Abgesang auf Europa: Nach dem illegalen Referendum in Katalonien kündeten einige Kommentatoren in staatlichen russischen Medien vom nahenden Ende der EU – sie zerfalle bald, wie auch einst die UdSSR zerfallen sei.
Derartiges Medien-Echo hält Andrej Archangelski für „Propaganda unterm Deckmantel des Journalismus“. Auf Republic argumentiert er gegen solche Vergleiche und Untergangsszenarien – und für Europa.
Das Referendum in Katalonien – wie eigentlich jede Krise in Europa, den USA oder der Ukraine – gibt der russischen Propaganda so etwas wie ihren Lebenssinn. Die Intonation der Staatsmedien wird in den letzten Jahren mehr und mehr Teil des Know-how: Man hat gelernt, jede Wunde aufzukratzen, aufzureißen und die Einzelheiten des fremden Fehltritts, der fremden Tragödie auszukosten. Und das alles unter dem Deckmantel der „objektiven Berichterstattung“ oder gar des „Mitgefühls“ .
Mitte August brachte der Moderator einer Radiosendung bei Vesti FM einen Mitschnitt vom grauenerregenden Geschrei der Menschen, die während des Terroranschlags von Barcelona in Panik auseinanderstoben, und kommentierte sie mit den Worten: „Hört her, so klingt das wundervolle Europa.“ Am 3. Oktober fragte eine andere Moderatorin des Senders den Sportkommentator: „Sagen Sie, wenn sich Katalonien abspaltet, unter welcher Flagge nimmt es dann an der Fußball-WM teil?“ Die Unschuld und das Alltägliche dieser Phrase vermittelt einzig die Botschaft: „Wir hätten gern, dass es so ist.“ So war es schon beim Referendum in Schottland, während der Wahlen in den USA, in Frankreich und den Niederlanden und erst recht während der Flüchtlingskrise.
Propaganda unterm Deckmantel des Journalismus
Das ist Propaganda auf niedrigstem Niveau, unter dem Deckmantel des Journalismus. Ihr Überbau ist die „Analytik“, die dem Gefühlsausbruch den Anschein von Argumentation und Tiefsinn verleihen soll. Eine ihrer grundlegenden Thesen sieht heutzutage so aus: „Die EU wiederholt das Schicksal der UdSSR.“ Auf diesem Vergleich gründen alle möglichen „Beweise“ für einen „Zerfall der Europäischen Union“ und das Referendum in Katalonien als seinen ersten Vorboten.
Der Politikexperte Fjodor Lukjanow zum Beispiel sagte in einem Radiokommentar zu den Ereignissen, das Geschehen in Katalonien erinnere an die „Zeiten der späten Sowjetunion mit seinen Souveränitätsparaden“. Ein anderer Fernsehkopf und Dauergast in analytischen Talkshows, Vitali Tretjakow, beruft sich auf Zahlenmagie als Argument: „Sie [die Staatenbündnisse] haben eine Lebenserwartung von 50 bis 70 Jahren, das zeigt die Geschichte, doch genauer ausführen will ich das jetzt nicht. […] Beobachten können wir das anhand der Europäischen Union, deren letztes Jahrzehnt jetzt läuft.“
Vermeintliches „Naturgesetz“: Imperien zerfallen
„Imperien zerfallen“, so schlussfolgern die Propagandisten nach dem katalanischen Referendum und wollen uns damit weismachen, das seien „Naturgesetze“ und „erst der Anfang“. „Die UdSSR war ein Imperium, und alle Imperien zerfallen, also wird auch die EU auseinanderfallen.“
Der Vergleich der EU mit einem Imperium gründet auf dem Prinzip der äußeren Ähnlichkeit: Das Wort „Imperium“ assoziiert man schlicht mit etwas, das größer ist als ein Staat. Die EU besteht, wie einst die UdSSR, aus vielen Nationen; Entscheidungen werden zentral getroffen (Brüssel); sie umfasst ein Territorium, das durch wirtschaftliche Verbindungen und eine gemeinsame Idee geeint ist – scheint alles logisch, doch die Analogie bröckelt schon beim ersten kritischen Blick. Allein die Größe der Union bedeutet noch lange nicht, dass es keine Alternative zu einem Beziehungstyp des Imperiums gibt.
Ein Imperium ist in erster Linie ein System von Beziehungen zwischen Souverän und Vasallen, zwischen Metropole und Peripherie – etwas, das auf Europa so gar nicht zutrifft, allein, wenn man bedenkt, wie sehr sich die politischen Prozesse in Polen von denen in Griechenland oder eben Spanien unterscheiden. Die „Souverän-Vasallen-Beziehungen in Europa“ existieren nur in den Köpfen der Propagandisten, die sich sicher sind, dass die EU „nach deutsch-französischer Pfeife tanzt und Deutschland und Frankreich nach der US-amerikanischen“.
UdSSR war „Kompromiss auf Zeit“
Vielmehr ist der Gebrauch des Wortes „Imperium“ auch in Bezug auf die Sowjetunion nicht korrekt. Nur ihre Gegner verwendeten diese Bezeichnung, und das metaphorisch (so bezeichnete zum Beispiel Reagan die UdSSR als „Imperium des Bösen“). Die Sowjet-Ideologen selbst wären angesichts dieser Formulierung höchst erstaunt gewesen.
Das sowjetische Projekt war von Grund auf ein überweltliches, internationales Projekt, über allen Grenzen und vor allem über allen Ideen des „Nationalen“ stehend – genau das war das Universelle an der kommunistischen Idee; in dieser Logik war die UdSSR nur ein „Kompromiss auf Zeit“ bis zum endgültigen Sieg des Kommunismus.
Zu all dem schweigt man im heutigen Russland lieber; sogar wenn über das hundertjährige Jubiläum der Revolution gesprochen wird, spricht man über alles, nur nicht über die damalige Ideologie. Das ist kein Zufall. Im Russland von 2017 gilt die UdSSR fast schon offiziell als „Reinkarnation des Tausendjährigen Reiches“, und wenn man von ihrem Zerfall redet (der sich schlecht leugnen lässt), setzt man den Akzent auf den Zerfall des Territoriums und nicht auf den Zusammenbruch der Ideologie.
1991 zerbrach eine Utopie, nicht nur eine Union
Und das ist die hauptsächliche Verfälschung. 1991 zerfiel nicht einfach nur eine Union, sondern es zerbrach eine Jahrhunderte währende Utopie der gesamten Menschheit – der Traum von der Errichtung des Paradieses auf Erden, von einer gerechten Gesellschaft. Das grandiose Experiment endete mit einem Zusammenbruch, die Utopie entpuppte sich als historische Sackgasse (dabei hatte sie lange Zeit viele Menschen auf der Welt inspiriert).
Die Utopie war gescheitert, weil ihr wichtigstes Werkzeug – der Zwang, gegenüber dem Individuum und gegenüber den Gesetzen der Wirtschaft – sich schließlich als ineffektivste Art der Steuerung erwies. Heute ist dieser Erinnerungsblock zuverlässig gelöscht – sowohl aus dem Gedächtnis der Massen als auch aus dem der Fachleute, und zwar mit Hilfe von eben jenem Fernsehen und jener Propaganda. Dabei wäre noch in den 1990er Jahren niemand auf die Idee gekommen zu fragen, warum die UdSSR auseinandergebrochen war – die Menschen hatten einfach keinen Sinn mehr gesehen in den übermenschlichen Anstrengungen zugunsten eines mythischen Morgen.
Selbst Brexit hebt EU-Prinzipien nicht auf
Nichts von dem sehen wir heute in der Europäischen Union, weder einen Zusammenbruch der Wirtschaft noch der Ideologie (soweit sie im Falle der EU überhaupt existiert). Natürlich gibt es Probleme und sogar Krisen; aber selbst ein hypothetischer Zerfall hebt, wie der Brexit gezeigt hat, nicht die zugrundeliegenden ethischen und politischen Prinzipien der Mitgliedsstaaten auf – die Achtung der Persönlichkeitsrechte und Freiheiten der Bürger.
Die als Analytik getarnte Propaganda übermittelt dem Kreml genau das, was er gerne hören möchte: „Europa steht kurz vor dem Kollaps.“ Das Problem dabei ist, dass der Kreml beginnt, selbst an diese Utopie zu glauben, und danach seine Berechnungen anstellt. Die Fehlerhaftigkeit dieser „geopolitischen Analyse“ hat sich bereits mehr als einmal erwiesen: im Falle der Ukraine (mit der angenommenen Spaltung in einen pro-westlichen Westen und pro-russischen Osten) oder im Falle der USA (Trump wird schon aufräumen). Der zentrale Irrtum der kremlnahen „Analytiker“ ist der, dass die Ereignisse in Katalonien oder die „rechte Revanche“ in Europa in Wahrheit keine Rückkehr zur alten Weltordnung darstellen, sondern eine Spiegelung völlig neuer Prozesse, deren Kern die Suche nach einer neuen Identität ist.
EU auf der Suche nach einer neuen Identität
Eine neue globale Existenzkrise nach dem Zusammenbruch von Ideologien kann, wie schon Samuel Huntington im Kampf der Kulturen schrieb, verschiedenste Formen annehmen; um sich zu schützen, krallt sich der Mensch alles, was gerade zur Hand ist – Nationalität, Rasse, Religion, Territorium.
Aber diese Konzepte spielen jetzt eine ganz andere Rolle – sie stellen den Menschen in den Vordergrund, arbeiten seiner eigenen Identität zu. Das bedeutet keine Rückkehr zur alten Ordnung und den einstigen Konzepten, sondern, im Gegenteil, die Suche nach einer neuen Sprache und Lebensform, die durch die alten Formen hindurch aufkeimt.
Die Welt verändert sich tatsächlich vor unseren Augen, und die Ereignisse in Europa bestätigen das. Aber ihre Konsequenz wird die – zuweilen beschwerliche – Herausbildung einer neuen Identität sein, die die gegnerischen Parteien versöhnen und unter neuen Voraussetzungen alle Akteure der heutigen politischen und weltanschaulichen Kämpfe mit einschließen wird.
Allerdings, wenn in Europa am Ende eine solche neue Identität gefunden wird, dann sicher nicht mittels einer Rekonstruktion der Vergangenheit. Sondern mit Hilfe einer ehrlichen und gleichberechtigten Diskussion zwischen allen Teilnehmern am Drama.
Heftige Debatten um ein neues Bildungsgesetz in der Ukraine: In Schulen soll ab der fünften Klasse Ukrainisch die Unterrichtssprache sein. Das betrifft in erster Linie die Schulen der Minderheiten, die dann ab der fünften Klasse nur noch die eigene Geschichte oder Literatur in ihrer jeweiligen Sprache lehren dürfen. So will es ein neues Bildungsgesetz, das derzeit für heftige Diskussionen sorgt – nicht nur in den Nachbarländern, sondern auch im Inland.
Hauptargument der Bildungsreformer ist, dass viele Absolventen der Minderheitenschulen nicht ausreichend gut Ukrainisch könnten, um dann an einer ukrainischen Hochschule zu studieren.
Doch vor allem Russisch ist in der Ukraine stark präsent: Je nach Fragestellung geben in unterschiedlichen Umfragen 30 bis 40 Prozent der Ukrainer das Russische als ihre Muttersprache an. Die Frage, ob man Russisch oder Ukrainisch spricht, ist allerdings mehr und mehr ein Politikum – angesichts von Ideen wie Russki Mirund spätestens seit der Angliederung der Krim an Russland und dem Krieg in der Ostukraine.
Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti titelte sogleich „Russisch wird aus den Schulen vertrieben“, doch auch in anderen Nachbarländern wie Ungarn regt sich heftiger Protest. Der ukrainische Minderheitenbeauftragte Wadim Rabinowitsch postete einen Kommentar auf Facebook, in dem er Präsident Poroschenko bittet, das Gesetz nicht zu unterschreiben, da es die Rechte der Minderheiten untergrabe.
Auf Republic begreift Oleg Kaschin das Gesetz als „Abschaffung russischsprachiger Schulen“. Theoretisch dürfen diese allerdings weiter bestehen, müssen aber ab der fünften Klasse hauptsächlich auf Ukrainisch unterrichten.
Kaschin kommentiert, dass die Ukraine mit dem neuen Gesetz nur nach der Logik ihres russischen Gegners handle – und mutmaßt gleichzeitig, ob alles nicht eventuell nur ein schlaues „Manöver“ für weitere Verhandlungen zwischen beiden Ländern sei.
Die angekündigte Abschaffung von russischsprachigen Schulen in der Ukraine – auf das entsprechende Gesetz hat Russland drei Jahre lang gewartet. Es hat darauf gewartet, damit es sagen kann: Seht her, diese Nazis, das ist ein Genozid, eine humanitäre Katastrophe, wir können nicht wegsehen, wir entsenden Truppen, und wenn wir keine entsenden, dann unterstützen wir jede Separatistenrepublik, die dort entsteht, oder helfen selbst, dass welche entstehen.
Russland hat drei Jahre lang auf dieses Gesetz gewartet – vergeblich. Man musste sich mit weniger bedeutenden Vorkommnissen zufriedengeben, darunter frei erfundenen (so die Geschichte vom „gekreuzigten“ Jungen).
Russland hat auf die Nazis geschimpft, mit Katastrophen gedroht, Separatisten unterstützt und ihnen dazu verholfen, ihre Republiken auszurufen, hat, wenn auch heimlich, Truppen entsandt, Soldaten beerdigt – auch das heimlich. Wahrscheinlich ist es selbst darüber erschrocken, was es angerichtet hat. Und ist in diesen drei Jahren sehr viel zurückhaltender geworden. Hat das Wort Noworossija hervorgeholt und wieder vergessen, und als jemandem das Wort Malorossija wieder in den Sinn kam, wurde er offenbar dermaßen zusammengestaucht, dass er es gleich wieder vergaß.
Das Motiv des ,Russki Mir‘ hat sich in der offiziellen Rhetorik erschöpft und ist versickert
Das Motiv des Russki Mir (dt. Russische Welt) hat sich in der offiziellen Rhetorik erschöpft und ist versickert. Über die Banderowzy berichtet nicht mal mehr die Komsomolskaja Prawda. Das Thema Russisch in der Schule ist mittlerweile in Russland selbst ein wunder Punkt – gerade erst wurde ein weiterer Sprachenstreit zwischen Moskau und Kasan durch einen Kompromiss beigelegt, und es war sicher nicht der letzte.
Vor drei Jahren wäre ein Verbot russischsprachiger Schulen in der Ukraine für Russland das Ereignis des Jahres gewesen, ein zweiter Brand von Odessa, und die Propaganda hätte es nicht besonders schwer gehabt, bei den Russen echte und aufrichtige Empörung auszulösen. Wahrscheinlich haben sich die Ukrainer deshalb drei Jahre lang zurückgehalten, damit Russland diese grundlegend verstörende Nachricht mit einer in dieser Situation maximal möglichen Gleichgültigkeit aufnimmt.
In der Ukraine gibt es Landstriche mit einer ungarischen Mehrheit, aber künftig soll nur noch Ukrainisch als Unterrichtssprache erlaubt sein. Das ungarische Außenministerium reagierte mit einem empörten Statement, das rumänische Außenministerium zumindest mit einem Statement, Russland reagierte nicht einmal damit, denn was sollte in diesem Statement auch stehen?
Hätte die Ukraine russischsprachige Schulen vor drei Jahren verboten, wäre es für Russland das Ereignis des Jahres gewesen
Die Beziehungen werden leiden? Bereits geschehen. Wir werden Separatisten unterstützen? Schon passiert. Wir werden Truppen schicken? Sind längst da. Alle möglichen Worte sind bereits gesagt, manches Gesagte ist sogar schon wieder zurückgenommen.
Russland hat das moralische Recht verspielt, die Ukraine für das verabschiedete Gesetz zu kritisieren, mehr noch – Russland scheint dieses Recht nicht einmal mehr für sich zu beanspruchen, dessen Notwendigkeit teils schon vor drei Jahren erschöpft war, teils durch andere außenpolitische Bedürfnisse von Syrien bis Myanmar ersetzt worden ist.
Die Ukraine wiederum hat das moralische Recht auf eine Entrussifizierung der Schulen bekommen und gefestigt – das Verbot russischsprachiger Schulen wird heute als Selbstverteidigungsmaßnahme wahrgenommen, denn die letzten drei Jahre haben gezeigt, dass die russische Sprache, wenn sie nicht eingedämmt wird, Volksrepubliken, burjatische Panzerfahrer und in persona den toten Motorola nach sich zieht.
Russland hat das moralische Recht verspielt, die Ukraine für das verabschiedete Gesetz zu kritisieren
Der Zusammenhang von Sprache und Krieg erscheint derart unbestreitbar, dass sicher auch unter den russischsprachigen Bürgern der Ukraine viele sind, die es gut finden, wenn in den Schulen ihrer Kinder sämtliche Sätze des Pythagoras und Ohmschen Gesetze, jegliche Blütenstempelchen und -fädchen ins Ukrainische übersetzt werden, auch wenn sie es selbst gar nicht können. Sogar in der ATO war die Beteiligung russischsprachiger Ukrainer bekanntlich relativ hoch, und das Thema Schule wiegt, so wichtig es auch sein mag, immer noch weniger als der Krieg.
Selbst wenn die Entrussifizierung der Schulen in Wirklichkeit lange vor dem Krieg geplant war – beweisen kann das heute niemand mehr: Das Gesetz wurde 2017 verabschiedet, der Krieg begann 2014.
