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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Belarus im Karussell der Identitäten

    Belarus im Karussell der Identitäten

    Was macht die nationale Identität der Belarussen aus? Wie haben sich die Vorstellungen von einer belarussischen Nation im Lauf der Zeit gewandelt? Wie prägt das Lukaschenko-Regime diese Vorstellungen und wie haben sich diese seit den Protesten von 2020 verändert?  

    In einem großen Gespräch, das die Journalistin Bogdana Pawloskaja für das Online-Portal Gaseta.BY geführt hat, beleuchtet Alexey Bratochkin diese und andere Fragen. Bei seinem spannenden Rundumschlag durch die belarussische Geschichte und Gegenwart diskutiert der Historiker letztlich auch die Frage, in welcher Form die belarussische Nation eine Überlebenschance hat und inwieweit es ihr gelingen kann, zu einem demokratischen Staatswesen zu gelangen. 

    Die Veröffentlichung dieses Gesprächs in deutscher Übersetzung entstand in Kooperation mit dem Forum für historische Belarus-Forschung

    Belarussen protestieren vor der Botschaft ihres Landes in Kyjiw im August 2020 / Foto © Volodymyr Tarasov/ Imago 

    Ich würde gerne verstehen, was den belarussischen Nationalcharakter ausmacht. Welche Wesenszüge zeichnen unsere Nation aus und was unterscheidet uns von anderen? 

    Ich denke nicht in Kategorien wie „Nationalcharakter“ oder „genetische Programmierung“, deshalb kann ich diese Frage nicht beantworten. Natürlich können wir über die Unterschiede zwischen einzelnen Gesellschaften und Traditionen reden, aber das hängt weniger davon ab, ob man in Belarus geboren ist oder woanders, sondern vielmehr von den kulturellen, sozialen, politischen und anderen Umständen, in denen man lebt. 

    Ich glaube, richtiger wäre es, von einer belarussischen Identität als einer veränderlichen Kategorie zu sprechen. Ich habe Schwierigkeiten mit dem Gedanken, dass die Belarussen so und so sind und beispielsweise die Ukrainer anders. 

    Gut, und wie ist es dann mit unserer Identität? Können wir heute genau sagen, wer die Belarussen sind? 

    Diese Debatte reicht zurück in die 1980er Jahre, in die Zeit der Perestroika. Damals lautete die offizielle Definition: Die Einwohner von Belarus sind sowjetische Belarussen. Also ein Konstrukt aus zwei verschiedenen Begriffen: „sowjetisch“ und „Belarussen“. Das heißt, die Belarussen haben in diesem sowjetischen Kontext zwar eine Art Identität, doch hat sie keine echte politische Bedeutung. 

    Die Sowjetunion war der einzigartige Versuch, etwas „Universelles“ mit dem Nationalen zu verbinden, es war ein Experiment zur Erschaffung einer super-nationalen Gesellschaft. 

    Seit den späten 1980er Jahren, als die UdSSR zerfiel, gewannen die lokalen Nationalismen wieder an Bedeutung. Die nationale Agenda wurde dabei anders formuliert. In den spätsowjetischen Medien war das Bild der Mankurts populär (Menschen, die ihre Herkunft vergessen haben) – um zu zeigen, dass ob der großen Idee der Erschaffung eines sowjetischen Volkes willen nationale Identitäten ausgelöscht und das historische Gedächtnis vieler Völker zerstört und kolonialisiert werden. 

    Zur selben Zeit entstanden in Belarus die Nationale Front und das Projekt „nationale Wiedergeburt“. Man redete davon, dass wir uns als Belarussen wiederfinden müssten, eine Nation werden, während die Sowjetunion als künstliches politisches Projekt betrachtet wurde, das auf sehr viel Gewalt beruhte. Wir Belarussen wurden ermutigt, uns daran zu erinnern, dass wir eine eigenständige Nation sind, eine eigene, belarussische Sprache haben, eine eigene Kultur. Wir sollten das alles wiedererwecken und fördern. Die nationale Bewegung hatte damals etwas von politischer Emanzipation, Befreiung. 

    Soweit ich mich erinnere, waren bei weitem nicht alle unsere Mitbürger begeistert von der Idee. Das Projekt „sowjetischer Belarusse“ war ja scheinbar fast geglückt. 

    Ja, es wurde tatsächlich viel diskutiert. Oft konnte man hören, dass den Belarussen die nationale Idee, nationale Marker fehlen würden: Die Sprache würde von kaum jemandem gesprochen, die Kultur beschränke sich auf Folklore und die Verwendung von Ornamenten, aber es fehle an tieferer Bedeutung, die sich auch im Politischen zeigt.  

    Die Idee vom Fehlen einer belarussischen nationalen Identität war in den vergangenen 30 Jahren in vielerlei Hinsicht vorherrschend. Ständig war die Rede davon, dass die Belarussen nicht belarussisch genug wären, und wenn sie es nur würden, würden auch politische Veränderungen folgen. 

    Als 1999 das Buch Belarus: A Denationalized Nation des kanadischen Wissenschaftlers David Marples herauskam, war allein der Titel für viele eine Metapher für die Abwesenheit einer nationalen Identität. Der Autor stellt darin die These auf, unser autoritäres System und die spezifische Beziehung zu Russland sei eine Folge ebendieser Situation. 

    Ist das denn wirklich so? Reicht es, wenn wir einfach echte Belarussen werden – dann fällt das Regime, es kommt die Demokratie, und wir befreien uns von Russland? 

    Ein weiterer moderner Klassiker zum belarussischen Modell stammt von Nelly Bekus, einer belarussischen Wissenschaftlerin, die später in Polen und Großbritannien tätig war. Das Buch heißt Struggle over Identity: The Official and the Alternative „Belarusianness“ (2010). Stark vereinfacht, geht es darum, dass bei uns mindestens zwei Versionen einer belarussischen Identität kursieren: Eine ist geknüpft an die politische Opposition, und die zweite ist die offizielle, die das Regime Alexander Lukaschenkos zu erschaffen versucht. 

    Außerdem schreibt Bekus in einer Reihe anderer Artikel, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Nationalismus und liberaler Demokratie gebe. Das heißt, selbst wenn das Projekt belarussische Identität sich plötzlich verwirklichen und wir Bilderbuch-Nationalisten werden sollten, bedeutet das noch lange nicht, dass unser Land sich im gleichen Moment in eine liberale Demokratie verwandelt. Das sind zwei unterschiedliche Prozesse, die nur zum Teil miteinander verbunden sind. Sie bezieht sich dabei auf die Erfahrungen anderer Länder in Osteuropa. 

    Über das Problem der nationalen Identität schrieb 2010 auch der Politologe Andrej Kasakewitsch. Er zählte ganze vier Modelle einer belarussischen Nation und entsprechender Identitäten. 

    Der Historiker Alexey Bratochkin bei einem Vortrag / Foto © privat 
    Der Historiker Alexey Bratochkin bei einem Vortrag / Foto © privat 

    Welche vier Modelle sind das? 

    Zum einen natürlich das ethnozentrische Modell: Der Fokus liegt darauf, dass wir Belarussen sind, fördert nur die belarussische Sprache und Kultur und konzentriert sich auf die Interessen dieser kulturell dominanten Gruppe. 

    Das zweite Modell ist dem diametral entgegengesetzt: Dieses Modell ist russozentrisch; die Belarussen sind darin quasi Teil des russischen Volkes. Solche Ideen waren besonders nach dem Zerfall der UdSSR populär, als man nicht so recht wusste, was man mit diesem abgespaltenen Teil anfangen sollte. 

    Was stellt der moderne belarussische Staat und Lukaschenkos Regime heute dar? 

    Das dritte Modell ist jenes, das das autoritäre Regime Alexander Lukaschenkos zu erschaffen versucht: Der Fokus liegt hier nicht auf einer nationalen Kultur, sondern auf der Loyalität gegenüber dem Staat. In diesem Konstrukt ist man ein Belarusse, wenn man das Regime unterstützt. 

    Das vierte Modell verfolgt laut Kasakewitsch eine eher liberale Idee, wo der Nationalismus demokratisch ausgerichtet ist. Das heißt, nicht nur Belarussen oder belarussischsprachige Menschen, sondern auch andere Gruppen, die in Belarus leben, werden in die Nation einbezogen. Also eine Art Bürger-Nationalismus. Dabei operiert jedes dieser Modelle mit unterschiedlichen Vorstellungen von Geschichte. 

    Unterschiedliche Geschichten einer Nation? 

    Das ist nicht ungewöhnlich. Für das ethnozentrische Modell stellt zum Beispiel die sowjetische Epoche ein großes Problem dar, weil man in dieser Periode die Nation zerstören wollte. Davor gab es aber eine Zeit, in der sich diese Nation formiert hat, die wird dann als Goldenes Zeitalter definiert, Schlüsselereignisse werden bestimmt und so weiter. 

    Für die Vertreter der Meinung, die Belarussen seien im Grunde Russen, steht hingegen im Vordergrund, dass wir schon seit zweihundert Jahren zusammengehören, auch wenn es ein Imperium war. In deren Vorstellung hat uns das Imperium vor allem und jedem beschützt; so hat es sich eben historisch ergeben. So wird die Geschichte in den verschiedenen Identitätsmodellen unterschiedlich interpretiert. 

    Im Endeffekt sehen wir heute, dass wir von den „sowjetischen Belarussen“ über das Projekt der „nationalen Wiedergeburt“ und die darauffolgenden Streitgespräche über den Grad der „Belarusianness“ bei einem viel komplexeren Bild angelangt sind. Nämlich dem, dass in Belarus verschiedene Identitäten nebeneinander existieren, je nach politischer Präferenz usw. Diese Komplexität müssen wir heute anders in den Blick nehmen. 

    Dazu sind noch andere Probleme gekommen. Zum Beispiel die Frage, was der moderne belarussische Staat und Lukaschenkos Regime heute darstellt. Sind sie nationalistisch oder nicht, belarussisch oder anti-belarussisch? 

    Und was glauben Sie? 

    Natürlich hat auch das Regime den Nationalismus als Element der politischen Mobilisierung genutzt, so zum Beispiel nach 2014/15. Aber auf sehr vorsichtige, spezielle Art. So entstand ein spezifisches offizielles Modell der Nation, das auf ganz spezielle Weise an den Patriotismus und nationale Gefühle appelliert. Erinnern Sie sich an die Werbekampagne Kuplyaitse Belaruskaie (dt. Kauft Belarussisch)? Hier appellierte das Regime an den Patriotismus, indem es sagte: Kauft unsere eigenen, belarussischen Produkte. Ein sehr merkwürdiger Appell, aber dennoch. 

    Doch ich betone noch einmal: Dieses Modell des offiziellen Nationalismus unter Alexander Lukaschenko baut weder auf einer ethnischen Solidarität (wir sind alle Belarussen) noch auf der Idee einer bürgerlichen Nation (wir gehören alle dieser Nation an) auf, sondern auf der Loyalität gegenüber dem Regime. Wer in Belarus lebt und loyal ist, gehört dazu, und wer das nicht ist, der gehört zur fünften Kolonne, den können wir hier nicht gebrauchen. 

    Genau das beobachten wir gerade.

    Ja, und hier stellt sich eine schwierige Frage: Kann man die Idee des Nationalismus in Belarus ohne staatliche Institute voranbringen? Wie umgeht man dieses Nationsmodell eines Lukaschenko? Denn es kann ja nur der Staat beispielsweise flächendeckenden Unterricht auf Belarussisch durchsetzen. 

    Was wird aus der belarussischen Kultur und der Sprache, wenn die unabhängige Kultur und „zufällig“ auch ihr belarussischsprachiger Teil zerstört wird? Wenn bestenfalls einige regionale Eigenheiten bestehen bleiben, die nicht besonders ins Gewicht fallen und die auch die Beziehungen zwischen dem Lukaschenko-Regime und Russland nicht gefährden? Wenn die Frage nach der schwierigen Vergangenheit zwischen Russland und Belarus nicht mehr gestellt wird, sondern es immer nur heißt, dass alles immer toll war. 

    Identität ist nichts, das von Natur aus da ist, auch wenn es manchmal so scheint. Sie ist ein soziales Konstrukt, das wir erschaffen. Deshalb gibt es keine Identität, die über Jahrhunderte besteht und sich nicht verändert. Verschiedene Identitätsmarker (zum Beispiel die Sprache) haben sich zwar schon vor langer Zeit herausgebildet, sind aber Veränderungen unterworfen. 

    Sogar zu Sowjetzeiten können wir gänzlich unterschiedliche Varianten der Identität beobachten 

    Die modernen Nationen sind noch recht jung, sie entstanden hauptsächlich nach dem 18. Jahrhundert. Die Frage der nationalen Identität ist die Frage danach, wie sich verschiedene Gemeinschaften als Nation denken: Wer gehört dazu und wer nicht? Wie war unsere Geschichte? Wie wählen wir die historischen Ereignisse aus, die für uns wichtig oder unwichtig sind, die wir als negativ oder positiv bewerten? 

    Und wenn zum Beispiel in Belarus in der Schule, in den Universitäten, in Theatern, Museen, staatlichen Institutionen und anderen Einrichtungen die Vorstellung von politischer Loyalität und diese ganz spezifische Vorstellung von der belarussischen Nation vorherrschen, wie kann man dann über andere Identitätsmodelle, über irgendeine Komplexität sprechen? Das ist wirklich ein großes Problem. 

    Aus dem Zyklus „Planet der Affen” / Illustration © Antanina Slabodchykava 

    Wir haben darüber gesprochen, wie sich das Projekt „sowjetischer Belarusse“ immer wieder gewandelt hat, bis es seine heutige Form mit den vielen verschiedenen Identitätsmodellen angenommen hat. Aber auch vorher haben sich die Belarussen doch mit irgendetwas identifiziert. Wann in unserer Geschichte haben wir angefangen, uns als eigenständige Nation zu positionieren? 

    Professor Oleg Łatyszonek hat seinerzeit ein Buch namens NazyjanalnastBelarus geschrieben [dt. Nationalität: Belarusse], in dem er die Geschichte der belarussischen Selbstidentifikation erforscht. Das Wort „Belarusse“ war nicht schon immer als Eigenbezeichnung geläufig. Selbst im 20. Jahrhundert bezeichneten sich die Menschen oft noch als tutejschyja [dt. die von hier], die Verbreitung des Ethnonyms dauerte bis in die 1920er Jahre hinein an. 

    Nicht alle fühlten sich gleich als Belarussen, aber der Prozess war angestoßen. Damals waren ja auch sehr viele Juden und andere ethnische Gruppen in Belarus vertreten. Sogar zu Sowjetzeiten können wir gänzlich unterschiedliche Varianten der Identität beobachten. Zum Beispiel auf der einen Seite die „sowjetischen Belarussen“, auf der anderen die postrevolutionäre und Nachkriegsemigration. Die Menschen, die sich im Exil wiederfanden, bemühten sich, ein Modell aufrechtzuerhalten, das gerade nicht sowjetisch war. 

    In der Sowjetunion selbst gab es innerhalb der Intelligenzija ebenfalls verschiedene Gruppen, die sich vom sowjetischen Lebensstil zu distanzieren suchten, grob gesagt, „größere Belarussen“ sein wollten: zum Beispiel die einzigartige Tätigkeit der Maisterny in den 1980er Jahren, die sich der Wiedergeburt des kulturellen Erbes verschrieben hatten, oder die bekannte Arbeit von Sjanon Pasnjak zum Schutz des historischen Zentrums von Minsk

    Die belarussische Identität wurde also durch ihre Träger problematisiert. In der UdSSR trafen verschiedene Nationalitäten aufeinander, die natürlich versuchten, sich ihre jeweiligen Besonderheiten auf ganz alltäglicher Ebene zu „erklären“ bzw. stereotyp an die ethnische Zugehörigkeit zu knüpfen: Die Ukrainer waren in ihrer Vorstellung so und so, die Georgier so und so und die Belarussen noch mal anders. 

    Aber warum stellte sich nach dem Zerfall der UdSSR plötzlich heraus, dass ausgerechnet die Belarussen eine der sowjetischen Nationen mit dem am wenigsten ausgeprägten nationalen Bewusstsein sind? Sind die Repressionen, die 200-jährige russische Okkupation schuld, oder gibt es auch andere Gründe? 

    Ich kann eine Vermutung äußern, aber ich weiß nicht, inwieweit man mir zustimmen wird. Es gibt einen älteren Text des Politologen Siarhej Bohdan, der ziemlich umstritten war. Seiner Ansicht nach bildete sich die moderne belarussische Nation ausgerechnet während der Epoche der UdSSR heraus. Der Entstehungsprozess fand dieser These zufolge vor dem Hintergrund der sowjetischen Modernisierung statt, die nach dem Zweiten Weltkrieg Turbogeschwindigkeit aufnahm. 

    Der belarussische Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts hatte keine institutionelle Basis, die stabil genug gewesen wäre. Die Belarussen wurden sich erst während der Sowjetepoche als solche im heutigen Sinne bewusst, aber eben im Rahmen der sowjetischen Nationalpolitik. Das alles fand, so Bohdan, auf dem Höhepunkt eines gewissen wirtschaftlichen Wohlstands der Nachkriegsjahre statt, etwa Mitte der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre, während der sogenannten „goldenen Epoche“ unter Mascherow. Damals erschienen zahlreiche Bücher auf Belarussisch, es wurden Zeitungen gedruckt. 

    Andererseits war das alles sehr sowjetisch: sowjetische Autoren, sowjetische Texte. Jetzt sind wir dabei, herauszufinden, wo in diesen Texten das „Nationale“ ist und wo das „Sowjetische“. Wer war der größere Belarusse: Karatkewitsch, Schamjakin oder Bykau? Gleichzeitig wurde die Urbanisierung vorangetrieben – das Russische verbreitete sich als Sprache der sozialen Mobilität und des Alltags in der sowjetischen Gesellschaft. Und später dann stellte sich die Frage, wie man dieses sowjetische Volk in jene historischen Belarussen zurückverwandeln kann. 

    Das Problem war auch das sowjetische Projekt selbst: Es war in eine Zukunft gerichtet, die man sich damals, wie man heute sagen würde, als post-national vorstellte, obwohl man nicht diesen Ausdruck verwendete und darunter etwas anderes verstand. Nämlich den Moment, wenn die nationale Identität und die Unterschiede quasi „überwunden“ sind und die Menschen sich zu einem kommunistischen Gemeinwesen hinbewegen. Doch das stellte sich als Utopie heraus. Die Idee, ein universelles sowjetisches Volk zu erschaffen, innerhalb dessen verschiedene Identitäten miteinander verschmelzen, ist nicht aufgegangen. Sie basierte allzu häufig auf Unterdrückung und Gewalt. 

    Aber als sich die Möglichkeit eines Umdenkens eröffnete, waren die Belarussen nicht besonders enthusiastisch. 1991 sprachen sich bei einem Referendum fast 83 Prozent aller Bürger für den Erhalt der UdSSR aus – mehr als in jeder anderen Republik. 

    In der finalen Phase der Sowjetunion bedeutete es für die meisten eine radikale Veränderung des Maßstabs, Belarussen im neuen Sinn zu werden. Gerade noch waren wir so ein Riesenland, und jetzt sind wir so klein. Das ist schwer zu begreifen. Ein Teil der Gesellschaft nahm dies als eine Art Provinzialisierung wahr. Deshalb war es für viele Sowjetbürger ein ziemlich schmerzhafter Prozess. Dazu war es ein post-imperiales Setting, wir waren alle von diesem auf ganz bestimmte Weise kolonialisierten Bewusstsein geprägt. 

    Für die neuen Generationen war das Leben ohne die UdSSR jedoch vollkommen natürlich, sie richteten sich schnell darin ein. Was den offiziellen „Belarussismus” unter Lukaschenko angeht, so hat der Soziologe Alexej Lastowski zurecht bemerkt, dass die Identifikationsschwelle in diesem Fall sehr niedrig ist, man muss zum Beispiel weder die belarussische Sprache sprechen, noch die Geschichte kennen. Es reicht eine minimale Vorstellung von der Kultur. Die Hauptsache ist, dass man loyal ist. 

    Inwiefern haben die sowjetischen Repressionen, die Vernichtung der nationalen Elite in den 1930er Jahren unser nationales Selbstbewusstsein geprägt? Waren nicht sie dafür verantwortlich, dass der belarussische Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts nicht diese entscheidende Rolle gespielt hat? 

    Ja, natürlich haben die Repressionen damit zu tun. Denn wie konnte man in der sowjetischen Gesellschaft über die belarussische Identität sprechen, wenn man wusste, dass die Aktivistinnen und Aktivisten, die das bereits versucht hatten, schlichtweg ermordet wurden? Nicht umsonst erinnern wir uns heute Ende Oktober an die Vernichtung der Kulturelite in Belarus in den 1930er Jahren, zum Beispiel im Rahmen des Projekts (Ne)rasstraljanaja paesija [dt. (Nicht-)erschossene Poesie]. 

    Die Repressionen der 1920er und 1930er Jahre richteten sich ursprünglich gegen ganz bestimmte soziale Schichten. Dann nahm man sich auch die vor, die alternative Identitätsmodelle repräsentierten (die Rede ist nicht nur von ethnischen Belarussen; in der Kulturelite waren auch Juden vertreten und Leute, die durchaus kommunistische Ansichten hatten). Es wurde überhaupt jede Möglichkeit auf eine Alternative ausgemerzt. 

    Natürlich lag es nicht nur an dem Mascherowschen Wohlstand, als es plötzlich Fernseher und Kühlschränke gab und man in Städte reisen konnte, warum die Leute mit ihrem Dasein als sowjetische Belarussen ganz zufrieden waren. Die Repressionen haben ihr Übriges getan. Die Schattenseite der sowjetischen Modernisierung ist ausgesprochen düster. 

    Die Atmosphäre der Angst in den 1930er Jahren und später – im Grunde bis heute – hat die Wahrnehmung der Staatsmacht maßgeblich geprägt. Die staatliche Gewalt spielte eine riesengroße Rolle bei dem, was mit den Identitäten aller Belarussen geschehen ist. 

    Die Ereignisse von 2020 bezeichnen viele als wichtige Etappe im Werden der Nation. Aber jetzt sind wir mit nie dagewesenen Repressionen konfrontiert, darunter gegen alles Nationale. Wir können eine totale Russifizierung beobachten, wie der Russki Mir alle Bereiche des Lebens durchdringt. All das wirft die Frage auf, ob wir beim Aufbau der Nation wirklich einen Schritt vorangekommen sind. 

    Auch das ist eine schwierige Frage. Diese Situation dauert bereits seit über vier Jahren an, und es gibt unterschiedliche Bewertungen der Ereignisse. In der Tat war für viele das, was 2020 geschehen ist, die Geburt einer politischen Nation. Die Idee eines Selbstbewusstseins allein reicht nicht aus, man muss sie auch politisch realisieren. Als 2020 so viele Menschen auf die Straße gingen, um ihre eigene Identität, ihre politische Position zum Ausdruck zu bringen, war das genauso eine Erfahrung einer gelebten Politik. 

    Während zu Beginn der „Wahlkampagne“ im April/Mai so gut wie keine weiß-rot-weißen Fahnen zu sehen waren, änderte sich das später, bis die großen Protestmärsche schließlich unter diesen Fahnen stattfanden. Das bedeutet, dass ein bestimmtes Bild einer etwaigen Identität, ihre Elemente von vielen Menschen geteilt wurden. Damals regte sich auch ein großes Interesse an der Geschichte. Unsere Historiker können Ihnen von Vorträgen berichten, die sie in den Hinterhöfen gehalten haben. Es war den Menschen wichtig zu verstehen, wer wir sind, woher wir kommen und was wir darstellen. Denn damit eine Identität real wird, muss sie Teil des politischen Lebens werden, wir müssen die Politik mitgestalten, um das Bild, das uns wichtig ist, in die Tat umzusetzen. 

    Eine andere These besagt, dass die revolutionären Ereignisse von 2020 eher von einer belarussischen Zivil-Identität zeugen, einer Identität, die bereits auf dem Weg zur post-nationalen Gesellschaft einer neuen Art ist: nämlich, wenn alle innerhalb dieser Gesellschaft gleich sind und niemand von dem Projekt ausgeschlossen ist. Welche Rolle diese Ereignisse gespielt haben? Ich habe eine pessimistische und eine optimistische Antwort darauf. 

    Dann die pessimistische zuerst!

    Die pessimistische Antwort ist, dass der Autoritarismus sich ausgeweitet hat und er immer neue Bereiche kolonialisiert. Zum Beispiel wurden vor 2020 Handys eher selten kontrolliert, jetzt ist das an der Tagesordnung. Die Staatsmacht kolonialisiert den Alltag. Ganz zu schweigen von der Gewalt und den ganzen anderen Dingen. 

    Andererseits, ist 2020 allein daran schuld? Wäre das alles denn nicht passiert, wenn wir nicht protestiert hätten? Ich glaube, 2020 hat einfach die Mechanismen der Gewalt offenbart, die schon da waren, aber im Verborgenen. Es haben einfach nicht alle hingeschaut. Oder wollten es nicht. 

    Und die positive? 

    Die positive Antwort ist die, dass solche Momente der Einheit für eine Gesellschaft immer sehr wichtig sind. Diese massenhafte Willensbekundung, dem Autoritarismus eine Abfuhr zu erteilen, die damals nicht nur Minsk, sondern auch andere Städte in verschiedenen Teilen des Landes gezeigt haben. Das sieht man auch an den Repressionen, die wir heute beobachten und die nicht nur eine einzelne Gruppe oder nur Minsk betreffen. 

    Ich beobachte, dass viele im Alltag das Belarussische pflegen 

    Diese Erfahrung der Freiheit, so kurz sie auch gewesen sein mag, so unterdrückt und niedergeschlagen, ist für die Zukunft sehr wichtig. Es gibt Analogien zu anderen Ländern Osteuropas. So lag die tragische Erfahrung des Prager Frühlings, die Unterdrückung der Freiheit in der Tschechoslowakei 1968, später den Veränderungen zugrunde, die 1989 passierten. Oder die Erfahrung der polnischen Solidarność

    Es ist sehr wichtig, sich auf etwas stützen zu können, das eine Alternative zum Autoritarismus bietet. Unsere ebenfalls tragische Erfahrung des gewaltlosen Widerstands könnte künftig ein solcher Anhaltspunkt dafür sein, etwas anderes im Land zu erschaffen. Vorausgesetzt, wir leben so lange. Auch für die kollektive Identität ist das sehr wichtig – diese Momente der Einheit, der Abwesenheit von sichtbaren Konflikten (obwohl sie in jeder Gesellschaft zahlreich vorhanden sind), dass wir gezeigt haben, dass es uns gibt, dass wir ein kollektives Subjekt sind und wir unsere eigene Symbolik und unsere Vorstellungen haben. Das ist eine Lektion darin, dass politisches Leben wichtig und notwendig ist. 

    Das ist der Grund, warum das Regime sämtliche Spuren des Protests zu beseitigen und alle alternativen Versionen der Identität auszumerzen versucht, außer des offiziellen, formellen „Belarussismus“, der auf politischer Loyalität basiert. 

    Heute befinden sich sehr viele Belarussen im Exil. Wie fatal ist das? 

    Das kommt darauf an, wie viel Zeit vergeht. Nach den Ereignissen des Prager Frühlings 1968 verließen ebenfalls viele die Tschechoslowakei. Später, nach der Samtenen Revolution von 1989, kehrte ein Teil der politischen Emigranten wieder zurück. Es stellte sich jedoch heraus, dass sie in ein ganz anderes Land zurückgekehrt waren (beziehungsweise waren es jetzt sogar zwei Länder), in dem niemand auf sie gewartet hatte. Viele konnten ihren Platz darin nicht finden und gingen wieder weg. Es war also nicht unbedingt eine triumphale Rückkehr. 

    Andererseits gibt es auch erfolgreiche Beispiele, wie Menschen nach dem Zerfall der UdSSR in die Länder des Baltikums zurückkehrten. So wurde der Emigrant Valdas Adamkus sogar zweimal zum Präsidenten des unabhängigen Litauens gewählt. Auch nach Russland sind einige „Überläufer“ zurückgekehrt.

    Heute ist der öffentliche Raum in Belarus komplett gesäubert; es gibt kaum noch unabhängige Medien, sie arbeiten alle aus dem Ausland, und deshalb wissen wir wenig über die Prozesse Bescheid, die innerhalb der Gesellschaft vor sich gehen, über ihre Dynamik. Klar ist, dass die Gesellschaft sich verändert, und es ist schwer vorherzusagen, was sein wird. In jedem Fall wird es keine Rückkehr an diesen nur sehr bedingt „positiven“ Punkt geben, diese wenigen Wochen im August 2020. Dorthin wird niemand mehr zurückkehren. 

    Kann man eine Nation aufbauen, wenn man sich jenseits der Landesgrenzen befindet? 

    Die Frage ist, wie die Menschen, die weggegangen sind, mit ihrer Identität umgehen. Einerseits sind wir im Ausland in gewisser Weise sogar mehr zu Belarussen geworden denn je. Als Fremder in einem anderen Land stellt sich viel stärker die Frage, wie man mit der Nostalgie umgehen soll, dem Heimweh, diesem „Belarussismus“. Forscher sagen, dass die Ursprungsidentität in der Emigration lebenswichtig werden, aber auch der umgekehrte Prozess eintreten kann. 

    Ich beobachte, dass viele im Alltag das Belarussische pflegen. Sie lernen Polnisch oder Litauisch, aber gehen auf belarussische Veranstaltungen, kaufen belarussische Bücher, geben ihren Kinder die Möglichkeit, sich in einem belarussischsprachigen Umfeld zu bewegen. Ich meine damit die, die vorher Russisch gesprochen haben. 

    Interessant ist auch, dass die Ereignisse von 2020 die Identität der Diaspora gewissermaßen wiederbelebt haben. Die belarussische Diaspora war davor eher undefiniert, keine geschlossene Einheit. Vielleicht, weil sie meistens wirtschaftlich motiviert war, aus politischen Gründen emigrierten die Menschen eher vereinzelt. Aber 2020 hat diesen Strom geschaffen, in dem es einen gemeinsamen Bezugspunkt gibt, gemeinsame Werte. Das hat die Diaspora zu einer echten belarussischen Diaspora gemacht. Es sind neue Gemeinschaften entstanden, die das Belarussische an der Tagesordnung halten. 

    Aus dem Zyklus „Planet der Affen” / Illustration © Antanina Slabodchykava
    Aus dem Zyklus „Planet der Affen” / Illustration © Antanina Slabodchykava

    Sie sagten, vieles hängt davon ab, wie schnell die Veränderungen eintreten. Was könnte diese Veränderungen bewirken? Wird sich für die Belarussen in absehbarer Zukunft ein neues Fenster der Möglichkeiten eröffnen? 

    Als Historiker kann ich nur über die Geschichte Auskunft geben, nicht über die Zukunft. 

