nachweis zur Untersuchung habe gehen lassen.

    Der Fall liegt nun wieder beim Gericht Armawir.


    Epilog

    Einen Monat nach seiner zweiten Inauguration hat Wladimir Putin das Amt des Beauftragten für Unternehmerrechte eingerichtet und mit dem Inhaber der Weinkellerei Abrau-Djurso Boris Titow besetzt.

    Die Befugnisse dieses Beamten blieben allerdings eng begrenzt. Seine einzige Waffe sind Schreiben zur Unterstützung von Unternehmern, die genauso viel Gewicht haben wie Anfragen von Abgeordneten. Titows erfolgreichste Initiative war die Amnestie für Unternehmer im Jahr 2013, auf deren Grundlage 2466 Menschen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurden.

    Jana Jakowlewa von BusinessSolidarnost meint, dass ein solcher Ombudsmann nicht konkreten Unternehmern helfen müsste, sondern die kriminellen Strukturen offenlegen, die sie erst ins Gefängnis bringen, doch dafür würden seine Kompetenzen nicht ausreichen.

    Ein weiterer Bürokrat, aber keine Lösung

    Wie auch immer, das Problem wurde nicht gelöst, sondern nur ein weiterer Bürokrat gerufen, der sich dem Krebsgeschwür des Verwaltungssystems annehmen sollte. Mittlerweile konzentriert sich Titow auf seine politische Karriere in der Partei Prawoje delo.

    In einer Mitteilung an die föderale Versammlung sagte Putin, dass 2014 200.000 Strafverfahren gegen Unternehmer angestoßen worden seien, von denen nur 30.000 vor Gericht landeten.

    Der Trend scheint offensichtlich: Die Verfahren dienen der Einschüchterung von Unternehmern. Und die Erpresser können so offensichtlich die Übernahme des Business oder Freikaufzahlungen erwirken, bevor der Fall vor Gericht kommt.

    Aber der Präsident zog aus diesem Trend seine ganz eigenen Schlüsse und er schuf eine Gruppe zur Konfliktlösung zwischen der Unternehmerwelt und den Silowiki – im Grunde eine offizielle Struktur zur „Problemklärung“.

    Ein „postfeudales“ Bezugssystem

    Der Wirtschaftsexperte Andrej Mowtschan bezeichnete dieses Bezugssystem als „postfeudal“. Grob gesagt ist ein Unternehmen demzufolge etwas, das man zwar unterhalten darf, aber nicht vorbehaltlos besitzen. Und wenn eine einflussreiche Persönlichkeit ein Auge darauf geworfen hat, gibt es keine Rechtsmittel, die dich schützen könnten.

    Die Verhaftung des Domodedowo-Inhabers Kamenschtschik, der massenhafte Abriss von Verkaufspavillons sowie – etwas breiter gefasst – die Verschlechterung des Investitionsklimas und das Ausbleiben von Reformen: Mit Blick auf all diese jüngsten Entwicklungen haben Unternehmer immer weniger Lust in Russland ein Geschäft zu gründen.        

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  • Russische Parallelwelten

    Russische Parallelwelten

    Das staatliche Fernsehen ist in Russland Hauptinformationsquelle für einen Großteil der Bevölkerung. Inzwischen hat es der Kreml fast vollständig unter seine Kontrolle gebracht, wie auch internationale Nichtregierungsorganisationen immer wieder kritisieren. Im Gegensatz dazu sind unabhängige Medien meist nur über das Internet zugänglich und erreichen weit weniger Menschen.

    Der Wirtschaftswissenschaftler und Journalist Dimitri Trawin sieht die russische Bevölkerung in zwei parallelen Welten leben – abhängig davon, über welche Medien sie sich informieren.

    Vor vier Jahren hat Wladimir Putin zum wiederholten Mal die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Seitdem hat er vieles erreicht. Allerdings so gar nichts von dem, was Russland vor einer Krise hätte bewahren können.

    Gespaltenes Land

    Heutzutage hört man oft, Russland sei gespalten in eine imperiale Mehrheit, die die Politik des Kreml unterstützt, und eine demokratische Minderheit, die sich in der Opposition befindet. Tatsächlich ist es sehr viel komplizierter. Die beiden einander gegenüberstehenden Teile der Gesellschaft betrachten nicht nur das, was passiert, unterschiedlich, nein, sie leben faktisch in zwei verschiedenen Ländern. Oder genauer: Sie sehen zwei einander nicht ähnelnde Russlands, denn der eine Bevölkerungsteil sieht das Land durch den Fernsehbildschirm und der andere durch das Internet.

    Das Fernseh-Russland sieht etwa folgendermaßen aus: Es ist ein Land, das Ende der 1990er Jahre kurz vor der Auflösung stand, weil es dem Einfluss äußerer und innerer Feinde ausgesetzt war. Oligarchen und von ihnen angeheuerte liberale Spasten arbeiteten aktiv daran, Russland zu zerstückeln, denn in diesem Zustand könnte es die sich heranpirschende Nordatlantische Allianz leichter erobern. Die ist in Wirklichkeit auch gar nicht der militärisch-politische NATO-Block, sondern nur eine Gruppe europäischer Staaten, allesamt Marionetten der USA.