Und hier ist das Paradoxe an der ukrainischen Schulreform: Deren Initiatoren gehen quasi davon aus, dass die Frage der russischen Sprache in der Ukraine eine Frage der russisch-ukrainischen Beziehungen ist. Das heißt: Nun ist es die ukrainische Seite, die die alten Kreml-Losungen von dem Russki Mir aufgreift, wonach Russland überall, wo russischsprachige Menschen leben, besondere Interessen hat.
Vor drei Jahren hat Russland versucht, ein Monopol auf die russische Sprache für sich zu beanspruchen, und genau das war die größte Schwachstelle der ganzen Russki-Mir-Rhetorik. Kein Staat der Welt hat die Exklusivrechte an irgendeiner Sprache. Es fällt ja auch, sagen wir mal, Großbritannien nicht ein, die USA zu seinem Interessenbereich zu erklären, nur weil die Amerikaner Englisch sprechen.
Kein Staat der Welt hat die Exklusivrechte an irgendeiner Sprache
Auf einmal ist es nun die Ukraine, die ein Monopol Russlands auf die russische Sprache postuliert. Versteht man die Entrussifizierung als ein Mittel der Verteidigung gegen Russland, dann bedeutet das, dass die Ukraine dem russischen Staat Exklusivrechte auf das Russische zuspricht und Russland als Vaterland all derer anerkennt, die auf Russisch sprechen und denken. Übersetzte man das in die Sprache der Losungen, lautete die getreue Übersetzung: „Russland den Russen“ – etwas, das Russland selbst nie laut aussprechen würde und das Artikel 282 des russischen StGB unter Strafe stellt.
Millionen künftiger Opfer der Entrussifizierung drohen durch eine Lücke zu fallen: zwischen der ukrainischen Vorstellung von Russland als Nationalstaat und dem, was Russland tatsächlich ist. Sie werden sich entweder gezwungen sehen, nach Russland zu gehen, wo niemand auf sie gewartet hat, oder – und das ist wahrscheinlicher – sich damit abfinden müssen, dass die primäre Sprache ihrer Kinder und Enkel Ukrainisch sein wird.
Wieder einmal müssen Menschen, die auf Russisch sprechen und denken, feststellen, dass sie keine Heimat haben und dass die Bewahrung der eigenen Identität ihre Privatsache ist, mehr noch – ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann und den die Mehrheit nicht braucht. Prorussische Kommentatoren (allen voran ehemalige ukrainische „Regionale“ [Anhänger der Partei der Regionen – dek]) drohen mit gesellschaftlichen Ausbrüchen und Protesten, doch das klingt nicht sehr überzeugend – die Wahrscheinlichkeit russischsprachigen Protests ist in der Ukraine momentan ziemlich gering. Der Russki Mir ist und bleibt eine Propaganda-Mär, die nur bei politischer Notwendigkeit aus den staubigen Schränken hervorgeholt wird, so wie es vor drei Jahren geschehen ist. Aber die Russen jenseits der russischen Staatsgrenze werden mithilfe eines still und leise verabschiedeten Gesetzes zu unglücklichen Geiseln gemacht.
Nur ein gewaltiges Мanöver?
Womöglich ist aber gerade diese demonstrative Geiselhaft als Zeichen der Hoffnung zu sehen. Einer riesigen nationalen Minderheit (zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung des Landes) ein grundlegendes Menschenrecht zu entziehen, das ist ein allzu gewaltiges, allzu monströses Projekt – und allzu fragwürdig in Bezug auf seine Realisierbarkeit. Es wirkt mehr wie ein Instrument im Gefeilsche mit Russland, und Anlass für solche Händel hat die Ukraine immer genug.
Mit diesem gewaltigen Manöver hat Kiew sich neuen Raum für Zugeständnisse geschaffen: Bei den nächsten Verhandlungen in Minsk könnte das Thema der russischen Schulen leicht gegen ein Entgegenkommen von russischer Seite eingetauscht werden. Und vielleicht werden wir dann schon morgen offizielle Stimmen aus Russland hören, die von einem weiteren Triumph des Russki Mir sprechen: Die Ukraine nimmt das Verbot russischsprachiger Schulen zurück, und dafür werden die Grenzen in den Donezker und Luhansker Gebieten wiederhergestellt – so oder so ähnlich.
Wenn Dienstältere systematisch junge Soldaten schikanieren, teilweise sogar quälen oder misshandeln, so hat das in Russland einen Namen: Dedowschtschina. Die Dedowschtschina geht zurück bis in die Zarenzeit, doch bis heute legt sich über die konkreten Fälle meist ein Mantel des Schweigens, Betroffene bleiben den Schikanen hilflos ausgeliefert. Das Verteidigungsministerium spricht von einem erfolgreichen Kampf gegen die Dedowschtschina, seit die Wehrpflicht 2008 auf ein Jahr verkürzt wurde.
Wie verbreitet ist die Dedowschtschina in der russischen Armee heute? Für Meduza hat Jewgeni Antonow Zahlen zusammengetragen und mit Menschenrechtlern und Betroffenen gesprochen.
Mit diesen Worten zerrte eines Tages im Dezember 2014 der kleine pummelige Ainur, seit sieben Monaten Wehrdienstleistender in einem Verband bei Nowosibirsk, den frisch einberufenen Georgi in den Trockner – einen Raum zum Trocknen der Soldatenuniformen. „Bist wohl ein Oberschlaumeier und hast was über Kasachstan zu melden?“
Eine halbe Stunde zuvor hatte Georgi gesagt, Kasachstan sei ein Land mit niedrigem Lebensstandard. Mit Ainur, der Kasachstan als seine zweite Heimat bezeichnet, kamen noch zwei weitere Mitsoldaten in den Raum. Sie verdrehten Georgis Arme so, dass er sie nicht mehr rühren konnte. Ainur baute sich vor ihm auf, und, kaum war die Tür zugefallen, da verpasste er dem Neuling „eine Kopfnuss, oder vielleicht war’s auch eine Ohrfeige“, erinnert sich Georgi heute. In seinem Ohr klingelte es. Dann schlug Ainur ihm ein paar Mal in den Magen, in die Nierengegend, packte ihn an den Haaren und sagte, so würde das jetzt jeden Tag ablaufen, wenn er nicht vor versammelter Mannschaft erklärte, dass Kasachstan ein großartiges Land sei.
Ich hatte sogar den Gedanken, dass ich mich umbringen würde, wenn so etwas passiert
Als Georgis neue Armeekameraden den Trockner verließen, befahlen sie ihm, sich bald zu verziehen und der Führung nichts davon zu sagen, „sonst passiert noch was“. Ainur fügte mit einem Lächeln hinzu, er könnte ihn auch „aufschlitzen“. Aufstehen und das Zimmer verlassen konnte Georgi erst nach einigen Minuten – er hatte starke Schmerzen am ganzen Körper, obwohl er „nicht einmal blaue Flecken hatte“.
Die Einheit, in die der junge Mann aus Barnaul im November 2014 kam, war den Erfahrungsberichten im Internet zufolge relativ ruhig. Weil er die Schule schlecht abgeschlossen hatte, hatte Georgi beschlossen, zur Armee zu gehen – wegen der erleichterten Zugangsvoraussetzungen an der Hochschule. Und nachdem er in den Sozialen Netzwerken gelesen hatte, dass in den meisten sibirischen Einheiten „alle Gesetze befolgt“ würden, die Angst vor der neuen Erfahrung legte sich, obwohl eine mögliche Dedowschtschina ihn durchaus nervös machte. „Ich hatte sogar den Gedanken, dass ich mich umbringen würde, wenn so etwas passiert“, erinnert er sich. „Aber als es dann passierte, war mir klar, dass ich leben will. Also beschloss ich durchzuhalten.“
Am nächsten Tag, vor der Bettruhe, erklärte Georgi vor aller Augen, Kasachstan sei das beste Land der Welt. Seine Kameraden nahmen es auf, als wäre das völlig normal: Wie sich herausstellte, war er nicht der erste, der zu solch einer Erklärung gezwungen wurde.
Viele halten eine Reform der Streitkräfte für eine der drängendsten Aufgaben
Im April 2002 erklärte Wladimir Putin in seiner Botschaft an die föderale Versammlung die Verkürzung der Wehrdienstzeit zu einem seiner Hauptziele. Umfragen zufolge hielten die Bürger eine Reform der Streitkräfte für eine der drängendsten Aufgaben der Regierung; die meisten Befragten gaben an, dass sie auf eine Ausmerzung der Dedowschtschina hofften.
Im Juni 2006 unterzeichnete Putin ein Gesetz, das die Dauer der Wehrpflicht von ehemals zwei Jahren auf ein Jahr reduzierte. Der damalige Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow erklärte, diese Maßnahme diene dazu, ernsthaft gegen regelwidriges Verhalten in der Armee vorzugehen und die Kasten der Dedy und Duchi auszumerzen: Großväter, wie die Altgedienten bezeichnet werden, und Geister – Soldaten, die gerade erst einberufen worden sind.
Bald darauf hörte das Verteidigungsministerium auf, Namenslisten von Wehrdienstleistenden zu veröffentlichen, die während der Dienstausübung zu Tode gekommen sind (diese Aufgabe obliegt seitdem der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft). Der letzte Bericht bezieht sich auf die Zahlen des Jahres 2008 und spricht von 471 verstorbenen Wehrdienstleistenden (das sind deutlich weniger als früher: 1996 belief sich die Zahl der außerkriegerischen Verluste der Armee auf über 1500 Menschen, 2005 waren es noch über 1000).
Gleich mehrere Menschenrechtsorganisationen sind sich sicher: Das Fehlen einer Statistik bedeutet nicht die plötzliche Abwesenheit der Dedowschtschina. Georgis Geschichte ist bei weitem nicht die einzige, nicht einmal im Jahr 2014.
Er hatte seine Eltern mehrfach um Geld gebeten, ohne zu verraten, wofür
In der Nacht zum 17. Februar desselben Jahres wurde in einer Einheit bei Chabarowsk der Rekrut Alexej Snakin gefunden, an einem Gürtel erhängt. Während seiner Dienstzeit hatte er seine Eltern mehrfach gebeten, ihm Geld zu schicken, ohne ihnen verraten zu wollen, wofür. Ein Jahr später wurde Major Nikolaj Tschabanow angeklagt, den Rekruten erpresst und ihm gegenüber Gewalt angewendet zu haben. Tschabanow wurde wegen Missbrauchs seiner dienstlichen Kompetenzen zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt.
Im Februar 2016 gelang es Juristen der Menschenrechtsorganisation Prawo Materi, die Anklage umzuwandeln: Das Gericht verurteilte Tschabanow nach demselben Paragraphen zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie.
Als Todesursache wurde akute Gastritis angegeben
Am 14. März 2014 tagsüber kam in der Einheit Jurga im Gebiet Kemerowo der Rekrut Sergej Laptew auf seinem Gefechtsposten ums Leben. Als Todesursache wurden zunächst Herzstillstand und akute Gastritis angegeben – ungeachtet der Erklärungen der Eltern, ihr Sohn habe nie etwas am Magen oder am Herzen gehabt. Sie fochten das Gutachten vor Gericht an, woraufhin es eine erneute Untersuchung gab, bei der die Ärzte einen Durchbruch der Magenwand, eine stumpfe Bauchverletzung und hohen Blutverlust feststellten.
Man verurteilte Iwan Kulagin, einen Dienstkameraden Laptews, zu fünf Jahren Haft nach Paragraph 335 Strafgesetzbuch, der regelwidriges Verhältnisse unter Armeeangehörigen unter Strafe stellt. Die Liste von Fällen wie diesem ließe sich fortsetzen, und sie enden bei weitem nicht alle mit einer Verurteilung. Die existierende Statistik berücksichtigt nur Strafverfahren, die aufgrund eben dieses Paragraphen 335 eingeleitet wurden: 2014 waren es 939 Fälle, 2015 waren es 901.
Die Armee ist eine der geschlossensten Strukturen, die es in Russland gibt
Laut Menschenrechtlern von Organisationen wie Prawo Materi oder Grashdanin i Armija, die mit dem Problem der Gewalt innerhalb der Streitkräfte arbeiten, gibt es im Grunde keine genauen Erhebungen zur derzeitigen Situation beim Militär.
„Die Armee ist eine der geschlossensten Strukturen, die es in Russland überhaupt gibt“, bestätigt auch Georgi und berichtet, dass die Soldaten nicht wirklich wissen, an wen sie sich im Falle einer Unrechtssituation wenden sollen. „Das ist, als würdest du in einem Metallkasten sitzen, der kleine Schlitze hat, aber du kommst da nicht durch. Ich persönlich wusste nicht, zu wem ich gehen sollte, als ich geschlagen wurde. Also bin ich zu niemandem gegangen.“
In jener Einheit in Sibirien verbrachte der junge Mann ein halbes Jahr. In dieser Zeit wurde er vier Mal brutal zusammengeschlagen und musste regelmäßig für Ainur und seine Kumpel Schuhe putzen. Georgi ist der Meinung, Schuld an seinem Leidensweg sei die Illusion gewesen, in Russland gäbe es keine Dedowschtschina: „Wenn ich gewusst hätte, was [in der Armee] los ist, hätte ich eine Möglichkeit gefunden, nicht hinzugehen, oder ich hätte mich wenigstens moralisch vorbereitet. Vielleicht hätte ich einen Selbstverteidigungskurs gemacht.“
Arseni Lewinson, [Jurist bei Grashdanin i Armija – dek], sagt, es komme nicht selten vor, dass Todesfälle vom Militärgericht zu Suiziden oder Unfällen erklärt werden.
Laut einer Statistik von Prawo Materi wurden 2016 42 Prozent aller Todesfälle als Suizid gewertet, 24 Prozent als Unfall (von allen Fällen, die der Organisation aufgrund von Berichten von Angehörigen der Verstorbenen bekannt sind). Viele Straftaten schaffen es nicht in die Statistik, weil die Opfer sie nicht melden, fügt Lewinson hinzu. So ist es meistens bei Prügelattacken, die nicht tödlich enden – die Mehrheit der Einberufenen, so der Menschenrechtler, „hat Angst und schweigt“.
Jewgeni wurde 2010 in die Armee einberufen, im Gebiet Pskow. Der Dienst war ruhig, aber die Führung forderte eiserne Disziplin, erinnert er sich. „Wenn sich jemand gehen ließ, seine Uniform nicht sauber hielt, die Befehle der Führung nicht sofort befolgte, musste die gesamte Kompanie hundert Liegestütze machen. Natürlich hat der Schuldige, wenn so was passierte, sofort Prügel bekommen“, erzählt Jewgeni. „Niemand will für jemand anderen herhalten. Die Führung wusste das und nutzte das aus.“
Jewgeni selbst hat sich nie als Opfer gesehen, obwohl er unmittelbar nach dem Beginn seines Wehrdienstes drei Mal zusammengeschlagen wurde. Ein paar Monate später machte er selbst mit beim Verdreschen seiner Kameraden. „Wir waren immer ganz vorsichtig, sanft“, erläutert der ehemalige Soldat, der mit Meduza nur sprechen will, wenn er anonym bleibt.
Ein paar Monate später machte Jewgeni selbst mit beim Verdreschen seiner Kameraden
„Ich finde immer noch nicht, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe. Beim Militär herrscht eine andere Ordnung, eine andere Wahrnehmung. Was im Zivilleben als barbarisch gilt, kann in einer Einheit weit verbreitet sein“, sagt Jewgeni.
Er unterstreicht, dass er Gewalt gegenüber seinen Dienstkameraden nur angewendet habe, weil es nicht anders ging: „Wir wollten niemanden belehren, wenn wir zuschlugen, wir haben einfach nach den Regeln gelebt, die bestehende Ordnung weitergeführt.“ Wenn er das Wort Dedowschtschina ausspricht, schwingt beinahe so etwas wie Stolz mit.
Verschiedene Experten und Menschenrechtler erklären, der Begriff Dedowschtschina sei im Hinblick auf heutige Straftaten in der Armee – streng genommen – nicht mehr ganz korrekt: Es gehe nur noch selten um eine „Erziehung“ der neuen Rekruten; die traditionellen Kasten der Dedy, Tscherepy, Slony und Duchi können sich seit dem Übergang zum einjährigen Wehrdienst schlicht nicht schnell genug formieren. In vielen Fällen spielt es auch gar keine große Rolle, wie lange der Soldat, gegen den man Gewalt anwendet, schon im Dienst ist.
Arseni Lewinson sagt, die Regelverstöße würden heutzutage andere Formen annehmen: Es würden mehr Straftaten durch höherrangige Militärdienstleistende begangen; Fälle von Erpressung nähmen zu.
Fälle von Erpressung nehmen zu
Jewgeni erinnert sich, dass die Vorgesetzten, wenn die Soldaten sich weigerten, Geld für die Renovierung ihrer Datschen zu sammeln, ihnen die Urlaubsscheine verweigerten oder zusätzliche Dienstschichten aufbrummten, manchmal zertrümmerten sie auch ihre Handys.