    Und was zeigt unsere Geschichte? Hat sich zum Beispiel durch den Tod eines Diktators je etwas grundlegend geändert? Was kann überhaupt Veränderungen anstoßen? 

    Die Geschichte kennt unterschiedliche Beispiele. Es gibt die Erfahrung der Perestroika, als die Sowjetunion so gut wie ohne Anwendung von Gewalt in Belarus verschwand – im Gegensatz zu, sagen wir, Bergkarabach, den Tragödien in Vilnius, Tbilissi und so weiter. Aber dann gibt es eben auch 2020, als friedliche Demonstrationen zu massenhafter Gewalt durch das Regime geführt haben und es nicht gefallen ist. 

    Die historische Erfahrung wiederholt sich nie eins zu eins, sie ist jedes Mal einzigartig. Deshalb lässt sie sich auch nicht eins zu eins auf die Zukunft übertragen. Als ich von Veränderungen im Land gesprochen habe, meinte ich, dass es jetzt eine bestimmte soziale Dynamik gibt. Jede Gesellschaft verändert sich. Aber wir können leider nicht genau vorhersagen, wie diese Veränderungen vonstattengehen werden. 

    Der Ausweg aus dem Autoritarismus passiert nicht magisch von heute auf morgen 

    Früher hieß es, man könne aus Belarus kein Nordkorea machen, aber jetzt sehen wir, wie der Autoritarismus in allen Bereichen um sich greift. Vieles wird von der Beständigkeit des Regimes selbst abhängen. Ja, das politische Regime in Belarus ist sehr personalistisch. Und natürlich ist entscheidend, was mit dem Machttransfer passiert, wenn der Anführer stirbt. In Kasachstan schrumpfte Nasarbajews Einfluss interessanterweise schon zu seinen Lebzeiten. Aber ob das Land dadurch viel freier geworden ist, ist sehr fraglich. 

    Der Ausweg aus dem Autoritarismus passiert nicht magisch von heute auf morgen. Das wird recht schmerzhaft. Man wird sich mit Fragen wie Lustration, Strafen für die Gewalt, die 2020 ausgebrochen ist, und anderen Problemen beschäftigen müssen. 

    Wie könnten sich äußere Faktoren auswirken? 

    Als äußerer Faktor ist da natürlich der russische Krieg gegen die Ukraine. Wenn der Konflikt jetzt eingefroren wird, wird auch die Situation in Belarus eingefroren. In dem Fall würde uns ein langsamer autoritärer Verfall erwarten, was niemandem zu wünschen wäre. Diesen Prozess können wir bereits jetzt beobachten: Einerseits wird alles zerstört, was aus Sicht des Staates zu den Protesten geführt hat, aber andererseits kommt nichts Neues hinzu. Wir sehen keine Alternativen zu den [zerstörten] zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die Dynamik ermöglicht hatten. 

    Es gab zum Beispiel den Creative Space Imaguru in Minsk mit seinen Start-ups. Und jetzt? Imaguru wurde zerstört, und die Start-ups dazu. Solche Räume wurden allerorts zerstört. 

    Und wie stabil schätzen Sie den belarussischen Autoritarismus ein? 

    Auch ein autoritäres Modell hat seine Grenzen. Das Paradoxe ist, dass der Autoritarismus einerseits auf Druck aufbaut, und andererseits selbst auf Unterstützung, Mobilisierung angewiesen ist. Für diese Unterstützung braucht es irgendwelche Kanäle. 

    Hier stellt sich die Frage: Steckt Belarus momentan in einer politischen Sackgasse? Aus meiner Sicht absolut. Ich sehe nicht, dass das autoritäre System etwas Neues erfinden würde. Es erfindet neue Unterdrückungsmethoden, sie werden zunehmend digital, überall werden Kameras aufgehangen, das Internet wird überwacht, Likes kontrolliert – aber kann man das als Fortschritt bezeichnen? 

    Ich sehe zwei Szenarien, wie sich die Ereignisse entwickeln könnten. Das erste ist ein Einfrieren der Situation für etwa zehn Jahre (oder eben so lange, wie dieses Führer-Duett noch durchhält). Hier hängt vieles davon ab, was in Russland und Belarus passiert, wer von den beiden als erstes stirbt, wie der Machttransfer aussehen wird und so weiter.

    Das zweite Szenario ist, dass sich die Ereignisse kraft irgendwelcher äußeren Umstände plötzlich sehr schnell verändern. Welche Umstände das sein könnten, lässt sich im Moment schwer sagen. 

    Unser Schicksal scheint in vielerlei Hinsicht von äußeren Umständen abzuhängen. Was können wir denn selbst tun, um Einfluss auf unsere Zukunft zu nehmen, die Veränderungen zu beschleunigen? 

    Wie auch immer die äußeren Umstände aussehen, unser Leben darin geht weiter. Wir sind jeden Tag gezwungen, unsere Wahl zu treffen. Für die Menschen in Belarus ist diese Wahl auf jeden Fall sehr schwer. Aber man muss irgendwie man selbst bleiben, versuchen, in dem Bereich, für den man sich entschieden hat, seine Professionalität so gut wie möglich zu bewahren. 

    Es gibt Studien zum Verhalten von Menschen in autoritären Regimen, insbesondere den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel das Konzept des „Eigen-Sinns“ des deutschen Historikers Alf Lüdtke: Es geht darum, dass Menschen auch unter den schwierigsten Bedingungen „Sturheit“ und „Eigensinn“ beweisen, nicht gehorchen wollen, obwohl es unmöglich ist, das offen zu zeigen. 

    Auch diejenigen, die Belarus verlassen haben, stehen vor einer großen Herausforderung. Die Exilgemeinschaften müssen Alternativen schaffen und andere davon überzeugen, dass es diese Alternativen zur bestehenden Ordnung in Belarus gibt. Der belarussische Autoritarismus basiert ja auf der propagierten Annahme, dass es nur so und nicht anders sein kann. Die Aufgabe der Diaspora besteht darin, zu zeigen, dass es auch andere Wege für die Politik und die Entwicklung des Landes gibt.

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    Die staatliche Verfolgung nicht-heteronormativer Ideen, also jeglicher Lebensentwürfe, die nicht der „traditionellen Partnerschaft“ oder Vater-Mutter-Kind-Familie entsprechen, zieht sich seit Langem durch die sowjetisch-russische Geschichte. Unter Putin nehmen die Repressionen seit über zehn Jahren immer strengere Formen an. 

    2013 wurde sogenannte „Propaganda von Homosexualität“ 2013 verboten. Durch den Krieg gegen die Ukraine und die damit einhergehende Militarisierung der Gesellschaft nimmt queerfeindliche Gewalt zu. Seit November 2024 gilt eine angebliche „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“.  

    All diese Verbote betreffen auch die Kulturszene. So hat der Expertenrat beim Russischen Buchverband bereits in Ein Zuhause am Ende der Welt von Michael Cunningham, den letzten Roman Das Erbe aus der Schneesturmtrilogie von Wladimir Sorokin und Giovannis Zimmer von James Baldwin angebliche LGBTQ-Propaganda entdeckt und die Bücher vom Markt verbannt – sowohl die gedruckte wie die digitale Ausgabe. Andere Werke werden aus dem Schulprogramm genommen. Immer wieder tauchen Listen von Büchern auf, von deren Verkauf abgeraten wird. Die Biografie des italienischen Filmemachers und Publizisten Paolo Pasolini ist kürzlich in Russland mit geschwärzten Seiten erschienen – denn diese Passagen handelten vom schwulen Privatleben des Regisseurs. 

    Im Interview mit T-invariant erläutert der Kulturhistoriker und Philologe Michail Edelschtejn, was diese Maßnahmen bewirken wollen, wie sich die Lage heute von der Kriegszensur im 20. Jahrhundert unterscheidet und welche Rolle dabei „beleidigte Literaten“ spielen. 

    Die Pasolini-Biografie von Roberto Carnero erschien im russischen AST-Verlag mit Schwärzungen. © Foto T-Invariant
    Die Pasolini-Biografie von Roberto Carnero erschien im russischen AST-Verlag mit Schwärzungen. © Foto T-Invariant

    T-invariant: Die Verfolgung von LGBTQ begann 2013, als das Gesetz zum Schutz von Kindern vor „homosexueller Propaganda“ verabschiedet wurde. Ab 2022 wurden die Repressionen auf alles ausgeweitet, was „nicht–traditionell“ ist. Höhepunkt war die Einstufung der sogenannten und nicht existierenden „internationalen LGBTQ-Bewegung“ als extremistische Organisation. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach hierbei der Krieg? Oder ist man einfach vorher nicht dazu gekommen? 

    Michail Edelschtejn: Ich glaube, eine Logik haben alle diese Kampagnen gemein. Ende der 1920er Jahre wurde zunächst nur Trotzkis engster Kreis verhaftet, und es lief auch nur auf Verbannung heraus. 1937 wurde bereits jeder Alt-Bolschewik erschossen und dann auch völlig Unbeteiligte.  

    Jede ideologische Kampagne hat die Tendenz, sich auszuweiten. Erst wird der Boden bereitet, quasi Versuchsballons gestartet, damit die Menschen nicht das Gefühl haben, über Nacht aller Rechte beraubt zu werden. Da fallen der Kampagne weniger bekannte Personen und Bewegungen zum Opfer. Später dann kommen die Repressionen ins Rollen, wie ein Schneeball, der immer größer und schneller wird. So ähnlich war es ja schon bei den „ausländischen Agenten“

    Der Kampf gegen LGBTQ ist zu einer nationalen fixen Idee geworden. 

    Was den Krieg angeht, so spielt hier die inländische Propaganda eine entscheidende Rolle, die auf den sogenannten skrepy (dt: Heftklammern, verbindende Elemente) aufbaut. Und davon haben wir heute genau zwei: den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und die Homophobie. „Wir haben die Welt von den Faschisten befreit, sie ist uns zu ewigem Dank verpflichtet“ und „Gayropa will uns alle kastrieren“ – um diese beiden Säulen versucht der Staat die Menschen zu vereinen. Der Kampf gegen LGBTQ ist zu einer nationalen fixen Idee geworden. 

     

    Im denkwürdigen Jahr 2022 zählte der Roman Leto w pionerskom galstuke [von Elena Malissowa und Katerina Silwanowa, auf Deutsch als Du und ich und der Sommer erschienen, ebenso Band 2 und 3 – dek] zu den meistverkauften Büchern. Darin geht es um eine Liebesbeziehung zwischen zwei Jungen. Hängt der Erfolg mit dem Thema der „nicht–traditionellen“ Beziehungen zusammen, und inwiefern hat die Hetzjagd gegen den Roman mit seiner Popularität zu tun? 

    Der Erfolg hängt zweifellos mit dem Thema zusammen. Es war ein ziemlich überraschender Blick auf die Kindheit im Pionierlager, an die sich viele voller Nostalgie erinnern. Der Roman ist eine Art „alte Lieder über das Wichtige“, aber in einer transgressiven Verpackung, das hat die Leserschaft abgeholt.  

    Als das Buch verboten wurde, sagten viele: „Das ist falsch, aber andererseits ist der Roman auch nicht von herausragendem literarischen Wert. Die richtig großen Werke werden sie nicht anrühren.“  

    Wie es danach weiterging, wissen wir alle. Jetzt wird deutlich, dass die Hetze gegen den Roman so eine Art Versuchsballon war: Sie wollten nicht gleich an die Klassiker ran, sondern erst mal etwas nehmen, das zwar viral ging, aber literarisch nicht von allzu großer Bedeutung. Und es hat funktioniert, die meisten haben die Pille geschluckt. Jetzt, nachdem sie an diesem Roman geübt und den herausgebenden Verlag Popcorn Books praktisch vernichtet haben, nehmen sie sich größere Fische vor. 

     

    Gibt es in der russischen Literaturgeschichte vergleichbare Beispiele von LGBTQ-Zensur? 

    Soweit ich weiß, nein. Natürlich herrschte in der UdSSR Zensur, und im Strafgesetz gab es den Paragrafen für „Unzucht zwischen Männern“. Die Bücher, über die wir heute reden, hätten damals nicht erscheinen können. Aber es fand kein öffentlicher Diskurs statt, es gab keine großangelegten Hetzkampagnen. Das Thema wurde eher totgeschwiegen. 

    Heute herrscht selbst in muslimischen Ländern, wo z. B. Gayprides unvorstellbar sind, keine solche Massenpsychose wie in Russland. Die Idee, dass wir uns gegen Schwule vereinen, dass das der Zusammenhalt der Nation ist, ist weitgehend Putins Verdienst. 

     

    Die Geschichte mit Pasolinis Biografie erinnerte mich daran, dass auch Fragmente von Michail Kusmins Gedichtband Seti [dt. Netze] in der Ausgabe von 1915 aus demselben Grund geschwärzt wurden. Das war der Kriegszensur zu verdanken. 

    Ja. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde Kusmin noch gedruckt, wenn auch nicht ganz problemlos. 1907 wurden Dokumente zum Verbot von Kusmins Komödie Opasnaja predostoroshnost [dt. Gefährliche Vorsicht] veröffentlicht. Sie habe nach Ansicht der zaristischen Zensoren „die homosexuelle Liebe verherrlicht und enthält Argumente, die den Leser davon überzeugen sollen, dass Homosexualität ebenso natürlich sei wie normale sexuelle Beziehungen und dieselben hohen Freuden bereitet“. Aber die meisten von Kusmins Werken erreichten den Leser ungehindert, einschließlich der skandalisierten Erzählung Krylja [dt. Flügel], einem durchaus offenherzigen Manifest der Homoerotik. 

    Das Gleiche gilt für andere Schriftsteller jener Zeit. So wurde die vielleicht erste lesbische Novelle der russischen Literatur, Tridzat tri uroda [dt. 33 Monstren] von Lidija Sinowjewa-Annibal, der Ehefrau des Dichters Wjatscheslaw Iwanow, von der Zensur als Verstoß gegen die öffentliche Moral verboten („Auch wenn die Zärtlichkeiten, die von einer Frau einem Mädchen dargebracht werden, unter sorgfältiger Vermeidung von Schmutz geschildert werden, wirkt das Gift der widernatürlichen Perversität umso subtiler“ – eine hübsche Formulierung, oder?). Aber einen Monat später entschied das Gericht, dass das Buch doch nichts allzu Unsittliches enthielt, und die beschlagnahmte Auflage wurde an die Buchhandlungen verschickt. 

    1915 entschied wiederum die Kriegszensur, dass man sich so etwas in einer Zeit, in der „unsere Jungs“ an der Front sterben, nicht leisten könne. So wurden in der zweiten Auflage von Kusmins Gedichtband die entsprechenden Fragmente gestrichen. Wenn ich mich recht entsinne, wurde bei einer Auktion einmal ein Exemplar versteigert, das Kusmin einem seiner Freunde schenken wollte. Darin hatte er die fehlenden Zeilen anstelle der Aussparungen per Hand ergänzt. 

     

    Wie könnte sich die Situation mit der LGBTQ-Zensur künftig auf den Literaturbetrieb und den Buchmarkt auswirken? Was haben wir zu erwarten? 

    In erster Linie Selbstzensur durch Verlage und Autor*innen. Im Moment ist völlig unklar, wo die Grenzen des Erlaubten liegen. Solche Grenzen sind an sich natürlich schlimm, aber wenigstens ist dann klar, was man darf und was nicht. Wenn es sie nicht gibt, wenn alles im Nebel liegt und die Repressionen jedes Buch und jede*n Autor*in treffen können, ein Erstlingswerk genauso wie einen anerkannten Klassiker, werden sich die Verlage absichern und alles Mögliche aus dem Programm nehmen.  

    James Baldwin, der Autor von Giovannis Zimmer, gilt z. B. seit langem als einer der größten Stilisten der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Über seine Werke wurden Dissertationen geschrieben, Monografien verfasst. Sogar im sowjetischen Literaturlexikon der 1970er Jahre wird er als „bedeutender Romancier und Kämpfer für die Rechte der schwarzen Bevölkerung Amerikas und als Mitstreiter Martin Luther Kings“ geführt. In der späten Sowjetzeit hat ihn das gerettet, heute nicht mehr. 

    Je mehr du verbieten kannst, desto mehr Macht hast du. 

    Alles hängt von ungebildeten Zensoren und ihren noch ungebildeteren Helfershelfern ab. Wie soll man nach der Geschichte mit Pasolini Biografien von z. B. Marcel Proust, Oscar Wilde, Thomas Mann, Evelyn Waugh veröffentlichen oder deren Texte erforschen? Und was, wenn jemand herausfindet, dass Zwetajewas Gedicht Pod laskoi pljuschtschewogo pleda … [dt. Unter der Liebkosung der Plüschdecke …] an eine Frau gerichtet ist? Lasst uns dann Zwetajewa verbieten, und [den Film – dek] Schestoki romans [dt. Eine bittere Romanze] gleich dazu! Das ist ein unheimliches Fass ohne Boden. 

    Hinzu kommt ein weiteres Problem: Der russische Staat ist so aufgebaut, dass dein Status weitgehend durch deine Verbieterfunktion bestimmt wird. Je mehr du verbieten kannst, desto mehr Macht hast du. Die „Experten“ in so einem Gremium brauchen das persönlich alles nicht, es ist eine zusätzliche Belastung, das alles zu lesen, sich Begründungen auszudenken usw. Aber sie müssen es tun, weil das ihre Position in der Machthierarchie legitimiert. 

    Weil niemand freiwillig ihren Rat einholt, müssen sie auf Razzien und Expertenräte zurückgreifen. 

    In der jüngeren Geschichte des Kampfs der Behörden gegen die Verleger gibt es eine Episode, die das ganz gut illustriert. Vor genau 20 Jahren führte [die Drogenaufsicht] Gosnarkokontrol eine Reihe von Razzien in Buchläden durch und beschlagnahmte Bücher, die „Drogenkonsum propagieren“. Jemand fragte den stellvertretenden Direktor von Gosnarkokontrol, General Alexander Michailow, wie man Propaganda von bloßer Beschreibung unterscheiden könne. Der antwortete sehr treffend: „Wenn ein Verleger überlegt, ob er ein Buch veröffentlichen will, hat er die Wahl: das Risiko eingehen und erwischt werden oder sich beraten lassen und nicht erwischt werden. Es gibt immer die Möglichkeit, sich beraten zu lassen.“  

    Diese Leute wollen unbedingt, dass man sich mit ihnen „berät“, sie können nicht anders, das ist für sie wie die Luft zum Atmen. Aber weil niemand freiwillig ihren klugen Rat einholt, müssen sie auf Razzien und Expertenräte zurückgreifen. 

     

    Offenbar muss man auch mit Konsequenzen im Bildungssektor rechnen? 

    Das können wir bereits jetzt beobachten. Die Erzählung Kawkaski plenny [dt. Der kaukasische Gefangene] von Wladimir Makanin ist z. B. aus dem Lehrplan geflogen. Obwohl sie verfilmt und Makanin von Putin persönlich mit dem Nationalpreis der Russischen Föderation ausgezeichnet wurde. Aber in der neuen Realität ist das unwichtig. Wichtig ist nur, ob es darin irgendwelche „ungesunden, gleichgeschlechtlichen Neigungen“ gibt. Dabei ist Makanins Erzählung in keinster Weise schwule Literatur, im Gegensatz beispielsweise zu Giovannis Zimmer, das wirklich „davon“ handelt. 

     

    Jedes Verbot erhöht schlagartig das Interesse am Verbotenen. Ist das denjenigen bewusst, die über Beschlagnahmungen entscheiden? Das ist doch auch eine Art Propaganda: Wenn du willst, dass möglichst viele Menschen ein Buch lesen, dann lass es verbieten. 

    Dem bürokratischen System ist die Effektivität in dem Sinne, den Sie meinen, unwichtig. Es ist ihm egal, ob das Buch gelesen wird oder nicht. Wichtig ist, sich in den nationalen Trend einzufügen, Rechenschaft abzulegen und seinen „Patriotismus“ zu zeigen, um den Vorgesetzten Beflissenheit zu demonstrieren usw. Da herrscht eine ganz andere Logik. Die Bücher werden heruntergeladen? Na und?! Vielleicht sperren sie die eine oder andere Seite. Oder richten eine Unterabteilung bei [der Medienaufsicht] Roskomnadsor ein, die dafür sorgt, dass Online-Bibliotheken diese Bücher aus ihrem Sortiment entfernen. Eine weitere gute Gelegenheit, um die eigene Nützlichkeit zu demonstrieren und dem Staat zusätzliche Finanzen aus den Rippen zu leiern. 

    Was das Interesse an Verbotenem angeht, stimmt das durchaus. Ich kenne Leute, die jetzt voller Stolz erzählen, wie sie das letzte Exemplar von Sorokin ergattert haben, obwohl sie seine Bücher früher nie in die Hand genommen hatten. Pasolinis Biografie war bei manchen Onlineshops innerhalb von einem Tag ausverkauft. Übrigens verhalf der Skandal von 1907 auch den 33 Monstren von Sinowjewa-Annibal zum Bestsellerstatus; drei Auflagen hintereinander gingen weg wie warme Semmeln. 

    Die Bibliothekare werden eine kollektive Neurose entwickeln. 

     

    Was sollen jetzt Bibliotheken tun, die dazu verpflichtet sind, ein Exemplar von jedem Buch frei zugänglich zu führen? 

    Ich nehme an, die Mitarbeiter werden ihre Bestände mit allen möglichen Listen abgleichen müssen, Bücher aus den Katalogen streichen, wie es schon mit Werken passiert, die durch die Soros-Stiftung und andere unerwünschte Organisationen finanziert wurden. Wer weiß, vielleicht wird es wie in guten alten Sowjetzeiten Spezialschränke geben, in denen in Erwartung der nächsten Perestroika Michael Cunningham, Hanya Yanagihara usw. liegen werden.  

    Die Bibliothekare werden eine kollektive Neurose entwickeln, was im Grunde auch genau das Ziel der Kampagne ist. Sie sollen zittern wie Espenlaub und vorauseilenden Gehorsam leisten. 

     

    Man könnte sich vorstellen, dass in der gegenwärtigen Realität jemand die Situation ausnutzt – nicht, weil er oder sie so viel Wert auf die skrepy legt, sondern aus Neid auf erfolgreiche Autoren und Verlage, um Rache zu nehmen, die Konkurrenz auszubremsen. 

    Natürlich, das sind sehr starke Motive. Ein Bestseller-Autor hat keinen größeren Neider als den Autor, dessen Bücher keine Bestseller geworden sind. 

    Viele Literaten rechtfertigen ihre Misserfolge damit, dass die „liberale Mafia“ ihnen Steine in den Weg legt und verhindert, dass ihre brillanten Romane die breite Masse erreichen. Und jetzt versuchen sie, so etwas wie eine Verbotslobby zu bilden. 

    Das bedeutet, dass kein*e Autor*in und kein Buch sicher sind. 

     

    Ich würde Sie noch gerne fragen, welche Bücher und Autoren in Zukunft betroffen sein könnten, aber es wäre wohl unklug, unnötig Tipps zu geben? 

    Ja, erstens möchte ich tatsächlich nichts beschreien. Und zweitens hängt alles vom Verdorbenheitsgrad der Fantasie der „Experten“ ab. Ich bin sicher, dass sie in jeden Text etwas hineinlesen können, worauf Psychoanalytiker und Philologen, die sich ihr ganzes Leben damit beschäftigt haben, niemals kommen würden. Das bedeutet, dass kein*e Autor*in und kein Buch sicher sind. 

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  • Das Staatsgeheimnis

    Das Staatsgeheimnis

    Seit seinem fünften Lebensjahr begleitet Nikolai Lukaschenko seinen Vater bei offiziellen Auftritten und Staatsbesuchen. Im Vorfeld der Scheinwahlen Ende Januar 2025 war der 20-Jährige in Belarus unterwegs, um im Rahmen einer groß angelegten Propaganda-Show Klavierkonzerte zu geben. Der jüngste Sohn von Alexander Lukaschenko hilft seit langem, das Image des Langzeit-Diktators aufzupolieren und die Diktatur für junge Menschen attraktiver zu machen. Auch halten sich Vermutungen, dass der Sohn den Vater irgendwann beerben könnte. 

    Wer aber ist die Mutter von Nikolai Lukaschenko? Bis heute hat das Regime ihren Namen nicht offiziell bestätigt, wobei es eindeutige Hinweise gibt. Das Online-Portal Zerkalo ist den Hinweisen nachgegangen und erzählt eine Geschichte, die tief in die Funktionsweisen von autoritären Systemen blicken lässt. 

    Irina Abelskaja während eines Interviews am 12. Februar 2018 in Minsk / © Foto Tut.by
    Irina Abelskaja während eines Interviews am 12. Februar 2018 in Minsk / © Foto Tut.by

    Irina Abelskaja wurde 1965 in Brest geboren. „Ich bin Ärztin in dritter Generation, mein ältester Sohn schon in vierter. Meine Großmutter war Feldscherin, ihre ganze Verwandtschaft hatte auf die eine oder andere Weise mit Medizin zu tun. Meine Mutter und meine Tante sind ebenfalls Ärztinnen, genauso mein Bruder und seine Frau. Mein Sohn ist Augenarzt in einem Ärztezentrum“, erzählt sie Tut.by im Interview. 

    Im Verlauf unseres Gesprächs verliert Abelskaja kein Wort über ihren Vater. Das mag damit zu tun haben, dass er tatsächlich aus der Mediziner-Reihe ausschert, aber der Grund könnte auch ein anderer sein: Stepan Postojalko war zu Sowjetzeiten ein politischer Häftling. Er kam 1933 in der Oblast Brest zur Welt, in einem Dorf namens Batareja im Bezirk Beresowski. Während des Zweiten Weltkriegs war in dieser Gegend, wie in ganz West-Polesien, die Ukrainische Aufstandsarmee UPA beliebt: Viele identifizierten sich als Ukrainer, und vor dem Krieg hatte es auf politischer wie kultureller Ebene gut organisierte ukrainische Strukturen gegeben. 

    Die Familie Postojalko – Stepan, sein älterer Bruder und die Eltern – arbeitete zwei Jahre lang der UPA zu. Sie nahmen nur einmal an einer größeren Aktion teil: der Verteilung von Flugblättern in Berjosa. Trotzdem wurden 1952 Stepan, sein Bruder und ihr Vater wegen Unterstützung der UPA zu je 25, Stepans Mutter zu zehn Jahren Haft verurteilt. Auch nach dem Tod Josef Stalins 1953 musste die Familie drei weitere Jahre im Lager bleiben und kam erst im Sommer 1956 durch eine Amnestie frei. Stepan kehrte nach Belarus zurück, zog nach Brest und nahm eine Stelle bei Brestenergo an, wo er später verschiedene Führungspositionen innehatte. Erst 1992 wurde die ganze Familie rehabilitiert. 

    In Brest lernte Stepan seine zukünftige Frau Ljudmila kennen. Sie wurde 1941 in der ukrainischen Oblast Poltawa geboren und hatte in Kyjiw Medizin studiert. Sie arbeitete viele Jahrzehnte als Kinderärztin in der Brester Kinderklinik, zuletzt als Chefärztin. Das alles wohlgemerkt, bevor Lukaschenko an die Macht kam.  

    Lukaschenko wurde 1994 Präsident. Stepans und Ljudmilas Tochter Irina war damals 29 Jahre alt. Sie hatte in Minsk an der heutigen BGMU (Belarussische Staatliche Universität für Medizin) Pädiatrie studiert und arbeitete zunächst als Kinderärztin an einer Minsker Poliklinik, dann als Fachärztin für Endokrinologie in einem Behandlungszentrum und später in einem Minsker Diagnosezentrum. Aus ihrer kurzen Ehe ging ein Sohn namens Dmitri hervor; den Nachnamen ihres Mannes hat sie nach der Scheidung behalten. 

    Irinas Sohn ist heute promovierter Augenarzt. Im Oktober 2020 meldete er der Polizei eine weiß-rot-weiße Flagge, die in der Wohnanlage Kaskad hing. Heute veröffentlicht er auf TikTok und Instagram skurrile Werbe-Videos für die private Minsker Klinik, für die er arbeitet. Gegen ihn liegen über dreißig Strafverfahren wegen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung vor. 

     

    Lukaschenkos Leibärztin 

    Doch zurück in das Jahr 1994. Gleich nach Amtsantritt suchte sich Lukaschenko einen Leibarzt. Sein Management fand offenbar, am besten wäre eine unverheiratete oder geschiedene Frau um die 30 geeignet, die nett anzuschauen ist und ein Kind hat. Irgendwann landeten auf dem Schreibtisch von Gesundheitsministerin Inessa Drobyschewskaja, die mit dem Recruiting betraut worden war, drei Bewerbungsmappen. Die Wahl fiel auf Irina Abelskaja. Im Herbst 1994 übernahm sie ihre Funktion in der Ärztekommission. 

    Das Konzept der Ärztekommissionen stammt aus dem Jahr 1931, als sie in praktisch allen Republiken der UdSSR zur medizinischen Behandlung hochrangiger Beamte eingerichtet wurden. Zu den „Klienten“ gehörten auch Volkskünstler und -schriftsteller, Träger staatlicher Auszeichnungen und dergleichen. Die belarussische Ärztekommission befand sich auf der Krasnoarmejskaja-Straße im Zentrum von Minsk, ganz in der Nähe des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei auf der Karl-Marx-Straße 38, wo heute die Präsidialadministration ihren Sitz hat. Allerdings engagierte Abelskaja sich de facto nicht in der Ärztekommission, sondern begleitete auf Schritt und Tritt den Präsidenten. Bald kamen Gerüchte auf, dass ihr Verhältnis über das dienstliche hinausging.     

    „Dass Irina nicht nur für Lukaschenkos Gesundheit zuständig ist, konnte man bei seinem ersten und einzigen offiziellen Besuch in Frankreich sehen“, schrieb die [staatsnahe – dek] russische Zeitung Moskowski Komsomolez. „Entgegen allen Regeln der diplomatischen Etikette ließ Lukaschenko den Außenminister aus dem benachbarten Hotelzimmer ausquartieren, um dort Platz für Irina zu schaffen. Als Irina Abelskaja dann nach Drosdy in die Präsidentenresidenz zog, wunderte das keinen mehr.“ 

    „Die medizinische Elite des Landes hatte damals von einer Irina Abelskaja noch nicht einmal gehört, sie war eher bei Journalisten bekannt, die das Staatsoberhaupt auf seinen Reisen begleiteten“, bemerkte die Belaruskaja Delowaja Gaseta. „Diese Frau, die immer nur lieb lächelte und nicht viel sagte (vielleicht, weil sie einen leichten Sprachfehler hat), wusste zu gefallen: Mal lotste sie ihn durch die Absperrungen der Wachdienste, mal zauberte sie Tabletten oder Heftpflaster aus ihrem ‚Präsidentenköfferchen’. Einige Male vergaß sie ihren ‚hohen Patienten‘ und eilte Zartbesaiteten zu Hilfe, die beim Anblick ihres Idols in Ohnmacht fielen. So geschehen etwa Anfang der Nullerjahre auf dem Platz des Sieges, als Alexander Lukaschenko vor Veteranen sprach und bei einem der Kriegshelden das Herz nicht mehr mitspielte.“ 

    Der Journalist Pawel Scheremet erinnert sich: „In den ersten Jahren von Lukaschenkos Regierungszeit konnte man während seiner stundenlangen Besprechungen ein paar Worte mit ihr auf dem Korridor wechseln. Sie wirkte sympathisch.“ Gelegentlich wurde die Leibärztin des Politikers an delikaten Entscheidungen beteiligt, die über ihr eigentliches Aufgabenfeld weit hinausgingen. Iwan Titenko, in Lukaschenkos frühen Jahren einer seiner engsten Mitstreiter, erzählte, dass er nach seinem Rücktritt erst über Abelskaja einen Termin bei seinem ehemaligen Chef bekam. Es wurde auch gemunkelt, dass sie auf Lukaschenkos Anweisung Tamara Winnikowa, die ehemalige Vorsitzende der Nationalbank, in der Untersuchungshaft besuchte. Und dass Abelskaja ein gutes Wort für Galina Shurawkowa bei Lukaschenko eingelegt habe: Seiner „Betriebswirtschafterin“ wurde Korruption vorgeworfen, aber nach dieser Intervention wurde sie wieder aus der Haft entlassen. 