    Amerika hat Angst bekommen

    Zum Glück erschien Wladimir Putin auf der Bildfläche und das Leben wendete sich schnell zum Besseren. Gehälter und Renten stiegen, es lohnte sich, zu arbeiten. Das geschah, weil Putin die Oligarchen bändigte. Sie hörten auf zu stehlen und für die Tätigkeiten der liberalen Spasten zu löhnen, ergo blieb mehr Geld für das Volk übrig. Russland erhob sich von den Knien, stärkte seine Armee und begann, sich das zurückzuholen, was ihm von Rechts wegen gehört: zuerst den Nordkaukasus, einschließlich Abchasien und Südossetien, dann die Krim.

    Amerika hat Angst vor uns bekommen, hat aber weiter Intrigen geschmiedet, weswegen aus den Läden viele handelsübliche Lebensmittel verschwanden. Der Ölpreis ist gesunken aufgrund eines Komplotts zwischen den USA und den Arabern (und vielleicht auch den Türken). Mittlerweilen wollen uns die Amerikaner nicht mehr mithilfe von Vaterlandsverrätern besiegen, sondern mithilfe von Wirtschaftssanktionen. Aber China und die anderen BRICS-Staaten sind auf unserer Seite, und das bedeutet, dass wir nicht schwächer sind als Amerika – sowohl in militärischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht.

    Die Fernsehwelt gibt es nicht

    Das vom Internet geschaffene Weltbild dagegen ist völlig anders. Beginnt man, die Informationen aus der Masse im Netz verfügbarer, unabhängiger Quellen mit denen aus dem Fernsehen zu vergleichen, wird schnell klar, dass es die Fernsehwelt in der Realität nicht gibt – sie ist professionell konstruiert, eigens für die Zuschauer, die hin und wieder zu Wählern werden.

    Erstens: Ende der 1990er Jahre war Tschetschenien die einzige Republik, die aus der Russischen Föderation austreten wollte. Baschkirien und Tatarstan bekamen vom Kreml die Erlaubnis, einen Teil ihrer Erdöleinkünfte nicht an das föderale Zentrum abzugeben, was jeglichen Separatismus dort unterband. Mittlerweile wird auch Tschetschenien mit ähnlichen Mitteln in der Föderation gehalten. Mit einem Unterschied: Während die fügsamen Republiken nur einen Teil dessen einbehalten, was sie auch selbst erwirtschaften, investiert Moskau in Tschetschenien Gelder, die aus Geberregionen abgezogen werden. Bei einer derartigen finanziellen Unterstützung kommt Ramsan Kadyrow natürlich nicht auf separatistische Ideen. Aber wenn Moskau einmal das Geld ausgeht …

    Zweitens hat es nie eine Abrechnung mit den Oligarchen gegeben. Die spektakulären Geschichten um Beresowski und Chodorkowski haben den Anschein erweckt, als würde der Staat erstarken. Doch fast das ganze Vermögen der Oligarchen aus den 90er Jahren gehört noch immer seinen Besitzern, es ist sogar stark angewachsen. Außerdem sind neue Schwerreiche hinzugekommen – Vertraute aus Putins engstem Kreis oder solche, die sich in Putins System verdient gemacht haben. Dabei ist jedem Oligarchen klar, dass er bei der ersten Aufforderung von Seiten des Kreml verpflichtet ist, für jegliche Bedürfnisse der Machthaber umgehend Geld zu überweisen. Solche Transfers garantieren die Unantastbarkeit der Vermögen.

    Drittens: Das Leben ist nicht deswegen besser geworden, weil Putin den Oligarchen das Geld abgenommen hat, sondern dank der gestiegenen Ölpreise. Aus demselben Grund hat sich übrigens auch das Kapital der Oligarchen vervielfacht. Und aus demselben Grund wird das Leben jetzt schlechter. Immer noch ist Putin Russlands Präsident, doch von dem einstigen Wirtschaftswunder fehlt jede Spur. Unsere Einkommen verlieren wegen der hohen Inflation zunehmend an Wert, und der Staat hat keinerlei Möglichkeit, sie an die steigenden Verbraucherpreise anzugleichen. Die Situation kann sich im Weiteren nur verschärfen, es sei denn, der Ölpreis sollte aus irgendeinem Grund wieder steigen.

    Viertens: Die NATO ist den Grenzen der Russischen Föderation nähergerückt, weil sie von Staaten, die Russland misstrauten, darum gebeten wurde. Dazu gehören Tschechien, die Slowakei, Polen, die baltischen Staaten, nicht aber die Ukraine und Georgien. Misstraut haben Russland diejenigen Länder, die in der Vergangenheit Erfahrungen mit dem Eindringen sowjetischer (und einst zaristischer) Truppen gemacht hatten. Vertraut haben die, mit denen uns seit jeher freundschaftliche Beziehungen verbinden. Nach den Ereignissen in Südossetien und auf der Krim ist die Stimmung in Georgien und der Ukraine umgeschwungen, man sucht nun eher Unterstützung durch den Westen. Und obwohl diese Länder im Moment nicht in die NATO aufgenommen werden, sind sie bereits unsere Gegner im Geiste.