Für das Jahr 2016 konnte Meduza in den Medien und anderen offenen Quellen mehrere Dutzend bekannt gewordene Fälle von Erpressung im Wehrdienst finden: Unter Androhung von Gewalt oder Mord wurden von den Rekruten Geld, technische Geräte oder Lebensmittel verlangt. Laut Berichten von Menschenrechtlern beschränkt sich die Erpressung in der Regel auf Summen von 1000 bis 5000 Rubel [umgerechnet etwa 15 bis 70 Euro – dek] pro Woche. Zunächst wird der Rekrut auf seine Zahlungsfähigkeit hin „abgetastet“: Man verlangt Geld und droht ihm mit dem Tod. Wenn er einknickt und das Geld zahlt, wird mehr gefordert.
Auch in Georgis Einheit wurde Geld erpresst: Jede Woche, erinnert sich der Ex-Soldat, haben rund 20 Leute jeweils 200 bis 300 Rubel [umgerechnet etwa 3 bis 6 Euro – dek] an Ainur und seine Jungs gezahlt. „Wenn wir nicht zahlen wollten, brachten sie uns in den Trockner und verprügelten uns“, erzählt Georgi. „Besonders die Eisenstange, die dort aus irgendeinem Grund immer stand, liebten sie: Damit schlugen sie uns in die Rippen und auf die Beine.“ Wenn jemand nicht zahlen konnte, wurde er gezwungen, Ainur und seinen Jungs die Schuhe zu putzen oder ihre Dienstschichten zu übernehmen.
Georgi erinnert sich, dass die größte Summe, die er je auf einmal gezahlt hat, rund 5000 Rubel [etwa 70 Euro – dek] waren, im April 2015, kurz bevor er in eine andere Einheit versetzt und Ainur aus dem Wehrdienst entlassen wurde. Eine verbreitete Praxis, wie die Experten erklären: Vor dem Ende ihrer Wehrdienstzeit sammeln die „Aggressoren“ noch einmal Geld ein; viele verlassen die Armee mit einer ganzen Ausrüstung an teuren technischen Geräten.
Viele Aggressoren verlassen die Armee mit einer modernen technischen Ausrüstung
„Wenn das Militär professionalisiert wird, verschwindet auch die Dedowschtschina“, sagt Veronika Martschenko von Prawo Materi.
Ein Faktor, der das Verschwinden der Dedowschtschina verhindert, ist vor allem die erwähnte Abgeschlossenheit der Armee: Für die Rekruten ist es schwer, auf die Rechtsbrüche in ihrer Einheit aufmerksam zu machen. „Du kannst auf jeder Etappe Probleme bekommen. Selbst wenn es der Rekrut bis zur Sanitätsstelle schafft oder die Schlagspuren fotografiert – sein Fall wird vom Kommandeur derselben Einheit geprüft. Man könnte vermuten, dass der den Fakt des Verstoßes verheimlichen wollen wird“, sagt Lewinson. „Ein nicht unwesentlicher Teil der Jungs, die sich an uns wenden, sind welche, die eigenmächtig da rausgefunden haben.“
Werbeagentur oder Hilfsgruppe für Opfer von Gewalt?
Georgi erinnert sich, wie er einmal einem der Offiziere seiner sibirischen Einheit im Privatgespräch erzählt hat, dass sich Ainur aggressiv verhält und „transnationale Konflikte schürt“. Der Offizier versprach ihm, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, doch das Gespräch blieb ohne Folgen. Seinen Eltern hat Georgi auch nichts erzählt, nur zwei Freunden, die ebenfalls nicht wussten, was er tun könnte.
Georgi sagt, von seinen Bekannten aus der Armee habe er gehört, dass die Situation in seiner ehemaligen Einheit besser geworden sei. „Sie haben plötzlich angefangen, normale Abendkontrollen durchzuführen, vor kurzem wurden ein paar Leute wegen Schlägereien ins Strafbataillon geschickt, und die Führung hat eine strenge Disziplin eingebracht. Vielleicht gab es tatsächlich einen Befehl von oben“, berichtet er.
Er selbst konnte nach sechs Monaten endlich in eine andere Einheit wechseln, nachdem er die Führung „buchstäblich mit Gesuchen überschüttet“ hatte. Georgi wollte zum Psychologen gehen, aber als er dann „an einem normalen Ort war, ließ das nach“. Nach dem Wehrdienst schrieb er sich an der Nowosibirsker Uni ein, brach das Studium aber enttäuscht wieder ab. Jetzt arbeitet Georgi in einer Werbeagentur und denkt darüber nach, eine Hilfsgruppe für Opfer von Gewalt zu gründen. „Ich trage niemandem etwas nach. Ich glaube, es ist passiert, weil es passieren musste“, räsoniert der junge Mann. „Natürlich ist das schlimm, man muss das bekämpfen. Aber um der Dedowschtschina ein Ende zu setzen, muss man wohl selbst da durchgegangen sein.“
Vor allem mit seiner Unermüdlichkeit hat er viel Respekt gewonnen – auch bei seinen Kritikern: der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Allen Versuchen zum Trotz, seine politische Handlungsfähigkeit einzuschränken, eröffnete er ein Wahlkampfbüro nach dem anderen, brachte bei den Anti-Korruptionsprotesten – die auf Recherchen seines Fonds für Korruptionsbekämpfung beruhten – im März und im Juni landesweit Hunderttausende auf die Straßen.
Aus der Haftstrafe, die er deswegen absitzen musste, wurde er vergangenen Freitag entlassen. Es folgten Durchsuchungen zahlreicher Wahlkampfbüros von Nawalny durch die Polizei, seine Anhänger wurden verhaftet, laut offiziellen Angaben gab es allein in Moskau rund 70 Festnahmen. In Krasnodar war es keine Polizei, sondern es waren etwa 20 Personen – offenbar Aktivisten von Otrjady Putina (dt. Putin-Trupp) – die das Wahlkampfbüro verwüsteten und dabei Slogans wie Nasch Putin (dt. Unser Putin) skandierten [s. Video]. Am gleichen Wochenende wurde Putin auf dem G20-Gipfel danach gefragt, was er von Nawalny halte. Putin vermied es in seiner Antwort, den Namen des Oppositionspolitikers überhaupt zu nennen.
Oleg Kaschin fragt sich auf Republic unter anderem: Bedeuten die Polizei-Aktionen, dass der Kreml die Entscheidung über die Nicht-Zulassung Nawalnys zur Wahl bereits getroffen hat?
Rote Punkte kennzeichnen Städte, in denen polizeiliche Durchsuchungen und Festnahmen von Aktivisten stattfanden. Die Briefumschläge markieren Orte, an denen Wahlkampf-Materialien beschlagnahmt wurden. An den mit blauen Punkten gekennzeichneten Orten kam es zu Angriffen durch kremlnahe Aktivisten. Quelle: Meduza
Der gesamtrussische Pogrom gegen die Wahlkampfbüros von Alexej Nawalny lässt Erinnerungen an die Zeiten der Repressionen gegen [Eduard] Limonows [National-Bolschewistische] Partei wach werden: Dutzende verhaftete Aktivisten, durchsuchte Büros, beschlagnahmtes Agitationsmaterial. Gleichermaßen beeindruckend ist, wie flächendeckend und hart der Staat dabei vorging. Sowas wie „Überspitzungen auf örtlicher Ebene“ oder Täterexzesse kann man ausschließen – weil es zu viele Orte, zu viele Täter sind.
Befehl aus den obersten Etagen
Attacken von derartigem Ausmaß sind nur möglich, wenn der Befehl aus den obersten Etagen kommt, und zwar nicht von der Polizei, sondern von der Politik. Wenn man sich vorstellt, dass irgendwo im Kreml regelmäßig Besprechungen zum „Problem Nawalny“ stattfinden, kann man leicht zu dem Schluss kommen, dass die Stimmung bei diesen Besprechungen in den vergangenen Monaten dreimal umgeschlagen ist.
Zunächst setzte man auf die sogenannte „Zivilgesellschaft“, auf staatsloyale Aktivisten, die zwar von der Polizei gedeckt wurden, aber formal eigenständig operieren. Seljonka, Pikets, Schlägereien und Provokationen bei öffentlichen Veranstaltungen – das Standardprogramm der anti-oppositionellen Aktivitäten, das offensichtlich nicht nur dazu gedacht ist, den letzten Nerv zu rauben und die Arbeit zu behindern, sondern auch eine Grundstimmung erzeugen soll, die vermittelt: Wo Nawalny ist, da sind Skandale, Pöbeleien und andere unangenehme Dinge, von denen man sich besser fernhält.
„Wo Nawalny ist, da sind Skandale“
Zum Bruch kam es nach der Seljonka-Attacke, die für Nawalny mit einer Augenverletzung endete – zwischen psychischem und physischem Terror existiert sogar in Russland eine klare Grenze, und die Verantwortung für diese versuchte Verstümmelung trägt mindestens deswegen stillschweigend der Staat, weil die Polizei untätig zuschaute.
Nach der unerwarteten Entscheidung, Nawalny zur Behandlung nach Spanien ausreisen zu lassen, sickerten zahlreiche Informationen durch, der Kreml sei verärgert über die enthemmten [staatsloyalen – dek] Provokateure; das Feuer ihrer Aktivitäten würde nun jedenfalls eingedämmt.
Startschuss für die Polizeioffensive
Es wurde tatsächlich für einige Wochen ziemlich still um die sogenannte „Zivilgesellschaft“, bis zu ihrem triumphalen Auftritt in Krasnodar Anfang Juli, der quasi den landesweiten Startschuss für eine weitere Attacke gab – diesmal sogar der Polizei: ohne Seljonka, dafür mit Gefangenentransportern und überbordender Gewalt.
Zu deren Symbol wurde das Drama um den Aktivisten Alexander Turowski: Als er beim Polizeiangriff auf das Wahlkampfbüro in Moskau verletzt wurde, bugsierte man ihn, inklusive hämischer Kommentare vom Chefarzt, aus dem Sklifosowski-Krankenhaus geradewegs vors Gericht. Dort verdonnerte man das Opfer von polizeilichem Sadismus auch noch zu einer Strafe von 500 Rubel (von einer Strafe für die Polizisten, die mit Kampf-Sambo gegen Turowski vorgegangen waren, ist natürlich keine Rede).
Ein Höllenradau, dass das Blut nur so spritzt
Offensichtlich hat sich in diesen Monaten etwas radikal geändert. Bis dato hatte die Staatsmacht Nawalny an seiner Expansion in die Regionen nicht gehindert, und auf einmal tut sie es mit einem Höllenradau, dass das Blut nur so spritzt. Die Episode mit den regionalen Büros und freiwilligen Wahlkampfhelfern war ohnehin nur ein Nebeneffekt der Unentschlossenheit, ob Nawalny zur Wahl zugelassen wird oder nicht – diese Unentschlossenheit wurde selbst von der Vorsitzende der Zentralen WahlkommissionElla Pamfilowa offen benannt. Dann kam der Juli, und die Staatsmacht begann, mit den Wahlkampfbüros aufzuräumen, ohne sich weiterhin hinter den Kosaken, der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD) oder dem South East Radical Block (SERB) zu verstecken. Bedeutet das, dass die endgültige Entscheidung über die Nicht-Zulassung Nawalnys zur Wahl bereits gefallen ist?
Ist Nawalnys Nicht-Zulassung zur Wahl bereits entschieden?
Ohne zu optimistisch klingen zu wollen: Bisher gibt es keinen Anlass, in der Polizeiattacke gegen Nawalnys Kampagne Anzeichen für eine endgültige Entscheidung zu sehen. Höchst deutlich definiert ist der Gegenstand des staatlichen Unmuts: die Wahlkampfzentralen und die Nawalny-Anhänger.
Innerhalb weniger Monaten ist im Land eine gewaltige neue überregionale Oppositionsbewegung entstanden – tausende neuer Anhänger konnten rekrutiert werden, die bislang jenseits der in den Regionen vermuteten zwei, drei Hanseln existiert haben.
Seit März sprechen Nawalnys Kritiker von der sogenannten Schkolota [und meinen damit die „dummen Schüler“ – dek], doch unter dieses abfällige Label fallen nicht die, die man vermeintlich vernachlässigen könnte (zum Beispiel der typische Leiter eines regionalen Wahlkampfbüros, der „Gewinner der regionalen Schüler-Olympiade für Geschäftsleute“, der Harvard-Student in spe, der künftige Programmierer).
Die Jugend wird Opposition
Dass diese Jugendlichen einmal zu Oppositionellen mutieren würden, damit hat die Staatsmacht wohl nicht gerechnet. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie diese Leute erbarmungslos aus der Politik jagen, genauso wie einst die Limonow-Anhänger. Die Unterbindung jeglichen größeren Aktivismus mithilfe von Polizeigewalt ist ja nicht einmal neu – es ist eine Konstante des gesellschaftspolitischen Lebens in Russland. Ein paar Monate lang hat man aus irgendeinem Grund zugelassen, dass die Menschen diese Konstante vergessen, und jetzt erinnert man sie wieder daran.
Der Staat attackiert jetzt die Jugend
Die aktuelle Säuberung macht sowieso den Anschein, als hielte die Staatsmacht ihr bisheriges Verhalten für einen Fehler: Indem sie die Eröffnung von Wahlkampfbüros in diversen Städten des Landes nicht verhinderte, senkte sie den Grad an Leidenschaftlichkeit, den die jungen Menschen mitbringen mussten, um in die Opposition zu gehen. Ein legales Stabsquartier in einem echten Büroraum, angemietet irgendwo im Stadtzentrum – an einen solchen Ort zu kommen ist psychologisch deutlich leichter, als in irgendeine Wohnung, die dem Untergrund als Treffpunkt dient. Die jungen Leute, die gestern noch schlicht keine Möglichkeit gesehen hatten, sich der Opposition anzuschließen, strömten plötzlich in diese Wahlkampfbüros. Damit zerstörten sie die gestrigen Vorstellungen von den unpolitischen Massen und den begrenzten menschlichen Ressourcen der Opposition.
Die Staatsmacht attackiert jetzt genau diese Jugend, versucht, sie von der Politik abzuschneiden. Sie versucht sie in den vorherigen Zustand zurückzuführen, als oppositionell zu sein noch bedeutete, in unnützen Pikets suspekter Organisationen herumzustehen und danach lange, unangenehme Gespräche in Extremismus-Zentren des FSB zu führen, am Arbeitsplatz, in der Schule oder Universität.
Nawalny: Alternativlos in Anti-Putin-Kreisen
Die Ränkespiele um Nawalnys politische Perspektiven bleiben dabei genauso offen wie im Frühjahr. Nawalnys Gelassenheit in Bezug auf Turowski und andere betroffene Aktivisten verunsichert viele, erscheint aber verständlich, wenn man die Attacken auf die Wahlkampfbüros und die gegen Nawalnys Kampagne selbst als zwei verschiedene, wenn auch miteinander verbundene, Dinge begreift.
Während die Polizei auf Freiwillige einprügelt und Flugblätter und T-Shirts beschlagnahmt, wettern die Sprecher bei Echo Moskwy gegen Intellektuelle, die sich weigern, in Nawalny zu investieren, dessen Alternativlosigkeit längst zum Mainstream und allgemeinen Konsens in Anti-Putin-Kreisen geworden ist. Selbst wenn man alle Wahlkampfhelfer hintereinanderweg einbuchten und die Zentralen niederbrennen würde – an Nawalnys Führungsposition würde das nichts ändern.
Damit Wladimir Putin sich vor Journalisten rechtfertigen muss, warum er denn nicht mit Nawalny debattiere, braucht es weder Wahlkampfbüros noch Wahlkampfhelfer. Die Kreml-Besprechung, bei der entschieden wird, was man mit Nawalny im Kontext der Präsidentschaftswahlen tun soll, die steht noch bevor.
Juri Dmitrijew muss ein „Wahnsinniger“ sein. Das sagen Freunde und Kollegen über ihn, und sein Werdegang legt es nahe: Akribisch und detailversessen, ohne große Institutionen und Gelder im Hintergrund, forschte und grub er in Archiven und in Erdhügeln nach Toten aus der Zeit des Großen Terror. Er sorgte dafür, dass die Ermordeten und anonym Begrabenen wieder einen Namen und einen Gedenkort bekamen. Mit seinen Nachforschungen hat Dmitrijew ein Tabu gebrochen, denn bis heute ist die Zeit des Großen Terrorskaum aufgearbeitet.
Am 13. Dezember 2016 wurde Juri Dmitrijew verhaftet. Der ungeheure Vorwurf lautet: Kinderpornographie. Dabei werden ihm Fotografien zur Last gelegt, die er vor einigen Jahren von seiner Pflegetochter machte. 2008 hatte er das damals dreijährige Mädchen zu sich genommen. Die Anschuldigungen und der Prozess erregten großes Aufsehen, viele Beobachter zweifeln die Vorwürfe an, glauben an eine Kampagne, um Dmitrijew zum Schweigen zu bringen. Eine Petition wurde gestartet, zahlreiche Prominente wie der Musiker Boris Grebenschtschikow, die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja oder der Regisseur Andrej Swjaginzew setzten sich für Dmitrijew ein, bislang ohne Erfolg: Der Prozess geht am kommenden Dienstag weiter. Dmitrijew, der sich nun auch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechtegewandt hat, drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Schura Burtin hat mit Freunden und Weggefährten Dmitrijews gesprochen, ist den Spuren des Mannes in die dunkle sowjetische Vergangenheit gefolgt. Seine Reportage über den „Fall Chottabytsch“, wie Dmitrijew wegen der äußeren Ähnlichkeit mit dem in Russland populären Flaschengeist genannt wird, wurde viel gelesen und diskutiert.