    Irina Abelskajas Einfluss wuchs. 2001 wurde sie Chefärztin am Republikanischen Klinisch-Medizinischen Zentrum der Präsidialverwaltung (so heißt heute die Ärztekommission offiziell). Der alte Chefarzt wurde mit einem Skandal entlassen, und die Staatsanwaltschaft leitete ein Strafverfahren wegen Unterlassung und Fahrlässigkeit der Krankenhausbediensteten ein. Lukaschenko verlautbarte, Abelskaja käme, um dort eine „Schule der modernen Medizin“ aufbauen. Die Klinik wurde mit den modernsten medizinischen Geräten ausgestattet und bekam neue Flächen hinzu, nämlich die Gebäude, in denen sich das Zentrum für Radiologie und die Kinderklinik Nr. 4 befunden hatten. Sie bestand nun aus ganzen sechs Gebäudetrakten.      

            

    Familienbande 

    Parallel zu Abelskajas Höhenflug gewann auch ihre Mutter an Einfluss. Laut der Zeitung Narodnaja Wolja habe Lukaschenko Ljudmila Postojalko schon 2001 zur Gesundheitsministerin ernennen wollen. Doch die Chefärztin des Brester Kinderkrankenhauses hatte keinerlei Erfahrung mit der Hauptstadt und mit großen, „erwachsenen“ Strukturen. Da wandte er einen schlauen Trick an und ernannte Wladislaw Ostapenko, Doktor der Medizin, Mitglied der Belarussischen Akademie der Wissenschaften sowie Facharzt für Radiologie und Endokrinologie zum Gesundheitsminister. Er hatte mehrere Jahrzehnte lang verschiedene Forschungsinstitute geleitet. Postojalko wurde seine erste Stellvertreterin. 

    Narodnaja Wolja zufolge war es eigentlich Postojalko, die die Linie des Ministeriums vorgab, auch wenn sie nur Stellvertreterin war. Sie tadelte die angesehensten Experten, und die Ministeriumsmitarbeiter achteten darauf, nur ja nicht aufzufallen. Als im März 2002 in Mahiljou eine akute Darminfektion ausbrach, war es nicht Ostapenko, sondern Postojalko, die damit drohte, alle zu entlassen. Damals wurden innerhalb von 48 Stunden 140 Kindergartenkinder hospitalisiert, über weitere 100 Kinder wurden ambulant behandelt, ohne dass das lokale Seuchenschutzzentrum den Grund für die massenhafte Vergiftung hätte ausfindig machen können.         

    Ende April 2002 berichtete die Narodnaja Wolja, Lukaschenko habe Ostapenko aus einer Sitzung geworfen und ihn wegen „erheblicher dienstlicher Versäumnisse, die sich in mangelhafter Ausführung der Dienstpflichten zeigten“, seines Amtes enthoben. Er war gerade mal ein halbes Jahr im Amt gewesen. „Nach der aufsehenerregenden Entlassung von Wladislaw Ostapenko hat es niemand eilig, seine Funktion zu übernehmen. Angeblich hoffen manche hochrangigen Ärzte inständig, dass man sie bloß nicht anfragen möge“, schrieb die Narodnaja Wolja Anfang Mai. 

    So trat Postojalko, die damals bereits im Rentenalter war, das Amt der Ministerin an. Wie enorm ihr Einfluss war, konnte man an der Entlassung von Alexander Kosulin sehen, der als Rektor der Belarussischen Staatlichen Universität (BGU) sehr beliebt gewesen war. Laut dem Politologen Alexander Feduta wollte Kosulin aus der Institution eine „Universität im klassischen Sinn“ machen, wofür es seiner Ansicht nach unbedingt eine Fakultät für Alternativmedizin brauchte. Diese zugegebenermaßen fragwürdige Idee (die Alternativmedizin ist wissenschaftlich nicht anerkannt) kam 1998 auf und wurde im darauffolgenden Jahr in die Tat umgesetzt. 

    Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin (Mitte) im Jahr 2006 auf dem Minsker Oktoberplatz / © Foto naviny.by
    Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin (Mitte) im Jahr 2006 auf dem Minsker Oktoberplatz / © Foto naviny.by

    Die Fakultät war Postojalko ein Dorn im Auge. „Diese Schlacht wirst du nicht gewinnen“, soll der Schriftsteller Jewgeni Budinas laut Feduta zu Kosulin gesagt haben. „Doch das war Alexanders wunder Punkt, er blieb stur, wollte nichts hören. ‚Keine Ahnung‘, sagte er, ‚ob sie sich mit Medizin auskennt, aber mit Hochschulbildung bestimmt nicht‘. Das sagte er leider nicht zu mir, sondern zur Ministerin, und zwar nicht zu irgendeiner, sondern einem Quasi-Familienmitglied. So etwas ist unverzeihlich, ein Sakrileg. Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte, war zurückzurudern und sich mit allem einverstanden zu erklären.“ 

    Das verweigerte der Rektor. Im November 2002 erklärte der Vorsitz des Ministerrats die Ausbildung von Fachkräften für Heilkunde und Pharmazie an der Fakultät für Grundlagen- und Alternativmedizin der BGU für „nicht zielführend”. Formal wurde zum Anlass genommen, dass die Universität keine Lizenz zur Bildungstätigkeit in diesen Fächern habe. Die Fakultät wurde im Februar 2003 geschlossen, ohne dass die Studenten noch die Möglichkeit hatten, ihr Studium abzuschließen.                   

    Kosulins Schicksal wurde im November 2003 besiegelt. Er war ein paar Tage früher aus dem Urlaub zurückgekehrt, um sich ein klares Bild zu verschaffen. Inzwischen hatte er aus dem Fernsehen erfahren, dass ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wurde – wegen Diebstahls von Gold in einer der Betriebsstätten der BGU. In der darauffolgenden Woche wurde der Rektor suspendiert. Einige Wochen später wurde die Anklage gegen Kosulin fallengelassen. Doch seine Suspendierung blieb bestehen. 

    Ljudmila Postojalko war bis 2005 Ministerin. Noch während ihrer Amtszeit wurde Alexander Kossinez Vizepremier für soziale Fragen, einschließlich Medizin. Feduta zufolge sei es Kossinez gelungen, Postojalkos Reformen ein wenig abzumildern und die belarussische Medizin zu retten. Konkrete Maßnahmen nennt er dabei nicht, aber vermutlich bezieht er sich darauf, dass Kossinez bei einigen von Postojalkos strittigen Vorschlägen auf die Bremse trat. Zum Beispiel wollte sie mehrere Forschungsinstitute auflösen, Patienten nur noch in den Bezirken ihrer Meldeadressen behandeln lassen und die Dauer von bezahlten Klinikaufenthalten und Krankenständen verkürzen. All das klang abenteuerlich und realitätsfern. Da ein hoher Prozentsatz der Belarussen nicht an der Meldeadresse wohnt, hätte das Hunderttausenden Menschen erhebliche Probleme beschert. 

    Lukaschenkos Söhne: Dmitri, Nikolai und Viktor (v. l. n. r.) bei der Parade zum Tag der Unabhängigkeit am 3. Juni 2020 in Minsk / © Foto Natalia Fedosenko/ Tass Publication/ Imago 

     

    Ein neuer Sohn 

    In den Nullerjahren ging die Beziehung zwischen Lukaschenko und Abelskaja auf und ab. „Einmal vertrug Irina einen Flug schlecht und stieg ganz grün im Gesicht aus dem Hubschrauber“, schrieben damals die Zeitungen. „Ihr war so übel, dass sie sich übergeben musste. Lukaschenkos Kommentar zum Zustand seiner Begleiterin war so schroff, dass seine Bodyguards sie beruhigen mussten … Im selben Jahr, 2005, herrschte er sie auf der berühmt-berüchtigten Präsidentenloipe so wirsch an, dass er damit sogar seine Minister vor den Kopf stieß.“ Trotzdem begleitete Abelskaja den Politiker überallhin: „Sie ist bei allen von Lukaschenkos Treffen mit hochrangigen Vertrauensmännern dabei. Irina Stepanowna sitzt immer neben ihm, und wenn Alkohol ausgeschenkt wird, achtet sie darauf, dass Alexander Grigorjewitsch stets ausschließlich Mineralwasser im Glas hat.“ 

    2004 kam Nikolai Lukaschenko zur Welt. Die russische Zeitung Kommersant schrieb, Abelskaja hätte Gerüchten zufolge versucht, auf dem Standesamt Lukaschenko als Vater anzugeben, ihr das aber verweigert worden sei. Erst 2007, fast drei Jahre nach der Geburt, wurde offiziell bestätigt, dass Lukaschenko ein drittes Kind hat. Am 12. April gab der Präsident eine Pressekonferenz. Auf die Frage, ob er seinen ältesten Sohn Viktor als seinen Nachfolger sehen würde, antwortete Lukaschenko, nicht seine zwei Erstgeborenen kämen dafür in Frage, sondern sein dritter Sohn: „Den Kleinsten werde ich zum Nachfolger erziehen“, sagte er. Dabei waren bis dahin nur zwei Söhne offiziell bekannt gewesen: Viktor und Dmitri. Beide hatte ihm seine offizielle Ehefrau Galina bereits vor seiner politischen Karriere geboren (soweit bekannt, ist diese Ehe bis dato nicht geschieden). 

    Ob Zufall oder nicht, diese Information kam nach zwei besonderen Ereignissen ans Licht: Im März 2007 war Ljudmila Postojalko gestorben. Und am 10. April 2007 wurde Abelskaja als Vorsitzende der Ärztekommission entlassen. Zuvor hatte sie einen Teilzeitjob in einer Ordination für Ultraschall angenommen, um in ihrer Verwaltungsfunktion die medizinische Qualifikation nicht zu verlieren und Dienstjahre als Ärztin zu sammeln. Nun blieb ihr nur noch dieser Job. 

    Zu guter Letzt kritisierte Lukaschenko sie auch noch, sagte, die Präsidialklinik müsse eine Vorreiterrolle einnehmen, medizinische Versorgung auf höherem Niveau bieten und den anderen ein Vorbild sein. Zwei Tage später bekundete er die Existenz eines dritten Sohnes. Offenbar musste erst die mutmaßliche Großmutter verstorben sein und die Mutter auf sichere Distanz gebracht werden, bevor er den Sohn der Öffentlichkeit präsentieren konnte. 

    Ein Jahr später, im April 2008, erschien Lukaschenko mit dem kleinen Nikolai beim Subbotnik (das war dessen erster öffentlicher Auftritt). Am selben Tag lief der Knirps vor dem Spiel von Papas Hockeymannschaft übers Eis. 2008 bestätigte der Politiker, dass die Mutter seines Sohnes Ärztin sei. Abelskajas Name wurde bisher jedoch nie offiziell genannt. Über Abelskajas beruflichen Werdegang nach dem Ausscheiden aus der Ärztekommission ist nicht viel bekannt. Es gab zwar Gerüchte, dass sie eine Weile Oberärztin im Sanatorium Belarus in Sotschi war, aber die wurden nie bestätigt. „Heute ist sie einfach Ultraschall-Ärztin in einem Minsker Diagnosezentrum“, schrieb 2009 Pawel Scheremet. „Man kommt nur per Überweisung zu ihr, in der Regel behandelt sie nur Männer. Im Diagnosezentrum heißt es, Irina Stepanowa arbeite schichtweise und fahre zwischendurch immer wieder nach Europa. Ihre Ordination hat keine Kontaktnummer. Man weiß nicht, wie viel Zeit sie mit Kolja verbringt, wenn er von den gemeinsamen Reisen mit Alexander Lukaschenko zurück in Minsk ist.“ 

    Immerhin durfte sie in ihrem Elitedomizil bleiben, einem kleinen Landhaus in Drosdy, das für hochrangige Beamte vorgesehen war. 

     

    Karriere-Sprünge 

    Zwei Jahre später war die Zeit der Ächtung plötzlich vorbei. 2009 kehrte Abelskaja als Chefin der Ärztekommission zurück und trat bei diversen medizinischen Konferenzen auf. Obwohl sie noch im Mutterschutz war, verteidigte sie 2004 – gerade mal einen Monat nach der Entbindung – erfolgreich ihre Dissertation am Institut für Onkologie und Strahlenmedizin zum Thema Strahlendiagnostik bei Osteochondrose an der Halswirbelsäule. 2011 beendete sie auch noch eine Habilitationsschrift, woraufhin ihr 2012 der Professorentitel verliehen wurde. 

    „Irina Stepanowa hat fünf Jahre an ihrer Dissertation gearbeitet“, sagte ihr Doktorvater Anatoli Michailow, Mitglied der belarussischen Akademie der Wissenschaften, gegenüber der Zeitung Narodnaja Wolja. „Als sie 2007 ihre Chefarzt-Stelle am Republikanischen Klinisch-Medizinischen Zentrum verließ, wandte sie sich der Praxis zu und bereitete ihre Dissertation vor. Sie hat vier Patente, ist Verfasserin von drei Monografien. In den größten russischen und belarussischen Fachzeitschriften wurden 60 wissenschaftliche Artikel von ihr veröffentlicht. Sie nahm an zwei staatlichen Programmen für Wissenschaft, Technik und Innovation teil. Sie hat unter anderem einen enormen Beitrag für die Bestimmung des Behinderungsgrades und die Entwicklung eines Therapieplans für Patienten geleistet.“     

    Nach Abelskajas Rückkehr wurde die Ärztekommission erneut vergrößert. Zu den sechs bestehenden Trakten kamen zwei weitere hinzu: ein Therapie- und Diagnosezentrum sowie eine Intensivstation mit Operationssälen. Hier stand das landesweit erste Computertomografie-Gerät von General Electric, das hohe Bildqualität bei geringer Strahlendosis liefert. Außerdem ein Magnetresonanztomograf, ein vollständig digitaler Röntgenapparat von Siemens und ähnliche Apparaturen. In dieser Klinik wurde zum ersten Mal in Belarus eine künstliche Aortenklappe eingesetzt, und auch die erste von einem Roboter durchgeführte Operation fand hier statt. 

    2018 zog die Ärztekommission nach Shdanowitschi. In den Bau der neuen Klinik flossen 100 Millionen Euro, nach zwei Jahren war sie schlüsselfertig. Die früheren Räumlichkeiten bezog das städtische Krankenhaus Nr. 2. Trotz ihrer hohen Positionen scheint Abelskaja recht zugänglich geblieben zu sein. So erzählt die Kulturwissenschaftlerin Julija Tschernjawskaja von ihrem Mann, dem Tut.by-Gründer Juri Sisser: „Er ließ sich damals in der Ärztekommission behandeln und operieren. Auf Irina Abelskaja hielt er große Stücke, er sagte, sie sei eine freundliche, liebe Frau, die täglich alle Patienten der Intensivstation besuchte.“  

    Warum hat Lukaschenko Abelskaja zur Senatorin gemacht und angefangen, sie in die öffentliche Politik einzubeziehen? 

    An Abelskajas Geburtstagswünsche 2010 auf der Intensivstation erinnerte sich auch der Schriftsteller Ryhor Baradulin, auch wenn er kein Freund von Lukaschenko war: „Abelskaja gratulierte mir mit einem Blumenstrauß, siebzehn Rosen. Sie wünschte mir gute Besserung, ich bedankte mich. Dank ihr wurde ich sehr gut betreut, alle kümmerten sich um mich – dafür bin ich ihr wirklich dankbar.“ Wenn Abelskajas Name in den Zehnerjahren in den Medien genannt wurde, dann vor allem im medizinischen Kontext. Im November 2020 war sie wenig überraschend eine der Verantwortlichen für den Umgang mit der COVID-19-Pandemie in der Oblast Minsk. 

    Doch allmählich trat sie immer öfter in einer anderen Rolle auf. Im Februar 2023 unternahm Lukaschenko einen Staatsbesuch in Simbabwe und nahm nicht nur seinen Sohn Nikolai mit, sondern auch Abelskaja. Im April 2023 empfing sie bereits die Gattin des Präsidenten von Simbabwe in der belarussischen Ärztekommission. Und sie leitete eine auf Anweisung von Lukaschenko gegründete Arbeitsgruppe zur Qualitätssicherung der medizinischen Versorgung.  

    Im Januar 2024 flog Abelskaja bereits allein nach Simbabwe und wurde dort vom Präsidenten und seiner Frau empfangen. Im Grunde waren das ihre ersten Schritte in der offiziellen Politik. Im April wurde sie Mitglied des Rats der Republik, des Oberhauses im belarussischen Parlament (ihre Kandidatur hatte offenbar den Segen der Staatsspitze). Im Juni besuchte Abelskaja ein Krankenhaus für Notfallmedizin in Witebsk, um die Qualität der medizinischen Versorgung dort zu überprüfen, woraufhin einige Angestellte entlassen wurden (unter anderem der Chefarzt, eine Oberschwester sowie die Leitung der Station für Anästhesie und Reanimation).      

    Warum hat Lukaschenko Abelskaja zur Senatorin gemacht und angefangen, sie in die öffentliche Politik einzubeziehen? „Er will seinen Beamten und Funktionären zeigen, dass er treue Gefährten nicht nur nicht im Stich lässt, sondern sie auch beruflich voranbringt“, meint Alexander Friedman Zerkalo gegenüber. „Wenn man sich die Liste der Personen ansieht, die es ins Repräsentantenhaus geschafft haben, dann kann man praktisch von allen sagen, dass sie sich irgendwann einmal besonders hervorgetan haben. Sie fielen positiv auf und wurden als Gegenleistung befördert. Bei Irina Abelskaja gibt es vieles, wofür Lukaschenko sich bedanken muss. Sie begleitet ihn quasi ihr ganzes Leben lang. Sie ist keine Skandalnudel, die seinen Ruf beeinträchtigen könnte. Sie ist mit ihrer Rolle und der Rolle ihres mutmaßlichen Sohnes einverstanden, wir haben nie gehört, dass sie dagegen protestiert hätte. Die ganze Zeit über hat sie so gelebt, gehandelt und gearbeitet, wie Lukaschenko das wollte. Also, wieso sollte er sich in so einem wichtigen Moment nicht mit dieser Ernennung erkenntlich zeigen?“ 

    Dabei wird Abelskaja, offenbar auf Geheiß von oben, immer aktiver. Stehen dahinter etwa weiterführende Pläne? Soll sie zum Beispiel bald den Rat der Republik leiten? „Klar, wenn Lukaschenko Natalja Kotschanowa zur Leiterin der Allbelarussischen Volksversammlung ernennt, dann muss sie im Rat der Republik jemand ersetzen“, mutmaßt Friedman. „Die eine Vertraute durch eine andere Vertraute zu ersetzen wäre durchaus Lukaschenkos Stil. Wenn dieser Fall eintritt, müssen wir unser Bild vom Lukascheno-Klan überdenken. Wenn Irina Abelskaja, die als Nikolais Mutter und Lukaschenkos Freundin gilt, einen verfassungsrechtlich so wichtigen Posten einnimmt, dann lässt sich daraus ableiten, dass der Klan tatsächlich langfristig an der Macht bleiben und sich zu diesem Zweck absichern will.“             

    Diese Meinung äußerte Friedman im März 2024. Seitdem hat Irina Abelskaja keine neuen Sprossen auf der politischen Karriereleiter erklommen. Aber das Leben der Ärztin, die Lukaschenko praktisch seit Beginn seiner Amtszeit begleitet, hält bestimmt noch einige Überraschungen bereit. 

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  • „I can almost hear the birds”

    „I can almost hear the birds”

    Zehntausende Menschen wurden bis November 1943 in Maly Trostenez erschossen oder in Gaswagen erstickt, darunter vor allem Juden aus dem Minsker Ghetto sowie aus mitteleuropäischen Städten wie Wien. Auschwitz, Bergen-Belsen oder Treblinka sind fester Bestandteil der Erinnerungskultur rund um die mörderische Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Das kleine Dorf Maly Trostenez nahe der belarussischen Hauptstadt Minsk mit seinem Wald Blagowschtschina ist als NS-Vernichtungsstätte weniger bekannt. Der belarussische Fotograf Maxim Sarychau hat sich auf den Weg gemacht, um Maly Trostenez im kollektiven Bewusstsein zu verankern. In seinen Bildern für das Projekt I can almost hear the birds visualisiert er die Auswirkungen und Spuren des Massenmordes, indem er Vergangenes und Gegenwärtiges verbindet.  

    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    dekoder: Wie entstand die Idee zu dem Projekt I can almost hear the birds

    Maxim Sarychau: Alles begann mit der Idee, eine Reportagen-Serie zu Maly Trostenez zu machen, die wir 2017 gemeinsam mit der österreichischen Journalistin Simone Brunner im Rahmen des Stipendiums Reporters in der the Field verwirklicht haben. Wir brachten eine Reihe von Beiträgen in deutschsprachigen Publikationen in Österreich und Deutschland heraus. Das Thema hat mich mit seiner historischen und politischen Vielschichtigkeit nicht mehr losgelassen, ich wusste, dass ich weiter daran arbeiten und ein Kunstprojekt dazu machen will, das von den Ereignissen in Maly Trostenez in der Sprache zeitgenössischer Fotografie erzählt. 

    Wann und wie sind Sie persönlich auf die Geschichte von Maly Trostenez gestoßen?  

    Zu meiner Schulzeit haben wir nichts über Maly Trostenez gelernt. In Geschichte nahmen wir den Holocaust nur flüchtig durch, im Kontext des Zweiten Weltkriegs, wobei der Fokus immer auf den Opfern der sowjetischen Bevölkerung lag: die verbrannten Dörfer, der heldenhafte Kampf der Partisanen, der sowjetischen Armee und so weiter. Die Todeslager waren irgendwo „weit weg“ in Europa, und ich hatte keine Ahnung, dass einer dieser schrecklichen Orte mitten in Minsk liegt, meiner Heimatstadt. 

    Als ich 2015 Maly Trostenez zum ersten Mal mit einer Exkursion besuchte, war ich erschüttert von dem Kontrast, den ich dort sah und hörte. In den 70 Jahren, in denen sich Stadt und Natur weiterentwickelt hatten, waren sämtliche Spuren dessen, was hier geschehen war, verschwunden. Die Führung erinnerte an eine Pfadfinderwanderung: Man zeigte uns die schöne Natur- und Stadtlandschaft und erzählte gleichzeitig von den grausamen Methoden des Massenmords. Das Verborgene und Unsichtbare der Geschichte, wo doch jeder Stein von ihr erzählen sollte, wurde zu einem der Konzepte und Themen meines Projekts. 

    Für das Projekt haben Sie Verwandte von Todesopfern in Maly Trostenez getroffen. Wie haben die auf Ihr Projekt reagiert? 

    Von den Angehörigen der Opfer habe ich nicht direkt Feedback zur Ausstellung selbst, da sie nur an zwei Orten gezeigt wurde: im Lettischen Museum für Fotografie in Riga (2020) und in einer gekürzten Version in der digitalen KX- Galerie in Brest (2021). Aber während der Arbeit am Projekt habe ich mit einigen Angehörigen gesprochen, und sie waren alle interessiert daran, die Geschichten ihrer Verwandten, die in Maly Trostenez umgekommen sind, zu erzählen und waren sehr offen, wofür ich sehr dankbar bin. Die jetzige Ausstellung ist die finale Form des Projekts. Sie ist relativ umfangreich, und wenn man den Rezensionen glauben darf, bringt sie die Idee gut rüber. Im Moment habe ich keine Kraft, nach Räumen oder Institutionen zu suchen, die sie noch zeigen könnten, aber ich hoffe, dass sich mit der Zeit etwas ergibt. 

    Was hat es mit dem Titel auf sich: I can almost hear the birds

    2017 besuchte ich das Waldstück Blagowschtschina, den Ort mit den meisten Erschießungsplätzen und Gräbern. Es war ein wunderschöner warmer Sommertag. Ich stand mitten in einem Märchenwald, umgeben von Pflanzen und Vogelgezwitscher. Und wieder war ich erschüttert von der Diskrepanz zwischen der Schönheit der Umgebung, der Ruhe des Ortes und dem, was hier 1942/43 geschehen ist. Als ich dann das Reisetagebuch von Vienna Duff las, die in Maly Trostenez ihre damals 22-jährige Großtante Adele Steiner verloren hat, fiel mir sofort ein Satz ins Auge, weil er so genau wiedergab, was ich an diesem Ort gefühlt hatte: „I can almost hear the birds, feel the gentle sunshine and breeze and sense the presence of the tall, straight pine trees as I write these words.“ 

    Welche ästhetischen Überlegungen leiteten Sie bei der Visualisierung?  

    Vom Konzept her habe ich hier mit der Unsichtbarkeit gearbeitet, die sich aufdrängt, von welcher Seite auch immer man auf die Vernichtungsstätte Trostenez schaut. Angefangen bei den naturgegebenen Vorgängen – der Natur und der Zeit, der Transformation der europäischen Städte, in denen die Opfer vor der Deportation gelebt haben, bis hin zu den verdeckten Mechanismen der Spezialoperation der Nazis und der Manipulation des historischen Gedenkens an diesem Ort. 

    Wir reagieren alle unterschiedlich stark auf fremdes Leid, das ist normal. Ich fühle mich zum Beispiel nicht bereit, nach Auschwitz zu fahren, um etwas zu begreifen oder zu erspüren. Das könnte eine traumatische Erfahrung sein. Bei diesem Projekt versuche ich, in der Sprache der Kunst über den Holocaust zu sprechen, ohne unmittelbar Bilder von Gewalt zu zeigen oder zu verwenden, sondern indem ich dem Zuschauer aus sicherer Distanz einen Raum für Reflexion und Anteilnahme anbiete. Anstatt zu rekonstruieren oder zu erklären, was in Maly Trostenez geschehen ist, versuche ich mich durch das Mittel der Dokumentarfotografie dem Geschehen anzunähern. Ich sammele visuelle Artefakte und Motive auf verschiedenen Ländern, Epochen, Institutionen und Archiven, die ich dem Publikum präsentiere. Damit möchte ich Fantasie und Einfühlungsvermögen anregen und eine neue Erfahrung ermöglichen. Ich gebe Hilfestellung und lade ein, einen eigenen Weg zu gehen bei dem Versuch, ins Dickicht von Blagowschtschina zu blicken. 

     

    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Yael Kurzbauer im Wald von Blagowschtschina. Sie verlor ihre Urgroßmutter Sofie Tauber (47) und all deren Kinder: Ruth (14), Joseph (13), Erich (11) und Sonia (10), Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

    Legende zum Bild: Kreuzung 

    1. Die Straße zum Erschießungsplatz  

    2. Erschießungsplatz 

    3. Die Stelle, an der das Auto mit den Gefangenen anhielt. 

    4. Aufenthaltsorte der Strafeinheiten 

    5. Die Stelle, wo Albert Saukitens jeden Morgen Stellung bezog. Saukitens war ein lettischer Kollaborateur, der an den Massenerschießungen beteiligt war.  

     

    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau
    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Eingang des Wohnhauses Wollzeile 9 in Wien, eine der so genannten „Sammelwohnungen”, in denen mehrere Familien gezwungen wurden, zusammen auf sehr engem Raum zu leben. Diese Wohnungen entstanden im Rahmen der Zwangsumsiedlung von Juden im Rahmen der antijüdischen Wohnungsgesetze in Wien. Als 1941 die Deportationen begannen, waren sie für viele Juden vor der Deportation oft die letzte offizielle Adresse. 
    In diesem Haus wohnten mindestens elf Personen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22).   „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22). „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau
    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Susanne Scholl (71) verlor ihre Großeltern mütterlicherseits in Maly Trostenez: Rudolf Werner (59) und Emilie Werner (59), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnung am Petersplatz 9 in Wien, eine weitere der so genannten „Sammelwohnungen”, wo mehrere jüdische Familien gezwungen wurden, auf sehr engem Raum zusammenzuleben. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Blumenfeld (49), Käthe Trepler (38), Helene Weiss (49), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Ein Lichtstrahl aus der Eingangstür des Wohnhauses in der Wollzeile 9 in Wien, einer „Sammelwohnung”. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Fotografie: Maxim Sarychau 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Ingo Petz 
    Veröffentlicht am 27.01.2025 

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  • Error 505 – Teil 2/2

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    Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.  

    Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.  

    Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch. 

    Teil 1: Mit sowjetisch geprägtem Lebenslauf über missglückten Widerstand hinein in den russischen Folterkeller

    Hier ist Fortsetzungsteil 2: Raus aus dem Folterkeller durch die russische Besatzung bis zur Flucht nach Deutschland

    Als Witali von den russischen Besatzungstruppen festgenommen wurde, trug er einen roten Wollfaden um sein Handgelenk. Das sollte gegen Kopfschmerzen helfen, hatte ihm seine Großmutter beigebracht. Als ihm Handschellen angelegt wurden, waren sie sehr eng, aber an seiner rechten Hand schlossen sie sich über dem Faden, der so verhinderte, dass die Blutzufuhr abgequetscht wurde. Seitdem nimmt Witali den roten Wollfaden nie ab. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow
    Als Witali von den russischen Besatzungstruppen festgenommen wurde, trug er einen roten Wollfaden um sein Handgelenk. Das sollte gegen Kopfschmerzen helfen, hatte ihm seine Großmutter beigebracht. Als ihm Handschellen angelegt wurden, waren sie sehr eng, aber an seiner rechten Hand schlossen sie sich über dem Faden, der so verhinderte, dass die Blutzufuhr abgequetscht wurde. Seitdem nimmt Witali den roten Wollfaden nie ab. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow

    Ein paar Tage später kommt der russische Soldat mit Rufnamen 505 wieder zu Witali in den Folterkeller: „Wir haben wieder von den Dichtern und so angefangen“, erinnert sich Witali. „Und da geht plötzlich das Kriegsschiff Moskau unter. Das vermieste ihm die Stimmung. Er fing an: ‚Wer braucht das alles, wie hat das überhaupt angefangen …‘ Ich wusste es auch nicht.“ 

    Bis zum 14. April bekam Witali nichts zu essen. Zu trinken gab es nur Wasser aus der Kanalisation. Über zwei Wochen war er nicht auf der Toilette, er konnte nicht. Auf dem Kellerboden standen auch so knöcheltief Kot und Urin. Witali sagt, die Militärs hätten die Klos kaputtgeschlagen. „Sie haben ins Loch geschissen, kein Papier benutzt. Es lief alles in den Keller.“ 

    Irgendwann erzählte 505 Witali, da würde jeden Tag eine Frau Essen für ihn zum Stabsquartier bringen. Als er hörte, dass Witali nichts davon bekam, versprach er, sich darum zu kümmern.  