    Fünftens: Die Lebensmittel sind aus den Geschäften verschwunden nicht infolge der Sanktionen, die der Westen Russland auferlegt hat, sondern als Folge der Sanktionen unserer Regierung gegen den Westen. Der Kreml stellt sich der westlichen Welt entgegen, indem er nach dem Prinzip „Schlag die Eigenen, damit die Anderen dich fürchten“ handelt. Die Sanktionen gegen Russland bestehen im Wesentlichen aus Maßnahmen, die der einfache Bürger nicht einmal spürt: eine schwarze Liste gegen Staatsbeamte und Politiker, die gerne nach Europa und in die USA reisen, Einschränkung der Kreditgewährung für russische Unternehmen, die Aufhebung der Kooperation von russischen und westlichen Unternehmen im Bereich des Militärs …

    Der Unterschied

    Wie sieht nun die wirkliche Welt im Unterschied zur Fernsehwelt aus?

    Russland war in den 1990er Jahren ein einheitlicher Staat und ist es auch heute. Solche Regionen wie Orjol oder Brjansk kennen von jeher keinen Separatismus. Tschetschenien führte damals ein eigenständiges Leben und tut es auch heute noch, als der Teil der Russischen Föderation, der aktiv russländische Ressourcen verschlingt. Die russische Bevölkerung ist aus Tschetschenien geflohen und hat nicht vor, zurückzukehren. Nicht nur Touristen, selbst Ermittler haben Angst, sich dort blicken zu lassen, denn Sicherheitsgarantien gibt es dort für niemanden.

    Die Wirtschaft hat sich in den 2000er Jahren dank des teuren Erdöls erst hochgerappelt und ist dann in sich zusammengefallen. Heute ist unser Wirtschaftssystem im Großen und Ganzen genauso wenig konkurrenzfähig wie in dem Jahr, in dem Putin in den Kreml einzog. Der Lebensstandard ist natürlich höher als Ende der 1990er Jahre, aber in den vergangenen 16 Jahren ist der Wohlstand in allen funktionierenden Staaten der Welt gestiegen, von ganz hoffnungslosen Fällen mal abgesehen. Vielleicht hat sich Russland kurz von den Knien erhoben, aber nur, um sich dann gleich wieder hinzuhocken. Bekanntlich ist das nicht sehr bequem. Und wenn wir nichts unternehmen, landen wir bald auf dem Hintern.

    Die Einkommensdifferenz war in Russland damals sehr hoch und ist es bis heute. Aber Ursache dieses Problems sind nicht die Oligarchen (sie sind nur eine Folge), sondern die Allmacht der Bürokratie, die sich in den Köpfen der Fernsehzuschauer in den raffinierten Begriff „staatliche Regulierung“ verwandelt. Die Bürokratie reguliert tatsächlich alles, aber sie tut es mithilfe von Schmiergeldern und „Provisionen“. Dabei wuchert der Grad der Korruption um so stärker, je mehr sich der bürokratische Staat um das Volk „kümmert“.

    Der einzige Anlass zur Freude vor diesem freudlosen Hintergrund: Die NATO hat uns nicht bedroht und bedroht uns auch heute nicht. Hand aufs Herz, das ist uns allen bewusst. Selbst denjenigen, die nicht müde werden, Gefahren zu beschwören. Denn bei den momentanen Machtverhältnissen würden wir einen Krieg gegen die NATO-Staaten verlieren oder gemeinsam mit ihnen die Menschheit vernichten. Der eine Ausgang wäre ebenso fatal wie der andere. Und jemand, der an die Realität eines solchen Krieges glaubt, wäre schon längst in der Klapsmühle gelandet.

    Doch unsere Hirne sind noch halbwegs intakt – die NATO-Bedrohung ist ein Bedrohungs-Imitat, das der Mehrheit der Gesellschaft sehr gut gefällt. Wenn die NATO nämlich angreifen will, sich aber nicht traut, dann heißt das, wir sind stark. Trotz Krise, Verschlechterung des Lebensstandards und bodenloser Korruption. Für den Fernsehzuschauer ist das eine gute Nachricht. Genauer gesagt keine Nachricht, sondern eine Illusion, ein Imitat. „Es ist so leicht, mich zu betrügen – ich selbst betrüge mich so gern!“, hat Puschkin seinerzeit so treffend bemerkt.*         

    Putin ist fürwahr ein großer Imitator. Deshalb gewinnt er auch eine Wahl nach der anderen.


    *aus: Ein Geständnis, aus dem Russ. von Friedrich Fiedler (1879–1917)

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