Update, 27.12.2021: Die Lagerhaft von Juri Dmitrijew wurde von einem Gericht in Karelien von 13 auf 15 Jahre angehoben, wie Mediazonaberichtet.
Von Juri Dmitrijew habe ich erstmals diesen Winter gehört, nach seiner Verhaftung. Freunde erzählten mir die merkwürdige Geschichte von einem Memorial-Mitarbeiter aus Karelien, der wegen Kinderpornographie festgenommen worden war.
Ich kam nach Hause, suchte im Netz und sah Fotos von einem dürren, bärtigen Mann mit grauen Zotteln und schwerem Blick. Aus der Anklage war schwer zu ersehen, was von der Sache zu halten ist. Einerseits kann man sich von einem Memorial-Mitarbeiter so etwas Abwegiges schwer vorstellen. Andererseits – kein Rauch ohne Feuer: Die Ermittler konnten das doch nicht alles erfunden haben!
Harsche, emotionale Person mit schwierigem Charakter
Ich spreche mit verschiedenen Menschen, die Dmitrijew kennen. In Moskau sind es zwei feine, kluge Frauen: Irina [Galkowa, Leiterin des Memorial-Museums] und Olga Kersina, Leiterin des Moskauer Kinokolledsh. Beide unterstützen Dmitrijew. Aus ihren Erzählungen wird bald klar, dass er ein ziemlich ungewöhnlicher Typ sein muss, ein Original. Mir wird eine harsche, emotionale Person mit schwierigem Charakter beschrieben (fast alle benutzten das Wort „kratzbürstig“), auf der anderen Seite sehr direkt und offenherzig; ein emsiger Technik-Freak mit dem Charakter einer Schukschin-Figur.
„Naja, er ist schon, sagen wir, eigen …“ Das höre ich von fast allen, die ich nach Dmitrijew frage. „Schickt dich auch schon mal zum A****, wenn’s sein muss …“
„Dmitrijew kann man mit Worten schwer beschreiben, er flucht ohne Ende Mat und raucht Belomor. Lebt mit Katze, Tochter und Enkeltochter zusammen. Sie kleben an ihm, und er: ‚Immer hübsch der Reihe nach, ihr Hurenkinder!‘ Zum Abschied bekam ich von ihm zu hören: ‚So, und jetzt verpiss dich.‘ Aber immer mit einem Lächeln, ironisch, nicht böse …“
In seiner Jugend besuchte er eine Weile die medizinische Fachschule, wollte Arzthelfer werden, brach sie dann ab. Saß ein paar Jahre wegen einer Schlägerei ein, arbeitete als Schlosser bei einem Wäscherei- und Saunakombinat, als Hilfsarbeiter in einer Mineralien-Fabrik, betreute Heizanlagen für die Wohnungsverwaltung. Führte Touristen durch Karelien, lernte, im Wald zu überleben. Heiratete, bekam zwei Kinder, sparte auf eine Wohnung. Während der Perestroika flammte bei ihm, wie bei vielen, das Interesse an Politik auf – aus der Zone war er als Antisowjet zurückgekehrt. 1988 wurde Dmitrijew, mitgerissen vom Kampf gegen die führende Rolle der KPdSU, ehrenamtlicher Assistent eines Volksabgeordneten. Eines Tages rief ein Reporter der Zeitung Komsomolez bei ihm an: In der Garnisonsstadt Bessowez hatte man menschliche Überreste entdeckt.
„Also hab ich zum Chef gesagt: ‚Wir müssen dahin.‘ Folgendes Bild: Ein Bagger steht da, ein paar Typen von der Staatsanwaltschaft, der Ermittler, Bezirksbeamte jeder Couleur, so an die fünfzehn Leute waren dort versammelt. Alle stehen rum, wissen nicht, was sie mit diesem Fund anfangen sollen. Ich war ja mal auf der medizinischen Fachschule und weiß ein bisschen was über Anatomie, also habe ich anhand der Knochenanordnung gesehen, wo der Kopf war, den Schädel rausgeholt, die Erde abgerieben – und da sehe ich am Hinterkopf eine runde Öffnung. Erschossen.
Was also tun? ‚Wieder vergraben und gut ist’s!‘ Und ich: ‚Wie – vergraben? Und was ist mit beerdigen?‘ ‚Ist doch nicht unsere Aufgabe.‘ Und stehen so da, gucken sich an. ‚Na gut, wenn euch das alles schnurz ist, mach ich’s eben selbst …‘
Und dann bin ich ein paar Wochenenden lang rausgefahren, hab die Knochen eingesammelt, in Säcke gepackt und in Garagen gebracht. Eines Tages fand ich einen Schuh mit abgenutzter Galosche. Und hinten drin – ein Stück Zeitung, damit die Galosche nicht rutschte. Ich brachte das Beweisstück zur Staatsanwaltschaft, aber die sagten: Man kann nichts lesen. Ich hab mir also einen feinen Pinsel und Kinderseife genommen – und zwei Wochen mit dieser Zeitung zugebracht. Als der Text zum Vorschein kam, bin ich in die Bibliothek und hab die passende Zeitung gesucht. Wie sich herausstellte, war es die Krasnaja Karelija [dt. Rotes Karelien – dek], von September 1937 …“
Erste Etappe
Eines Tages, Mitte Oktober 1937, legten am Hafen der Solowezki Inseln drei Lastkähne aus Kem an. Die Lagerinsassen wurden zu einer unerwarteten Generalüberprüfung nach draußen gescheucht. Eine ellenlange Liste wurde verlesen, mehr als tausend Namen von Menschen, die in Etappen verschifft werden sollten.
Von den Menschen, die in diesen Kähnen ablegten, hat nie wieder jemand etwas gehört. Sie sind weder irgendwo angekommen noch in irgendwelchen Dokumenten oder Memoiren aufgetaucht. Es ging die Legende, die Kähne wären im Weißen Meer versenkt worden. Den Angehörigen wurden jahrzehntelang falsche Auskünfte erteilt: „Zehn Jahre ohne Recht auf Briefverkehr“, „Aufenthalt in entlegenem Lager“, „Verstorben an Lungenentzündung, Herzinfarkt …“. Erst mit der Perestroika wurde bekannt, dass man diese Menschen alle erschossen hatte.
Das geschah folgendermaßen: Man holte die Häftlinge [die man per Schiff nach Medweshja Gora transportiert hatte – dek] einzeln aus den Zellen, unter dem Vorwand einer medizinischen Untersuchung. Dann brachte man sie in das „Handfesselzimmer“, wie es die Tschekisten unter sich nannten. Nach Abgleich mit der Liste erklang ein Codewort: „Etappentauglich“. Sofort packten zwei Tschekisten den Gefangenen an den Armen, verdrehten sie auf dem Rücken, während ein dritter sie fest verschnürte. Wenn der Häftling schrie, wurde er mit einem Knüppelschlag auf den Kopf „bewegungsunfähig“ gemacht, ihm wurde mit einem Handtuch so lange die Luft genommen, bis er das Bewusstsein verlor. Die Mörder hatten Angst vor den Schreien: Die Gefangenen sollten nicht wissen, wozu man sie nach Medweshja Gora gebracht hatte. Wenn jemand versehentlich starb, schaffte man die Leiche in den Waschraum.
Wenn 50 bis 60 Menschen zusammen waren, wurden sie von einem Begleitkommando auf Lkw-Ladeflächen gezerrt, dicht an dicht auf den Boden gelegt und mit Planen zugedeckt. Eine Karawane aus mehreren Lkws und einem Pkw als Schlusslicht brach in Richtung Wald auf. Dort hatte ein Arbeitskommando bereits tiefe Gruben in den lockeren Sandboden gegraben. Feuer wurden entzündet, damit die Begleitmänner es warm und hell hatten. Die Autos fuhren dicht an die Gruben heran, einer nach dem anderen wurden die Menschen von der Ladefläche gezogen. In den Gruben warteten die Mörder. Die waren ein halbes Jahr später fast alle selbst tot. Erschossen, wie so viele der am Großen Terror Beteiligten.
Aus ihren Aussagen bei den Kreuzverhören kennen wir das Hinrichtungsmuster. „Dem Gefangenen wurde befohlen, sich mit dem Gesicht nach unten in die Grube zu legen, woraufhin er mit einem Nahschuss aus dem Revolver getötet wurde“, berichtet Matwejew, ein Hauptmann der Staatssicherheit, in seiner Aussage.
War das Erschießungskommando mit einer Gruppe fertig, kehrte ein Teil des Kommandos nach Medweshja Gora zurück, um den nächsten Schub zu holen, während ein anderer Teil dort blieb und neue Gruben schaufelte. In einer Nacht schaffte man bis zu vier solcher Durchläufe. Frauen wurden gesondert transportiert. Gegen vier Uhr morgens beendete man die Operation.
„Einmal hatte der Lkw mit den Menschen hinten drauf während der Fahrt eine Panne und blieb im Dorf Pinduschi liegen. Da fing einer der Verurteilten so an zu schreien, dass man es draußen hören konnte. Um die Geheimhaltung unserer Arbeit zu wahren, musste ich entsprechende Maßnahmen ergreifen, aber es war nicht möglich, im Auto zu schießen, und man konnte ihm den Mund auch nicht mit einem Tuch zubinden, weil die Verhafteten dicht an dicht auf dem Boden der Ladefläche lagen. Also habe ich, um den schreienden Verurteilten ruhigzustellen, ihn mit einem Eisenstab aufgespießt, wie mit einer Stichwaffe, und so sein Schreien beendet.“
Wo die Menschen nicht hingehen
Dmitrijew freundete sich mit Iwan Tschuchin an, dem Leiter des Petrosawodsker Memorial. Auch der kannte sich mit dem Thema aus: Ein Oberstleutnant der Miliz, der sich für die Geschichte des Weißmeer-Ostsee-Kanals interessierte und mit Haut und Haar in die Vergangenheit abgetaucht war. Tschuchin arbeitete an einem Buch, den Totengedenklisten Kareliens von 1937 bis 1938, den Jahren des Großen Terrors. Dmitrijew begann ihm zu helfen.
„Ich saß beim FSB, füllte all diese Karteikarten aus, mehrere tausend Stück – Datum der Festnahme und so weiter, alle Details. Und als ich mit den Karten durch war, begriff ich, dass wir riesige Lücken in den Listen hatten. Ich ging wieder zum FSB und sagte: ‚Ich brauche nicht die ganzen Akten. Gebt mir die Protokolle der Troika-Sitzungen.‘ Das war vielleicht was! Sie ließen mich keine Kopien machen, keine Fotos. Ich musste alles von Hand abschreiben – was schafft man da schon in acht Stunden? Also nahm ich ein Diktiergerät mit, sprach die Protokolle ein, die angehefteten Schriftstücke, von vorne bis hinten … Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Dann ging ich nach Hause, hörte es die halbe Nacht ab, schrieb alles auf, glich die Erschießungen mit den Listen der Repressierten ab, ging wieder hin, nahm alles auf und so weiter. Und erst so schufen wir langsam eine mehr oder weniger zuverlässige Grundlage.“
Den Archiven entnahm Dmitrijew, dass es in Karelien sehr viele Hinrichtungsstätten gegeben haben musste. Aber sie wurden streng geheimgehalten, in den Dokumenten sind nie konkrete Orte genannt. Den Erschießungsort kannte nicht einmal die Führung, nur der Kommandeur des Erschießungskommandos und das Kommando selbst. In den Akten fanden sich nur vereinzelt indirekte Hinweise.
Und so begann Dmitrijew zu suchen: Den Winter verbrachte er im Archiv, im Sommer ging er in die Wälder. Wie Erschießungsgräber aussahen, das wusste er bereits.
Er las eine Schäferhündin von der Straße auf, nannte sie Wedma, Hexe, und brachte ihr bei, Grabstätten aufzuspüren. Die beiden wurden ein unzertrennliches Paar, verschwanden monatelang zu zweit in den Wäldern. Und so kennen Dmitrijew alle: dürr, schroff, immer in Matrosenshirt und Tarnanzug, mit der immergleichen Belomor-Zigarette zwischen den Zähnen und Wedma auf der Rückbank des verbeulten Niva.
„Alles, was er wissen will, erfährt er innerhalb von zehn Minuten. Er spricht alle Omas an. Er hat uns beigebracht, welche Fragen man stellt. Man darf nicht nach den konkreten Ereignissen fragen, sondern zum Beispiel: Welche Stellen werden hier gemieden? Vor welchen Orten haben die Menschen Angst?“
Alle Grabstätten waren getarnt.
„In Sulashgora bin ich einmal fast durchgedreht … Ich weiß ja, wie der Mensch aufgebaut ist, wo welcher noch so kleine Knochen am Skelett hingehört. Aber da waren die menschlichen Knochen mit etwas anderem vermischt. Ich bin zum Tierarzt gelaufen – ein Schwein! Eine Aasgrube war das. Warum? Weil es Jäger mit Hunden gibt. Die Hunde wittern was, fangen an zu scharren, dann gräbt vielleicht auch mal der Jäger und findet plötzlich einen Toten. Also hat man am Ende immer ein totes Schwein oder irgendwas reingeworfen: Hier ist eine Aasgrube, haltet euch fern.“
Abgesackte Böden
1997 wurde Dmitrijew von den Petersburger Memorial-Mitarbeitern Wenjamin Iofe und Irina Flige gebeten, nach der Hinrichtungsstätte der ersten Gefangenen-Etappe von Solowezki zu suchen. Die Suche gestaltete sich äußerst schwierig. Die Bahnstation Medweshja Gora liegt mitten in der Taiga. Aus den Aussagen wusste man nur, dass die Lastwagen mit den Verurteilten das Dorf Pinduschi passierten, sie also irgendwo im näheren Umkreis der Straße nach Powenez erschossen worden waren. Aus der Anzahl der Fahrten pro Nacht und anderen indirekten Hinweisen schlossen die Memorial-Mitarbeiter, dass die Fahrtzeit zum Zielort etwa eine halbe Stunde betragen haben musste, circa 20 Kilometer.
Die Zeiten waren andere – die Kreisverwaltung leistete Unterstützung, wo sie konnte, die Führung der hiesigen Armeeeinheit stellte einen Trupp Soldaten bereit, um bei der Suche zu helfen.
„Ich gehe mit dem Oberleutnant langsam den Waldweg entlang und überlege: Welche Stelle hätte ich wohl gewählt? In einem der Verhörprotokolle hatte ich gelesen, wie sie instruiert wurden: Nicht weiter als zehn Kilometer vom Ort der Internierung und so, dass man die Schüsse nicht hörte, das Licht der Scheinwerfer, den Widerschein der Lagerfeuer nicht sah. Hier? Nein, zu nah an der Straße. Dort? Schon eher, aber noch etwas weiter. Ja, hier ist es genau richtig … Und plötzlich, während ich das denke, fallen mir zu beiden Seiten der Straße gerade, rechteckige Erdmulden auf, mit abgesackten Böden. Und als wir uns umsehen, wimmelt es überall nur so von diesen Erdmulden …“
So weit das Auge reichte war der Wald übersät von Gräbern. Gleich bei den ersten Grabungen entdeckte man Schädel mit Einschusslöchern darin. Bei der Menge der Grabstätten war sofort klar, dass hier nicht nur die Häftlinge der Solowezker Etappe erschossen worden waren, sondern noch sehr viele andere Menschen. Viele von ihnen waren den Memorial-Mitarbeitern bereits bekannt.
Unter den Opfern waren Leute, deren akademische Titel eine Schreibmaschinenseite sprengten und deren Liste wissenschaftlicher Arbeiten so dick war wie ein Schreibheft. Etliche Intellektuelle, Soldaten und Offiziere der Weißen Armee und natürlich Geistliche, darunter vier, die von der Kirche heilig gesprochen wurden. Insgesamt um die 9000 Menschen.
Es ist eines der größten Massengräber des Stalinistischen Terrors, zu nennen in einer Reihe mit der Lewaschowo-Brache, dem Butowo-Poligon, Kommunarka, Kuropaty und Katyn.
Der Ort hatte keinen Namen. Bei der Durchsicht alter Karten entdeckte Dmitrijew in der Nähe den Flurnamen Sandarmoch. Also wurde die Fundstelle nach diesem Waldstück benannt.
Sandarmoch
Im Norden ist es still. Die Geräusche – das Klopfen eines Zuges, das Gepolter von Steinen, die vom Kipplaster rutschen, das Dröhnen eines Motors auf der Landstraße – zerreißen diese Stille nur kurz. Nach Sandarmoch sind es drei Stunden mit dem Zug von Petrosawodsk bis zur Bahnstation Medweshja Gora und dann zwanzig Kilometer mit dem Bus, der nach Powenez fährt. Eine unmerkliche Kurve, vierhundert Meter einen Waldpfad entlang, am Ende – eine kleine Lichtung mit einem scharfkantigen Stein und einer Holzkapelle, dahinter wieder Wald, ein gewöhnlicher karelischer Wald, karelische Kiefern. Und an jedem Stamm: das Portrait eines hier ermordeten Menschen. Es duftet nach Nadelholz, unter den Füßen knirscht der Schnee, die Schatten werden blau, ein Specht klopft den Takt. Und von jedem Baum blicken mich Menschen an, Schwarzweißfotos. Ich gehe durch den Wald, zwischen den Bäumen hindurch – und sie sind überall, Tausende von Menschen. In diesem Leben wurden all diese Menschen zu Bäumen. Und jeder Baum erzählt mir, was für ein Mensch er einmal war.