     

    Kapitel 6: „Ihr Schweine, ihr habt ihn gebrochen, oder?“ 

    Wynohradne, Mai 2022 

    Irina Manshos kam wirklich jeden Tag zur ehemaligen Stadtverwaltung von Molotschansk. Sie stand um fünf Uhr morgens auf, molk und tränkte die Ziegen, kochte frisch – „eine Suppe, damit er was Flüssiges hat, oder Nudeln mit Fleisch oder Frikadellen mit Kartoffelbrei, legte ein Stück Schokolade und Zigaretten dazu“ – und fuhr zum Stabsquartier. Die Soldaten nahmen die Behälter und die Thermoskanne an und gaben sie ihr am nächsten Morgen leer zurück. „Ich dachte, das isst alles Witali.“ 

    Über einen jungen Mann aus der Nachbarschaft, der aus dem Keller freikam, richtete Witali ihr aus, dass er am Leben sei und Zigaretten brauche. 

    „Dabei hab ich ihm jeden Tag welche zum Essen dazugelegt … Vielleicht haben sie das weggekippt, vielleicht haben sie es selbst gegessen. Die waren hungrig. Ich habe gesehen, wie sie unsere wilden Rebhühner gefangen und selbst gerupft haben, gleich dort im Amtsgebäude.“ 

    505 hielt Wort: Ab nun kamen Essen und Zigaretten im Keller an. Eines Abends entdeckte Irina beim Abwaschen der Thermoskanne unter dem Deckel auch einen Zettel. Witali hatte ihr auf einem Fetzen Zeitungspapier mit Putin auf der Titelseite eine Botschaft hinterlassen. Er schrieb, sie soll die Reisepässe vergraben und die Bankkarten verstecken. So begann ihre Korrespondenz. Im zweiten Briefchen bat er um eine Bibel. Irina besorgte beim Priester kleine Heftchen. 

    Tochter Sascha munterte Irina manchmal auf: „Es wird alles gut mit Papa“, und tauchte wieder in ihren Computerspielen ab. So habe sie abschalten können, erklärt Irina. Manchmal legte sie mit einer Freundin Tarotkarten. Sie sagten, ihrem Vater würde die Kraft der Diplomatie in die Hände spielen. 

    Seine Augen waren traurig, er konnte kaum sprechen. Steht vor mir, als würde er sich verabschieden.

    Noch mal zwei Wochen später ließ Stabsleiter 505 Witali zum ersten Mal seine Frau anrufen. Dann kam er mit einer guten Nachricht: Am nächsten Tag würden sie sich sehen dürfen. „Aber erzähl nicht zu viel“, ermahnte er ihn. „Das wäre sowieso nicht gegangen“, erinnert sich Irina. Das fünfminütige Treffen fand im Beisein eines bewaffneten Wachmanns statt. 

    „Witali kam in denselben Sachen, die er vor einem Monat getragen hatte. Pullover, Hose, Armeeunterhose und grüne Socken mit Dreizack …“ Sie tauschten nur ein „Hallo, wie geht’s dir?“ und „Gut“ aus. Aber alles in Irinas Innerem schrie: „Ihr Schweine, ihr habt ihn gebrochen, oder?“ Irina erinnert sich: „Seine Augen waren traurig, er konnte kaum sprechen. Stand vor mir, als würde er sich verabschieden. Anfassen durfte ich ihn nicht. Er fragte nach seiner Tochter.“ 

    Weil Witali seltsam schief stand, entdeckte Irina die Einschusslöcher in der Hose. Bei nächster Gelegenheit brachte sie ihm Wunddesinfektionspulver. Witali schüttete das Pulver in die Einschusslöcher im Schritt, und es kamen verrottete Stofffetzen zum Vorschein.  

    Nach diesem Treffen legte Irina ihre ukrainische SIM-Karte ein, rief im Verteidigungsministerium in Kyjiw an und meldete, dass ihr Mann gefoltert wird. Es war Anfang Mai 2022. Witali saß immer noch im Keller. 

    „Lasst mich doch wenigstens zum Tag des Sieges raus. Wer bin ich denn schon?“, bat Witali Georgi. – „Du weißt zu viel, der FSB ist an dir dran, dein Bruder ist bei der Armee, die pfuschen uns in den Vormarsch. Du wirst sowieso nicht eingetauscht, und ausreisen darfst du auch nicht.“ 

    Am 15. Mai ließen sie Witali schließlich doch für einen Tag nach Hause. Zum ersten Mal seit März konnte er duschen. Dann sagte der Stabsleiter, er solle Kartoffeln setzen, schließlich sei schon Mai. 

     

    Im Süden der Karte befinden sich Tokmak und Molotschansk, das Dorf Wynohradne liegt etwas nordwestlich davon. Seit März 2022 sind diese Orte von der russischen Armee besetzt. Ebenso Enerhodar im Westen der Karte. Die Gebietshauptstadt Saporishshja (hier im Norden) ist nicht von Russland besetzt, aber häufiges Ziel russischer Raketen-, Drohnen- und Gleitbombenangriffe. © Deep State

    Ich schulde dir noch drei Kugeln

    Zwei Wochen später ließ ihn 505 aus dem Keller, unter der Bedingung, sich einmal am Tag im Stab zu melden und sich höchstens fünf Kilometer von seinem Haus zu entfernen. Deswegen fuhr Witali nicht ins Krankenhaus – das nächste war 12 Kilometer entfernt, dazwischen 14 Checkpoints. Der Entlassungsschein ist immer noch im Garten hinter ihrem Haus in Wynohradne vergraben, erzählt Witalis Frau. 

    Als Witali aus dem Stabsquartier kam, sah er den Kommandanten, der ihm in Knie und Schritt geschossen hatte: „Ich sagte zu ihm, ich schulde dir noch drei Kugeln. Da zuckte er zusammen. Ich werde ihm das noch heimzahlen“, sagt Witali. 

    „Haben Sie die Kartoffeln gesetzt?“ 

    „Und geerntet.“ 

    „Mit angeschossenen Beinen?“ 

    „Ich hab einen Traktor.“ 

    Witali Manshos zeigt seine Beine mit den Folterspuren. Foto von Iwan Pugatschjow
    Witali Manshos zeigt seine Beine mit den Folterspuren. Foto von Iwan Pugatschjow

    Kapitel 7: „Die Dorfälteste blieb auch unter den Russen die Dorfälteste“ 

    Wynohradne, 2023 unter Besatzung 

    Stabsleiter 505 gab Witali vor seiner turnusmäßigen Abreise dessen Handy, SIM-Karte und Papiere zurück. Dazu legte er eine Wurst und eine Schachtel Fruchtpastillen. Witali briet ihm zum Abschied eine Ente: „Danke, Georgi, wenigstens ein Mensch hier.“ Das Essen schlug 505 allerdings aus. 

    „Ich sag zu ihm: Georgi, sei mal ehrlich, wie soll ich die Ukraine nicht lieben? Wir gehen zu meinem Haus. Ich zeig ihm meinen Hof, meine Puten. Sag zu ihnen: ‚Slawa Ukrajini!‘ Und die Vögel so: ‚Iu-iu-iu!‘“ Witali imitiert das Gekacker. „Da zischt Georgi, ich soll bloß leise sein. Aber ein Pfundskerl, echt! Wenn ich ihn finde, gibt’s was zu feiern. Er sagte, ich soll die Seite wechseln, für die arbeiten. Aber ich lehnte ab.“ 

    „Haben Sie mit ihm über die Folter gesprochen?“ 

    „Nein, nie. Wir haben über Majakowski, Twardowski, Borodino geredet. Und die globale Kastration von Russland. Er hat alles verstanden.“ 

    „Über die globale Kastration?“ 

    „Er hat gesagt, die Ukraine wär am Arsch, sie würden uns flächendeckend niederbomben. Wie Amerika Vietnam. Dann gäb’s die Ukraine schlichtweg nicht mehr. Und ich: Träum weiter! Wir werden auferstehen und euch alle umbringen.“ 

    Unsere Jungs ließen grüßen, mit Beschuss. Die ganze Technik war im Arsch. 

    Im September 2023 hat Witali den russischen Pass und eine Arbeit als Elektriker in der Kolchose angenommen: „Ich musste ja irgendwie meine Familie ernähren. Also hab ich als Systemadministrator diesen ganzen russischen Dreck eingerichtet, S1, Kontur.Fokussy und wie sie nicht heißen. Die ganze Kolchose kam zu mir. Den Omas half ich mit den ukrainischen Banken, damit sie ihre Rente bekamen.“ 

    Am 6. Mai 2023 war die Kolchose von der ukrainischen Armee beschossen worden: „Unsere Jungs ließen schön grüßen, mit Beschuss. Aber das Ding ist, solange die Russen da waren, war Ruhe. Kaum waren die abgezogen, schlug es bei uns in die Kolchose ein, die ganze Technik war im Arsch.“ 

    Sofort kam ein Zugriffstrupp zu ihm nach Hause. Sie verdrehten Witali die Arme und zerrten ihn in den Gemüsegarten. „Du hast unsere Koordinaten ausgeliefert“, sagten sie und schlugen zu. 

    Irina leistete indes stillen Widerstand: weigerte sich zu arbeiten, den russischen Pass anzunehmen und ihre Tochter zur Schule zu schicken. Dem Referendum blieb die Familie fern. Abends stritten sie: „Wir müssen weg!“ – „Wie soll ich weg? Sie lassen mich nicht raus! Fahr alleine …“ Die Dorfälteste setzte sie unter Druck: „Warum geht ihr nicht wählen? Ihr müsst zur Wahl!“ 

    „Die Dorfälteste Nina Wassiljewa blieb auch unter den Russen die Dorfälteste. Der Mann unserer Nachbarin ist abgehauen und dient jetzt in der ukrainischen Armee, sie hat den russischen Pass angenommen und lebt im besetzten Dorf. Die Feldscherin Sneshana Iwantschidse spielt jetzt in Propagandafilmchen der russischen Staatssender mit“, zählt Irina auf und zeigt uns einen Nachrichtenbeitrag. 

    Auch Witali gehört formell zu den Kollaborateuren, weil er als Elektriker beim Werk gearbeite hat: „Man hat natürlich gesehen, dass ihm das alles, gelinde gesagt, nicht gefällt“, erklärt aber sein Chef in der Kolchose und bekräftigt damit Witalis Aussage. 

    Dreckskerle, wie ich sie hasse. Erst unsere Leute beschießen, dann humanitäre Hilfe verteilen.

    Irina Manshos erinnert sich, wie russische Soldaten einmal 20 Eier von ihr haben wollten und zum Tausch 15 Dosen Kondensmilch, Konserven und fünf Kilo Zucker angeschleppt haben. Sie nahm es an. In den Dorfladen brachten sie Waffeln, Kekse und Bonbons, damit sie gratis verteilt wurden. 

    „Ich hab dieses System in den zwei Jahren, die ich dort gelebt habe, nicht kapiert. Dreckskerle, wie ich sie hasse. Erst unsere Leute beschießen, dann humanitäre Hilfe verteilen. Dann machten sie so Zentren auf – ‚Unser Russland‘ – die Kinder durften kostenlos ins Ferienlager, auf die Krym, nach Moskau …“, erzählt Irina.  

    „Selbst der Patenonkel meiner Frau …“, fährt Witali über die Kollaborateure fort. „Als sie mich schlugen, sollte ich sagen, wer bei der Polizei war. ‚Verrat es uns, und wir lassen dich laufen.‘ Dieser Patenonkel war zum Beispiel Polizist, aber ich hab noch letztens auf seiner Hochzeit getanzt, sie haben gerade ein Kind bekommen. Ich denk, Scheiße, die killen den armen Kerl doch, und halt meine Klappe … Dann komm ich aus dem Keller, und er sitzt da und trinkt mit denen Tee. Immer noch Polizist, nur jetzt für die Russen.“ 

    Irina Manshos. Foto von Iwan Pugatschjow
    Irina Manshos. Foto von Iwan Pugatschjow

    Unter der Besatzung stellte Witali eine Fernsehantenne so ein, dass er ukrainische Sender empfangen konnte. Da kam in den Nachrichten gerade die Meldung, dass der Staat knapp eine Milliarde Hrywnja [ca. 22,9 Millionen Euro – dek] für Militäruniformen ausgegeben habe. 

    „Verstehst du, mein Neffe ist mit 18 an die Front gegangen. Er hat mir Videos geschickt, überall Leichen, verdammte Scheiße, Mann. Und er sagt: Na, wenigstens muss ich nicht für den Bus bezahlen … Kacke, verfickte.“ Witali bricht in Tränen aus. „Sie bringen die Menschen tonnenweise ins Grab, tonnenweise … Ich hab dieser Armee 7,5 Jahre geopfert … Ich will nicht mehr …“ 

    Obwohl über seinem Haus in Wynohradne auch nach der Rückkehr von der Front die ukrainische Flagge weht, hält Manshos von den ukrainischen Soldaten fast genauso wenig wie von den Russischen, die ihn beinahe umgebracht hätten. 

    „Waren es nicht die Russen, die das alles angefangen haben?“, fragen wir nach. 

    „Es waren die Chochly. 2013. Die verfickten Chochly aus Donezk und Dnipropetrowsk: Kolomoiski und Janukowytsch. Damit fing die ganze Scheiße an“, antwortet er. 

    „Welche Scheiße?“ 

    „Der Krieg. Die Aufteilung der Macht. Verstehst du, die wollten in Kyjiw keine Nummernschilder aus Donezk und Dnipro sehen. Was sollen die mit der Südostukraine? Lieber weg damit und keine Renten mehr bezahlen. Weißt du, wie viel die sich sparen?“ 

    Die Leute wechseln schnell die Lager. 

    Die Gebiete, die jetzt von Russland okkupiert sind, sollten Witalis kruder Theorie nach an die USA gehen, weil die das fruchtbare Land brauchen würden; auf die Menschen würden „die Chochly scheißen“. Seine Theorie sieht er darin bestätigt, dass es die Russen in vier Tagen bis nach Tokmak geschafft haben. 

    „Wissen Sie, was einen Chochol von einem Ukrainer unterscheidet? Ein Ukrainer lebt in der Ukraine, und der Chochol dort, wo es am besten ist. Aber momentan kennt sich keiner aus: Wo ist es denn am besten, vielleicht doch drüben? Die Leute wechseln schnell die Lager. Das sind diese Shduny. Bequem haben Sie’s ja: bekommen russische und ukrainische Rente. Natürlich schreien sie da: Slawa Rossii! Dann hauen sie mich noch an, ich solle ihnen russisches Fernsehen einstellen. Und ich: ‚Wenn du noch einmal ankommst, knall ich dich eigenhändig ab!‘“ 

    „Wären Sie geblieben, wenn Ihre Frau nicht darauf bestanden hätte?“ 

    „Nein. Ich wollte schon über die Minenfelder laufen. Aber die Besatzer haben gesagt: Du kannst nur nach vorne raus, über die Frontlinie. So lässt dich hier niemand durch. Oder du nimmst den Weg durch den Kachowka-Stausee.“ 

     

    Kapitel 8: „Militärkreis Turkestan, Einheit 791518“ 

    Flucht über Krym und Belarus, Januar 2024 

    Ende 2023 beharrte Irina Manshos immer dringlicher auf der Abreise. Am 10. Dezember unternahmen sie den ersten Versuch: Ukrainische Freiwillige schickten ein Auto. Das ganze Dorf kam, um die Familie zu verabschieden, alle weinten, erzählt Witali. Er rasierte sich ordentlich, ließ sich die Haare schneiden, zog einen neuen Pullover an. Gleich beim ersten Checkpoint bei Nowoasowsk ließen die Posten seine Frau und Tochter zwar durch – aber er musste in den Keller. 

    Witali hatte die Facebook-App vom Handy gelöscht, aber an sein Profil hatte er nicht gedacht. Bei der Überprüfung der Papiere entdeckten die russischen Soldaten dort das unglückselige Foto mit dem abgebrannten Panzer. 

    „Hat man Sie dort geschlagen?“ 

    „Ein bisschen. Ins Gesicht, in die Brust, dann legten sie mir wieder Handschellen an: Du bist ein Verräter, hast den Donbas bombardiert. Sie sagten, ich käme in Russland vor Gericht und sie würden mich nicht laufen lassen. Dann holten sie ein paar Tschetschenen und sagten denen, die könnten mit meiner Frau und meiner Tochter machen, was sie wollen, wenn ich nicht sofort hier verschwinde und in mein Dorf zurückgehe.“ 

    Wir haben doch gesagt, du sollst hierbleiben, du Penner! 

    Also lief die Familie die 13 Kilometer über Eis und Schnee zurück. Um vier Uhr nachts kamen sie in Nowoasowsk zu einem Hostel, das noch geöffnet war, und checkten dort ein. Drei Tage lang schliefen sie sich aus. Dann fuhren sie mit einem Taxi durch die Ruinen von Mariupol nach Wynohradne zurück. Der Ortsvorsteher schickte ihnen Geld, damit sie den Fahrer bezahlen konnten. 

    Witali lacht: „Aber die Weiber im Dorf waren zufrieden: ‚Wir haben doch gesagt, du sollst hierbleiben, Witalik, du Penner! Hast wohl gedacht, du kannst dich aufspielen? Ohne dich haben wir nicht mal Internet!‘ Die haben sich gefreut.“ 

    Einen Monat später beschlossen die Manshos, es noch mal zu versuchen, diesmal über die Krym. Um ausreisen zu können, ließen sich auch Witalis Frau und die Tochter einen russischen Pass ausstellen. Am 8. Februar packte Witali, mittlerweile mit Bart und langen Haaren, seine Sachen, erzählte noch mal seine Geschichte – „wir müssen nach Simferopol ins Krankenhaus“ – und setzte sich ins Freiwilligenauto. Ein Rucksack, eine Tasche und ein Notebook. Diesmal fuhren sie stillschweigend los, niemand verabschiedete sie, die Nachbarn dachten, die Manshos wären zu Hause. Nach zehn Stunden Warten an der Grenze wurde Witali zum Verhör abgeholt. 

    Sie fuhren nach Simferopol, von dort nach Belarus und weiter nach Polen. 

    „Wieder den Bock geschossen, aber sowas von“, sagt der ehemalige Soldat. „Der Posten fragt mich: ‚Witali Wladimirowitsch?‘ – ‚Jawohl!‘ – ‚Haben Sie gedient?“ –‚Jawohl!‘ Ich denke, jetzt bin ich am Arsch. Und sage: ‚Militärkreis Turkestan, Einheit 701518, Obergefreiter.‘ Aber der Grenzer sagt nur: ‚Gute Reise‘, und gibt mir meinen Pass zurück.“ 

    Sie fuhren nach Simferopol, von dort mit dem Zug nach Belarus und weiter nach Polen. Die Freiwilligen hatten ihnen zuvor geraten, dass sie beim Grenzübergang in Brest kein einziges russisches Dokument dabeihaben dürften. Also zerrissen sie auf der Zugtoilette ihre russischen Pässe, Steuer- und Rentennachweise und spülten alles im Klo runter. Die ukrainischen Pässe hatte Irina am Tag zuvor im Garten ausgegraben. 

    So kam die Familie nach Europa: zum ersten Mal im Leben im Ausland, ohne jegliche Sprachkenntnisse. 

    Witali mit seiner Frau und Tochter. Foto von Iwan Pugatschjow
    Witali mit seiner Frau und Tochter. Foto von Iwan Pugatschjow

     

    Epilog: „Von einem Gefängnis ins andere“ 

    Ludwigshafen, Juni 2024 

    Von Polen aus machte sich die Familie auf den Weg nach Berlin: „Am Bahnhof lauter Araber, Türken, Kanaken. Ich denk, Scheiße, wo bin ich denn hier gelandet …“ 

    Witali lässt sich noch eine Weile xenophob über Migranten aus. Seit Februar hat die Familie Manshos drei Flüchtlingsunterkünfte gewechselt, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen. Alles mit Hilfe von Freiwilligen. 

    Wir treffen die Manshos im vierten Lager in Ludwigshafen. Witali ist abgemagert, die Spuren der Folter sind immer noch sichtbar. Die dunkelhaarige Irina hat einen schneeweißen Ansatz: In den zwei Jahren Okkupation ist sie ergraut. 

    Die dreiköpfige Familie ist nun in einem verlassenen Supermarkt untergebracht. Die Menschen leben hier in Metallkäfigen, voneinander mit schwarzer Plastikfolie abgeschirmt. Man hört jedes Geräusch. In Witalis Abteil stehen zwei Stockbetten, auf dem freien Bett liegt ein Kleiderhaufen: „Wir sind mit einer Reisetasche gekommen, das hier haben wir aus dem Müll gefischt.“ 

    Flüchtlingslager in Ludwigshafen, wo Witali und seine Familie untergebracht sind. Foto von Iwan Pugatschjow
    Flüchtlingslager in Ludwigshafen, wo Witali und seine Familie untergebracht sind. Foto von Iwan Pugatschjow

    Witali und die anderen 14 Ukrainer, die hier wohnen, sind von den Geflüchteten aus arabischen Ländern, die hier in der Mehrheit sind, und deren Gebeten zunehmend genervt: „Ich kann nachts nicht schlafen. Ich kann gar nicht so viel saufen, dass ich umkippe und das nicht mehr höre.“ Er beklagt sich auch über verdreckte Toiletten: „Sie benutzen kein Papier, genau wie die im Keller.“ 

    „Wieder lebe ich jetzt unter der Aufsicht solcher Leute, Allahu Akbar. Ich bin von einem Gefängnis ins andere gekommen, erlebe den zweiten Ramadan im Keller, nur jetzt mit Frau und Kind“, sagt Witali. 

    Eine richtige Wohnung müssten sie selbst suchen. Das Jobcenter übernimmt die Kosten (ca. 50 m² für drei Personen, maximal 560 Euro im Monat), aber ohne Sprachkenntnisse gestaltet sich die Suche schwer. Deutschkurse besuchen sie trotzdem nicht: „Du schläfst zwei Stunden pro Nacht, und dann sollst du noch Deutsch lernen“, beklagt eine Ukrainerin. 

    Wir gehen raus rauchen, und Witali erzählt zu den Klängen arabischer Musik, die aus einem Handy schallt: „Was das Schlimmste im Keller war? Wenn die gesagt haben, wir geben deine Frau und Tochter den Tschetschenen, deine Frau bekommt eine Granate und wird Terroristin, dein Kind töten wir. Verfluchte Scheiße. Dann sitzt du da, und sie kommen zwei, drei Tage lang nicht wieder. Weißt du, was da in deinem Kopf für ein Kino abgeht?“ 

    Als wir zum zweiten Mal rauchen gehen, kommen wir an zwei Ukrainern vorbei. Sie fragen Witali, wie die Wohnungssuche läuft: „Keine Chance. Ich geh zurück in die Ukraine, meine Frau und mein Kind sollen hierbleiben. Was soll ich sonst tun? Ich hab kein Geld, nichts, wovon ich leben könnte“, sagt Witali plötzlich. „Wenn ich keine Wohnung bekomme, wartet die 53. Brigade [der ukrainischen Streitkräfte] schon auf mich, die stehen in der Nähe von Awdijiwka. Ist das hier etwa besser?“ 

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    Error 505 – Teil 1/2

  • Error 505 – Teil 1/2

    Error 505 – Teil 1/2

    Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.  

    Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.  

    Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch. 

    Hier ist Teil 1: Mit sowjetisch geprägtem Lebenslauf über missglückten Widerstand hinein in den russischen Folterkeller. 

    Fortsetzungsteil 2: Raus aus dem Folterkeller durch die russische Besatzung bis zur Flucht nach Deutschland – ab dem 23. Januar. 

    Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow
    Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow

    Als sie Witali Manshos die Tüte vom Kopf gezogen hatten, schossen sie ihm ins Knie und zwischen die Beine; dann schlugen sie die Kellertür hinter sich zu. Doch Witali Manshos blieb bei Bewusstsein. 

    „Ich schau an mir runter, das eine Hosenbein voller Blut, das andere auch. Ich bringe meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorn. Taste mich an der Wand lang. Ein Stromschlag. Oh, bljad’, Kabel! Ich reiße die Kabel raus, drehe die Aluminiumenden ab, die aus der Wand ragen. Ich binde das Bein oben ab, es blutet weiter. Ich binde weiter unten ab. Die Zehen werden langsam taub, aber es hört halbwegs auf zu bluten.“ Anstatt sich mit seinem abgebundenen Bein hinzulegen, humpelte Witali Manshos nun die Wand entlang; versuchte sich zu orientieren: Wie viele Sonnenaufgänge, wie viele Sonnenuntergänge. Es vergingen drei Tage.  

    Der 29. März 2022 war ein klarer Morgen in Molotschansk: Durch einen Spalt unter der Decke sah Witali gegen sechs Uhr das Morgenrot. Jemand schaute zur Tür herein: 

    „Noch nicht verreckt, du Hund?“ 

     

    Kapitel 1: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

    Wynohradne, 23. Februar 2022 

    Der 53-jährige Obergefreite Witali Manshos wurde im Frühjahr 2021 mit dem Status eines Vaterlandsverteidigers aus der ukrainischen Armee entlassen. Er musste eine Verletzung an der Wirbelsäule operieren lassen, bevor er ins Dorf Wynohradne in der Oblast Saporishshja fuhr, zu seiner Familie. 

    „Ich sagte mir, Schluss, ich pfeif auf diese Armee, keine zehn Pferde bringen mich da nochmal hin. Also fuhr ich nach Hause. Und dann, was war das Erste? Ich hab mich zugelötet und das Auto meiner Frau zu Schrott gefahren. Mehr ist mir nicht geblieben. Ich hatte nichts, keine Kopeke“, erzählt Manshos. 

    Etwas später kam dann Geld. Für die 32.000 Hrywnja, die ihm für nicht genommenen Urlaub gezahlt wurden, kaufte er seiner Tochter weiße Sneakers und seiner Frau Stiefel. Für den Rest schaffte er vier Ziegen an. Die brachte er zu den Puten, Enten, Gänsen und Hühnern, die es bereits auf dem Hof gab. Bis zum Winter kaufte er mit Geld von seinem Bruder und seiner Invaliden-Entschädigung noch ein Nachbarhaus. 

    „Es hat acht Zimmer, vier Öfen auf 52 Quadratmeter. Ich hab das alles eingerissen und drei Zimmer daraus gemacht, einen Ofen hab ich als Kamin gelassen“, erinnert sich Witalij. 

    „Unsere Tochter wollte unbedingt ein eigenes Zimmer, wir wollten ihr die Zimmerdecke mit Sternen schmücken“, seufzt Witalis Frau Irina. 

    Am 23. Februar 2022 fordert die Tochter von Witali: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

    Also fuhren Witali und Irina zum Markt nach Tokmak. Eine Ratte fanden sie nicht, kauften aber ein Chinchilla und ein Paar Liebesvögel mit roten Köpfen gleich dazu. 

    Abends mussten sie nochmal los, um Gitter für den Käfig zu besorgen. 

    Im Süden der Karte befinden sich Tokmak und Molotschansk, das Dorf Wynohradne liegt etwas nordwestlich davon. Seit März 2022 sind diese Orte von der russischen Armee besetzt. Ebenso Enerhodar im Westen der Karte. Die Gebietshauptstadt Saporishshja (hier im Norden) ist nicht von Russland besetzt, aber häufiges Ziel russischer Raketen-, Drohnen- und Gleitbombenangriffe. © Deep State

    Raketen flogen, und ich betrank mich.

    „Ich schnitt die Gitter zurecht und bastelte den Käfig. Und am Morgen ging es schon los“, erzählt Witali. „Raketen flogen, ich brachte die Familie in den Keller, und betrank mich. Ich habe 500 Liter Wein da unten.“ 

    Die Männer aus Wynohradne fuhren zusammen zum Rekrutierungsamt in Tokmak – um Waffen zu holen.  

    „Und ich auch, besoffen wie ich war, rein ins Auto und nichts wie hin“, sagt Witali. „Auf in den Kampf, verdammt! Also, wir kommen an, der Kommandeur kommt raus – Oberst Witer, Veteran der Antiterroroperation (ATO), verdammt … Wir fordern Waffen: ‚Wir wollen kämpfen‘, und der so: ‚Habt ihr ‘ne Einberufung? Nein? Dann zieht Leine!‘ Der hat uns einfach weggeschickt!“ 

    Laut dem Datenportal Myrotworets und ukrainischen Medienberichten lief jener Oberst Wadim Witer eine Woche später zu den russischen Truppen über und steckte Routen für deren Kolonnen ab. 

    Wieder zu Hause rief Witali seinen älteren Bruder Eduard an, der als Offizier Soldaten der ukrainischen Streitkräfte im Donbas kommandierte. Der sagte: „Witacha, du bist kriegsversehrt, das ist nichts für dich, bleib zu Hause.“  

    Heute fühle sich sein Bruder schuldig, meint Witali: „Na ja, weil er mir sagte, ich soll hierbleiben. Die Jungs hatten mich ja damals angerufen: ‚Witacha, es gibt ‘nen Korridor. Zehn Minuten über Orichiw, mach dich bereit …‘ Aber wissen Sie, das war alles so irreal, was sollte das, dieser Überfall auf uns?“ 

     

    Kapitel 2: „Die Leute hatten den Staat satt“ 

    Enerhodar, 2014 

    Witali Manshos wurde in Saporishshja geboren. Den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte er als Wehrpflichtiger aber in Ferghana (er sagt, dort seien den Soldaten grüne Pionierspaten ausgegeben worden, mit denen sie „aufständische Usbeken erschlagen“ sollten). Witali lebte viele Jahre in Russland. Er arbeitete am Bau eines Wasserkraftwerks an der Angara, löschte Ölbrände in Urengoi, Tjumen und Salechard, fuhr Holztransporte in der Region Krasnojarsk. An die 1600-Kilometer-Trasse durch die Taiga erinnert er sich mit einem Seufzen: 

    „Da gibt’s Orte … Ich liebe diese Strecke bis heute. Nachts wachte ich mit der Frage auf: ‚Warum kann ich nicht dort sein?!‘ Jetzt aber nicht mehr, ich wache nicht mehr auf. Jetzt kann ich überhaupt nicht mehr schlafen.“ 

    1996 machte Manshos mit einem Freund in Moskau eine Firma auf. Sie bauten Stahltüren aus Joschkar-Ola ein: „Nach den Terroranschlägen, als der zweite Tschetschenienkrieg begann, gab’s ‘ne große Nachfrage nach gepanzerten Eisentüren.“ 

    2002 zog er zu seinem älteren Bruder Eduard, nach Enerhodar im Gebiet Saporishshja. 

    „Wenn ich frei hatte, fuhr ich zum Angeln ans Asowsche Meer. Wir haben Grundeln gefangen, die wir in der Stadt verkauften. Aber keiner kaufte sie, die Grundeln wurden schlecht. Ich schenkte sie meiner Freundin, die ich damals gerade erst kennengelernt hatte. Sie war 14 Jahre jünger als ich, und ich beschloss, ihr Mann zu werden“, erzählt Witali. 

    Natürlich war ich gegen die Annexion der Krym. Was sonst? Das ist mein Territorium.

    Dann ließen sich Witali und Irina in Enerhodar nieder. 

    „Was ich über unseren Putsch denke? 1991 kam der Sampolit  zu uns, zerriss das Gorbatschow-Porträt und sagte, der sei ein Vaterlandsverräter und ein Mistvieh. Fünf Tage später hängte er das Porträt wieder auf. Das war der ganze Augustputsch.“ 

    Zum Euromaidan meint Witali: „2014 hatten die Menschen es einfach satt, sie wollten nicht mehr in so einem Staat leben.“ Er war damals Systemadministrator beim Sender Orion Media in Enerhodar. Witali und seine Kollegen sammelten Geld für Zelte und Zigaretten für die Demonstranten; er war aber nicht auf dem Maidan: „Ich war mit allem zufrieden – ich hatte einen stabilen Job und ein normales Leben.“ 

    Die Annexion der Krym tat ihm weh: „Natürlich war ich dagegen. Was sonst? Das ist mein Territorium. Als sie die Krym abzwackten und all das andere, haben wir von jedem Lohn fünf Hrywnja per SMS an die Armee gespendet. “ 

    2015 begriff Witali, dass das „ein heftiger Krieg“ wird. Er brachte seine Frau und das Kind nach Wynohradne (rund 100 Kilometer von Enerhodar). Dort kaufte er ein Haus, anderthalb Hektar Land und legte zusammen mit seinem Bruder einen Garten an. 

    „Mein Bruder ist zwar Soldat, hat aber sehr viel für Gartenarbeit übrig. Er blüht einfach auf dabei. Er hat 300 Apfelbäume gepflanzt, die Äpfel wogen 450 Gramm das Stück. Weinstöcke hat er gepflanzt, Mandelbäume. Und ich wollte leben. Ich wollte einfach leben“, klagt Witali. „Jetzt ist das alles Russische Föderation, verdammt.“ 

     

    Kapitel 3: „Fuck you, Moskali!“ 

    Wynohradne, 26. März 2022 

    In den ersten Tagen des Einmarschs „benahmen sich die Männer wie kleine Kinder, stellten sich vor die Panzer, fuhren in den Wald und gaben sich Verfolgungsjagden“, erinnert sich Irina Manshos. Sie erzählt, wie Witali sich einen 20-Liter-Kanister griff und auf die Straße lief: Er wollte eine Kolonne russischer Panzer anzünden, die an seinem Haus vorbei Richtung Bohdaniwka unterwegs waren. Irina erzählt, wie sie ihn ins Haus zurückzerrte und schrie: „Die überfahren dich einfach, die kannst du nicht allein aufhalten.“ 

    Auch nach dem Einmarsch blieb Witali im Dorf. Am hinteren Scheibenwischer seines Hyundai Santa Fe hatte er eine große ukrainische Flagge befestigt: „Sie flatterte hinten am Auto, und ich saß in Armeekleidung am Steuer.“ Andere Kleidung trug er seiner Frau zufolge gar nicht mehr; er hatte von seiner Dienstzeit noch Hosen, Unterhosen und Socken mit ukrainischen Armeesymbolen. „Leute sagten mir: ‚Du bist vollkommen übergeschnappt!‘, aber ich fuhr weiter, mir doch scheißegal, ich war besoffen. Und dann kam ich mit einigen ATO-Jungs nach Molotschansk und kapiere auf einmal, dass das schon Russland ist. Bei der Brücke sitzt er schon, der Wichser.“ 

    „Ein Russe?“, fragen wir nach. 

    „Ja, ein Maschinengewehrschütze.“ 

    Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. 

    „Der wievielte Tag war das?“ 

    „Keine Ahnung, ich war schon dunkelblau. Vielleicht schon der dritte oder sogar vierte. Ich war schon komplett hinüber, verstehste? Nichts mehr gecheckt, gar nichts. Das Rekrutierungsamt hat uns verarscht. 

    „Nicht die beste Zeit zum Trinken.“ 

    „Was blieb denn sonst?“ 

    „Alles Mögliche: sich retten, die Familie in Sicherheit bringen …“ 

    „Mit einem Liter Wein intus bis du nicht mehr du selbst. Und es war mir scheißegal. Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. Bloß gut, dass die Jungs sie mir aus der Hand geschlagen haben. Der Schütze beachtete uns nicht mal; aber hinter ihm stand eine ganze Einheit. Die Jungs sagten: ‚Drück aufs Gas, Witacha‘. “ 

    Als sie in sicherer Entfernung waren, nahm Manshos die Flagge vom Auto ab. Aber auf dem Weg zündete er noch mit einem Molotow-Cocktail einen liegengebliebenen Schützenpanzer an: „Den haben sie voll ausgestattet zurückgelassen, weil irgendwas kaputt war. Ich hab das alles aufgenommen und das Video auf Facebook gestellt. Hab ihnen beide Mittelfinger gezeigt, die sie mir später abschneiden wollten: ‚Fuck you, Moskali!‘“ 

    „Allerdings haben mir die Tschetschenen im Keller dann auch gesagt, dass sie die Moskali selbst hassen, weil das alles Schwuchteln sind. Und der Panzer, den ich abgefackelt habe, war längst abgeschrieben.“ 

    Zunächst seien die Russen nicht nach Wynohradne gekommen, sagt Witali: „Das interessierte die ‘nen Scheißdreck“, sie fuhren nur immer wieder die Strecke Moskau–Simferopol. 

    Ich hab alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben: die Standorte und ihre beschissenen Waffendepots. 

    „Sie zogen einfach kolonnenweise durch, mit 200, 300 … Ich hab das alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben, fuhr umher, versuchte ihre Stellungen zu finden. Wo die Geräte für die elektronische Kampfführung stehen. Hab die Standorte abgefilmt und ihre beschissenen Waffendepots“, sagt er. 

    Nach rund einem Monat, am 26. März, saß Witali, der gewöhnlich früh aufstand, auf einer Bank vorm Haus und rauchte. Plötzlich sah er, wie die Zu- und Ausfahrt aus dem Dorf mit Schützenpanzern blockiert wurde und Soldaten von Haus zu Haus gingen.  

    Witali rief seinen Bruder an: „Die Russen gehen durchs Dorf … Soll ich abhauen? –  „Nein, bleib zu Hause, du bist Invalide, dein Krieg ist zu Ende.“ 

    „Ein gepanzerter Wagen schlich hinter den Soldaten her, zu jedem durchsuchten Haus“, erinnert sich Witali.  

    Er rief seinen Bruder nochmal an: „Sie checken schon die Häuser, brechen die Schlösser und Türen auf …“ – „Dann bist du am Arsch.“ 

    „An dem Tag hat mich die Scheiße echt voll getroffen“, betont Witali. 

    Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow
    Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow

    Kapitel 4: Borja und das Achmat-Dreieck 

    Keller in Molotschansk, 26. März 2022 

    Am 26. März wurde Irina Manshos um sechs Uhr früh vom Dröhnen der Awtosak geweckt. Sie versteckte Witalis häusliche Armeeklamotten und seine Auszeichnung von Poroschenko, aber die Tasche mit den Armeedokumenten und der Pensionsbescheinigung übersah sie. Als die Soldaten in den Hof kamen, hörte Irina vor Schreck nicht, was sie sagten. Sie seien etwa zu fünft gewesen, erinnert sie sich, „bärtige Kaukasier, mit Akzent“: 

    Witali musste sich ausziehen, die Männer durchsuchten die Schränke. Irina hat noch heute vor Augen, wie sie die saubere Bettwäsche mit dem Pistolenlauf anhoben und auf den Boden warfen. Sascha, die Tochter, lag im Zimmer auf dem Sofa. In der Schublade darunter waren ein Gummiknüppel von der Polizei und ein Luftdruckgewehr. Irina sagt, das hätten sie mal von einem Bekannten bekommen, um Wildenten aus dem Gemüsegarten zu verscheuchen. Sascha weigerte sich aufzustehen. 

    Plötzlich entdeckte Irina, gleichzeitig mit den Soldaten, wie die khakifarbene Tasche aus der Kommode herausragte. „Da waren alle Bescheinigungen: Teilnahme an Kriegshandlungen, Rente …“ Das hat gereicht: „Du kommst mit.“ Die Tochter filmte die Festnahme mit dem Handy. Die Soldaten schrien sie an, zielten auf sie. Während Irina ihre Tochter beruhigte, wurde Witali abgeführt. 

    „Wohin?“, schrie Irina und rannte ihnen nach. 

    „Wir lassen ihn wieder gehen, keine Sorge, wir müssen was klären und lassen ihn dann frei.“ 

    Wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt.

    Mit einem Sack über dem Kopf wurde der ehemalige Kämpfer der ukrainischen Streitkräfte in den Gefangenentransporter gesteckt. Witali erinnert sich, dass er dort drinnen kaum den Boden berührte: Er wurde so sehr verprügelt, dass er von Wand zu Wand flog, von einem Soldaten zum anderen. Sie brachten ihn zu einem Bach, gaben ihm eine Schaufel und sagten, er soll sich sein Grab schaufeln. 

    „Sie nannten mich Abschaum und Bastard. Während sie mich schlugen, sagten sie, dass sie salo [ukrainischer Speck – dek.] aus mir machen. Salo aus einem Chochol.“ 

    „Und Sie haben gegraben?“ 

    „Nee, ich hab gesagt: Wozu graben? Ist doch ein Fluss da, ich füttere lieber die Krebse. Verstehst du, wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt. Außerdem hatten die mich so verdroschen … Ich war blutüberströmt, da macht noch mehr Schmerz keinen Unterschied. Sie schlugen mir die Zähne aus … Ich konnte nichts machen.“ 

    „Erinnern Sie sich an Namen?“ 

    „Sie sagten, sie seien von der OMON in Dagestan. Ich war allein, ohne Zeugen. Wer den Befehl gab, mich zu schnappen und fertig zu machen, weiß ich nicht.“ 

    Witali wurde nicht umgebracht. Stattdessen brachten sie ihn ins Gebäude der Stadtverwaltung von Molotschansk. Zogen ihm den Sack vom Kopf, aber die Handschellen blieben dran. 

    „Ich steh im Korridor, alles fließt aus mir raus: Rotz, Blut, Sabber, Pisse. Wieder musste ich mich ausziehen und durchsuchen lassen.“ 

    Er wurde in den Keller gebracht. Sein Handy rutschte ihm aus der Unterhose. Darin fanden sie ein Foto seines Bruders mit Scharfschützengewehr in der Hand. 

    „Das volle Programm, ich hab versucht, mich zu schützen, mal den Kopf, mal die Beine, die Arme, wo ich eben gerade Halt fand.“ 

    „Hatten Sie denn keinen Pin-Code am Handy?“ 

    „Hatte ich nicht, wozu auch. Die haben mein ganzes Geld vom Konto abgebucht. Hätte nichts genützt, wenn’s gesperrt gewesen wäre.“ 

    ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Borja war eine Pistole. 

    ZSU-Socken, ungesichertes Handy, Sie waren eindeutig nicht auf eine Verhaftung vorbereitet.“ 

    „Auf was bitte? Ich hatte keine Angst, hab geglaubt, unsere Leute lassen das nicht zu. Uns kann man nicht aufhalten, uns kann man nicht verraten. Ich war doch in Tschonhar, in Armjansk, dort war alles vermint, al-les vol-ler Mi-nen. Da brauchst du nur eine Selbstfahrlafette hinzustellen, und keiner kommt mehr durch, durch diese Hölle. Alle zehn Minuten – Kawumm! Aber sie haben uns einfach hängenlassen.“ 

    „Sie haben doch selbst gesagt, dass es auch viele prorussische Leute gab.“ 

    „Na ja, ich konnte das trotzdem nicht so recht glauben. Ich war schon zu Hause, raus aus der Armee. Ich hab diesen Wichsern auch gesagt: Ich kämpfe nicht gegen euch. Aber dann haben sie auf meinem Handy den brennenden Schützenpanzer auf Facebook gefunden. Und was ich auf WhatsApp rumgeschickt habe: ‚Hängt euch auf, ihr Russenwichser‘.“ 

    „Sie waren wieder zu fünft. Wieder Sack übern Kopf, und dann volles Rohr: Prügel, Prügel, Prügel.“ Dann kam der Kommandeur dieser OMON aus Machatschkala und sagte: ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Und er holte Borja.“ 

    Borja war eine Pistole. Der Kommandeur schlug Witali damit ins Gesicht, sodass er hinfiel. Dann begann er zu schießen: „Er sagte, das heißt Achmat-Dreieck: beide Knie und Pimmel. Ich hatte die Hände am Rücken, konnte nichts machen.“ 

    „Er schoss mir nacheinander in die Knie, zielte mir zwischen die Beine. Aber ich wich aus. Er traf mich am Oberschenkel. Dann wummerte mir ein Rucksack an den Schädel. Einer stach mir mit einem Messer in die Arme.“ 

    Witali streicht sich über die Arme. Er hat Dutzende kleine Narben, von den Handflächen bis zu den Ellenbogen. Am Oberschenkel haben die Kugeln Spuren hinterlassen. 

     

    Kapitel 5: „Da bin ich mal einem Guten begegnet …“ 

    Keller in Molotschansk, 10. April 2022 

    Im März 2022 zog vor Witalis innerem Auge seine gesamte Dienstzeit vorüber. Was ihn rettete, war, dass die Pistole Borja keine tödlichen Geschosse hatte und es im Keller kalt war. Und, dass er selbst halb nackt war (Den Verletzungen nach zu urteilen war es eine Pistole vom Typ Osa, die Gummigeschosse hatten einen Metallkern – Novaya). 

    „Anscheinend hat mein Körper jede Menge Adrenalin ausgestoßen. Ich kam zu mir, guckte: Meine Schuhe sind voller Blut. Ich brachte meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorne.“ 

    Drei Tage lang blieb er auf den Beinen, lief im Kellerraum umher. Am Morgen kam der Wächter und wunderte sich, dass Witali noch lebt. 

    „Ich wundere mich selbst, dass ich nicht verreckt bin … Dann wieder Prügel. Und Folter mit Strom. Mit Tapik (Feldtelefon der Armee, das auch zur Folter mit Stromstößen eingesetzt wird – dek), das ist echt scheiße, da musst du zeigen, dass es dich zerreißt, musst dich winden und schreien. Dann drehen sie die Spannung nicht hoch und du überlebst.“ 

    Die einen droschen los, während sich die anderen unterhielten, dann droschen die anderen. 

    „Sie fragten, wen ich in der Stadt vom Militär kenne … Ich sagte, ich bin nicht von hier, ich war in Enerhodar beim Militär. In Molotschansk kenn ich keinen, was wollt ihr von mir? Dann fragten sie nach Geschäftsleuten. Einer der Russen sagte: ‚Zu mir haben sie schon Bauern in den Keller gebracht. Einer wurde einen ganzen Tag verprügelt. Seine Frau brachte 2000 Bucks, und er kam frei. Zwei Tage später wurde er wieder gebracht, wieder verprügelt. Seine Frau brachte nochmal 2000, und er wurde freigelassen.“ 

    Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …

    Witali hatte da schon gelernt, woran er den Morgen erkannte, weil dann nämlich die Leute „zur Bearbeitung gebracht werden“: „Wenn sie zurückkamen, konnte ich die einzelnen Leute an den Schreien erkennen. Nach dem Mittag fing das an.“ 

    Am 10. April 2022 waren in Molotschansk Explosionen zu hören. Witali erinnert sich, wie alle, die ihn vorher geschlagen hatten, in den Keller gelaufen kamen und sich dort bei ihm versteckten. 

    Sie fingen an: „Witacha, du kennst doch bestimmt diesen Punja aus deinem Dorf?“ – „Kenn ich nicht, wer ist das? (Ich kannte ihn natürlich, aber warum sollte ich …)“ – „Der soll vier Autos haben, Geld ohne Ende, 150 Stück Hornvieh und 200 Schweine. Wir teilen.“ 

    „Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …“, schnaubt Witali. „OMON-Leute gegen Infanteristen … Sie schrien: Wir haben den zuerst geschnappt. Die anderen: Nein, wir waren die Ersten … Und Punja saß nebenan und brüllte, dass alle ATO-Veteranen Junkies und Mörder sind und er sie hasst … Dann kam der Bürgermeister, der schon vor 2022 Bürgermeister von Molotschansk gewesen war, und nahm Punja mit: Hat ihn gerettet.“ 

    Unter denen, die sich vor dem Beschuss im Keller versteckten, war auch ein Soldat Namens Georgi, Rufname „505“. 

    „Da bin ich mal einem Guten begegnet. Während die anderen über Punjas Besitz stritten, saßen wir nebeneinander und redeten“, erzählt Witali.  

    Georgi fragte: „Was bist du für einer?“ – „ATO-ler.“ – „Dann bist du am Arsch“, schlussfolgerte 505, brach das Gespräch aber nicht ab. 

    Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.

    Sie kamen drauf, dass Witalis Bruder, der für die ukrainischen Streitkräfte kämpfte, in der gleichen Saratower Militärschule ausgebildet worden war wie Georgi. Sie redeten über die Armee in den 1990ern. Georgi reagierte schockiert darauf, dass man Witali in die Beine geschossen und ihn mit einem Messer malträtiert hatte. 

    „Er brachte mir einen Verbandskasten russischer Produktion. Ich nahm Elastikbinden und wickelte sie mir um die Beine.“ 

    „Danke, Major.“ – „Woher kennst du dich mit Rängen aus?“ 505 hatte keine Abzeichen.  – „Ich spür das.“ 

    Dann erzählte Georgi, dass er Stabsleiter ist, und Witali rezitierte das Gedicht „Wassili Tjorkin“ von Alexander Twardowski

    Als eine halbe Stunde später alle weg waren, musste Witali hoch in das Zimmer von 505 im ersten Stock: „Der Stabsleiter hat gesagt, wir müssen ein Video aufnehmen.“ 

    „‚Ich, Manshos Witali Wladimirowitsch, verpflichte mich, zum Wohle meiner Heimat mit der russischen Armee zu kooperieren.‘ Das habe ich aufs Handy aufgesprochen. Na und? Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.“ 

     

    Fortsetzung folgt … am 23. Januar 2025. 

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  • Plötzlich, aber halbherzig gegen häusliche Gewalt

    Plötzlich, aber halbherzig gegen häusliche Gewalt

    Alle paar Jahre rauschen aufsehenerregende Fälle häuslicher Gewalt und Protestwellen dagegen durch Russland. 2016 berichteten Zehntausende per Internet-Flashmob #ЯнеБоюсьСказать  (#IchhabkeineAngstzusprechen) von ihren Gewalterfahrungen. Doch 2017 wurden mit Verweis auf „traditionelle Werte“ die Strafen für häusliche Gewalt gesenkt. 2018 machte der Fall Chatschaturjan Schlagzeilen, in dem drei Schwestern ihren Vater ermordet haben sollen, der sie jahrelang misshandelt hatte.  

    Seit Russlands umfassendem Überfall auf die Ukraine nun werden immer mehr Fälle von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Morden durch Soldaten bekannt, die von der Front zurückkehren. Doch diesmal scheint die Regierung das Thema selbst angehen zu wollen, bevor es zu hohe Wellen schlägt. So haben im Juni 2024 gleich zwei Parteien Gesetzesentwürfe vorgelegt, die das Problem der häuslichen Gewalt lösen wollen.  

    In der Gesellschaft kommt dieser Vorstoß gut an: Umfragen zufolge unterstützt eine deutliche Mehrheit von 89 Prozent solch ein Gesetz gegen häusliche Gewalt: 95 Prozent der Frauen, 83 Prozent der Männer. Dennoch ist mit Stand Ende Dezember 2024 in einem halben Jahr nichts weiter mit den Gesetzesentwürfen passiert.

    Das russische Onlinemedium Glasnaja, das sich auf soziale und Frauen-Themen spezialisiert, hat mit Expertinnen gesprochen, um herauszufinden, wie effektiv diese Vorschläge im Kampf gegen häusliche Gewalt wirklich sein könnten, würde man sie in der vorliegenden Form umsetzen. Einige Gesprächspartnerinnen werden aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt. 

    © IMAGO / Depositphotos

    Im Juni 2024 haben russische Abgeordnete und Beamte überraschend angefangen, sich aktiv zum Problem der häuslichen Gewalt zu äußern. So legten die Parteien LDPR und Nowyje Ljudi Gesetzentwürfe vor, die dieses Problem lösen sollen. Nebenbei nahmen sie sich darin auch den Schutz von Männern vor häuslicher Gewalt vor. Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa rief zudem dazu auf, überall im Land staatliche Krisenzentren einzurichten. 

    „Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“ 

    Dieses neue staatliche Interesse am Problem der häuslichen Gewalt könnte, so die von Glasnaja befragten Expertinnen, mit der um sich greifenden Diskussion über Gewaltverbrechen und Mordfälle an Frauen durch Militärangehörige zusammenhängen, die aus der Ukraine zurückkehren

    „Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“, meint eine Menschenrechtsaktivistin. „Die Behörden haben wohl beschlossen, das Problem selbst in die Hand zu nehmen, anstatt den Anstieg von Gewalt durch Militärangehörige und Zivilisten einfach totzuschweigen.“ 

    Es gibt aber auch andere Erklärungsansätze: So mutmaßte beispielsweise Verstka, der Kreml könnte Staatsbediensteten erlaubt haben, das Thema für PR-Zwecke und zum „Ruhigstellen der Gesellschaft“ zu nutzen. Dabei soll der Russisch-Orthodoxen Kirche, dem Hauptgegner des Gesetzes über häusliche Gewalt, zugesichert worden sein, dass man derartige Gesetzesinitiativen abprallen lassen würde. Auf jeden Fall wollen die Behörden wohl verhindern, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die zunehmende Gewalt in russischen Familien sei auf die Rückkehr von Soldaten aus der Ukraine zurückzuführen. Verstkas Quellen zufolge soll der Kreml Politikern untersagt haben, solche Fälle öffentlich zu erwähnen. 

    Zwei Expertinnen betonten gegenüber Glasnaja aber auch, dass die Gesetzesentwürfe von LDPR und Nowyje Ljudi tatsächlich keine konkreten Vorschläge enthalten, um Gewalt durch Militärangehörige mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu verhindern oder ihnen vorzubeugen. 

    Männerschutz statt „radikalem Feminismus“ 

    Warum in dem Entwurf nicht nur Frauen vor häuslicher Gewalt geschützt werden sollen, erklärte die Koautorin des Entwurfs, Sardana Awksentjewa von Nowyje Ljudi, folgendermaßen: „Ich glaube, es wird deutlich, dass der Gesetzentwurf nichts mit ‚radikalen Feministinnen‘ zu tun hat. Wie Sie sehen, können auch Männer Opfer von Übergriffen werden.“ Als Beispiel nannte sie den Fall des 37-jährigen Anton Jegowzew aus der Nähe von Moskau, der am 7. Juni im Treppenhaus seines Wohnhauses durch acht Messerstiche getötet wurde. Dem Aktivisten der Bewegung Sow narodow [Ruf der Völker], die traditionelle Werte propagiert, hatte ein Mann aufgelauert, der seit mehreren Jahren Jegowzews Ehefrau nachstellte. Laut ihrer Aussage hatte die Polizei bis dahin sämtliche Anzeigen ignoriert. Auch im LDPR-Entwurf ist die Rede davon, dass man Männer vor häuslicher Gefahr schützen müsse. 

    Unabhängige Frauen- und Menschenrechtsbewegungen sprechen bereits seit Jahren über das Problem der häuslichen Gewalt gegen Frauen. Eine Aktivistin sagte im Gespräch mit Glasnaja: Die Kritik an „radikalen Feministinnen“ sei auf das Bestreben des Staates zurückzuführen, sich die Agenda der verwundbaren Position der Frauen in der Familie zu eigen zu machen. Dieselben Ideen würden nun „von Leuten verbreitet, denen der Staat vertraut und die er kontrolliert“. 

    „Die Distanzierung von ausländischen Agenten und all jenen, die der Staat diskreditiert, erhöht die Chance, dass das Gesetz tatsächlich verabschiedet wird. Ich glaube nicht, dass auf diese Weise ein fiktives System geschaffen wird. Es ist schon gut, dass sie die Dinge endlich beim Namen nennen“, meint die Menschenrechtsaktivistin. 

    Andererseits könnte der Akzent auf dem Schutz der Männer auch von vornherein dem patriarchal gesinnten Teil der Gesellschaft die Luft aus den Segeln nehmen. Denn der wäre sicher auch gegen den Gesetzentwurf, selbst wenn er vom Staat initiiert würde, führt sie aus. 

    Mit diesem Fokus auf Männerschutz ignorierten die Abgeordneten schlicht die Realität, meint wiederum die Juristin und Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt, Darjana Grjasnowa. Obwohl nach internationalen Standards, die in der Istanbul-Konvention festgelegt sind, häusliche Gewalt durchaus Menschen aller Geschlechter betrifft, seien Frauen doch „unverhältnismäßig stark betroffen“, betont die Anwältin. 

    „Rein populistischer Schachzug“ 

    Von den beiden vorgeschlagenen Gesetzesentwürfen befasst sich nur die Initiative von Nowyje Ljudi auch mit dem Problem des Online- und Offline-Stalkings. Grjasnowa verweist diesbezüglich auf die internationalen Standards zum Schutz von Frauen vor Belästigung: 

    • Stalking ist eine Straftat. 
    • Schutzmaßnahmen und einstweilige Verfügungen müssen das Opfer sofort schützen können. 
    • Das Opfer muss umfassende Unterstützung erhalten können. 

    In seiner momentanen Form entspricht der Gesetzentwurf diesen internationalen Standards allerdings nicht, so Grjasnowa. 

    Um auf ihre Initiative aufmerksam zu machen, hat Nowyje Ljudi die Initiative Stalkingu net [Nein zu Stalking – dek] ins Leben gerufen: Betroffene sollen den Abgeordneten hier per detaillierter Nachricht ihren Fall schildern, damit diese „die Situation verstehen und helfen können“. 

    Glasnaja hat eine Expertin gebeten, sich die Plattform genauer anzuschauen. Sie kam zu dem Schluss, dass es sich „nicht um ein Arbeitsinstrument mit transparenten Methoden, sondern um eine rein populistische Aktion“ handele. Unter anderem bemängelte sie, dass man auf der Internetseite keine Informationen zu den Experten und deren Kompetenzen finde, die in das Projekt involviert sind. 

    „Wir haben lange gezweifelt, ob es nach dem 24. Februar [2022, Tag des vollumfänglichen Angriffs Russlands auf die Ukraine – dek] überhaupt vorstellbar ist, dass wir wieder über ein Gesetz gegen häusliche Gewalt sprechen. Aber anscheinend will man doch eine gesellschaftliche Diskussion auslösen, damit es irgendwie damit weitergeht“, resümiert die Menschenrechtlerin. 

    Nur Schutz für feste Familien 

    Im Juni dann verkündete Leonid Sluzki, Vorsitzender der LDPR und früher einmal selbst der sexuellen Belästigung beschuldigt, dass ein Gesetzentwurf zur „umfassenden Regulierung häuslicher Gewalt“ der russischen Regierung und dem Obersten Gericht zur Begutachtung vorgelegt worden sei. Allerdings erntete auch diese Initiative bei Experten Skepsis. 

    Das wichtigste Manko bestehe darin, so die Anwältin Grjasnowa, dass es nur um Familienmitglieder und Paare mit Kindern gehe: „Dem Entwurf zufolge ergeben sich familiäre Beziehungen aus der Beziehung zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern sowie aus der Verbindung von Personen, die ein gemeinsames Kind haben und zusammenleben. [Durch diese Formulierung] fallen ehemalige Ehegatten und Partner, die keine Kinder haben, [aus der Schutzregelung] heraus.“ 

    Der Gesetzentwurf erstreckt sich außerdem nicht auf kinderlose Frauen, die in einer nicht registrierten Beziehung leben, und auch nicht auf geschiedene Frauen, die den ehemaligen Gatten nach Auflösung der Ehe häuslicher Gewalt beschuldigen. Dabei meldeten laut Statistiken für die Jahre 1996 bis 2002 (aktuellere Daten gibt es nicht) Frauen in Russland öfter Gewalt durch Ehepartner, die nach der Scheidung erfolgt. Nach einer Statistik des Zentrums Nasiliu.net (Nein zu Gewalt) werden 40 Prozent der Gewaltverbrechen in Russland in der Familie begangen. 

    Ein weiteres Detail: Die Initiative der LDPR sieht vor, das Opfer vom Aggressor zu isolieren und nicht umgekehrt – den Aggressor vom Opfer, wie es in internationalen Dokumenten empfohlen wird, betont Grjasnowa. Und die Juristin Mari Dawtjan ergänzt, dass eine Isolierung des Opfers die Betroffene noch vulnerabler macht. Erst recht, da Art und Weise der Isolierung im Gesetzentwurf nicht geregelt werden.  

    Höhere Strafen für Verbrechen in der Ehe 

    Gegenwärtig wird im Strafgesetzbuch und im Gesetzbuch über Ordnungswidrigkeiten die Verantwortung für Gewalttaten nur allgemein definiert – ohne Feststellung einer erhöhten Verantwortung dafür, wenn die Tat innerhalb der Familie verübt wurde. Die LDPR fordert nun eine stärkere strafrechtliche Verantwortung für Familienmitglieder.  

    Das würde bei einer Vergewaltigung folgendermaßen wirken: Die Vergewaltigung einer Ehefrau, Mutter oder Frau, mit der der Mann ein gemeinsames Kind hat, wird zu einem besonders schweren Fall, wodurch sich die Gefängnisstrafe erhöht. Derzeit kann für eine derartige Vergewaltigung eine Haftstrafe von drei bis sechs Jahren verhängt werden. Dem Gesetzentwurf der LDPR zufolge sollen solche Taten mit 15 bis 20 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. 