Ich verliere mich, wandere lange durch den Wald. Komme wieder an der Lichtung heraus, wo der große Felsblock steht, den Dmitrijew und sein Freund Grischa Saltup hier vor zwanzig Jahren aufgestellt haben. Darauf eine Inschrift: „Menschen, tötet einander nicht!“ Dieser scheinbar banale Aufruf hallt beim Verlassen des Waldes wie deine eigene, inständige, naive Bitte.
Bis aufs Grab genau
„Er ist ja gar kein Historiker“, sagt die Leiterin des Memorial-Museums Irina Galkowa, „aber er kennt sich unheimlich gut aus, und er hat ein unglaublich feines Gespür für Details, für sachliche genauso wie archivarische. Ich kenne keinen anderen, der durch Tausende von Akten gehen und dabei die immergleichen langweiligen Daten herausschälen könnte, alles miteinander vergleichen, Kärtchen ausfüllen … Ein Grab auszugraben ist an sich ja schon ein makaberes Unternehmen. Aber dann ist da ja noch diese ganze langatmige Arbeit – vergleichen, vermessen, Details gegenüberstellen. Wofür macht man das alles? Um den Erschießungsbefehl zu finden, der zu diesem konkreten Grab gehört. Dieser Erschießungsbefehl erlaubt es, alle Ermordeten mit Namen zu nennen – die konkreten Menschen, die in diesem einen Grab liegen. Eine ungeheure Arbeit, niemand in Russland macht sie außer ihm.“
Die Entdeckung von Sandarmoch wurde zum zweiten Schlüsselmoment in Dmitrijews Leben. Für viele Jahre tauchte er in die Schicksale der dort hingerichteten Menschen ein. Innerhalb von zehn Jahren hat er den Großteil der Erschießungsbefehle zugeordnet, für etwa siebeneinhalbtausend Menschen. Es ist die einzige Hinrichtungsstätte in Russland, bei der die meisten der Opfer namentlich bekannt sind, viele bis auf die Grube genau.
Katja
Kurz vor der Entdeckung von Sandarmoch hatte Dmitrijew eine Stelle als Wachmann angenommen und eine verlassene Militärfabrik am Stadtrand bewacht. Das war genau das richtige für ihn: Es gab genug Freizeit und ein minimales Gehalt. Alle seine Suchaktionen bezahlte Dmitrijew aus eigener Tasche, er hat nie im Leben Forschungsgelder erhalten, nicht eine müde Kopeke. Er ließ sich einen Bart und lange Zotteln wachsen – seine Freunde tauften ihn Chottabytsch. Mitte der 1990er hatte seine Frau ihn verlassen, seine beiden Kinder, Jegor und Katja, damals etwa zehn und elf, blieben bei ihm.
„Er blieb allein, bis die Kinder erwachsen waren“, erzählt Irina. „Wenn er davon sprach, klang das immer, als wäre das ein Gesetz: ‚Meine Kinder sollen keine Stiefmutter haben.‘ Er hat eine etwas pathetische Einstellung dazu, was ein Vater sein muss. Eine Familie, die von ihm abhängt und der er sich bedingungslos aufopfert, ist ihm ungeheuer wichtig.“
Dmitrijews Zuhause ist eine Junggesellenwohnung im obersten Stockwerk einer Chruschtschowka in einer Vorstadtsiedlung. Jetzt, nach seiner Verhaftung, lebt hier seine Tochter Katja mit ihren Kindern. Es riecht nach Hund und kaltem Belomor-Rauch. Eine altersschwache Wohnzimmerschrankwand mit Kristallgeschirr, lauter Krimskrams über dem typisch chaotischen Schreibtisch à la sowjetischer Ingenieur …
Katja ist etwas über 30, eine eher grobe, schroffe, schnörkellose junge Frau, die beim Notdienst der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft arbeitet. Schreit ihre Kinder an wie ein Feldwebel. Das macht mich anfangs etwas nervös, aber dann verstehe ich, dass das nur eine Angewohnheit ist, vermutlich hat sie das von ihrem Vater. Es sind gute Menschen, und sie haben ein gutes Verhältnis zueinander. Danik bringt mir einen Teller Borschtsch und Mayonnaise.
„Er hat immer nur vier Stunden geschlafen – die ganze Zeit war er mit diesen Listen zugange! Ist doch klar, dass du völlig fertig bist. Aber ewig Kaffee und Papirossy – nach dem Motto ich muss, ich muss! … Jura, sage ich, rasier dich mal. Du siehst aus wie ein Waldschrat! Lass mich, sagt er. Und ich: Dann komm ich nachts und rasier dich! Nein, sagt er, solange das Buch nicht fertig ist, werd ich mich nicht rasieren, und meine Haare bleiben auch dran … Als dieses große Gedenk-Buch rauskam, hieß es, es würde sich vielleicht verkaufen lassen. Da sagt er: Was heißt denn verkaufen? Vielleicht ist es für irgendein Großmütterchen, irgendeine Rentnerin, ihr ganzer Lebenssinn? Er kratzte hier und da was zusammen, packte seine Sachen – und zog wieder los, ließ sich seinen Bart wachsen.“
Sekirka
Sandarmoch bescherte Dmitrijew eine weitere Leidenschaft: Er beschloss, koste es, was es wolle, die beiden anderen Solowezker Etappen zu finden, die zweite und die dritte. Die Suche nach der zweiten Etappe führte Dmitrijew in die Gegend bei Lodeinoje Pole [in der Nähe von St. Petersburg – dek]. Gefunden hat er sie noch immer nicht, aber er durchkämmt weiter jeden Sommer dort die Wälder.
Die dritte Etappe hat, wie ihm klar wurde, niemals abgelegt: Die Schifffahrtssaison war vorbei, und so wurden die Häftlinge gleich dort, auf den Solowezki Inseln, erschossen. Bei seiner Suche nach der dritten Etappe stieß Dmitrijew auf die Erschießungsgruben am Sekirnaja Gora – wohl einem der schrecklichsten Orte der Menschheitsgeschichte.
Der Strafisolator auf dem Sekirnaja Gora befand sich in einer großen zweistöckigen Kirche, die niemals geheizt wurde. Bei der Ankunft wurde der Häftling komplett entkleidet, sämtlicher persönlicher Gegenstände entledigt und in einen Kittel aus Leinsäcken gesteckt.
Zu Essen gab es auf Sekirnaja Gora so gut wie nichts – 300 Gramm von irgendeinem Moder, der in den umgeschlagenen Kittelsaum gekippt wurde. Den ganzen Tag mussten die skelettgleichen, schmutzigen, halbtoten Menschen auf speziellen Sitzstangen ausharren, die so angebracht waren, dass die Füße kaum bis zum Boden reichten, und durften sich nicht rühren. Im Winter bei grausamster Kälte, im Sommer übersät von Tausenden von Mücken. Wer nicht gehorchte, wurde mit Stöcken geschlagen, gefesselt oder in die „steinernen Säcke“ gezwängt – Nischen, die seinerzeit Mönche zur Aufbewahrung von Lebensmitteln in den Fels gehauen hatten. Geschlafen wurde auf dem reifbedeckten Steinboden, zusammengedrängt zu sogenannten „Wärmegruppen“ (die Beine des einen geschlungen um den Hals des nächsten), oder in drei Reihen übereinander gestapelt, immer abwechselnd. Jede Nacht starb jemand aus der untersten Reihe, die Aufseher zogen die Leichen heraus, und die Häftlinge, völlig von Sinnen, hinderten sie daran – aus Angst, sich auf den Steinboden legen zu müssen.
Sekirnaja Gora war der Vernichtungsort des Lagers, länger als zwei Monate überlebte dort niemand. Schon im Voraus, im Herbst, wurden am Fuß des Berges Gräben für die Leichen gegraben. Genau hier fand auch der Großteil der Erschießungen von Solowezki statt. Auf dem Sekirnaja Gora gab es sechs hauptamtliche „Henker“. Den Erinnerungsberichten nach zu urteilen, wurden dort wöchentlich um die zehn Menschen hingerichtet. Aber es gab auch Massenerschießungen: 140 ehemalige Weißgardisten, die der Vorbereitung eines Aufstands bezichtigt wurden (der sogenannten Solowezker Verschwörung, ein von der OGPU fabrizierter Fall); 125 Häftlinge, die bei der Verladung von Holz für die Ausfuhr gearbeitet und Hilferufe in die Stämme geschnitzt hatten; 148 gläubige Christen, die sich weigerten, „für den Antichrist“ zu arbeiten – das sind die Fälle, die belegt sind.
Eine dieser Begräbnisstätten mit 70 Erschossenen darin hat Dmitrijew entdeckt. Es gelang ihm nicht, die Namen herauszufinden – die Archive des Solowezki-Lagers sind entweder vernichtet oder streng geheim. Also bat er einfach die Mönche, eine Messe für die Toten abzuhalten, beerdigte sie und stellte Kreuze auf.
Charon
Ich versuche immer noch zu verstehen und frage alle danach: Was hat diesen Mann dazu bewegt, völlig uneigennützig dreißig Jahre seines Lebens dem unappetitlichen und eintönigen Herumwühlen in Knochen und Karteikarten zu widmen, den Reisen ins Reich der Toten? Es ist ja eine Sache, einen Friedhof zu finden, oder zwei, drei … aber dreißig Jahre?
Ein Schreibtischgelehrter hätte niemals wirklich in das damalige Leben eintauchen, es zu seinem eigenen machen können. Da wäre immer eine unüberwindbare Grenze geblieben hinter der durchsichtigen Schicht der Zeit. Aber Dmitrijew hat ein magisches Ritual gefunden, das ihre Schicksale zu einem Teil seines eigenen macht. Er grub die Toten aus, gab ihnen Namen, beerdigte sie wieder – und trat damit in ihre Leben, all diese Menschen wurden zu seinen Angehörigen. Ihre Knochen wurden zu seinen Knochen. Er wurde zu Charon, der einen kleinen Teil ihrer Seelen wieder in die Welt der Lebenden zurückbrachte. Er stand ganz offenbar in irgendeiner Verbindung zu den Toten.
Naturgemäß wurde Dmitrijew zu einem Gläubigen, einem Mystiker. Er sagte, er würde die Stimmen der Toten hören – in den schlaflosen Nächten, wenn er in den Karteikarten blättere, und im Rascheln der Äste im Wald.
„Auf dem Friedhof in der Nähe der achten Schleuse am Belomorkanal zündete ich eine Kerze an, begann, für den Seelenfrieden der Verstorbenen zu beten, und ich hörte von allen Seiten: Denk auch an mich, und mich, und mich …“
In diesen dreißig Jahren hat Dmitrijew überwältigend viel getan – niemand in Russland hat so viel ausgegraben wie er. Er schuf Geschichte, die es vor ihm nicht gegeben hat, und er veränderte Stück für Stück die Welt um ihn herum. Nicht jeder Historiker kann das von sich behaupten.
Einer nach dem anderen entstanden in Karelien Orte, die zum Nachdenken bewegen. Scheinbar war dort alles in Ordnung – und plötzlich, nach zwanzig Jahren, finden die Bürger heraus, dass sie umgeben sind von Gräbern voller Erschießungsopfer. Und jetzt müssen sie etwas mit dieser Geschichte tun, es ist nicht mehr möglich, sich abzuwenden, zu vergessen …
Gefahr
Den Gesprächen mit seinen Freunden entnehme ich, dass Dmitrijew im vergangenen halben Jahr sichtlich nervös war, mehrfach äußerte, dass man ihn holen würde.
Chottabytsch spürte, dass man ihn beobachtet, aber er wusste nicht, was er genau verstecken sollte. Im November vergangenen Jahres veröffentlichte Memorial die aufsehenerregenden sogenannte Henkerslisten – Listen mit den Namen von NKWD-Mitarbeitern, die unmittelbar am Großen Terror beteiligt waren. Dmitrijew hatte an diesem Projekt nicht mitgewirkt, allerdings bekam er in den ersten Dezember-Tagen mehrere Anrufe von einer anonymen Person, die herauszufinden versuchte, ob er Informationen über die Massenmörder besaß.
„Er hatte schon länger davon gesprochen, dass jemand in seinem Computer herumwühlt, dass man ihn abhört“, erzählt Katja. „Ich hab zu ihm gesagt: ,Hör auf zu spinnen, James Bond!‘ Und dann rief er mich an: ‚Komm bitte morgen früh und bleib ein bisschen hier. Es muss jemand da sein morgen.‘ Ich sagte: ‚Ich kann nicht, ich muss arbeiten.‘ ‚Was ist mit Danik?‘ Ich fragte: ‚Was ist passiert?‘ Und er: ‚Schon gut …‘“
Am 10. Dezember 2016 bekam Dmitrijew Besuch von einem Polizeibeamten, der ihn bat, am nächsten Tag wegen irgendwelcher Formalitäten auf dem Revier zu erscheinen. Dmitrijew erschien und wurde vier Stunden lang zu irgendwelchen Jagdgewehren ausgequetscht. Als er nach Hause kam, wurde ihm klar, dass jemand in seiner Wohnung gewesen war und seinen Computer durchforstet hatte.
Einen Tag später wurde Dmitrijew wegen des Verdachts auf Herstellung von Kinderpornographie festgenommen. Als Beweismittel dienten Fotos der nackten Nataschka.
Nataschka
Als Jegor und Katja erwachsen waren, heiratete Dmitrijew zum zweiten Mal. Seine Frau und er nahmen ein dreijähriges Mädchen aus dem Kinderheim bei sich auf, Natascha. Alle sagen, das sei ein ungeheuer wichtiger Moment für ihn gewesen. Dmitrijew, selbst ein Heimkind (er war noch ganz klein, als seine Eltern ihn zu sich nahmen), betrachtete dies als seine Pflicht. Man wollte ihm kein Kind geben, es hieß, er sei zu alt. Aber Dmitrijew zog vor Gericht, durchbrach alle Mauern, besuchte Kurse für Pflegeeltern – und bekam Nataschka.
„Ich habe als letzte davon erfahren“, erinnert sich Katja. „Weil sie wussten, wie eifersüchtig ich bin … Ich liebe meinen Papa sehr, seine Aufmerksamkeit ist mir sehr wichtig. Als sie es mir sagten, war ich wie erstarrt, meine erste Reaktion war: ,Hoffentlich kein Mädchen?‘ Allein die Vorstellung, dass er zu jemandem anders Töchterchen sagt … Naja, und dann kam diese Natascha, komisch war die. Furchtbar dünn, unterernährt, schielte, hatte den Kopf voller Läuse. Später erst, da wurde sie der Chef. Da staunst du nur so!“
„Als seine Frau gegangen ist, war er natürlich erstmal etwas ratlos“, erzählt Katja. „Aber mit vereinten Kräften ging es irgendwie. Natürlich war ich jeden Tag da, hab geholfen, Essen gemacht. Und dann komm ich eines Tages, und siehe da – er hat sich dran gewöhnt, überall hängt Wäsche, wie bei einer Hausfrau. Wir waren ständig zusammen. Er ging auf seine Expeditionen, ich nahm Nataschka zu mir, später nahm er sie mit. Meine Kinder waren ständig dort, sie gingen auf dieselbe Schule. Er schleppte sie zu allen möglichen Kreisen, überallhin, er hat sich ihr richtig angenommen.“
„Nataschka entwickelte sich sehr langsam“, sagt Olga Kersina vom Moskauer Kinokolledsh. „Dmitrijew machte sich Sorgen, dachte, das wäre, weil sie sich schon so an seine Frau gewöhnt hatte. Er ist zu allen Ärzten gerannt, die sagten, dass sie nicht wächst, weil sie emotional schwer traumatisiert sei. Er suchte nach Fachärzten, dachte, er würde sie in Moskau finden. Er hatte einen ziemlichen Tick, was ihre Gesundheit anging.“
„Eine Verbundenheit wie im Krieg war das, Wahnsinn!“, sagt Irina Galkowa. „Dass Nataschka auch ein Mensch mit einem schlimmen, von Beginn an schwierigen Schicksal ist, an dem er nun teilhat und wofür er verantwortlich ist – das war Juri sehr bewusst.“
„Er hat sie auf dem Sekirnaja Gora taufen lassen. Das war im August, ein furchtbarer Tag, windig, grau, kalt. Aber es war ihm sehr wichtig, sie genau dort taufen zu lassen. Ich saß vorher mit ihr in der Banja [zur obligatorischen Waschung vor der Taufe – dek], wir haben das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis gelernt, das war sehr schön. Auch sehr ernst, weil Papa gesagt hat, es muss sein. Und als sie getauft war, kam die Sonne raus – es war unglaublich. Er war sehr glücklich, und sie war auch glücklich. Da war so viel Liebe.