    Die Anwältin Grjasnowa erläutert am Beispiel Mord: „Mord zum Beispiel wird gemäß Paragraf 105, Absatz 1 des Strafgesetzbuchs mit Freiheitsentzug bis zu 15 Jahren bestraft. In Absatz 2 dieses Paragrafen werden die qualifizierenden Merkmale aufgelistet, aufgrund derer Strafen ausgesprochen werden können, die bis lebenslänglich reichen: bei hilflosem Zustand oder Schwangerschaft [des Opfers], bei Mord mit besonderer Grausamkeit oder auf gemeingefährliche Weise. Die LDPR will dieses Verzeichnis erweitern und Taten gegen Kinder, Eltern, Eheleute und Personen, mit denen der Täter ein gemeinsames Kind hat, in Absatz 2 aufnehmen, die dann mit bis zu lebenslanger Haft bestraft werden können.“ 

    Eine Million für Verleumdung 

    Doch die Menschenrechtlerinnen kritisieren: Die Definition häuslicher oder sexualisierter Gewalt im Gesetzespaket der LDPR ist so schwammig, dass mehrere Arten der Gewalt, die in Russland verbreitet sind, unberücksichtigt blieben. Die Anwältin Dawtjan zählt auf: „Aus der Definition physischer Gewalt wurden Schläge herausgenommen, obwohl sie am stärksten verbreitet sind; und bei wirtschaftlicher Gewalt sind keine Bestimmungen zur Nichtzahlung von Alimenten enthalten.“ 

    Gleichzeitig will die LDPR auch Verleumdung im Bereich der Familien- und Alltagsbeziehungen kriminalisieren. Das könnte einen sehr starken „Abkühlungseffekt“ haben, ist Darjana Grjasnowa überzeugt: „Selbst ein paar Verfahren, die eröffnet würden, nachdem Betroffene von ihrer Geschichte berichteten, dürften ausreichen, um sie für immer verstummen zu lassen.“ 

    Die Strafe für Verleumdung soll eine Million Rubel bzw. das Arbeitseinkommen für bis zu einem Jahr oder gemeinnützige Arbeiten von bis zu 240 Stunden betragen. 

    Dabei können Betroffene auch jetzt schon wegen Verleumdung belangt werden: Es gibt ja den Paragrafen 128.1 des Strafgesetzbuches. Die Initiative der LDPR sei nun aber ein direkter Versuch, sowohl den Opfern wie auch den Menschenrechtlerinnen, die den Mut haben, über verübte Gewalt zu sprechen, den Mund zu stopfen, betont Grjasnowa. 

    Mangel an Frauenhäusern 

    Tatjana Moskalkowa, die Menschenrechtsbeauftragte beim russischen Präsidenten, hat bei ihrem jährlichen Bericht vor dem Föderationsrat vorgeschlagen, staatliche Krisenzentren (ähnlich Frauenhäusern – dek) einzurichten und diese aus dem Staatshaushalt zu finanzieren. Diese Praxis gebe es bereits in 16 Regionen. 

    In derselben Rede sagte Moskalkowa aber auch, dass die wenigen bestehenden staatlichen Zentren überlastet seien. Und sie berichtete, wie sie mit Kolleginnen zwei Moskauer Zentren für Opfer häuslicher Gewalt besucht habe und „sehr erstaunt“ gewesen sei, dass es in den Einrichtungen für 100 Personen keine freien Plätze gebe. 

    „Wenn man sich die Statistik der UNO in Erinnerung ruft, der zufolge jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen ist, wird deutlich, dass die staatlichen Zentren schlicht nicht die nötige Anzahl Betten bereithalten“, bestätigt die Anwältin Darjana Grjasnowa. 

    Die Standards des Europarates besagen, dass pro 10.000 Personen eine Familienschlafstätte bereitgehalten werden sollte – also ein Bett für die Mutter und ein Kind (oder mehrere Kinder, je nach der durchschnittlichen Anzahl der minderjährigen Kinder im Land). Legt man diesen Schlüssel für Russland an, müsste es hier mindestens 14.700 Plätze für Opfer häuslicher Gewalt geben. 

    2014 und 2015 gab es in Russland in 53 Regionen 95 staatliche oder private Frauenhäuser mit insgesamt 1.349 Plätzen. Das sind elfmal weniger als der Europarat empfiehlt. Sogar in Moskau werden zwölf Mal mehr Plätze für Frauen in Krisensituationen benötigt als jetzt in den städtischen Einrichtungen vorhanden sind (2400 statt jetzt 200). 

    Sicherheit nicht für alle 

    Einfach nur neue staatliche Frauenhäuser zu eröffnen, reicht nicht, um das Problem häuslicher Gewalt zu bewältigen. Auch die komplexen Hilfsangebote müssen verbessert werden, sagt Darjana Grjasnowa weiter. Beispielsweise werden Frauen in einigen staatlichen oder kommunalen Einrichtungen nur mit lokaler Meldebescheinigung und einem ganzen Paket von Dokumenten aufgenommen. Dazu gehören dann eine Überweisung vom Sozialamt, der eigene Pass, die Geburtsurkunde des Kindes, Ergebnisse einer Röntgenuntersuchung, der Impfpass oder eine Bescheinigung über die epidemiologische Umgebung von Mutter und Kind. 

    Im Moskauer Krisenzentrum zur Hilfe für Frauen und Kinder, von dem Moskalkowa wohl sprach, kann eine Frau in „auswegloser Lage“ aber auch einfach so aufgenommen werden. Die notwendigen Dokumente kann sie dann nachreichen. In den übrigen Fällen entscheidet innerhalb von 60 Tagen eine spezielle Kommission über die Unterbringung. 

    In nichtstaatlichen Frauenhäusern hingegen erfolgt die Aufnahme in der Regel ohne viele Papiere. Sogar Frauen mit HIV können aufgenommen werden, wenn sie Prep-Tabletten nehmen – in den staatlichen Schutzhäusern gelten sie als Epidemie-Gefahr. 

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  • Atomtests

    Atomtests

    Mitte November hat Putin die russische Atomdoktrin verschärft, wenige Tage später hat Russland eine Mittelstreckenrakete gegen die ukrainische Großstadt Dnipro eingesetzt. Dies ist der vorläufige Schlusspunkt der nuklearen Eskalation, die Russland seit der Krim-Annexion 2014 vorantreibt. Schon 2016 bemerkte der russische Journalist Andrej Loschak, dass „kaum eine Ausgabe der Nachrichten heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands auskommt.“ Mit der Vollinvasion 2022 hat sich die Gangart nochmals verschärft, auch der Kreml droht seitdem zunehmend mit dem Einsatz des Atomkoffers: Der Westen solle bloß die „roten Linien“ nicht überschreiten. 

    Viele dieser Kreml-Linien wurden seitdem aber schon mehrfach überschritten: So hat die ukrainische Armee westliche Waffensysteme gegen Gebiete eingesetzt, die Russland als eigene beansprucht. Konsequenzen blieben aus, was mit dem inflationären Gebrauch von Drohungen zu einer „Immunität“ gegenüber der atomaren Abschreckung geführt hat, so eine Quelle von The Washington Post

    Vor diesem Hintergrund gibt es nun auch im Westen zahlreiche ernstzunehmende Stimmen, die vor weiterer Eskalation warnen. Eine atomare Apokalypse halten zwar auch sie für derzeit unwahrscheinlich, der Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen die Ukraine rücke durch die neue Wendung aber näher, so das Szenario. Der russische Journalist Michael Nacke hält davon nichts, auf YouTube argumentiert er Punkt für Punkt dagegen. 

    Graffiti mit Putin und Atompilz, 06.04.2024, Mitte, Berlin © IMAGO / Steinach

    Der Krieg dauert bald drei Jahre, und Russland hat keines seiner proklamierten Ziele erreicht. Dabei waren das nicht wenige Ziele, sie wechselten nur ständig: vom Sturz der Regierung in Kyjiw über die Errichtung eines loyalen Regimes bis hin zur Besetzung der gesamten Oblast Donezk. Russland hat vier ukrainische Oblaste zu seinem Eigentum erklärt: Cherson, Donezk, Luhansk und Saporishshja. Dabei hat es zu keinem Zeitpunkt auch nur eine dieser Regionen komplett kontrolliert. 

    Im Verlauf dieses Krieges wurde Wladimir Putin mehr als einmal gedemütigt. Die russische Armee galt einst als eine der stärksten der Welt, auch unter vielen westlichen Beobachtern und renommierten Medien. Aber mit dem Beginn der vollumfänglichen Invasion der Ukraine veränderte sich diese Sicht: Seitdem wurde die Professionalität der russischen Armee immer öfter in Zweifel gezogen. 

    Also hat Putin mehrmals zu nuklearen Drohgebärden gegriffen und damit unter anderem die US-Regierung unter Joe Biden unter Druck gesetzt. Putin bediente sich dabei verschiedener Methoden, beispielsweise ließ er Atomwaffen nach Belarus verlagern, und immer wieder behauptete er, ein Atomschlag stünde kurz bevor. Leider ist Biden auf diese Bluffs hereingefallen.  

    Zwei Faktoren für die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Schlags 

    Ich möchte behaupten, dass die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Angriffs von genau zwei Faktoren abhängt, die eng zusammengehören: den Vorteilen, die Russland sich davon versprechen kann, und den Nachteilen, die es davontragen könnte. Alles andere spielt meiner Ansicht nach keine Rolle. 

    Dafür sind Diktaturen ja Diktaturen – sie sind sich selbst die einzige Beschränkung.

    Derzeit hört man oft das Argument, Russland hätte seine Nukleardoktrin geändert und behalte sich von nun an das Recht vor, im Rahmen eines Präventivschlags Atomwaffen einzusetzen, wenn sein Territorium von einem Staat angegriffen wird, der mit einer Atommacht zusammenarbeitet. Dabei erlaubte bereits die alte Nukleardoktrin den Einsatz von Atomwaffen, wenn die Existenz des russischen Staates bedroht wurde. Es bleibt also dabei, dass es lediglich darauf ankommt, was man als Bedrohung deklariert.  

    Aus formaler Sicht hat sich also nichts geändert. Aber selbst wenn es formale Beschränkungen gäbe, wären sie völlig bedeutungslos. Dafür sind Diktaturen ja Diktaturen – sie sind sich selbst die einzige Beschränkung. Putin wird tun, was er will, unabhängig davon, was und wo etwas geschrieben steht. Es ergibt daher grundsätzlich keinen Sinn, Doktrinen, neue Gesetze oder ähnliches zu analysieren. 

    Rationaler Irrer mit Falschinformationen 

    Wenn sich aus formaler Sicht nichts geändert hat, so hat es doch wohl Veränderungen bei Handlungen gegeben? Der jüngste Angriff mit einer Interkontinentalrakete auf die Ukraine zeigt doch: „Schaut alle her, was wir können. Wir können eine Rakete abfeuern, die potenziell einen nuklearen Sprengsatz tragen könnte.“ Aber ist das etwa neu? Wussten wir noch nicht, dass Russland Raketen besitzt, die nukleare Sprengsätze tragen können? Russland ist nicht Nordkorea, daran hat niemand gezweifelt. Es ist bloß eine weitere russische Rakete – grausam genug, aber nichts, was uns wirklich einer nuklearen Eskalation näherbringt. 

    Damals war die Ratte wirklich in die Ecke getrieben, aber jetzt sieht die Lage doch komplett anders aus!

    Warum denke ich, dass der Einsatz von Atomwaffen durch Putin im Moment ausgeschlossen ist? Weil ihm das keinerlei Vorteile bringen würde. An dieser Stelle hört man oft das Argument, Putin sei ein Wahnsinniger, der in die Enge getrieben wurde, und so weiter. Erstens stimmt das nicht; alle möglichen internationalen Medien, politischen Autoritäten und andere Persönlichkeiten schätzen Putins momentane Position besser ein als beispielsweise im Herbst 2022: Es gibt keine neue Mobilisierungswelle, die ukrainischen Truppen stecken in der Verteidigung fest und verlieren sogar Gebiete. Ja, in der Oblast Kursk kommt Russland nicht weiter, aber die Ukraine ebenfalls nicht. 

    Insgesamt steht Putin besser da als damals, als seine Soldaten aus der Oblast Charkiw geflohen sind und so viel Technik zurückgelassen haben, dass Russland zahlenmäßig kurz zum zweitgrößten Waffenlieferant der Ukraine aufstieg. Im Herbst 2022 hat sich Putin buchstäblich ein halbes Jahr lang versteckt, er sparte das Thema Krieg aus, sagte Presskonferenzen und den Direkten Draht ab. Damals war die Ratte wirklich in die Ecke getrieben, aber jetzt sieht die Lage doch komplett anders aus! 

    Das zweite Argument, er sei wahnsinnig und ein blinder Fanatiker, dem alles zuzutrauen ist, halte ich ebenfalls für einen großen Irrtum. Meines Erachtens handelt Putin durchaus rational. Man wird mir widersprechen, sagen, er zerstöre gerade Russlands Vergangenheit und Zukunft, und es ist wirklich schwer vorstellbar, wie man das alles stoppen und wiederaufbauen soll. Natürlich zerstört er jetzt in diesem Moment auch Russlands Gegenwart, von der Wirtschaft bis hin zum physischen Verlust von etwa 200.000 Menschenleben und 400-500.000 Verwundeten. 

    Und trotzdem ist Putin nicht wahnsinnig. Er ist allenfalls größenwahnsinnig. Er lässt sich von völlig anderen Werten leiten. Er hat Komplexe, er will, dass man ihn respektiert und fürchtet. Er will Macht, und er will sie behalten und mehren. Deshalb handelt er aus seiner Position rational: Er wählt den schnellsten Weg von A nach B. Die Sache ist allerdings, dass er wie jeder andere totalitäre Leader ein großes Problem mit den Informationen hat, die ihm zugetragen werden: Putin verfügt nicht über ausreichend objektive Daten, weil er ein System um sich herum aufgebaut hat, in dem jeder, der schlechte Nachrichten bringt, sofort einen Kopf kürzer gemacht wird.  

    Genau aus diesem Grund hat er 2022 versucht, mit 180.000 Mann in die Ukraine einzumarschieren, Kyjiw einzunehmen und die Macht im Land an sich zu reißen. Damals haben ihm Medwetschuk und die Agenten des FSB weisgemacht, in der Ukraine stehe alles bereit, die russischen Soldaten würden mit Blumen erwartet und so weiter. Mit dieser Information und seinen Ambitionen ausgestattet, zählte Putin eins und eins zusammen und zog los. Der Westen ist schwach, dachte er sich, und die Ukraine wartet nur darauf, sich uns zu unterwerfen. Also marschieren wir kurz ein und fertig. Aus seiner Sicht war auch das keineswegs irrational. Es war eiskalte Berechnung, die allerdings von falschen Voraussetzungen ausging. 

    Vorteile? Nichts als Nachteile! 

    Kommen wir also zu den Vor- und Nachteilen eines Atomschlags. Stellen wir uns vor, morgen wirft Putin eine Atombombe über, sagen wir, einem Stützpunkt der ukrainischen Armee ab. Würde das die ukrainische Armee vernichten? Nein. Würde das die Ukraine so sehr schwächen, dass sie kapitulieren würde? Nein. Im Gegenteil: Die Ukrainer würden noch enger gegen den Feind zusammenrücken: Uneinigkeit tritt gerade dann auf, wenn die Bedrohung abzuebben scheint. Wenn sie jedoch ein Ausmaß erreicht, wie es 2022 der Fall war, als russische Truppen buchstäblich vor den Toren Kyjiws standen, wenn die Bedrohung also offensichtlich wird, steht die Ukraine zusammen, genau wie die westliche Welt. Wenn die Bedrohung nicht mehr ganz so akut ist, wenn zum Beispiel lange Zeit nicht mehr geschossen wurde, dann fängt das Gerede an: „Was soll das alles? Ist doch alles in Ordnung, wir leben doch“ und so weiter. Daher wird ein Atomschlag auf einzelne Einheiten nicht das gewünschte Ergebnis bringen. 

    Wir müssen aber auch einen Atomangriff auf Städte in Betracht ziehen. Selbst das würde Putin jedoch nicht plötzlich zum Sieg verhelfen. Die Geschichte der Menschheit kennt bisher zwei Beispiele hierfür, nämlich die Bomben auf Nagasaki und Hiroschima. Dennoch sind sich viele Experten einig, dass Japans Kapitulation keine direkte Folge dieser Schläge war. Als die Bomben fielen, war die japanische Armee bereits zerschlagen, und Japan nicht im Stande, den Krieg noch lange fortzuführen. Das kann man von der Ukraine nicht behaupten.  

    Ja, die Russen machen Landgewinne in Kurachowe, Pokrowsk, Donezk, Tschassiw Jar. Aber diese Gewinne gehen erstens mit gigantischen Verlusten einher, zweitens hat Russland nicht einmal in den vier Oblasten, die jetzt in die russische Verfassung eingeschrieben sind, eine Großstadt einnehmen können. Im Gegenteil, Russland kontrolliert weniger Großstädte als zu Beginn der großangelegten Invasion. Cherson, die einzige Metropole, die die Russen erobern konnten, haben sie wieder verloren. Es kann also keine Rede davon sein, dass die ukrainische Armee kurz vor dem Zusammenbruch steht. Ein Atomschlag auf ein dichtbesiedeltes Gebiet mit einer gigantischen Zahl von zivilen Opfern löst aus dieser Sicht also weder das Problem, noch bringt es Putin auch nur einem seiner gesetzten Ziele näher. 

    Was wäre, wenn? 

    Welche Probleme würden sich andererseits für Putin ergeben? Wir dürfen nicht vergessen: Für ihn ist die Unterstützung seiner Verbündeten entscheidend. Wenn das 2020 nicht so sehr ins Gewicht gefallen ist, sieht das jetzt, 2024, ganz anders aus. Wenn russische Medien unken, die Ukraine sei abhängig von westlichen Waffen, wirkt das lächerlich, denn Russland hängt selbst zu 70 Prozent von ausländischer Artilleriemunition ab: 60 Prozent kommen aus Nordkorea, zehn Prozent aus dem Iran. Zudem ist Russland, um seine Raketen zu produzieren, auf westliche Komponenten angewiesen, die es an den Sanktionen vorbei illegal einkauft. Und jetzt lässt Russland auch noch Nordkoreaner für sich kämpfen. Damit ist Putin von seinen Partnern nicht weniger abhängig als die Ukraine von ihren. 

    Viele von Putins Verbündeten, nicht zuletzt Handelspartner wie Indien, sind entschieden gegen den Einsatz von Atomwaffen. Und das ist ja auch klar, denn ein Präzedenzfall von welcher Seite auch immer wäre wie ein grünes Licht. Indien bereitet zum Beispiel Pakistan große Probleme. China ist ebenfalls grundsätzlich gegen jeden Einsatz von Atomwaffen, weil es die nukleare Abschreckung an sich außer Kraft setzt und ein Go für die Entwicklung von Atomwaffen und nukleare Aufrüstung bedeuten würde. Kein Land will das. Deshalb tritt China als Russlands Beschwichtiger auf: Als Russland sagte, es sei kurz davor, den Knopf zu drücken, da sagte China „stop“. Indiens Premier Modi sagte sogar ein Treffen ab, als Putin wieder mal öffentlich mit Atomwaffen drohte. Sollte Putin ernst machen, würden sich die allermeisten Partner von Russland abwenden, was wiederum Russland von Einnahmequellen und Produktionsmöglichkeiten abschneiden würde. Dabei ist der Import aus China für Russland ein lebenswichtiger Faktor. In diesem Sinne würde Russland mehr verlieren, als es gewinnen könnte. 

    Und dann sind da noch die Atommächte im Westen. Mit einem nuklearen Schlag würde Putin sich selbst zur Hauptzielscheibe machen. Viele westliche Politiker sowie der Großteil der Bevölkerung betrachten den Krieg heute immer noch als einen lokalen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Deshalb hat er für viele nicht oberste Priorität – siehe zum Beispiel Donald Trump. Sollte Putin seine Drohungen allerdings wahrmachen, wäre Russland damit sofort Feind und Bedrohung Nr. 1, denn Putin verfügt über Raketen, die jeden europäischen Staat und jede beliebige Stadt in den USA erreichen können. Wenn die NATO in den Krieg eintritt, würde Russland umgehend am eigenen Leib erfahren, was es wirklich bedeutet zu kämpfen. 

    Die Risiken, die der Einsatz von Atomwaffen birgt, sind also ungleich höher als die potenziellen Vorteile. Das beantwortet auch die Frage, warum Putin diesen Schritt noch nicht gegangen ist. 

    Stellen Sie sich vor, Sie sind Putin … 

    Zum Abschluss noch ein einfaches Gedankenexperiment. Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind Wladimir Putin. Ja, ich weiß, das tut weh, aber dennoch. Sie haben also einen roten Knopf, und Sie glauben aufrichtig, dass ein Knopfdruck genügt, um den Krieg zu gewinnen. Die Ukraine kapituliert, der Westen stellt sofort seine Unterstützung ein und Sie gehen als Sieger aus dem Ganzen hervor. Achtung, Frage: Warum haben Sie ihn immer noch nicht gedrückt? Es ist doch ein Zauberknopf, der alle Probleme auf einen Schlag lösen könnte? Sie müssten sich nicht mit Mobilisierung unbeliebt machen, die Wirtschaft nicht in den Ruin treiben. Sie müssten keine personellen Engpässe ertragen, weil ein Teil der Bürger, der gerade am meisten in der Wirtschaft gebraucht würde, an der Front oder im Grab ist, und ein anderer großer Teil auf dem Weg dorthin.  

    Warum haben Sie den Knopf immer noch nicht gedrückt? Vielleicht, weil Sie nicht an seine magischen Kräfte glauben? Könnte es sein, dass sich Putin all dieser Risiken, die ich beschrieben habe, bewusst ist? Das ist der Punkt: Putin macht bloß einen auf dicke Hose und schafft es damit, dem Westen immer wieder Angst einzujagen. 

    Thema Trump 

    Und zum Thema Trump: Die Ukraine vor dessen Inauguration mit Atomwaffen anzugreifen, wäre völlig absurd. Trump sagt offen, dass er mit Putin reden will. Und Putin scheint nichts dagegen zu haben, wie verschiedene Quellen nahelegen. Die Situation durch einen Nuklearschlag zu eskalieren, kurz bevor Trump den Krieg beenden oder zumindest einfrieren will, käme einem Komplettausfall gleich. Zumindest würde Trump sich sehr genau überlegen, ob er die Situation nicht doch falsch einschätzt und er Putin nicht lieber mit Gewalt zum Frieden zwingt, als Gespräche mit ihm zu führen. Deshalb glaube ich, die Möglichkeit eines nuklearen Angriffs ist [mit Trumps Wiederwahl – dek] nicht gestiegen, sondern gesunken. Putin weiß, dass bald eine Regierung im Weißen Haus sitzen wird, die mit sich reden lässt, und ein Atomschlag seine Gesprächsposition beträchtlich schwächen würde. 

    Die nukleare Holzkeule über Sibirien  

    Diese Argumente sind kein Versuch, jemanden zu beruhigen: Wie auch immer Sie die atomare Bedrohung einschätzen, so wird sie für Sie bleiben. Ich bestehe nur darauf, dass sich der Grad der Bedrohung nicht verändert hat. Wenn Sie glauben, die Chance ist gleich Null, dann bleibt sie das auch. Wenn Sie von einer 100-prozentigen Wahrscheinlichkeit ausgegangen sind, dann ist sie immer noch da. Ich sage nur, es ist nichts geschehen, was das Risiko eines Atomkriegs erhöht hätte. Mehr noch – das kann es gar nicht, weil sich das Saldo der Vor- und Nachteile nicht verändert hat.  

    Ich denke, es könnte in diesem Krieg noch zu weiteren Versuchen kommen, den nuklearen Holzknüppel zu schwingen, zum Beispiel in Form von Atomtests in Russland selbst. Ich hoffe natürlich nicht, dass Simonjans Forderung, „eine Atombombe auf Sibirien zu schmeißen“, in die Tat umgesetzt wird, wofür auch immer sie Sibirien damit bestrafen wollte. Dass es zu Atomtests kommt, ist meines Erachtens aber nicht unwahrscheinlich, denn allzu viele Mittel stehen Wladimir Putin nicht mehr zur Verfügung, um die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen. 

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  • „Normale gibt‘s hier nicht – Normale ziehen nicht in den Krieg“

    „Normale gibt‘s hier nicht – Normale ziehen nicht in den Krieg“

    Ob freiwillig gemeldet oder eingezogen, ob Schweißer oder Student, Großstädter oder Dörfler – sie alle hat Russlands Krieg gegen die Ukraine an diesem Ort versammelt. Wo die Raucherpause das Highlight des Tages ist und die Einnahme von Neuroleptika Routine: die psychiatrische Abteilung der russischen Militärkrankenhäuser. Dort werden Soldaten mit diversen Diagnosen – von Schizophrenie bis PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) – monatelang behandelt, bis die Medizinische Kommission entscheidet: ausmustern oder weiter kämpfen? Keiner will wieder an die Front. Manche sagen, da gehen sie lieber ins Gefängnis oder bringen sich um. 

    Für das russische Onlinemedium Nowaja Wkladka, das sich auf Veränderungen im Alltag in den russischen Regionen seit dem Überfall auf die Ukraine spezialisiert, hat eine Autorin eine Woche als „Ehrenamtliche“ in solch einem russischen Militärhospital verbracht. Als Journalistin hätte sie keinen Zutritt bekommen.  

    Alle Namen wurden geändert, um die beschriebenen Personen nicht zu gefährden. 

    Im Eingangsraum, wo Passierscheine für Besucher ausgestellt werden, stehen zwei Männer und sieben Frauen. Eine darf nicht rein: Der Patient, den sie besuchen will, hat keinen Schein für sie beantragt. Die Frau schnappt wütend die Einkaufstüten vom Discounter, die vor ihr auf dem Boden stehen. 

    „Das ist doch Schikane!“, ruft sie mit tränenerstickter Stimme. 

    „Jetzt bloß nicht heulen“, sagt die Frau hinter ihr in der Schlange streng.  

    „Ich heul ja nicht.“ 

    Auf einmal knattert ein Maschinengewehr: Im Fernseher an der Wand läuft ein Kriegsfilm. 

     

    „Man will nur noch kämpfen“ 

    Das Krankenhaus versinkt im Grünen. Alle zwanzig Meter eine Bank, auf der Männer sitzen: Dem Einen fehlt ein Bein, dem Anderen ein Arm, der Dritte hat den Kopf einbandagiert. 

    Am Eingang zur Psychiatrie rauchen die Patienten. Wer keinen Stuhl mehr bekommt, hockt sich auf ein Schaumstoffpolster auf dem Bordstein. Der Spezialschlüssel für die Station steckt in der Kitteltasche der Krankenschwester, die daneben steht und aufpasst. 

    Ein langer, hell beleuchteter Korridor, schummrige Zimmer, in denen die Vorhänge zugezogen sind. Die meisten Patienten verbringen den ganzen Tag am Handy. Nachrichten über den Krieg lesen sie keine: „Es wird überall gelogen.“ Neben manchen Betten stehen Rollstühle und auf den Fensterbrettern Wasserflaschen. 

    Auf der Psychiatrie sind etwa 80 Menschen, die meisten aus niedrigeren Rängen bis hin zu Unteroffizieren: Feldwebel, Gefreite, Leutnants. Manche sind erst seit kurzem hier, andere schon seit dem Frühjahr, als draußen noch Schnee lag. 

    Die Patienten sind unterteilt in „verschärftes“ und „strenges Regime“. Erstere dürfen sich frei im Krankenhaus bewegen, Zweitere nur in Begleitung, damit sie sich und anderen nichts antun. Nach jedem Besuch kontrollieren die Schwestern die persönlichen Sachen der Patienten auf spitze und scharfe Gegenstände, Alkohol und Drogen. 

    Als Ehrenamtliche begleitet man die „Strengen“ zu den Ärzten. Die Männer müssen sich auch einer militärärztlichen Untersuchungskommission unterziehen, die feststellt, ob sie weiterhin diensttauglich sind oder nicht. 

    Verpasst mir doch gleich eine Spritze, damit ich verrecke. 

    Im Flur ist es stickig, die Gesichter der herumlungernden Patienten glänzen verschwitzt. Viele tragen uniforme gestreifte Pyjamas mit Aufdruck „Russische Armee“. 

    Die Patienten beäugen mich finster. Ein großer, schlanker Kerl in Unterhemd und Jogginghosen bricht das Schweigen. Alexej – so sein Name – baut sich dicht vor mir auf und sieht mir von oben direkt ins Gesicht: 

    „Ich bin kerngesund. Aber für die Gesellschaft bin ich nicht normal, genau wie die Gesellschaft für mich. Verpasst mir doch gleich eine Spritze, damit ich verrecke. Wenn ich hier rauskomme, wird die ganze Menschheit sterben.“ 

    Alexej hängt sich ein weißes Handtuch um den Hals und zieht mit einem unheimlichen Grinsen daran: „Der Stoff ist feeest.“  

    Er ist einer von den „Strengen“, und manchmal wirkt er wirklich wahnsinnig. Die meisten Patienten verhalten sich hingegen ziemlich normal: Sie reden mit mir, stellen Fragen, interessieren sich für das Leben „in Freiheit“. Sie alle sind auf Neuroleptika. 

    Ich bringe Alexej und ein paar andere Patienten zur schapka (dt. Mütze) – so nennen die Patienten hier die Elektroenzephalografie [EEG, da wird die elektrische Aktivität des Gehirns gemessen und grafisch dargestellt – dek]. Neben mir läuft schweigend Sergej, ein Mann Ende zwanzig aus einer Stadt an der Wolga. Im Krieg war er Späher. Während er auf die schapka wartet, spielt er auf seinem Handy Schach. 

    Ein junger Mann wird auf seinem Bett durch den Flur gerollt. Sein linkes Auge verdeckt eine Mullbinde, anstelle des rechten Arms hat er einen Stumpf. Auch der Rest seines schmalen, tätowierten Körpers ist einbandagiert. Er versucht, die verbliebene Hand zu einer Faust zu ballen, aber es geht nicht – im linken Ellbogen steckt ein Splitter. 

    Als Nächster ist Ruslan dran, ein großer, stämmiger Kerl aus einer Republik im Nordkaukasus. Er wurde im September 2022 eingezogen; in der Psychiatrie ist er gelandet, weil er nicht mehr schlafen konnte. Er ist 28 Jahre alt. 

    Man sollte alle, die wollen, in den Krieg schicken,  
    und die anderen in Ruhe lassen.

    Auf die Frage, was sie gearbeitet haben, nennen alle Patienten sofort ihre Funktion im Krieg, als hätten sie kein Leben davor gehabt. „Leitender Chemiker“, antwortet Ruslan ohne Umschweife. „Chemiker“, erklärt er, seien die, die das Gelände von Minen befreien. „In Wirklichkeit war ich einfach im Sturmtrupp. Da hat dich keiner gefragt, wer oder was du bist. Man sagt dir stürmen, und du stürmst.“ 

    Ruslan sagt, nach so einem Sturm wolle man „immer nur noch immer weiterkämpfen“. Das zivile Leben sei ihm seitdem zu langweilig. 

    „Man sollte alle, die wollen, in den Krieg schicken, und die anderen in Ruhe lassen.“   

    Ruslan sagt, er sei in den Krieg gezogen, weil er mobilisiert wurde und weil seine Brüder schon dort seien. 

     

    Verloren in der Zeit 

    „Fertigmachen zum Rauchen!“, ruft die Krankenschwester und schließt die Tür auf. 

    Alle strömen zum Ausgang, auch die, die erst vor fünf Minuten draußen waren. Ihre Gummilatschen quietschen auf dem Linoleum. Im Flur riecht es nach Desinfektionsmittel, die Lüftung rauscht leise. Ein Priester kommt uns entgegen: Er besucht die, die die Kommunion empfangen oder auch einfach nur reden wollen. 

    Pjotr Pawlowitsch geht nicht mit rauchen: Er liegt mit einer Kompresse am Kopf in seinem Zimmer. Es ist sehr heiß. Er muss zur schapka, hat aber keine Kraft. Die ganz Schwachen werden mit einem Krankenwagen zwischen den Gebäudetrakten hin und her gefahren. Der Krankenwagen ist sauber und ordentlich, wie frisch vom Werk. Vorne beim Fahrer läuft leise Musik. 

    Schleichende Demenz: Die Erinnerungen kommen nie wieder. 

    Wie er hier in der Klinik gelandet ist, weiß Pjotr Pawlowitsch nicht mehr. Vielleicht war es im Herbst. Oder Frühjahr. Er studiert aufmerksam mein Gesicht und sagt: „Wir haben uns schon mal irgendwo gesehen.“ Er hat blaue Augen und lächelt abwesend; ich schätze ihn auf ungefähr 60. Er wirkt desorientiert, beim Laufen muss er sich an den Wänden abstützen. Mehrfach sagt er besorgt, er habe seine Papiere nicht dabei. Als wir die Treppe hinaufgehen, hakt er sich vorsichtig bei mir unter. 

    Pjotr Pawlowitsch stammt aus einem Dorf in Zentralrussland. Bevor er sich freiwillig zum Krieg meldete, war er Schweißer. Abends finde ich sein Profil auf Odnoklassniki. Den Fotos nach war er passionierter Angler, der gern mit seinem Fang posierte. 

    „Wie sind Sie hier in unserer Gegend gelandet? Zugeteilt? Ein Verlobter?“, fragt Pjotr Pawlowitsch schelmisch. Ihm ist nicht bewusst, dass er Hunderte Kilometer von seinem Zuhause entfernt ist. Immerhin gibt er zu, dass er vergessen hat, welches Jahr wir haben. „2024“, erinnere ich ihn. 

    Entsetzter Blick. Er denkt, das sei ein Witz. 

    Später erzählt mir die Krankenschwester, dass Pjotr Pawlowitsch Alkoholiker ist. Er habe eine schleichende Demenz, seine Erinnerung werde vermutlich nie wiederkommen. 

    Während sie die Medikamente auf Plastikdöschen verteilt, schallen aus einem Zimmer Schüsse herüber: Ein Patient spielt Ballerspiele auf dem Notebook (die Patienten dürfen ihre Handys und Laptops auf die Station mitbringen). 

     

    „Weil ich bescheuert bin“ 

    „Strenges Regime, aber schwach“, sagt die Krankenschwester über den 55-jährigen Wladimir. Ausgeblichenes T-Shirt, strahlend blaue Augen, die nicht zu seinem abgestumpften, verlorenen Blick passen. Wladimir warnt mich vor, er sei nach einem Knalltrauma auf dem linken Ohr taub. 

    Vor dem Krieg war Wladimir Lastwagenfahrer im russischen Fernen Osten. Für eine mehrtägige Fahrt nach Jakutien bekam er um die 220.000 Rubel [umgerechnet ca. 2.080 Euro – dek]. Den Vertrag bei der Armee unterschrieb er 2023, nach eigener Aussage aus patriotischen Beweggründen. Im Krieg – wojnuschka, wie er verniedlichend sagt – war er Minenräumer. Wie eine Mine funktioniert, habe er bei YouTube gelernt: „Ich habe einfach nach ‚Minen entschärfen‘ gesucht.“ Im Trainingslager habe man ihnen lediglich Poster mit verschiedenen Granatenmarken gezeigt, bevor sie an die Front geschickt wurden. 

    In der Oblast Saporishshja, wo er im Einsatz war, hätten ihnen die Kommandeure verboten, mit Einheimischen zu sprechen. 

    „Ich habe am Anfang auch gedacht, dass da lauter Banderowzy sind. Dann hab ich welche näher kennengelernt – die sind genau wie wir, keine Banderowzy! Wir haben eine Weile ein Haus von den Leuten da gemietet. Na ja, was heißt gemietet, wir haben da einfach gewohnt. Der Nachbar hat uns Eier für 50 Rubel [ca. 50 Cent – dek] das Stück verkauft, brachte Grünzeug aus seinem Garten.“ 

    Wenn du überleben willst, trinkst du nicht im Krieg.

    Wladimir erinnert sich, wie sie gleich in den ersten Tagen im freien Feld abgesetzt wurden. Die Kommandeure hätten ihnen befohlen, Erdbunker zu bauen, und sie einfach zurückgelassen. 

    „Wir hatten nicht einmal Spaten. Wir waren 20 Mann, jeder gab 5.000 [Rubel, ca. 50 Euro – dek] dazu, dann sind wir los, kauften einen Generator, eine Kettensäge, Schaufeln und fingen an zu graben.“ 

    Auf die Drohnen, erinnert sich Wladimir, zielten sie mit Maschinengewehren: „Drohnenabwehr hatten wir nicht, die kostet eine halbe Mille.“ Dann landete Wladimir in einem „Säufertrupp“. 

    „Sie soffen, ließen ihre Gewehre überall liegen, und ich sammelte sie ein und räumte sie auf. Die Magazine sind schwer, wenn du sie in die Taschen steckst, zieht es dir fast die Hosen aus. Wenn du überleben willst, trinkst du nicht im Krieg. Einmal habe ich im Verteilungspunkt was getrunken, und plötzlich – Luftalarm. Ich steh da und merke, dass ich in diesem Zustand zu nichts in der Lage bin. Wer säuft, den knallen sie gleich ab. Seitdem lass ich die Finger davon.“ 

    Wladimir meint, dass der Krieg noch lange gehen wird: „Putin will sich so viel Land wie möglich abzwacken.“ Dass er den Vertrag unterschrieben hat, bereut er.  

    „Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit Mäusen unter der Erde leben würde, wäre ich nie in den Krieg gezogen. Ich wusste überhaupt nicht, wie das wird. Ich wusste nicht einmal, was sie mir zahlen.“ 

    „Warum sind Sie dann hin?“ 

    „Weil ich bescheuert bin.“ 

     

    Ruslan reist ab 

    Am nächsten Tag treffe ich im Flur Ruslan. Er hat eine Sonnenbrille auf. 

    „Wie sehe ich aus?“ 

    Ruslan wird heute entlassen. Er will zurück in seine Einheit und fragt mich, ob ich ihn zur Bushaltestelle begleite. Ich lehne ab. 

    Eine halbe Stunde später fragt er mich: 

    „Gibt es heute Flüge nach Mineralnyje Wody?“ 

    Ich schaue nach: Die Tickets kosten 30.000 Rubel [ca. 280 Euro – dek]. Ruslan seufzt. 

    „Kommen Sie mit?“ 

    Ich erzähle der Krankenschwester davon. Sie ist vehement dagegen:  

    „Auf gar keinen Fall! Er hat die Behandlung verweigert. Keiner weiß, in welchem Zustand er ist!“ 

    Als ich aus der Station komme, sitzt Ruslan auf einem Sitzpolster und raucht. Er erinnert sich nicht mehr an sein Angebot und verabschiedet sich ruhig. Ich sehe ihn nie wieder. 

     

    „Lieber in den Knast“ 

    Nur wenige Patienten der Psychiatrie wollen mit einem Priester sprechen, auch wenn es ihnen die Ehrenamtlichen regelmäßig anbieten. „Nach den Tabletten, die sie uns geben, prallt alles Heilige ab“, winkt einer der Männer ab, bittet aber dennoch um eine kleine Ikone des Heiligen Nikolaus von Myra. Ein anderer lacht: „Bei uns hier leben Dämonen.“ 

    Andrej dagegen – er stammt aus einer Kleinstadt im Ural – ist erst nach einem Gespräch mit einem Priester in den Krieg gezogen. Bevor er den Vertrag unterzeichnete, ging er in die Kirche, um Rat zu suchen: Soll er an die Front oder nicht? Der Priester sagte, man müsse „für seine Sache einstehen“ und das sei „eine gute Sache“. So reden viele Geistliche, meint Andrej. Wenn der Pater damals gesagt hätte, dass kämpfen nicht gut ist, hätte er Zweifel bekommen. Jetzt trägt Andrej die gestreifte Krankenhauskleidung, geht mit Krücken und hört Stimmen ukrainischer Spione, die „auf den Bäumen sitzen“. 

    In den Krankenakten, die wir Ehrenamtlichen manchmal von anderen Stationen holen sollen, stehen die militärische Spezialisierung und die Diagnose der Patienten: Granatenschütze, paranoide Schizophrenie; Sanitäter, psychopathische Schizophrenie. Heute begleite ich den 27-jährigen Pascha aus Kyjiw zum Urologen, er ist einer der „Strengen“. In seiner Akte steht: Posttraumatische Belastungsstörung. 

    „Ich bin Fernmelder, hab ich mir selbst beigebracht. Ich habe mich im Bataillon bis zum Chef des Fernmeldetrupps hochgedient. Mit 18 bin ich in die Donezker Volksrepublik (DNR) gezogen, um gegen Nazis zu kämpfen.“ 

    Paschas Verwandte leben in Kyjiw. „Meine Mutter und mein Stiefvater sind auf unserer Seite, die anderen für die ukropy. Mein Vater war früher bei der [ukrainischen] Staatssicherheit, wir reden nicht mehr miteinander. Er sagt: ‚Geh und verteidige deinen Putin.‘ Obwohl ich Putin doch gar nicht so toll finde. Ich kämpf natürlich nicht für ihn. Er hat so viel Leute auf dem Gewissen.“ 

    Wenn irgendwer Druck macht, fang ich total zu zittern an, der Kopf macht nicht mehr mit. 

    Ein Mann wird im Rollstuhl hereingeschoben. Ihm wurde vor kurzem ein Bein amputiert. Die Pflegerinnen diskutieren, wie sie ihn zum Ultraschall bringen sollen: „Sie haben ihm schon die Narkose gegeben, gleich ist er weg.“ Irgendwie wuchten sie ihn aufs Krankenbett. Der mit Mull verbundene Stumpf hängt in der Luft. 

    „Da wurde nichts genäht, einfach nur abgesägt“, erklärt der junge Mann. Mit einem Stöhnen legt er den Stumpf aufs Kissen: „Au, au, au, Scheiße, verdammt.“ 

    Pascha sitzt mit seinem Handy da, er scrollt durch TikTok. Nachrichten überspringt er: „Uninteressant.“ 2019 hatte er seinen Armeevertrag gekündigt, doch am 22. Februar 2022 lebte er in der DNR und wurde mobilisiert. „Vom Verteidigungsministerium gab es null Unterstützung. Meinen ganzen Lohn hab ich in diesen Scheißdienst gesteckt. Die Kommandeure hat das nicht interessiert“, erzählt Pascha. 

    Im Krieg bekam er Panikattacken: hatte ständig Angst, konnte kaum noch schlafen. Er erklärt sich seinen Zustand durch den Stress und „die permanente Erniedrigung durch Vorgesetzte“: 

    „Wenn irgendwer Druck macht, fang ich total zu zittern an, der Kopf macht nicht mehr mit. Seit drei Monaten schlucke ich Tabletten, die helfen kein bisschen. Ich liege richtig flach, voll depri. Ich kann mich kaum unterhalten, als ob mir das Hirn stehenbleibt, der Kopf schaltet sich ab. Ich kann mich schlecht konzentrieren. Ich komm mir vor wie ein Idiot. Manchmal würd ich am liebsten Tabletten fressen, damit’s ein Ende hat.“ 

    Paschas Frau lebt mit den beiden Kindern in Zentralrussland, in einer kreditfinanzierten Wohnung. Sie wünscht sich, dass Pascha entlassen wird. Er sagt, dass sei „nicht realistisch“: 

    „Entweder in den Knast oder wieder in den Krieg. Sollen sie mich doch einbuchten! Fünf Jahre, aber dafür überleb ich. Und wenn’s zehn sind, häng ich mich auf und aus. Da gibt’s keinen Ausweg außer Selbstmord. Ich habe versucht, diese Gedanken zu vertreiben, habe immer sofort ‘ne Tablette genommen, um mich zu beruhigen. Manchmal hab ich Aggressionen, das ist erst recht beschissen. Dann hab ich nur ein Ziel – töten. Und manchmal, da bin ich gut drauf, aber dann hab ich auf einmal Leichen vor Augen.“ 

    Pascha und ich kommen vom Urologen auf die Psychiatrie zurück. Alte, hohe Linden, Halbschatten. 

    „Hier lebt ein Eichhörnchen in den Baumkronen. Haben Sie’s gesehen?“, sage ich. 

    Zum ersten Mal seit anderthalb Stunden lächelt Pascha. Ich zeige ihm ein Foto, er betrachtet es lange, gerührt. Als wir ins Krankenhaus hineingehen, erlischt Paschas Gesicht wieder. 

     

    Witja will zu Mama 

    Am Morgen regnet es, die Raucher drängen sich unter dem Vordach zu einer dichten Traube. Ich gehe mit dem 33-jährigen Witja zum Augenarzt. Vorsichtig stellt er in Gummilatschen einen Fuß vor den anderen. Er hatte eine Kontusion, jetzt fühlen sich seine Beine steif an. Die Zähne sind schlecht, er redet undeutlich. 

    Witja ist vor einem halben Jahr freiwillig in den Krieg gezogen. Aus einem kleinen Dorf an der Wolga. Er sagt, er hatte dort ein gutes Leben. 2023 kamen zu Halloween verkleidete Kinder, und Witja gab ihnen Süßes. 

    Seine Arbeit in der Holzfabrik brachte ihm 60.000 Rubel im Monat ein. Nicht genug, um einen Kredit über 40.000 für die Sanierung des Hauses abzubezahlen. Also unterschrieb er den Vertrag beim Militär. Witjas Mutter ist bettlägerig. Als ihr Sohn in den Krieg zog, „bekam sie Löcher, die Haut löste sich auf.“ Keiner kümmert sich um sie, sagt Witja. Er bereut seine Entscheidung, will zurück zu seiner Mutter. 

    Ein Dutzend Wartende beim Augenarzt. Unter ihnen eine grauhaarige, hagere Dame von vielleicht 75 im Rollstuhl. Der Arzt kommt aus seinem Zimmer: 

    Spezialoperation, wer ist der Nächste?“ 

    „Und wann bin ich dran? Ich hab nicht mal gefrühstückt und warte immer noch“, sagt die Dame. 

    „Sie müssen warten. Wer war noch bei der Spezialoperation, kommen Sie!“ 

    Ein Mann mit Basecap und Unterhemd rollt in das Behandlungszimmer. Ihm fehlt der rechte Arm und das linke Bein. Als Nächster kommt Witja dran, der ein Bein nachzieht. 

     

    Über Leichen gehen 

    Kamil studierte in einer Regionalhauptstadt Tiermedizin. Ihm fehlte noch ein Jahr zum Abschluss. Im Sommer 2022 unterschrieb er bei der Armee. Seine Eltern waren dagegen. Die jüngeren Schwestern schenkten ihm zum Abschied Anhänger: ein Blümchen und ein Legomännchen. Er trägt sie als Armband. Kamil ist mit 26 der Älteste von fünf Geschwistern. 

    Kamil hat ein feines Gesicht, lange Wimpern. Zuerst sagt er, er sei in den Krieg gegangen um „zu helfen“. Dann meint er: Wenn er gutbezahlte Arbeit als Übersetzer gefunden hätte, wäre er wohl nicht gegangen. Er erzählt, dass er einige Jahre in Syrien, der Heimat seines Vaters, gelebt hat und gut arabisch spricht. Kamil hat paranoide Schizophrenie. 

    „Wäre nicht das Geld, wäre ich nicht gegangen. Aber wenn man ein paar Tausender dafür kriegt, dass man einer Oma über die Straße hilft – na klar“, lacht Kamil. Einen Teil des „Kriegsgeldes“ hat er im Fronturlaub verprasst, den Rest gab er seinen Eltern. 

    Kampferfahrung hatte Kamil keine, er hatte lediglich in Russland seinen Grundwehrdienst geleistet. Er sollte einen Zug kommandieren, eine eigene Untereinheit der Kompanie. Kamil hatte keine Ahnung, was das bedeutet, willigte aber ein. 

    Im November 2023 geriet er unter Beschuss und wurde durch Splitter schwer verletzt. Laufen und springen kann er nicht mehr, den Zeigefinger kann er nicht mehr bewegen. Vor kurzem rief ihn ein Kamerad von der Front an. Er sagte, er beneide alle, die Beine oder Arme verloren haben, denn die müssen nicht mehr kämpfen. 

    Kamil erzählt, dass er um neun Uhr morgens verwundet wurde. Den ganzen Tag lag er mit einem Maschinengewehrschützen in einem Nadelwald, sie schossen zurück auf die Ukrainer in 500 Metern Entfernung. Er erinnert sich, wie er „Lieder sang, Zigaretten rauchte“ und sah, wie „die Kugeln die Äste abknickten“. Neben seinen Kopf hatte er eine Granate gelegt. 

    „Ich dachte nicht, dass ich da lebend rauskomme.“ 

    Im Krieg gibt es viel Dreck, in jeder Hinsicht.

    Am Abend liefen die Männer übers Feld. Es kam ein „Vögelchen“ [eine Drohne – dek] geflogen und warf eine Granate ab. Der MG-Schütze wurde verwundet. Kamil gab ihm einen Klaps auf den Helm: Lauf weg! Als er allein war, gingen ihm Gebete durch den Kopf. Er schleppte sich zu seinen Leuten und wurde nach Rostow am Don gebracht. Ab da verloren ihn alle aus den Augen. Am dritten Tag rief ein Freund Kamils Eltern an: „Ihr Sohn ist gefallen.“ Die Mutter fiel im Supermarkt in Ohnmacht, der Vater schlachtete drei Hammel, als Qurban [arab. Opfergabe – dek] für den Verstorbenen. Zwei Tage später rief Kamil zu Hause an: „Ich bin noch am Leben.“ 

    „Im Krieg gibt es viel Dreck, in jeder Hinsicht. Einmal haben wir eine Stellung bezogen, und dort gehen die Gräben nur bis zur Hüfte und sind sehr klein. Was für eine Scheiße, warum haben die nicht weiter gegraben? Da sagt einer: Schau nach unten! Da sehen wir, dass wir über Leichen gehen. So viele, dass sie sich schon mit der Erde vermischt haben. Keiner hat sie geborgen. Die Leichen waren Russen.“ 

    Nach einem Moment des Schweigens fährt Kamil fort: „Ich habe in dem Krieg niemanden getötet.“ Auf die Frage, ob das für ihn wichtig sei, zuckt er mit den Schultern. Es sei schrecklich gewesen, als von den Vorgesetzten der Befehl kam: „Macht eure Leute zu 200ern“.  

    Kamil zufolge kam das so: Zwei aus der Kompanie hatten sich betrunken und ballerten herum. Die Kommandeure verprügelten die beiden einen ganzen Tag lang, bis ihre Gesichter ganz blau waren. Dann übergaben sie sie an Kamil, „ohne Schutzwesten, ohne Waffe, ohne alles.“ „Macht sie fertig“, hieß es, berichtet Kamil. 

    Ihm taten die Jungs leid; er besorgte ihnen irgendwie eine Uniform und schickte sie mit irgendeiner Aufgabe los. Einer fiel, einer überlebte. 

    Kamil möchte am liebsten nach Hause und sein Veterinärstudium abschließen. 

     

    „Das war’s Leute, ich bin raus.“ 

    Drei Krankenschwestern sitzen beim Tee und beschreiben ihre Arbeit. Die Mutter eines Patienten hat selbstgebackenen Kirschkuchen mitgebracht. 

    „Hier liegen solche Typen, schrecklich. Im Krankenhaus kann man auch alles kaufen: Drogen, Wodka, Nutten … Und so viele Löcher im Zaun! Wenn einer weglaufen will, kann man das nicht verhindern. Du gibst der Wache 500 Rubel, gehst raus, gibst dir die Kante und kommst zurück. Drogen- und Alkoholabhängige werden von der Gesundheitskommission als Kategorie D [untauglich – dek] eingestuft. Einige kehren nach dem Krankenhaus zum Stützpunkt zurück: Sie helfen den Sanitätern, hacken Holz … Waffen bekommen sie nicht mehr in die Hand. Die anderen kriegen Kategorie C [eingeschränkt tauglich – dek] – und zurück geht’s. Die sitzen hier sieben, acht Monate [suchen Vorwände, um nicht wieder in den Krieg zu müssen]: Der Popo juckt, ein Pickel auf der Nase … Dass einer vom Krieg nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, gibt es hier nicht. Die drehen ab, weil sie sich irgendeinen Chemiescheiß reinziehen, oder wenn sie vorher schon schizo waren. Gibt’s irgendeinen Stress, macht’s sofort klick.“ 

    Die Krankenschwestern erinnern sich aufgeregt, wie im Winter ein 20-jähriger Patient abhaute, ein Mobilisierter. 

    „Er ging vor die Tür eine rauchen und sagte: ‚Das war’s Leute, ich bin raus.‘ Und ist einfach übers Eis verduftet.“ 

    „Genau, in Sneakers durch den Zaun. Er hatte ein Taxi bestellt, das stand schon bereit." 

    Die Krankenschwestern sagen, der junge Mann sei nach Hause gefahren, dort dann „voll auf Drogen abgestürzt“ und habe sich nach drei Monaten im Schuppen erhängt. Seine Mutter kam danach ins Krankenhaus und holte seine Sachen und den Pass ab. 

    Die Krankenschwestern verstummen, kauen ihren Kuchen. Eine stellt ihre Tasse zur Seite und schaut mir fest in die Augen: „Normale gibt‘s hier nicht – Normale ziehen nicht in den Krieg.“ 

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    „Ein Nato-Beitritt wäre mein Traum“

    Der Omsker Unternehmer Viktor Schkurenko ist einer der reichsten Menschen in Sibirien. Als jemand, der sich offen gegen den Krieg ausspricht, lebt und arbeitet er nach wie vor in Russland. Einige glauben, dass der FSB ihn schützt, andere – seine Steuermilliarden. Sogar Wladimir Solowjow hat bereits gefordert, Schkurenko hinter Gitter zu bringen, aber der Geschäftsmann selbst glaubt an die Gesetze und ist der Meinung, dass er für seine Ansichten nicht belangt werden kann. Jewa Belizkaja und Olessja Gerassimenko erzählen für Holod die Geschichte eines Milliardärs aus Omsk, der vom NATO-Beitritt Russlands träumt. 

    Der Unternehmer Viktor Schkurenko in seinem Chefsessel / Foto © Holod.media
    Der Unternehmer Viktor Schkurenko in seinem Chefsessel / Foto © Holod.media

    Im August 2022 klopfte ein Polizist an die Tür des Omsker Milliardärs Viktor Schkurenko. Der Grund für seinen Besuch war eine anonyme Anzeige – jemandem passte nicht, dass Schkurenko Iwan Urgant zu einer Betriebsfeier eingeladen hatte. Der TV-Moderator hatte sich gleich am ersten Tag der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine offen gegen die russische Invasion ausgesprochen. Er postete ein schwarzes Quadrat mit der Bildunterschrift „Angst und Schmerz“ in den sozialen Netzwerken. Daraufhin setzte der Erste Kanal seine Show Wetscherny Urgant ab. 

    „Sie wollten mir ein Strafverfahren anhängen“, erzählt Schkurenko, ohne konkret zu sagen, wen er mit „sie“ meint. „Aber die Polizei konnte keinen Tatbestand finden.“ Der Omsker Unternehmer erklärte kurz die Sachlage, woraufhin der Polizist mit den Worten „So ein Blödsinn“ wieder abgezogen sei. 

    Schkurenko hatte keine Angst vor dem Beamten. Es war nicht das erste Mal, dass er mit den Behörden zu tun hatte. 1997 saß er sogar einmal auf der Anklagebank, wegen Steuerhinterziehung. Bei der Urteilsverkündung 2000 ermahnte der Richter, der Schkurenkos Großvater hätte sein können, den damals 28-Jährigen mit erhobenem Zeigefinger, so etwas bloß nicht noch einmal zu tun, und verurteilte ihn zu einer einjährigen Bewährungsstrafe. Seitdem seien die Gesetze der Russischen Föderation und das Strafgesetzbuch seine „Bibel“, sagt der Geschäftsmann. 

    Im April 2024 feierte der Milliardär seinen 52-jährigen Geburtstag. In den vergangenen zehn Jahren ist er regelmäßig unter den Top-10 der reichsten Einwohner von Omsk. Seine diversen Firmen erwirtschaften einen Umsatz von insgesamt 70 Milliarden Rubel [etwa 675 Millionen Euro – dek], die Hälfte davon außerhalb der Region Omsk. „Meine Persönlichkeit besteht zu 90 Prozent aus dem Geld, das ich verdiene“, sagt Schkurenko von sich selbst, „meine politische Einstellung ist nichts weiter als ein Hobby.“ 

    Das „Hobby“ gefällt nicht jedem: Schkurenko sorgt regelmäßig für Gesprächsstoff – auch außerhalb seiner Geschäftstätigkeit. Mal lädt er Drag Queens zu Betriebsfeiern ein, mal unterstützt er öffentlich Iwan Urgant, mal bringt er den Soziologen Grigori Judin nach Omsk oder den Regisseur Andrej Smirnow, um dessen jüngsten Film Sa nas s wami (dt. Auf uns und euch) einem breiten Publikum zu präsentieren. Der Streifen, der die stalinistischen Repressionen thematisiert, schaffte es nicht in die russischen Kinos. 

    In den 30 Jahren seiner Karriere hat Schkurenko nach eigenen Angaben 280 Geschäfte in Russland und Kasachstan eröffnet, von Hypermärkten bis zu Discountern (u. a. Niskozen, Pobeda, Eurospar). Der Unternehmer besitzt rund 200.000 Quadratmeter an Immobilien, die er verpachtet. Er kauft, übernimmt und investiert aktiv. Er treibt Sport in seinem eigenen Fitnesscenter, kauft Lebensmittel in seinen eigenen Supermärkten, trinkt seinen Kaffee in den Skuratow-Cafés, in die er rund 26 Millionen Rubel investierte, und nach seinem Ableben kann er auf die Dienste eines Krematoriums zählen, das er selbst erbaut hat. 

    Im Januar 2024 eröffnete Schkurenko eine Filiale seiner Handelskette in Moskau und erwarb eine Lizenz für die Einfuhr von Alkohol. Er plant, zum wichtigsten Importeur in ganz Russland zu werden. Er beschäftigt rund 7.000 Arbeitnehmer und zahlt über eine Milliarde Rubel Steuern in den Haushalt der Region Omsk. In dem Ausdruck „zu mutig“, mit dem die Gesprächspartner von Holod Schkurenko gerne beschreiben, schwingen unterschiedliche Emotionen mit: mal Verachtung, mal Bewunderung. 

    „Was hat das denn mit Mut zu tun? Was sage oder tue ich schon groß?“, ereifert sich Schkurenko ist im Gespräch mit Holod. „Umfragen zufolge unterstützen 20 Prozent der Bevölkerung die Spezialoperation nicht. Ich bin eben einer davon. Na und? Das ist meine Meinung, ja! Ich verstoße nicht gegen das Gesetz. Ich halte keine Versammlungen oder Kundgebungen ab. Ich finanziere niemanden, der verboten ist. Ich arbeite kaum mit dem Staat zusammen. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, aber ich habe ein soziales Gewissen, das es mir nicht erlaubt, die Füße still zu halten.“ 

    „Wie sollte man das nicht unterstützen?“ 

    Bis 2003 war Schkurenko vollkommen loyal gegenüber der Staatsmacht. Als Schüler hatte er Gorbatschow verehrt, als Student unterstütze er Jelzin, und als Unternehmer den frühen Putin, dem er 2000 seine Stimme gab: „Es war doch der reinste amerikanische Traum, besser konnte man es sich nicht ausmalen. Das Bruttosozialprodukt verdoppeln? Wunderbar, was will man mehr? Wie konnte man Putin nicht lieben für diese Idee?“ 

    Die Verhaftung von Michail Chodorkowski 2003 verursachte die ersten Erschütterungen in Schkurenkos Ansichten. Seine Einstellung zum herrschenden Regime veränderte sich nicht über Nacht, aber damals wurde ihm bewusst, dass „etwas falsch lief“. Doch die ungute Vorahnung wurde von den nächsten Wahlen zerstreut. 

    2008 stimmte Schkurenko für Dimitri Medwedew, den er an allen Fronten unterstütze: „Die vier Jahre Medwedew waren eine glückliche Zeit in meinem Leben. Seine Beziehungen zu Obama, was er mit der Wirtschaft gemacht hat – das war ein Wunder! Wie er die Unternehmer vor den Silowiki verteidigte! ‚Freiheit ist besser als Unfreiheit‘ – wie sollte man das nicht unterstützen?“ 

    Vor lauter Begeisterung für Medwedew richtete Schkurenko sich sogar einen Instagram-Account ein. 2012 hatte er in einer Kolumne von Andrej Kolessnikow im Kommersant gelesen, dass der russische Präsident sich als einer der ersten bei dem „bourgeoisen Netzwerk“ angemeldet hätte. „Sein Gespür für die neusten digitalen Technologien war einwandfrei, ich vertraute ihm ganz aufrichtig“, sagt Schkurenko. Er lud sofort die App herunter, lief aus dem Hinterzimmer seines Supermarkts, knipste die Verkaufsregale und postete spontan sein erstes Foto. 

    Nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine wechselte Dimitri Medwedew, nun stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates, zu militaristischer Rhetorik und wurde zu einem der wichtigsten Wortführer der „Kriegspartei“. „Der einstige Bewunderer von Steve Jobs hat sich in einen Anti-NATO-Fabulisten verwandelt. Er hat seine Wahl getroffen. Aber meine Ansichten waren schon immer liberal und sind es geblieben“, sagt Schkurenko. 

    Seine Meinung gegenüber Medwedew hat der Milliardär geändert, aber Instagram blieb er treu. Es ist bis heute das einzige soziale Netzwerk, das Schkurenko nutzt. Jetzt, 12 Jahre später, hat er rund 7.400 Follower. Genauso vielen Menschen gibt er heute Arbeit. 