Das, was danach geschah, ist eine scheußliche Geschichte, denn er hat sie ja sehr lieb.“
Verhaftung
„Als es passierte, hatte ich an die 40 Grad Fieber“, erzählt Katja weiter. „Ich stand unter Schock, sie haben mich vor dem Gefängnis festfrieren lassen, ich stand vor dem Eisentor, niemand hat mich beachtet. Und Nataschka konnte ich nicht finden. Der Ermittler wollte nicht mit mir reden, ich schrie in den Hörer, war völlig hysterisch, ich verstand überhaupt nichts mehr. Dann durfte er mich anrufen, er sagte: ‚Die wollen mir irgendwas mit Pornographie anhängen, ich soll Fotos ins Internet gestellt haben …‘ Was für ein Schwachsinn, er hatte keinen blassen Schimmer wie man im Internet überhaupt irgendwas macht … Er sagte: ‚Katja, ich verstehe ja selbst nichts, aber mit so einer Anklage hat man im Lager kein ruhiges Leben … Da kriegt man vielleicht acht bis zehn …‘ Und ich: ‚Tage?‘ ‚Nein, Jahre.‘“
Zuerst verstand niemand etwas. Dann stellte sich heraus, dass es um Fotos von Natascha ging, die Dmitrijew für die Vormundschaftsorgane gemacht hat.
„Ich rufe Nataschka an – das Handy ist aus. Es ist schon dunkel, die Schule gleich zu Ende, ich weiß nicht, wo das Kind steckt! Ich renne zurück nach Hause, da ist sie nicht … Ich bin fast verrückt geworden. Dann, mitten in der Nacht, ruft sie mich an: ‚Wo ist Papa?‘ Das Jugendamt hat sie von der Schule abgeholt, um zehn Uhr morgens, als sie auch ihn abgeholt haben, und in ein Heim gebracht. Ich bin losgefahren, hab dieses Heim gefunden, die Frauen dort waren nett, zeigten Mitgefühl und ließen mich zu ihr. Sie hatte ihnen schon alles erzählt: Wie sie ihren Papa liebt, wie sie mich liebt, und Sonja und Danik, und dass sie Sambo betreibt. Sie hängte sich an mich ran: ‚Warum ist Papa nicht gekommen?‘ Ich sagte: ‚Wenn Papa nicht kann, dann komme ich und nehme dich mit, warte nur ein bisschen.‘ Und dann bekomme ich einen Anruf vom Jugendamt: Der Ermittlungsrichter hat verfügt, dass Verwandte von Juri Alexejewitsch nicht mit Natascha sprechen dürfen.“
Etwa einen Monat verbrachte Natascha im Heim, dann kam sie zu ihrer leiblichen Großmutter, in ein Dorf im Norden Kareliens.
„Als Nataschka das mit ihrem Vater im Internet gelesen hatte, rief sie mich an: ‚Katja, warum machen die das?! Das ist doch alles nicht passiert! Was wollen die von ihm?‘ Sie schreibt ihm Briefe, dass sie ihn sehr liebt, dass sie nach Hause will. Die Oma sagt zwar, dass sie sich schon eingelebt hat – doch sie kämpft wieder ihre Kämpfe ohne Regeln, in der Schule und überall. Ich rufe immer an, halte sie zum Lernen an, halte die Oma an, ihre Hausaufgaben zu kontrollieren.“
Rauch ohne Feuer
Das Unterfangen, ein nacktes Kind zu fotografieren, kam selbst mir anfangs, ehrlich gesagt, ziemlich seltsam vor. Wenn man hört, dass jemand der Herstellung von Kinderpornographie beschuldigt wird, fällt es schwer, locker zu bleiben – selbst wenn man vermutet, dass die Anklage stark überzogen ist. Wenn ich jemandem von diesem Fall erzähle, reagieren die meisten mit: „Ja, aber warum hat er sie fotografiert?“
Drei Wochen lang führte ich Gespräche mit verschiedenen Leuten, in Petrosawodsk, Petersburg, Moskau, fragte sie nach Dmitrijew, Nataschka, den Bildern. Ich glaubte nicht an die Pornoversion, aber ich versuchte trotzdem zu verstehen, welche Merkwürdigkeit ihn dazu bewogen hat, seine nackte Tochter zu fotografieren.
Irina und andere Freunde von ihm berichten, dass das Mädchen völlig unterernährt und stark entwicklungsgestört aus dem Kinderheim gekommen sei. Das Verhältnis zu den Behörden war anfangs angespannt, weil Dmitrijew sich das Kind erkämpft hatte. Bald kam es zu einem Konflikt im Kindergarten: Die Erzieherinnen behaupteten, Natascha hätte blaue Flecken – wie sich herausstellte, waren es in Wirklichkeit Farbspuren von einer Zeitung, die seine Frau unter die wärmenden Senfpflaster gelegt hatte.
Im Grunde alles Kleinigkeiten, aber Dmitrijew machte es sich daraufhin eisern zur Regel, Nataschka einmal im Monat nackt zu fotografieren – vier Aufnahmen: von vorne, von hinten, von links und von rechts. Am Anfang einmal im Monat, dann alle drei bis vier Monate, und vor ungefähr zwei Jahren hörte er ganz damit auf.
„Auf seiner Festplatte waren 144 Fotos in nach Jahren sortierten Ordnern“, sagt sein Rechtsanwalt Viktor Anufrijew. „Davon sind überhaupt nur neun Gegenstand der Klage. Wenn sein Interesse sexueller Natur wäre, wäre das Verhältnis doch wohl nicht neun aus 114, sondern umgekehrt, oder? Von diesen neun ist die Hälfte völliger Humbug, da rennen Natascha und Katjas Kinder zusammen ins Badezimmer, sitzen in der Wanne. Auf den anderen steht sie einfach nur da. Darauf wären die Genitalien zu sehen, sagen sie – das kann ich nicht beurteilen, ich bekomme die Fotos mit schwarzen Quadraten. Und einmal hat er sie fotografiert, als sie nackig geschlafen hat. Ich sage Ihnen ganz klar: Hier wird kein Tatbestand erfüllt, da gibt es nichts zu diskutieren.“
Dmitrijew ist nicht einmal auf die Idee gekommen, die Fotos seiner Tochter zu löschen, obwohl er schon ahnte, dass die Ladung aufs Polizeirevier dazu diente, ihn aus der Wohnung zu bekommen.
Die Ironie des Schicksals liegt gerade darin, dass er die Aufnahmen aus Angst davor aufbewahrte, Nataschka zu verlieren, er sah sie als Beweis für ihre Gesundheit.
„Das war so ein beruflicher Tick von ihm – alles zu dokumentieren, abzufotografieren“, sagt Olga Kersina. „Wenn sich jemand dreißig Jahre lang mit Knochen beschäftigt, hat er ein völlig anderes Verhältnis zum menschlichen Körper, einen distanzierten Blick. Er muss bestimmen, was das für Menschen sind, welchen Geschlechts, wie alt, woran sie gestorben sind … Alles muss festgehalten werden, genau fotografiert, verschriftlicht. Vielleicht hat ihm der Vorfall mit den blauen Flecken gezeigt, dass er Fotos als Beweismittel braucht. Nataschas Gesundheit steht für ihn an oberster Stelle. Diese Fotos sind eindeutig Gesundheitstagebücher. Es liegt eben einfach in seiner Natur: Er schießt gerne übers Ziel hinaus, geht bei allem bis zum Äußersten, bis auf den Grund.“
„Vor allem: Jura ist dermaßen weit entfernt von diesem Vorwurf!“, sagt sein Freund Anatoli Rasumow. „Seine Moralvorstellungen sind dem völlig entgegengesetzt! Mit Leuten, die das tun, was sie ihm vorwerfen, würde er sonstwas machen.“
„Man muss schon pervers sein, um da Pornographie zu sehen“, sagt Katja. „Wenn ein Mann 50 ist und die Frau 30 – schon das findet er verrückt: ‚Wie kann man nur?‘ Er ist 60, also muss die Frau 50 sein, und selbst das sind für ihn junge Hüpfer. Will sagen, er ist für Beziehungen auf Augenhöhe, schon mit 20 Jahren Altersunterschied kann er nichts anfangen, hat mich immer nur mit großen Augen angeschaut: ‚Aber Katja, was ist denn das …‘“
Zunächst wurde Dmitrijew nur die Herstellung von Pornographie zur Last gelegt. Aber der Paragraph umfasst auch die Veröffentlichung und Verbreitung. Genau das haben die Ermittler gleich behauptet, und danach auch der FernsehkanalRossija 24. Aber Dmitrijew hatte mit dem Internet nichts am Hut, er hat nicht einmal Bilder per E-Mail verschickt. Nachträglich etwas ins Netz stellen konnte man nicht – eine solche Fälschung wäre viel zu kompliziert. Wahrscheinlich wurde die Anklage wegen Verbreitung deshalb schnell wieder fallengelassen, aber der Porno-Paragraph selbst blieb.
Das Gutachten darüber, ob diese Aufnahmen als pornographisch zu werten sind, bestellte die Ermittlungsbehörde beim Zentrum für soziokulturelle Expertisen, einer „unabhängigen gemeinnützigen Organisation“. Dabei handelt es sich um eine bekannte Firma, die in industriellen Mengen Gutachten produziert, die vom Zentrum E und dem FSB in Auftrag gegeben werden. Zu ihren jüngsten Werken gehören: Die „Verletzung religiöser Gefühle von Gläubigen“ im Torfjanka-Park und die Aufdeckung der extremistischen Natur der Zeugen Jehovas. Vier Experten sind dort zugange: ein Kunsthistoriker, ein Mathe-Lehrer, ein Politikwissenschaftler und ein Englisch-Übersetzer. Diese Leute wurden bereits der Aneignung gefälschter akademischer Grade überführt, der direkten Unterschiebung (sie schrieben Dinge in die zu analysierenden Texte, die dort nicht standen) und natürlich der massenhaften Erstellung von Gutachten zu Themen, von denen sie keine Ahnung haben. Berühmtheit erlangte das Zentrum dadurch, dass es eine Bibel, die man den Zeugen Jehovas abgenommen hatte, als extremistische Literatur einstufte. Nach Meinung der Experten sei eine „Bibel, als Buch begriffen, nicht mehr die Bibel, zu der wird sie einzig und allein in der Kirche“.
Die Fotografien von Natascha erklärten sie zu Pornographie – und das ist das Einzige, worauf sich die Anklage stützt. Dmitrijews Rechtsanwalt stellte einen Antrag auf Begutachtung durch ein beliebiges Zentrum für Sexualpathologie – der natürlich abgelehnt wurde.
Vier Monate später präsentierte die Ermittlungsbehörde Dmitrijew zwei weitere Anklagen: wegen unzüchtiger Handlungen und illegalen Besitzes von Waffen. Die unzüchtigen Handlungen bestanden aus Sicht der Ermittler im Akt des Fotografierens eines nackten Kindes. Und die Waffen, die Dmitrijew besaß, waren völlig legal: In seiner Jugend hatte er gejagt, in den ganzen letzten Jahren trug er bei seinen Wanderungen im Wald eine Pistole mit sich – in Karelien wimmelt es vor Bären. Aber vor einigen Jahren hat er ein paar Jungs im Hof eine uralte, rostige Flinte abgenommen. Sie war völlig kaputt, zum Schießen untauglich – aber sicher ist sicher … Und ebendiese Flinte haben sie bei der Durchsuchung gefunden. Nach Aussage des Rechtsanwalts lässt sie sich unmöglich reparieren: „Und selbst wenn, womit sollte man schießen? Solche Patronen kann man seit 50 Jahren nicht mehr kaufen.“
Schatten
Ich verliere mich lange in Mutmaßungen, wem Dmitrijew wohl im Weg war, dieser wenig bekannte Memorial-Mitarbeiter aus Petrosawodsk, der weder politisch noch als Menschenrechtler aktiv war. Ist Chottabytsch etwa wirklich einem der Mächtigen im hiesigen Mikrokosmos auf den Senkel gegangen? Oder gab es eine Order aus Moskau zur Einschüchterung von regionalen Memorial-Zentren? Oder wurde alles nur für diese Sendung auf Rossija 24 eingefädelt (Nataschas Fotos landeten seltsamerweise gleich nach der Verhaftung beim Fernsehsender WGTRK)? Oder war es bloß Zufall: Hatte man routinemäßig die hiesigen Aktivisten beobachtet, auf der Festplatte gewühlt, die Fotos entdeckt und beschlossen, die Sache aufzurollen?
Aber langsam ergab sich aus den diversen Gesprächen ein Bild. Wie das Schicksal es will, trat ein Schatten hinter den zugewachsenen Gräbern von Sandarmoch hervor. Die Begräbnisstätte vereint sehr viele Nationalitäten, was im Wesentlichen jener ersten Etappe geschuldet ist. Es liegen dort Massen von Ukrainern, Polen, Finnen, Georgier, Aserbaidschaner, Tataren, Wainachen begraben, sogar Schweden und Norweger. Jedes Jahr am 5. August besuchen verschiedene Delegationen diesen Ort. So ergab es sich, dass die Gedenkfeiern in Sandarmoch von Anfang an internationale Veranstaltungen waren. Es kamen offizielle Persönlichkeiten, und auch hohe Regierungsvertreter mussten immer hin, ob sie wollten oder nicht.
So ging es bis 2016, als, so heißt es, eine Anordnung durch die Verwaltungsbehörden ging: keine Sandarmoch-Besuche mehr. Zum ersten Mal waren weder Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche anwesend, noch fand die traditionelle Kreuzprozession statt (obwohl noch 2010 Patriarch Kirill höchstpersönlich die Messe abgehalten hatte). Dafür wimmelte es vor Journalisten der offiziellen karelischen Medien. „Sie bekamen spezielle, von den Behörden vorbereitete Fragen ausgeteilt und befragten die ausländischen Gäste, warum sie hergekommen waren und so weiter. Das wurde nie für irgendwelche Publikationszwecke genutzt, ist einfach irgendwo nach oben geflossen …“
Besonders häufig wird Sandarmoch von Polen und Ukrainern besucht – mit der Solowezker Etappe hatte man große Teile der ukrainischen Intelligenz und zahlreiche polnische Geistliche ermordet. 2015 hatte die Botschafterin Katarzyna Pelczinska die Gedenkfeier besucht und Dmitrijew das Goldene Verdienstkreuz überreicht, eine der höchsten Auszeichnungen Polens. Offenbar beschloss man daraufhin, dass mit Sandarmoch nun langsam Schluss ist. Zumal der Friedhof 2017 ein Jubiläum feiert – zwanzig Jahre seit seiner Entdeckung, dazu jährt sich der Große Terror zum 80. Mal. Den Behörden dämmerte, dass die Leute in Scharen kommen würden.
Gleichzeitig begann im vergangenen Sommer in Petrosawodsk eine Kampagne, die regionale Geschichte umzudichten. Erst tauchte in der Presse eine Nachricht von Juri Kilin auf, einem Professor an der Universität von Petrosawodsk. Er äußerte die Vermutung, in Sandarmoch seien nicht nur Repressionsopfer begraben, sondern auch Kriegsgefangene, die von Finnen erschossen worden seien.
„Eine Behauptung, die aus der Luft gegriffen ist“, sagt Irina Galkowa. „In Analogie dazu, dass die Finnen die Lager des Gulag für ihre eigenen Kriegsgefangenen benutzt haben. Nach dem Motto, wenn sie die Lager benutzten, dann haben sie wohl auch Erschießungen durchgeführt. Eine krude Logik. Aber die These hat gefruchtet. Und wenn es im ersten Stadium eine bloße Vermutung war, dann war es im dritten und vierten schon eine Feststellung, und im fünften – eine Negierung der Tatsache, dass es überhaupt irgendwelche Repressionen gegeben hat: ‚Ach so ist das, Memorial macht so einen Wind, dass es die eigenen Leute waren, und in Wirklichkeit waren’s die irren Deutschen!‘“
Am 4. August 2016, am Vorabend der Gedenkveranstaltung, brachte der TV-Kanal Swesda eine Sendung: Die zweite Wahrheit des Konzentrationslagers Sandarmoch – wie die Finnen Tausende unserer Soldaten ermordeten.
Dort war die Rede von geheimen FSB-Dokumenten, die dem Fernsehsender vorlägen und aus denen hervorginge, dass in Sandarmoch sowjetische Gefangene beerdigt seien.
In Wirklichkeit zeigte man den Zuschauern einen Bericht des SMERSch über ein kleineres, 250 Menschen fassendes Kriegsgefangenenlager in Medweshjegorsk, das sich auf dem ehemaligen Gelände einer Abteilung der BelBaltLager befand. Darin wird von der Erschießung zweier Gefangener berichtet. In dem Beitrag allerdings hieß es, hier seien „verschiedenen Quellen zufolge 19.000 bis 22.000 Menschen umgekommen. Und natürlich muss dort ein Denkmal für die ermordeten Kriegsgefangenen errichtet werden“.
„Auf wen hören die? Was glaubst du? Auf Dmitrijew, einen stadtbekannten Verrückten, oder auf die Onkel mit den Dienstgraden …“, fragt ein Freund von der Petrosawodsker Uni Irina Galkowa. „Und was ist damit, dass der Verrückte Dokumente zu Sandarmoch hat, zu siebeneinhalbtausend Menschen? Ich habe versucht, mit Dmitrijew darüber zu diskutieren, aber er winkte nur ab: ‚Ist doch alles Mist. Das sind angefütterte Bisons, die fressen aus der Hand, aus der sie fressen müssen. Und ich bin ein wilder Wolf, der frisst, was er will …‘“
Das war das ganze Problem. Eine Abmachung mit Dmitrijew zu treffen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Es war klar, dass er diese Gedenkfeiern organisieren würde, solange er lebt. Wenn man die Party beenden wollte, musste man Chottabytsch wegsperren.
Wenn ein Fall konstruiert ist, kommt das normalerweise im Laufe der Verhandlung raus. Es ist natürlich ein Leichtes, einen Unschuldigen zu verurteilen. Aber wenigstens sehen die Leute dann, was da in Wirklichkeit los ist. Darauf kann Dmitrijew allerdings nicht hoffen. Die unglückseligen Fotos wird nie jemand zu Gesicht bekommen: Er wird eines Sexualverbrechens an einer Minderjährigen beschuldigt, und deshalb wird die Verhandlung hinter verschlossenen Türen geführt.
Ja, natürlich, Chottabytsch spürte, wohin es geht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das alles – Dmitrijew selbst, die Seelen der Toten, die FSBler, die Fernsehleute von Rossija 24 – dass sie alle irgendeiner weisen und segensreichen Macht unterstehen. Dass wir noch immer in einer Welt leben, in der es solche Menschen und Geschichten gibt. In der der Herr noch immer jedem sein wundersames Schicksal schenkt und jeder Held einen Drachen findet, gegen den er kämpfen kann. Vor dreißig Jahren ist Dmitrijew mit seinem Feldspaten ausgezogen, gegen ihn anzutreten. Er bekam zu hören, dass es keine Drachen gebe, aber er ging immer weiter, von Grab zu Grab, durch Wälder, Schleusen, über Inseln, suchte die Spuren des Monsters im Staub von Karteikästen, stur und unnachgiebig. Und bitte sehr, hier ist er, der Drache.
Oppositionspolitiker Alexej Nawalny hat gerufen und Tausende sind ihm auf die Straßen gefolgt, landesweit, am vergangenen Montag bereits zum zweiten Mal. Es ist dabei nicht nur der Unmut über Korruption, der die Leute auf die Straßen treibt. Sondern es sind ganz unterschiedliche Motive, von der Forderung nach mehr Demokratie und Menschenrechten bis hin zum regime change.
In Moskau wiederum protestieren viele Bewohner seit Monaten gegen den geplanten Abriss ihrer Wohnhäuser, zumeist Chruschtschowki aus den 1950er Jahren, die die Stadt in einem gigantischen Bauprojekt abreißen und durch Neubauten ersetzen will. Unlängst brach eine Debatte darüber aus, ob es einen unpolitischen Protest überhaupt geben kann – auf den allerdings viele der Demonstrationsteilnehmer bestehen.
Ein politisches Empowerment in der russischen Gesellschaft jedenfalls diagnostiziert Andrej Archangelski auf Carnegie.ru – und sieht die Ursachen dafür, ausgerechnet, in der Propaganda.
Die Ukrainer sagen gerne, Russland habe mit seinem Handeln im Jahr 2014 mehr zur Herausbildung einer ukrainischen Identität beigetragen als die ukrainischen Institutionen in 25 Jahren Unabhängigkeit. Das Gleiche kann man nun in Russland auch von der eigenen Regierung behaupten.
Massenpropaganda ist von der Taktik her berechenbar (Aggressivität, Befeuerung des Irrationalen, Neurotisierung der Gesellschaft), aber strategisch vorhersagbar sind die Auswirkungen nicht.
Wer hätte 2014 gedacht, dass drei Jahre später auch diejenigen zu Massenprotesten gegen Korruption auf die Straße gehen würden, die ihr ganzes Leben unter Putin gelebt haben, jene Generation, von der man annahm, sie bestünde aus lauter Loyalisten des Post-Krim-Konsens?
Da ist Nawalny mit seinen Nachforschungen, ja; aber viel wichtiger ist, dass eine psychologische Schwelle überschritten scheint. Und paradoxerweise wurde die politische Sprache im „Kisseljow-TV“ vermittelt.
Nachdenken über Politik – dank Propaganda
Es waren nämlich die Propaganda-Figuren und Klischees in den Medien, die geholfen haben, dass sich eine politische Massensprache in Russland herausbildete. Genauer gesagt hat die Propaganda – und das ist einer der unvorhergesehenen Effekte – das Nachdenken über Politik zu einem Teil des täglichen Lebens gemacht.
Unsere Propaganda ist darauf angewiesen, die Zuschauer mit den Einzelheiten des amerikanischen, ukrainischen oder französischen Systems bekannt zu machen; die Konzentration auf die politischen Antagonisten und verschiedenen Einflussgruppen enthüllte vor dem russischen Durchschnittsbürger plötzlich die ganze Komplexität des politischen Lebens.
Aufgerufen, Geschichte zu schreiben
2014 wurde der Bürger dazu aufgerufen, Geschichte zu schreiben – das heißt, zum handelnden Subjekt der Geschichte zu werden. Aber man kann nicht an den außenpolitischen Grenzziehungen ein Subjekt sein und gleichzeitig passives Objekt im Hinblick auf die inneren Angelegenheiten bleiben.
Der Sowjetmensch konnte nicht politisch über sich selbst bestimmen, die Möglichkeit einer solchen Selbstermächtigung bestand für ihn nicht – er war nur möglich als „Teil eines Ganzen“, „die Eins ist Null”, wie es damals hieß.
Heute, so stellt sich plötzlich heraus, wird man zum Subjekt am einfachsten über die Politik. Wobei man politische Identität und Subjekthaftigkeit erlangen kann, indem man eine fremdbestimmte, aufgezwungene Sprache ablehnt (siehe den Konflikt zwischen Schülern und Lehrern), oder indem man sich selbst plötzlich als Eigentümer begreift (siehe die Reaktion der Moskauer [auf den geplanten Abriss ihrer Häuser]), oder auch in Form einer Reaktion auf „große Ereignisse“, wie die von 2014.
Die Vertuschung des Politischen
Die Regierenden haben mit diesem Effekt nicht gerechnet; ihr Ideal ist das einer gleichgültigen und indifferenten Bevölkerung. Aber die „Konsolidierung der Nation“ im Jahr 2014 war nicht möglich ohne eine Aktivierung des politischen Instinkts, und einmal aktiviert, ist dieser Instinkt schwer zurückzunehmen.
Das war tatsächlich ein schwerwiegendes Zugeständnis seitens der Putin-Administration. Denn die gesamte Geschichte der Putin-Periode ist der Versuch, die Politik vor dem Volk zu vertuschen.
Erstens ist da die Ebene des Begriffsaustauschs: In Russland wurde „Politik“ durch das Wort „Macht“, bzw. „Regierung“ ersetzt, wie Gleb Pawlowski feststellt. „Politik ist der Kampf um die Macht“, das sagt Ihnen, eine pseudo-objektive Position einnehmend, jeder Kreml-Politologe. Aber auch das ist eine Finte: Die Opposition in Russland kämpft nicht um die Macht, sondern um die Politik, um das bloße Recht auf eine andere Meinung.
Patriotismus – kein Ruf des Herzens
Auch das Konzept des Patriotismus (du bist „für unsere Leute“, ganz gleich, was sie anstellen) sollte dazu dienen zu verbergen, dass die Unterstützung der Regierung weder ein Instinkt noch ein Ruf des Herzens ist, sondern im Rahmen des normalen politischen Verhaltens stattfindet (Loyalität).
Sogar der Begriff der Geopolitik, der nach 2014 besonders aktiv eingesetzt wurde, verfolgte dasselbe Ziel: den Menschen nicht als politisches Subjekt gelten zu lassen. „Wir sind die Geiseln unserer geografischen Position und haben deshalb keine Wahl; das ist unser Schicksal, man kann ihm nicht entfliehen und deshalb muss man sich ihm fügen …“ Roland Barthes bemerkte zu Zeiten des Algerienkrieges: Wenn die Zeitungen schreiben, „das Schicksal will es so“, heiße das übersetzt, „so will es die französische Regierung“.
Die Sowjets 2.0
Und zum grandiosesten Mittel, die Politik zu vertuschen, wurde der Sowjetsprech. Aber die Bestäubung mit Sowjetnostalgie hatte einen weiteren unvorhergesehenen Effekt: Diese Propaganda erschuf einen neuen Sowjetmenschen. Er ist zu unterscheiden von dem, der der UdSSR passiv nachtrauert. Die Aktiven – nennen wir sie Reanimatoren – sind die, die heute die Abschaffung des Kapitalismus, die Rückkehr zur UdSSR und einen Wechsel des Wirtschaftsmodells fordern.
Gepäppelt von Fernsehen und Regierung, wandeln sich die Sowjets 2.0 im Grunde von Loyalisten in eine konservative Opposition. Das Sowjetische ist mittlerweile Teil der eigenen politischen Identität. Was dem Sinn des Terminus widerspricht, denn das Sowjetische bedeutet eigentlich die Abwesenheit von eigenen Ansichten.
Das heutige Sowjetische ist zum Label geworden, zu einer Marke, die bloß noch – aber immerhin – auf eine politische Position verweist.
Der Zwischenraum
Ein totalitäres System sieht keine Opponenten vor. Ein solches System verweist dich bei Widerspruch automatisch auf eine Position außerhalb des Legitimen, macht dich zum Feind. Die russische Propaganda allerdings ist gezwungen, rein formal demokratische Prinzipien zu wahren. Das ist ein wesentlicher Unterschied – und er erzeugt einen interessanten Zwischenraum. Einen Zwischenraum zwischen den Kauleisten des Leviathan, sozusagen.
Die heutige Propaganda appelliert, und sei es nur formal, an einen freien Menschen. Deshalb muss sie so tun, als verfüge sie über ein stabiles System von Argumenten und Beweisen. Es geht gar nicht darum, wie (wenig) überzeugend usw. diese sind. Es ist ein Meta-Paradox: Die bloße Notwendigkeit, dass es überzeugt werden muss, verwandelt das totalitäre Schräubchen in ein Subjekt.
Am Ende hat das, was auf die Totalisierung des Bewusstseins gezielt hatte, den umgekehrten Effekt bewirkt: Es hat den Durchschnittsbürger in seinem Status als politisches Subjekt gefestigt. Dieser wird ja als Person angesprochen, eine Person mit Rechten, Entscheidungsmöglichkeiten, einem freien Willen – da wächst ungewollt die Selbstachtung. Das Subjekt reckt seine Schultern.
Zwischen den Kauleisten des Leviathan
Weshalb stärkt der Kreml ständig das, was er zu bekämpfen versucht? Hier kommt wieder jener Zwischenraum ins Spiel – der Widerspruch zwischen den heutigen realen Praktiken in Russland, den autoritären Instrumenten, und dem formal demokratischen Gesellschaftsaufbau gemäß der Verfassung. Dieser Zwischenraum ist der wahre Quell des Politischen im heutigen Russland.
Die offiziellen demokratischen Institutionen sind zwar zu einer Formalität verkommen, aber Politik gibt es trotzdem, und zwar in diesen Zwischenräumen und Rissen. Die Entpolitisierung einer weiteren Nische führt sofort zu einem Ausbruch von politischer Aktivität an einer anderen Stelle.
Das Streben nach dem Politischen
Wir können eine Hypothese aufstellen: Das endgültige Ziel des hybriden Organismus (Ekaterina Schulmann) ist das – im Freudschen Sinne – unbewusste Streben nach dem Politischen. Das, was tabuisiert und ausgetrieben wird, wird unbewusst zum sehnlichsten Verlangen des hybriden Wesens.
Möglicherweise ist die Politisierung tatsächlich im Kern unseres heutigen Systems angelegt, es muss sich dessen nicht einmal bewusst sein, es kann versuchen, mit aller Gewalt dagegen anzukämpfen. Aber das würde bedeuten, dass es gegen die eigene Natur ankämpft. Deshalb erscheint es uns, als wäre die Hauptquelle der Politisierung die Macht selbst.
Bonus für die Wähler
Die Hauptaufgabe des Kreml für das kommende Jahr 2018 wird vermutlich sein, die Аmtszeit des derzeitigen russischen Präsidenten um weitere sechs Jahre zu verlängern, möglichst unter Einhaltung aller Normen und mit maximaler Legitimierung. Alle Aktivitäten werden sich darauf richten, dieses Ziel zu erreichen.
Was wird die Regierung im Zuge der Wahlen als Bonus verkaufen? Eine Möglichkeit wäre die Politisierung selbst. Der Wähler bekommt als Bonus angeboten, ein eigenständiges politisches Subjekt zu sein. Sie wählen nun nicht mehr als Schräubchen, sondern Sie wählen als vollwertige Subjekte der Geschichte – und das in einer Situation der geopolitischen Konfrontation mit dem Westen.
Der postsowjetische Mensch als politisch Handelnder
Man wird nicht auf Passivität, sondern auf Aktivität setzen – natürlich auf eine kontrollierte. Aber wie wir uns bereits überzeugen konnten, gerät die Sache, sobald es um Werte geht – und Politik ist eben auch ein Wert –, schnell außer Kontrolle.
Man kann behaupten, dass der Klientelismus das System immer noch besser absichert als alle offiziellen Mechanismen, und dass es in den Regionen keinerlei Voraussetzungen für politische Aktivität gibt. Aber das ist, wenn man so will, nur die äußere Gestalt. Was im Massenbewusstsein passiert, kann keine Meinungsumfrage einfangen. Wir können nur annehmen, dass ganze Massen zu politischen Subjekten werden, dass der postsowjetische Mensch sich als Spieler und sogar als politisch Handelnder bewusst wird.
Ein völlig anderes Land mit völlig anderen Menschen
Ändert sich dadurch etwas Grundlegendes? Ja. Das ändert absolut alles.
Den sowjetischen „Massenmenschen“ gibt es nicht mehr, er ist in Millionen von Subjekten mit Interessen zerfallen, auch politischen, was immer man jeweils unter diesem Wort versteht. Die Regierung hat das selbst angerichtet, entgegen ihrem eigenen Willen, oder vielleicht kraft ihrer eigenen momentanen Natur.
Wir haben es mit politischen Subjekten zu tun – und das ist bereits ein völlig anderes Land, mit völlig anderen Menschen. Die Politisierung Russlands ist unausweichlich. Und genau das ist es, was die nächste historische Zukunft grundlegend und entscheidend bestimmen wird.
Der Battle ist eröffnet: Seit dem heutigen Dienstag beschäftigt sich ein Moskauer Gericht mit der Verleumdungsklage von Alischer Usmanow gegen Alexej Nawalny. Usmanow hatte diese eingereicht, nachdem der Oppositionspolitiker ihn im VideoNennt ihn nicht Dimon der Bestechung beschuldigt hatte. Über ein undurchsichtiges Stiftungsnetzwerk soll Usmanow dem russischen Regierungschef Medwedew etwa ein Grundstück zugespielt haben.
Doch Usmanow beließ es nicht bei rechtlichen Schritten: In zwei unterschiedlichen Videos hatte Usmanow Mitte Mai auf Nawalnys Anschuldigungen reagiert. Oligarch und Medienmogul Usmanow – er ist Eigentümer des Verlagshauses Kommersant – richtete extra einen YouTube-Kanal ein, um Nawalny zu kontern.
Nawalny veröffentlichte beide Filme auch in seinem eigenen Kanal, dort wurden sie inzwischen fast drei beziehungsweise zwei Millionen Mal aufgerufen – auf Usmanows eigenem Kanal dagegen knapp 1 beziehungsweise 1,5 Millionen Mal. Daraufhin hat Nawalny wiederum per Video reagiert.
Es ist das erste Mal, dass ein Oligarch und Mitglied der Moskauer Elite öffentlich auf derartige Anschuldigungen antwortet und dazu Stellung nimmt – noch dazu über ein Medium, in dem Nawalny viel mehr zuhause ist als Usmanow selbst. Einzelne Politiker, wie etwa Wladimir Milow, sehen hinter Usmanows Video-Botschaften gar einen „Befehl von oben“ , auch um von den Anschuldigungen gegen Medwedew abzulenken.
Politologe Gleb Pawlowski erläutert im Interview mit fontanka.ru, inwiefern der Beef des Oligarchen und des Oppositionspolitikers auch Ausdruck eines neuen Politik-Verständnisses ist, warum ein Gerichtsurteil eh kaum jemanden interessieren werde – und weshalb Usmanow sicherlich nicht im Auftrag Putins gehandelt habe.
Irina Tumakowa: Gleb Olegowitsch, hat der Kreml Usmanow wirklich „darum gebeten“ oder hatte Alischer Burchanowitsch selbst das Bedürfnis, sich zu äußern?
Gleb Pawlowski: Welcher „Kreml“ genau? Auf welcher Ebene? Ich glaube nicht, dass man Alischer Usmanow in so einer Angelegenheit einfach „bitten“ kann. Das wäre unter seinem Niveau. Wenn er nicht hätte reagieren wollen, genauer – wenn er nicht vor Wut schäumen würde, hätte er, wie sonst übrigens auch, nicht einen einzigen Finger krumm gemacht. Aber das hier hat ihn offensichtlich getroffen. Das konnte man an seinem Verhalten sehen, an seiner ziemlich ungehaltenen Redeweise. Glauben Sie mir, der kann sich zusammenreißen, wenn er will. Ich habe gesehen, wie er mit anderen redet und sie siezt und nicht duzt, wie hier.
Das Entscheidende an diesem Auftritt ist aber, dass unser Leben sich gerade verändert. Etwas, das noch vor ein, zwei Jahren außergewöhnlich war, das wir vergessen hatten, wird wieder normal. Denn das ganze oberste kremlnahe Establishment hat ja geschwiegen. Hat nicht reagiert. Es hat einen ignoriert. Langsam, aber sicher werden sie jetzt alle redseliger. So auch Usmanow. Und ich glaube, das ist gut so.
Was ist gut daran?