    Kein Aktivist 

    Als 2011 verkündet wurde, dass Medwedew den Präsidentenposten räumt und Putin wieder das Ruder übernimmt, war Schkurenko endgültig desillusioniert: „Mir ging es schlecht, ich war dagegen.“ Es ärgerte ihn, dass die Staatsmacht gegen das Gesetz verstoßen hatte. 

    Putin wählte der Milliardär nie wieder. 2012 gab er seine Stimme Michail Prochorow, 2018 Xenia Sobtschak. Er wurde sogar ihr Vertrauensmann für die Oblast Omsk. Denjenigen, die ihm Kurzsichtigkeit vorwarfen, erklärte er, dass Sobtschak, Prochorow und Nawalny für ihn ein und dasselbe wären: Leute, die öffentlich für liberale Werte eintraten, und es wäre ihm egal, ob sie Politiker, Clowns oder Protegés des Kreml seien. Putin betrachtete er als jemanden, der sich schon zu lange an seinen Sessel klammerte. „Also habe ich gegen ihn gestimmt“, sagt Schkurenko. 2024 setzte er sein Häkchen hinter Wladislaw Dawankow. 

    Schkurenko sagt, er sei wütend gewesen, als die Krim an Russland angegliedert wurde; die Wirtschaft stagnierte, die Realeinkommen begannen zu sinken. Er war traurig, als Boris Nemzow ermordet wurde. Er war glücklich, als Chodorkowski freikam und Swetlana Alexijewitsch den Nobelpreis für Literatur erhielt. 2020 war er so empört darüber, dass Medwedew samt der ganzen Regierung zurücktrat, dass er 15.000 Rubel [zum damaligen Kurs etwa 170 Euro – dek] an den TV-Sender Dozhd spendete, der darüber berichtete. Dann hörte er, dass Michail Mischustin zum neuen Premierminister ernannt wurde, und beruhigte sich wieder. Er bereute sogar, dass er so impulsiv mit seinem Geld um sich geworfen hatte. 

    Als Alexej Nawalny mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, checkte Schkurenko auf einer Geschäftsreise nach Tomsk im Hotel Xander ein, in dem auch Nawalny im August 2020 übernachtet hatte. Schkurenko verfolgte das Schicksal Nawalnys, machte sich Sorgen um ihn und „wollte, dass er am Leben bleibt“. Und obwohl der gebürtige Omsker der Meinung war, dass ein politisches Programm nicht auf dem Kampf gegen Korruption gründen könne und eine Führungspersönlichkeit innerhalb der Nomenklatura heranwachsen sollte – wie im Falll von Gorbatschow –, bewunderte er Nawalny für seinen Mut und sein entschlossenes Handeln: „Als Politiker hat er das Richtige getan, als er nach Russland zurückkehrte. Das war mutig, ehrlich, einfach gut!“ 

    Als Nawalny nach seiner Genesung im Januar 2021 erneut verhaftet wurde, verfolgte der Unternehmer die vierstündige Live-Sendung auf Dozhd. Mehr allerdings auch nicht. 

    „Ich bin kein Aktivist, kein Politiker. Ich kann keine Revolution machen. Und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand anders sie machen kann. Ich bin nicht für eine Revolution unter Nawalny, sondern für bürgerliche Freiheit, für eine sanfte Revolution! Für einen Machtwechsel, für die Bildung, für liberale Werte.“ 

    Der Unternehmer ist noch nie mit einem Plakat auf die Straße gegangen oder hat an Kundgebungen teilgenommen. Die einzige Massenveranstaltung, an der er in den letzten Jahren teilgenommen hat, war Gorbatschows Beerdigung. Weil er den Tod des ersten Präsidenten der UdSSR als eine „persönliche Tragödie“ empfunden habe, sei er extra nach Moskau geflogen. 

    Er habe nicht die Macht, die Situation im Land zu verändern, sagt Schkurenko. „Für mich geht nichts über die Marktwirtschaft und die westlichen Demokratien. Aber wie soll ich darauf Einfluss nehmen?“, räsoniert er. „Wenn mein Land diese Richtung einschlägt, freue ich mich. Wenn es seinen eigenen, besonderen Weg sucht, bin ich unglücklich. Als Unternehmer kann ich mein eigenes Glück schmieden, aber da sind noch 140 Millionen andere Menschen im Spiel. In dieser Hinsicht hege ich keine Illusionen. Es hat keinen Sinn, sich vor die Schießscharte zu werfen. Ich werde wütend sein, unglücklich, aber ich will keine Revolution machen, sondern Geld!“ 

    Eine Filiale der Supermarktkette „Pobeda” in Omsk – eine von vielen Ketten im Handelsimperium des sibirischen Milliardärs Viktor Schkurenko / Foto © imago 

     

    Erst das Geschäft, dann die Familie 

    Geld macht Schkurenko seit Beginn der 1990er Jahre. Im ersten Jahr seines Studiums an der Wirtschaftsfakultät der Staatlichen Universität Omsk lernte der spätere Unternehmer seinen zukünftigen Geschäftspartner kennen – seinen Kommilitonen und Tischnachbarn Dimitri Schadrin. Sie stellten bald fest, dass sie beide auf The Doors und auf Genesis standen. Schkurenko lud Schadrin zu sich nach Hause ein, um bei Kaffee und Cognac Peter Gabriel zu hören. 

    In den nächsten fünf Jahren paukten sie zusammen für Prüfungen, trieben Sport, gingen mit Mädchen aus und spielten im Studententheater. Dann unternahmen sie gemeinsam ihre ersten geschäftlichen Schritte: 1992 reisten sie zum ersten Mal nach Moskau, deckten sich mit Champagner, Jeans, Zigaretten und Schnaps ein, füllten ein ganzes Zugabteil mit den Kisten und fuhren zurück, um alles zu verkaufen. 

    Innerhalb von drei Jahren schossen die Umsätze so in die Höhe, dass sie dazu übergingen, Schreibmaschinen und Damenstrumpfhosen mit Lastwagen und Militärflugzeugen zu transportieren: „Du gehst zum [Flughafen – dek] Schukowski, wartest auf einen Militärflug von Moskau nach Omsk, verhandelst mit den Piloten und fliegst los. So machte man das damals“, sagt Schkurenko. 

    Der Wendepunkt war das Jahr 1996, als nach der Privatisierung die Banken begannen, die Aktien von ehemaligen Staatsunternehmen und deren Mitarbeitern aufzukaufen. Nicht jeder wollte seine Zeit damit verschwenden, zur Bank zur laufen. Also fingen Schkurenko und Schadrin die Aktieninhaber vor den Werkstoren ab und tauschten die Wertpapiere gegen Bargeld. Auf diese Weise verdienten sie ihre ersten Dollar-Millionen. Nachdem sie ein solides Kapital zusammen hatten, konzentrierten sich die Partner auf Lebensmittel, gründeten eine Firma und eröffneten die erste Lebensmittelkette in Omsk. 2003 wurde das Unternehmen unter dem Namen Schkurenko Handelsgesellschaft registriert. 

    Seinen Erfolg misst Viktor Schkurenko am Umsatz seines Unternehmens. „Für mich ist das Geschäft wichtiger als die Familie“, sagt er. „Familie und Religion sind für normale Menschen, die keinen ausgeprägten Ehrgeiz haben. Meine Religion ist der Kapitalismus. Wachstum als Ausdruck des Erfolgs – bis ins Unendliche! Darin sehe ich den Sinn meines Lebens: nicht stehen zu bleiben. Wenn ich manchmal schlaflose Nächte habe, dann ist es wegen der Geschäfte.“ 

    Einmal verkrachten sich die jungen Geschäftspartner: Schadrin lernte ein Mädchen kennen, nahm Geld aus der Gemeinschaftskasse und kaufte damit eine Einzimmerwohnung. Es war ein Einzelfall, aber prägend – Schkurenko empfand das als Hochverrat. „Wir hatten Erfolg, weil wir uns nach diesem Vorfall gegenseitig in den persönlichen Ausgaben bremsten“, sagt er. 

    Schkurenkos persönliche Ausgaben liegen laut eigener Aussage bei etwa 100.000 Rubel [ca. 950 Euro – dek] im Monat. Wenn seine Familie nicht wäre, für die er etwa eine weitere Million [9.500 Euro – dek] ausgibt, würde er noch asketischer leben, sagt er. 

    Alle sechs Jahre tauscht er seinen Porsche Cayenne gegen einen neuen aus. An den Wochenenden mietet er eine Hütte im Wald und fährt alleine Langlaufski. In der Stadt bewohnt er eine 250-Quadratmeter-Wohnung, die noch nicht abbezahlt und ohne großen Luxus eingerichtet ist. Auf dem Sofa mummelt sich der Millionär in eine Ikea-Decke und liest Sorokin, Pelewin oder Flaubert. 

    Das einzige, wofür er abgesehen vom Geschäft bereit ist, Millionen auszugeben, ist das Reisen. Seine Frau erinnert sich gerne daran, wie sie 2018 in der Karibik am Strand neben Penelope Cruz und Javier Bardem gelegen haben. Ein Jahr später machte die Familie Urlaub auf den Seychellen – auf der teuersten Privatinsel der Welt, North Island. Die Insel bietet Platz für maximal 22 Besucher. Auf Booking.com liegen die Preise für eine Übernachtung in einer Villa auf North Island zwischen acht- und zehntausend Euro. 

    Eine EuroSpar-Filiale in Moskau. Für die Handelskette mit Sitz in den Niederlanden führt Schkurenko das Russland-Geschäft / Foto © Imago 

     

    „Das Land hat einen Fehler begangen“ 

    Drei Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine, am 21. Februar 2022, postete Schkurenko ein Foto von einer Ziegelsteinmauer mit einer Antikriegslosung auf Instagram

    Zwei Jahre später kann man in Russland für solche Posts und Kommentare in den sozialen Medien eine Haftstrafe bekommen: bis zu 15 Jahre Straflager. Wie zum Beispiel der Renter Michail Simonow, der für seine Posts auf VKontake sieben Jahre wegen „Diskreditierung der Armee“ hinter Gitter sitzt. Doch Schkurenko glaubt weiterhin an das Gesetz und hat nicht vor, etwas zu löschen: „Das ist weder eine Diskreditierung der Armee noch eine öffentliche Antikriegsaktion. Das war noch vor Beginn der Spezialoperation. Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen. Sie müssen die Gesetze genau lesen! Sie werden nichts finden!“ 

    Als der Krieg ausbrach, war Schkurenko besorgt, aber er war gleichzeitig sicher, dass sein Business das überstehen würde. Und er sollte recht behalten. Nach dem Februar 2022 hat sich für ihn nichts verändert, nur „dass das Geld jetzt zwei Tage unterwegs ist anstatt fünf Minuten“. Auch seine persönliche Haltung ist gleich geblieben: „Ich bin Humanist. Ich halte das für einen Fehler, damals wie heute. Sowohl wirtschaftlich als auch menschlich. Das Wichtigste für ein Land ist das menschliche Kapital, nicht Territorium. Man hätte die Spezialoperation nie beginnen dürfen. Am 24. Februar 2022 hat unser Land meiner Meinung nach einen Fehler begangen!“ 

    Nicht alle seine Mitarbeiter teilen seinen Standpunkt. „Es gibt Leute, die das ganz anders sehen“, sagt der Unternehmer. „Mein Filialleiter hat sich zum Beispiel ein Z auf sein Auto geklebt. Er hat mich mit diesem Auto herumgefahren, beim Abendessen haben wir gestritten … Ich diskutiere auch jetzt noch manchmal mit dem einen oder anderen in der Kantine. Aber ich würde niemals auf die Idee kommen, deswegen jemandem zu kündigen oder sein Gehalt zu kürzen.“ 

    Mit seinem Geschäftspartner Dimitri Schadrin spricht er seit fünf Jahren nicht mehr über Politik. Auch der habe eine „andere Meinung zur Spezialoperation“. Schadrin, ehemaliger Abgeordneter im Stadtparlament von Omsk und in der gesetzgebenden Versammlung der Partei Einiges Russland, leitet heute die Vereinigung der unabhängigen Handelsketten in Russland (Sojus nesawissimych setej) und unterstützt das Vorgehen der Machthaber. 

    „Ob er mein Freund ist? Ich bin 52 Jahre alt, ich brauche keine Freunde!“, erklärt Schkurenko. „Er ist mein guter Bekannter und Geschäftspartner. Manchmal feiern wir unsere Geburtstage zusammen.“ 

    Schadrin selbst wollte sich nicht äußern und hat gebeten, nichts über ihn zu schreiben. 

    „Ich habe eine negative Einstellung zum Staat, aber ich lebe damit, dass meine Steuern in die Verteidigung fließen, denn in erster Linie bin ich Unternehmer“, sagt Schkurenko. „Das ist meine Selbstverwirklichung. Das ist mein erstes, zweites und zehntes Ich. Ich habe nicht vor, irgendwo hinzugehen, ich arbeite hier, ich lebe hier, ich liebe dieses Land. Wenn ich aufhören würde, Steuern zu zahlen, wäre ich kein Unternehmer mehr. Das wäre, als würde ich aufhören zu atmen.“ 

    Durch Staatsaufträge erwirtschaftet Schkurenko Hunderte von Millionen von Rubel, aber insgesamt machen sie kaum mehr als ein Prozent seines Gesamtumsatzes aus. Einem der Geschäftsführer der Handelskette zufolge sind das kleine Aufträge: Sie versorgen regionale und kommunale Krankenhäuser mit Butter, Milch und Quark. 2021 stattete Schkurenkos Firma die für 1.650 Personen ausgelegte Kantine des neuen Universitätsgebäudes mit Backöfen, Kühlschränken und Arbeitsplatten aus, erzählt uns Alexander Kostjukow, Jurist und Vizerektor für Bauwesen an der Staatlichen Universität Omsk. 

    „Wir sind in der Lebensmittelbranche tätig“, erklärt Schkurenko. „Der Staat schreibt die Aufträge aus, meine Mitarbeiter bewerben sich. Ich habe keinen Einfluss auf die Entscheidungen. Sie können Waren an den Staat verkaufen oder nicht, ich sage bei den Besprechungen nicht: ‚Macht keine Geschäfte mit dem Staat‘. Wenn man mir diese Aufträge plötzlich entzieht, habe ich kein Problem damit. Ich habe nicht vor, ihre Zahl zu erhöhen und mich in diese Richtung zu entwickeln.“ 

     In jedem Geschäft in Russland hängt so eine Tafel, an der Kunden Informationen über das Unternehmen einsehen können / Foto © Holod
    In jedem Geschäft in Russland hängt so eine Tafel, an der Kunden Informationen über das Unternehmen einsehen können / Foto © Holod

    „Ich würde nie einem Obdachlosen 100 Rubel geben“ 

    Für Schkurenko steht, wie er selbst sagt, sein Unternehmen stets an oberster Stelle. Den Teamgeist seiner Mitarbeiter zu stärken, zahlt sich ebenfalls aus. Auf die weithin bekannten Betriebsfeiern seines Handelsunternehmens, die Schkurenko seit über 20 Jahren organisiert, will er auch angesichts der „Militärischen Spezialoperation“ nicht verzichten. In der Oblast Omsk nennt man sie „jährliche Orgien“, „verrückte Teekränzchen“, „Feste der absoluten Freiheit und Toleranz“. Tausende Mitarbeiter aus acht Regionen, in denen der Omsker aktiv ist, feiern mit, und das Budget für die Party beträgt 20 Millionen Rubel (etwa 186.000 Euro – dek). 2023 kamen die Feiern zum Tag der Stadt Omsk mit einer kleineren Summe aus: 18 Millionen Rubel.          

    Für Schkurenko kommt es gar nicht in Frage, dieses Geld an Arme, Flüchtlinge oder politische Häftlinge zu verteilen: „Wohltätigkeit ist für mich Totschka rosta (dt. Wachstumspunkt), ein Wettbewerb für Dorfschulkinder, die Unternehmer werden wollen. Den finanziere ich. Aber ein Obdachloser wird nie 100 Rubel von mir bekommen!“ 

    Schkurenko behauptet, noch nie auf der Straße Almosen gegeben zu haben. Bekannte von ihm erzählen allerdings, er habe anderer Leute Geldstrafen wegen Demonstrationen oder Äußerungen gegen den Krieg beglichen und an ein Hilfsprojekt für politische Gefangene gespendet. Sie räumen aber auch ein, dass das alles Peanuts für ihn sind. Schkurenko weicht diesem Thema aus.  

    „Ich helfe nur den Starken! Denen, die jung und begabt sind. Den Schwachen gebe ich nichts. Wieso sollte ich, wem bin ich das schuldig?! Ich zahle ja Steuern. Alles andere ist Aufgabe des Staates! Ich verdiene seit vielen Jahren jede Kopeke aus eigener Arbeit, und ich werde dem Staat die sozialen Probleme nicht aus der Hand nehmen. Ich hasse Paternalismus! Und für meine Mitarbeiter veranstalte ich tolle Partys.“  

    Kritische Stimmen, die anonym bleiben wollen, wissen wiederum nichts von seinem Engagement für politische Gefangene, erwähnen aber, dass er Abgeordnete und Beamte protegiert. 2017 etwa zahlte er die Konkursschulden von Alexej Sajapin, einem Abgeordneten der Partei Einiges Russland im Stadtrat von Omsk.  Und 2019 klagte er die Schulden von Wjatscheslaw Tarassow ein, der damals Verwaltungsleiter des Bezirks Tewris in der Oblast Omsk war.  

    Schkurenko sagt hingegen, er habe nie Omsker Beamte gesponsert, sondern nur Unternehmern unter die Arme gegriffen, die er persönlich kannte. Das macht er auch jetzt noch. „Es gibt viele, denen ich was leihe, ja“, sagt er. „[Dem Unternehmer Viktor] Skuratow hab ich 500 Millionen geliehen (etwa 4,6 Millionen Euro – dek), das wissen alle. Na und? Der zahlt mir irre Zinsen.“ Er erkläutert: ‚Irre’ ist immer mehr als das Deposit. Vor ein paar Jahren hat er zum Beispiel einen Kredit mit 18 Prozent Jahreszinsen vergeben.  

    „Wenn mich jetzt ein Gouverneur um einen Kredit für einen guten Zinssatz bitten würde, ich würde nicht nein sagen“, sagt Schkurenko, fügt aber hinzu, dass keine Beamten an ihn herantreten, sondern Geschäftsleute. „Tarassow hab ich Geld geliehen, weil er eine Molkerei besitzt. Nicht viel, drei Millionen Rubel (etwa 27.800 Euro – dek), außerdem ihm persönlich und nicht seiner Firma. Auf die Firma wollte er keinen Kredit aufnehmen. Anfangs zahlte er mir Zinsen, dann hörte er auf. Fünf Jahre hat er das Geld nicht zurückgezahlt. Als er Verwaltungsleiter wurde und wir immer noch nicht quitt waren, hab ich ihn verklagt. Hab sogar verloren, wenn ich mich recht erinnere, weil es verjährt war. Das Geld hab ich also nicht mehr gesehen. Dafür sitzt er jetzt im Gefängnis.“  (Der Politiker wurde im März 2022 wegen schweren Betrugs zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt – dek).            

    Schkurenko sagt, für ihn sei auch Sajapin nur ein Unternehmer, mehr nicht. „Er ist kein Staatsbediensteter, er war Abgeordneter im Stadtrat, das ist er jetzt nicht mehr. Er ist absolut kein einflussreicher Mann, er hatte eine Firma, die mit Computertechnik handelt. Und dann war er bankrott, ja. Ich hab ihm tatsächlich geholfen, habe seinen Kredit abgelöst, er hat ihn dann von mir zurückgekauft. Warum ich das gemacht habe? Er hat sich an mich gewandt und um Hilfe gebeten. Ich kenne ihn gut, wir haben schon zusammen Wanderungen gemacht und Wodka getrunken. Wieso sollte ich ihm nicht helfen?“ 

    „Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“ 

    Bei den jährlichen Betriebsfeiern, wo auch schon mal eine Drag-Show, Ritterspiele und Crash-Tests mit Bürotechnik auf dem Programm standen, ist Schkurenko auch persönlich mit von der Partie. Er verbringt die Nacht mit seinen Angestellten, verweigert niemandem ein Selfie oder einen Trinkspruch. Mal kommt er, in einen schwarzen Umhang gehüllt, auf einem Rappen geritten, mal in einem rostigen, mit Graffiti vollgesprühten Shiguli angefahren. 2022 ließ er sich von vier Bodybuildern mit nackten, goldbemalten Oberkörpern auf einem Thron hereintragen. Auf der Bühne erwartete ihn bereits Iwan Urgant. 

    Eine Woche nach dieser Veranstaltung zog der Talkmaster Wladimir Solowjow gegen den Omsker vom Leder. Er nannte Urgant eine „Kackwurst im Eisloch“ und Schkurenko eine „Schande für Omsk und ganz Russland“. Einen Monat später kam Solowjow noch mal auf den Geschäftsmann zurück und zog ihn fünf Minuten lang live auf Sendung als „regionalen Schweinehund und Kotzbrocken“ durch den Dreck. „Noch dazu schnappt er sich den Namen Pobeda (dt. Sieg)“, sagte Solowjow, bezugnehmend auf eine von Schkurenkos Handelsketten. „Steht er schon vor Gericht? Ist seine Firma schon bankrott? Alle 2.500 Deppen (damit sind die Gäste der Betriebsfeier gemeint – Anm. Holod) wandern schnurstracks an die Front, wenn sie auch seiner Meinung sind. Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“                 

    Für die Unterstützung von Urgant wurde Schkurenko auch vom Regisseur Nikita Michalkow angegriffen. Und der Vorsitzende der Moskauer Abteilung des Verbraucherschutzvereins, Jewgeni Tschirwin, wetterte: „Ein Verräter unterstützt einen Verräter und ist auch noch stolz darauf, das ist unverzeihlich!“ Russlands Urteil über Schkurenko sei gefallen. Tschirwin rief die sibirische Bevölkerung zum Boykott seiner Läden auf, Schkurenko solle von ihnen keinen Rubel mehr kriegen.  

    Eine anonyme Anzeige, ein Besuch von der Polizei und 5.000 Rubel Strafe (etwa 46 Euro – dek) wegen Ruhestörung standen am Ende dieser Geschichte. Der Boykott kam nicht zustande. Der Gesamterlös der Holding wuchs innerhalb eines Jahres in Rubel um zehn Prozent, auch der Einzelhandel erzielte ein Plus, und der Gewinn der Café-Kette Skuratov Coffee, in die Schkurenko investiert, ist um 50 Prozent gestiegen.  

    „Ich habe kein Gesetz übertreten, und wenn ich jemandem auf den Schlips getreten bin, dann ist das nicht mein Problem“, kommentiert Schkurenko die Kritik. „Ich bin gegen Wolodin und alle Gesetze, die sie da der Reihe nach beschlossen haben, aber formell hab ich kein Gesetz gebrochen, insofern sind meine Handlungen nichts Außergewöhnliches. Ich will weder Gouverneur werden noch Bürgermeister oder Abgeordneter. Von mir geht keinerlei Bedrohung aus. Ich trete mit niemandem in Konkurrenz. Gut, vor 20 Jahren hab ich mal meine Steuern nicht gezahlt, aber jetzt zahle ich alles. Sogar in Russland braucht es einen formellen Grund für ein Strafverfahren. Und eine Geldstrafe kann ich ja berappen, wenn nötig.“                           

    Seine Unabhängigkeit, sagt eine Auskunftsperson (ein Oberstleutnant des FSB im Ruhestand Anm. Holod), komme Schkurenko bestimmt teuer zu stehen. „In den Anfangsjahren war ein FSB-Oberst Teilhaber an einer seiner Firmen“, sagt er. „Die Jungs [Schkurenko und Schadrin] hatten eine kryscha und keine nennenswerten Probleme. Das ist eine wichtige unternehmerische Kompetenz: der Zeit und den Möglichkeiten entsprechend für die eigene Sicherheit zu sorgen. Das haben alle gemacht. Schkurenko hat hundertprozentig auch heute noch eine kryscha. Da war zuerst der Oberst, dann noch ein zweiter, und jetzt ein Moskauer General.“ In der Wirtschaftsdatenbank Spark konnte Holod keine Hinweise auf einen eventuellen dritten Teilhaber finden.    

    Schkurenko sagt, seit Jelzins Erlass über die staatliche Strategie zur wirtschaftlichen Sicherheit im Jahr 1996 hätten er und seine Unternehmen „keine kryscha mehr gehabt und auch keine derartigen Angebote erhalten“. „Wir haben keine FSB-Männer und keine Oberste als Teilhaber, hatten wir nie!“, braust er auf. „Aber sollen sie doch glauben, was sie wollen! Na klar, der FSB wird mich beauftragt haben, für Nadeshdin zu unterschreiben und seine Partei zu sponsern. Auch Urgant habe ich unter seiner Fuchtel eingeladen, und Vertrauensmann von Präsidentschaftskandidatin Xenija Sobtschak bin ich auch auf FSB-Befehl geworden …“ Schurenko fängt beinah an zu brüllen. 

    Quellen aus Unternehmertum, Beamtenschaft und Medien sind sich einig, dass Schkurenkos Sicherheit erstens durch seinen Respekt vor dem Gesetz und zweitens durch seine Steuern gewährleistet ist. „Ich bezweifle, dass er überhaupt so etwas wie eine kryscha hat“, sagt Oleg Malinowski, der Chefredakteur von RBK Omsk, der Schkurenko als einen der wichtigsten Schlagzeilenhelden der Region schon lange kennt. „Das Einzige, was ihn schützt, ist sein kluger Kopf. Er ist einer der stärksten Steuerzahler, der Staat profitiert ziemlich von ihm. ’Seine kryscha ist also der Staat selbst, ob es ihm gefällt oder nicht.“ 

    „Ich mache überall in Russland Geschäfte und hänge nicht von den lokalen Behörden ab. Wenn sie mir hier blöd kommen, gehe ich eben woandershin. Lasse alles liegen und ziehe mit meinem Geld in eine andere Region.“ Das Gerede davon, dass er von irgendwem protegiert werde, bringt Schkurenko in Rage. „Hinter meinem Business steht keiner außer mir!“ 

    Ein Jahr nach dem Skandal mit Urgant bat Schkurenko 2023 seine Mitarbeiter, als Märchenfiguren verkleidet zur Betriebsfeier zu kommen. Er erklärte die Party zur Hommage an die TV-Sendung Proisschestwije w strane Multi-Pulti (dt. Ein Vorfall im Land Multi-Pulti) mit Iwan Urgant, Alexej Serebrjakow und Alexander Gudkow. Sie alle haben sich auf die eine oder andere Weise gegen die „Spezialoperation“ geäußert. Kurz vor Jahresende wurde die Sendung ohne offizielle Begründung aus dem Programm gestrichen.  

    Schkurenkos Angestellte erzählen, ihr Chef habe während dieser Feier in der Lastschale eines Hebekrans hoch über der Menge geschwebt. Er trug eine orangenfarbene Perücke und einen schwirrenden Propeller auf dem Rücken. Dreitausend Leute begrüßten ihn mit Jubel und Applaus. „Ich bin heute Karlsson vom Dach!“, schrie der Boss ins Mikrofon. „Zuerst wollte ich mich als Hahn von den Bremer Stadtmusikanten verkleiden, doch das wäre für Solowjow ein gefundenes Fressen gewesen!“      

    NATO-Träume 

    Schkurenko postet seine Ansichten regelmäßig auf Instagram, das in Russland verboten ist – mehrmals im Monat. Seit dem Februar 2022 empfiehlt er den neuen Song des DDT-Leaders Juri Schewtschuk und posiert vor der Skulptur Net wojne (dt. Nein zum Krieg), die mit ebenjener Phrase auf dem Sockel in Novosibirsk steht. Er dokumentiert seine eigenen „Gespräche über das Wichtige“, nämlich wie er auf einem Feriencamp mit den Kindern über Humanismus und Freiheit sprach. Er präsentiert, wie er auf die Auszeichnung des „ausländischen Agenten“ Memorial mit dem Friedensnobelpreis ein Gläschen Calvados hebt. Und er schlägt vor, die nächste Versammlung des Sicherheitsrats der Russischen Föderation in der Tretjakow-Galerie vor dem Bild Apofeos wojny (dt. Apotheose des Kriegs) von Wassili Wereschtschagin abzuhalten. 

    Die Kommentare unter Schkurenkos Posts sind unzensiert. Die Einen unterstützen und feiern seinen Mut, die Anderen beschimpfen ihn wüst und hetzen ihm die Staatsanwaltschaft auf den Hals. 

    „Ich bin gegen jede Zensur: im Internet, im Krankenhaus, in der Bibliothek“, sagt er. „Gegen die Todesstrafe, gegen das Verbot von Abtreibung, Meinungsfreiheit und kreativer Selbstverwirklichung … Es macht mich fertig, dass man für einen Kommentar im Gefängnis landen kann, dass Regisseure verhaftet und Künstler unter Druck gesetzt werden! Dass Berkowitschs Theaterstück mit der Goldenen Maske ausgezeichnet wird, monatelang aufgeführt wird und dann plötzlich ein ominöser Experte auftaucht, der darin eine Rechtfertigung von Terrorismus sieht!“ 

    Schkurenko wollte Kirill Serebrennikows Ballett Nurejew sehen, doch während er noch den Flug plante, wurde es bereits verboten. „Die Duma diskreditiert sich mit ihren Initiativen selbst, trifft immer noch üblere Entscheidungen. Es ist unfair und tragisch, aber da kann man jetzt nichts machen. Man kann nur zusehen. Und den Menschen zeigen, dass es auch anders geht.“ 

    „Es ist immer noch mein Land“, sagt der Unternehmer. „Aber nicht meine Regierung. Der russische Patriotismus trägt den Abdruck eines Kampfstiefels. Deswegen muss man vorsichtig sein. Aber man darf nicht aufhören, kreativ zu sein, sich in äsopischer Sprache zu äußern. Und ich werde in Metaphern sprechen, um nur ja kein Gesetz zu brechen. Um auf alles gefasst zu sein.“      

    Schkurenko hat Respekt vor „den Stärksten“, vor jenen, die „sich in die Schlacht warfen“ wie Solschenizyn und Pasternak. „Aber außer ihnen gab es noch Tarkowski und Andrej Smirnow, die äußerlich buckelten, aber in ihrem Inneren brodelte es. Als Gorbatschow kam, gingen wir alle auf die Straße, um ihn zu unterstützen. Und wenn eine neue Regierung kommt, werden wir wieder draußen stehen.“ Schkurenko glaubt an die Unausweichlichkeit eines Wandels. „Wir sind ein europäisches Land, und das, was bei uns jetzt passiert, ist widernatürlich. Ich bin überzeugt, dass wir wieder mit Europa kooperieren werden. Dass Russland eines Tages der NATO beitritt. Das wäre mein Traum! Weil wir dann weniger für die Rüstung ausgeben müssten und mehr Geld für Bildung da wäre. Ich warte einfach darauf.“

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