Man muss kapieren: Die Politik ist wieder da. Lange hieß es, es gebe keine Politik mehr, sie sei irgendwohin verschwunden und würde erst irgendwann dann zurückkommen, wenn Putin geht, und so weiter. Aber das heute – das ist bereits Politik. Alle fangen an, ihre Interessen zu verteidigen. Auch Usmanow tut das. So gut er kann.
Er hat Klage eingereicht und könnte, sagen wir, drei Milliarden Schadensersatz verlangen, aber er denkt sich Videofilmchen aus.
Vielleicht dachte Usmanow am Anfang, es würde reichen, diesen Flegel mit rechtlichen Mitteln in die Schranken zu weisen. Usmanow hat dank seines Geldes die unterschiedlichsten Möglichkeiten. Legale und andere.
Lange hieß es, es gebe keine Politik mehr, sie sei irgendwohin verschwunden. Aber das heute – das ist bereits Politik
Außerdem hat er die Möglichkeit, formal vor Gericht zu gewinnen, denn Nawalny wird vieles einfach nicht nachweisen können, rein formal ist die Sache wasserdicht. Dann hat Usmanow gesehen, dass seine Klage den Flegel kein bisschen beeindruckt. Dass im Gegenteil er, Usmanow, sich mit dieser Klage selbst ein Bein gestellt hat. Dass nämlich Nawalny sich über eine weitere Plattform für seinen Triumph nur freut. Die Entscheidung des Gerichts ist völlig nebensächlich, weil niemand sie ernstnehmen wird. Als ihm das klar wurde, hat Usmanow beschlossen nachzulegen.
Usmanow empfindet sich selbst nicht nur als starke und wichtige Persönlichkeit, sondern gewissermaßen als eine Stütze des Staates. Also ist er mit seiner Position an die Öffentlichkeit getreten. Er hat seine Werte dargelegt. Die Argumente genannt, die für ihn sprechen. Etwas, das in unseren Machtstrukturen seit Beginn der 2000er Jahre nicht mehr üblich war. Es war verschwunden, wir hatten vergessen, wie man das macht. Jetzt wird das wieder zunehmen.
Usmanow hat seine Werte dargelegt, Argumente genannt, die für ihn sprechen. So etwas war seit Beginn der 2000er Jahre nicht mehr üblich. Jetzt wird das wieder zunehmen
Mit der Zeit werden auch irgendwelche Gouverneure anfangen zu reden. Jedenfalls die, die sich ausreichend sicher sind, dass man sie nicht einbuchtet.
Es wird der Moment kommen, da auch Igor Iwanowitsch Setschin mit seinen Ansichten an die Öffentlichkeit tritt. Ich glaube, wir werden es sogar erleben, dass selbst Putin irgendwann nicht mehr nur durch den Mund Peskows spricht. Es wird bei uns lauter werden im staatlichen Bereich.
Dann hat Usmanow diese Tradition begründet?
Nein, nein. Ich erinnere mich noch gut, wer angefangen hat. Das war jemand, der jünger war als Usmanow, und in gewisser Weise schillernder. Es war Ramsan Kadyrow.
Als Wendepunkt kann man den Mord an Boris Nemzow sehen. Diejenigen, die das getan haben, wollten das Thema einfach für immer totschweigen, aber das führte nur dazu, dass der Eisberg Risse bekam. Und als man dann Kadyrow beschuldigte, fing er an zu reden.
Ich glaube also, dass wir uns längst im Zustand einer Politisierung befinden. Später haben sich andere Kadyrow angeschlossen. Die Staatsmacht begann zu sprechen.
Usmanow mit seinem Auftritt zählen Sie also zur „Staatsmacht“?
Zur „Staatsmacht“ im weitesten Sinn. Unsere „Staatsmacht“ – das ist quasi ein Rat von Führungskräften der Aktiengesellschaft Russische Föderation. Übrigens hat sich die Position von Präsident Putin in diesem Rat gewandelt. Früher war er der geschäftsführende Direktor, heute ist er eher der Ehrenvorsitzende des Vorstands.
Das heißt, Putins Rolle ist mittlerweile mehr eine formelle und weniger eine maßgebliche?
Ja, Ehrenvorsitzende von Gesellschaften treffen in der Regel keine Entscheidungen. Der Vorstandsvorsitzende ist jemand, der unterzeichnet, sanktioniert, die Einigkeit der Gesellschaft verkörpert. Das ist die Rolle, die Putin spielt.
Wer hat Putin als „geschäftsführenden Direktor“ abgelöst?
Da ist noch niemand, und ich glaube, genau das können wir tagtäglich beobachten. Genauer, die Funktion des geschäftsführenden Direktors hat sich aufgespalten und ist auf mehrere Gruppen verteilt worden.
Putins Rolle hat sich gewandelt. Früher war er der geschäftsführende Direktor, heute ist er eher der Ehrenvorsitzende des Vorstands
In solchen Fragen, wie der von Baschneft oder der Privatisierung von Rosneft, hätte Putin vor fünf Jahren zweifellos vom ersten bis zum letzten Punkt die bestimmende Rolle für sich beansprucht.
Jetzt aber konnten wir beobachten, wie er unter dem Druck von Setschin seine Position um 180 Grad geändert hat. Natürlich werden die Entscheidungen trotzdem im Namen Putins getroffen.
Und wer trifft sie gerade tatsächlich?
Verschiedene Menschen, und sie bilden Koalitionen, die unterschiedlich starken Einfluss besitzen. Es existiert kein einheitliches System der Entscheidungsfindung mehr. Apolitische Bürokratien, die sich nicht beeinflussen lassen durch Minister- und Premierministerwechsel, sondern einfach ihre Arbeit machen, die gibt es bei uns nicht. Deshalb läuft heute alles über Einflussgruppen. Davon gibt es viele, und sie reichen alle hinauf bis zum engsten Kreis des Präsidenten.
Zu welcher dieser Einflussgruppen gehört Usmanow? Oder steht er für sich allein?
Nein, für sich allein steht er definitiv nicht. Zu welcher Koalition er gerade gehört, weiß ich nicht, aber sicher ist, dass er manchen näher steht und anderen ferner. Und es ist ja auch nicht ungefährlich, sich eindeutig zu positionieren. Man wird automatisch zur potentiellen Zielscheibe für andere Gruppen. Deswegen halten sich alle schön zurück.
Sie sagen, Entscheidungen werden nicht mehr nur von einer Person für alle anderen getroffen; die Staatsmacht fängt an, sich zu erklären. Bewegen wir uns auf eine etwas normalere Gesellschaft zu?
Wir bewegen uns auf eine normale Gesellschaft zu insofern, als gerade die Politisierung ein normaler Trend ist. Nicht normal dagegen war der jahrelange Trend zur Entpolitisierung. Das Streben, einen Konflikt oder öffentliche Debatten einfach auszumerzen – das war nicht normal.
Es gibt kein einheitliches System der Entscheidungsfindung mehr. Heute läuft alles über Einflussgruppen. Davon gibt es viele, und sie reichen hinauf bis zum engsten Kreis des Präsidenten
Nach und nach haben wir angefangen zu glauben, dass das schon immer so war und auch in den nächsten zehn, zwanzig Jahren so bleiben könnte. Doch jetzt hat eine Politisierung eingesetzt. Und natürlich wird sie bis zu einem gewissen Grad zu einer Öffnung führen.
Es wird normal für uns werden, dass bestimmte Menschen bestimmte Ansichten vertreten, wir werden diese Ansichten kennen und diskutieren. Sie werden von anderen Menschen deswegen attackiert werden. Das alles ist normal.
Usmanow hat Nawalny ohne große Show, dafür mit Argumenten geantwortet. Ist das gut oder schlecht für den Kreml?
Nochmal, für welchen Kreml? Der Kreml ist nicht homogen. Was Putin angeht, so höre ich förmlich, wie er zu so einem Video sagt: „Was soll das nun schon wieder?“
Er war schon immer gegen solche Formen der öffentlichen Verteidigung. Das geht also nicht von Putin aus.
Nochmal, für welchen Kreml? Der Kreml ist nicht homogen
Wenn jemand Usmanow um eine öffentliche Stellungnahme gebeten hat, könnte dieser jemand nun nicht mehr sagen, das sei irgendwie daneben gewesen. Dieser jemand muss behaupten, dass Usmanow großartig war. Ich glaube nicht, dass sich irgendwer mit Usmanow wegen dieses Filmchens streiten wird, sondern sie werden sagen: „Dem hast du‘s aber richtig gegeben.“
Und die Hälfte von diesen Leuten wird das auch so meinen, da bin ich mir sicher. Weil sie sich selbst betrügen. Sie leben im Nebel der einstigen Überlegenheit des Kreml über allen anderen. Und jetzt löst sich diese Überlegenheit eben auf wie Nebel.
Heute ist der Kreml nicht mehr die Avantgarde, sondern gewissermaßen der rückständige Bodensatz. Diese Dinge spüren viele aber nicht.
Diese Leute, die im Nebel leben, die Usmanow vermutlich gebeten haben …
Warum interessieren die Sie überhaupt so brennend?
Mich interessiert, was sie in Zukunft unternehmen werden. Wohin sie ihr Erfindergeist im Kampf gegen Nawalny führen wird.
Sie müssen einfach verstehen, dass diese Leute inkompetent sind. Das kann man auch ohne diese ganzen Geschichten sagen. Diese Inkompetenten werden uns noch eine Weile an der Macht erhalten bleiben. Aber die Inkompetenz äußert sich in ernsteren Dingen als in diesem Kinderkram. Wir müssen einfach einsehen, dass wir vorübergehend unter der Verwaltung einer Gruppe von Inkompetenten stehen.
Es ist das umfangreichste und größte Abriss- und Neubauprojekt, das jemals in Russland vorgenommen wurde: Im Februar verkündete Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, dass 8000 Wohnhäuser der Stadt, zumeist Chruschtschowki im Plattenbaustil aus den 1950er und 1960er Jahren, abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden sollen. Knapp 1,6 Millionen Menschen seien betroffen und 25 Millionen Quadratmeter Wohnfläche – ein Zehntel der gesamten Wohnfläche in Moskau.
Ursprünglich hatten die ersten fünfstöckigen Chruschtschowki nur 25 Jahre als eine Art „Übergangslösung” halten sollen. Heute sind deshalb tatsächlich viele von ihnen in keinem guten Zustand mehr. Doch gerade viele ältere Bewohner verbinden mit den Chruschtschowki nach wie vor eine soziale Verbesserung, eine Wohltat durch den Staat – die das von Chruschtschow initiierte Wohnungsbauprogramm ab Mitte der 1950er Jahre für viele tatsächlich bedeutet hatte. Mit dem Versprechen einer kleinen Wohnung für jede Familie hatte Chruschtschow seine politischen Rivalen nach Stalins Tod ausgehebelt.
Den betroffenen Bewohnern wird die Umsiedlung in Wohnungen im gleichen Bezirk versprochen. Und sogar ein neuer Gesetzentwurf wurde formuliert: Nach Zuweisung einer neuen Wohnung räumt er den Bewohnern eine Einspruchs-Frist von 60 Tagen ein, wenn sie das Angebot der Stadt nicht annehmen oder gerichtlich dagegen vorgehen wollen.
Kritiker des Projekts, wie die Anwohnerin und Aktivistin Kari Guggenberger, argumentieren unter anderem, dass es – egal, wie die Mehrheit entscheidet – schlicht gegen die Verfassung sei, einem einzelnen Eigentümer gegen dessen Willen das Eigentum zu entziehen. Guggenberger hat außerdem wenig Vertrauen in die Zusagen nach gleichwertigem Wohnraum: „Wenn die Behörden unsere Grundfläche brauchen, dann sollen sie uns dafür Geld zahlen, für eine Wohnung und eine Renovierung, damit wir eine Wohnung in einem entsprechenden Haus kaufen und renovieren können. Aber eine solche Regelung ist in dem Gesetzentwurf nicht vorgesehen.“
Nach zunehmendem Unmut der Bürger, gab die Stadt Anfang Mai bekannt, dass die Anwohner von 4566 der ursprünglich 8000 vorgesehenen Häuser nun über den Abriss abstimmen sollen. Das können sie vom 15. Mai bis zum 15. Juni via Internet oder bei den städtischen Bürgerämtern tun. Das Schicksal der restlichen Chruschtschowki bleibt vorerst noch in der Schwebe. Für den 14. Mai haben die Behörden nun eine Demonstration gegen den Abriss genehmigt.
Die Novaya Gazeta hat im April Chruschtschowka-Bewohner in verschiedenen Moskauer Stadtteilen zu Hause besucht – und nach deren Meinung zu den Abrissplänen gefragt.
Maria: Wir vier Geschwister sind in dieser Wohnung geboren und aufgewachsen. Jetzt sind wir erwachsen, haben eigene Kinder. Wenn eine meiner Schwestern mit ihrer Familie zu Besuch kommt, wird es natürlich etwas eng. Aber besser eng als ungemütlich!
Maxim Borissowitsch: Dafür zählt für uns bei jeder Wegstrecke immer nur die Zeit ab der Metrostation (denn bis zur Station Beljajewo sind es nur circa zwei Minuten zu Fuß).
Anna: Wir wollen nicht, dass man das Haus abreißt, in dem wir aufgewachsen sind. Ich unterscheide rechts und links heute noch so, wie Papa es mir beigebracht hat: Wenn man zur Küche schaut, ist links da, wo die Badezimmertür ist, und rechts – da, wo die Wand ist.
Alexander und Aljona Selin Bezirk: Metrogorodok Baujahr: 1959 Einzugsjahr: 1976 Wohnfläche: 72 m2 Bewohner: 5 Personen, 3 Katzen Umzugswunsch: ja, aber innerhalb des Bezirks
Alles ist verrottet, alles ist marode
Alexander: Die Rohre sind verrottet, [*** schimpft Mat], alles ist verrottet, alles ist marode, es rieselt von den Wänden. Ich hab die Schnauze voll von dieser Wohnung. Ich will eine neue! Aber nur in diesem Bezirk. In irgendein Neu-***hausen werd ich nicht ziehen, auf gar keinen Fall. Auch wenn drei Aufforderungen kommen, ich geh hier nicht weg. Ich besorg mir ne Knarre, und dann soll mich mal einer hier rausbekommen. Aber ich weiß, dass sie unser Haus nicht abreißen.
Anastasia, Alexej, Olga Prochorjatow Bezirk: Tuschino Baujahr: 1959 Einzugsjahr: 2006 Wohnfläche: 53,9 m2 (2 Zimmer) Bewohner: 3 Personen, 2 Hunde Umzugswunsch: durchaus (aber nur in eine Pjatietashkamit hohen Decken in demselben Bezirk)
Das hier ist ein Dorf mitten in der Stadt
Olga: Die ersten fünf Jahre nach dem Einzug haben wir aus Kisten gelebt. Alle haben gewartet, dass sie uns im Rahmen des Lushkow-Programms abreißen. Haben sie aber nicht. Wir haben drei Mal renoviert, Hunde angeschafft und uns in die hohen Decken verliebt.
Gegen einen Wohnungswechsel hätten wir ja vielleicht gar nichts – das Haus „wandert“, es gibt kein Fundament, es wurde direkt auf dem Erdboden gebaut, die Rohre sind alt – aber nur im selben Bezirk!
Unsere Pjatietashki bilden sowas wie ein Dorf mitten in der Stadt, man kennt sich hier. Sogar Garik Sukatschow hat uns mal auf einem Konzert „wiedererkannt“! Er ist ja in Tuschino geboren, und er fragte uns bei einem Konzert: „Woher seid ihr denn?“, und wir: „Von der Nowoposselkowskaja“, und er: „Aus dem Dörfchen also! Unsere Leute!“
Tatjana und Iwan Jeremenko Bezirk: Sokolniki Baujahr: 1957 Einzugsjahr: 1965 Wohnfläche: 97,8 m2 Bewohner: 2 Personen (3 Zimmer, umgebaut in 4 Zimmer) Umzugswunsch: kategorisch dagegen
Das ist meine ‚kleine Heimat‘
Tatjana: In einem Hochhaus bist du nur ein Schräubchen im Getriebe, du empfindest dich nicht als Individuum. Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe in vielen Ländern und Häusern gelebt. Aber ich wollte immer nach Hause zurück. Das ist meine „kleine Heimat“. Mein Opa hat mit 51 Stalingrad verteidigt. Und ich werde mit meinen 51 mein Haus verteidigen. Ich habe schon 90 Prozent der Unterschriften gegen den Abriss zusammen.
Draußen laufen singende Afrikaner oder lustige Alkis vorbei
Jelena: Als ich hierher gezogen bin, habe ich diese Wohnung und das Viertel gehasst. Das war die Wohnung meiner Schwiegereltern (sie sind wunderbare Menschen!). Ich habe immer das Licht angemacht, wenn niemand zu Hause war. Später wurde Dima hier geboren, und jetzt will ich hier nicht mehr weg. Irgendwie entspricht das Haus von den Proportionen her seinen Bewohnern.
Dima: Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir diese Wohnung nicht mehr besonders. Aber es geht mir mehr um Aura und Energie, nicht um den baulichen Zustand. Und die Aura in unserem Erdgeschoss ist super: Manchmal, wenn ich meine Morgengymnastik mache, laufen draußen singende Afrikaner vorbei, oder lustige Alkis.
Tja und außerdem: Wenn ich bei meinen Freunden in Hochhäusern zu Besuch bin, dann finde ich die Wohnungen natürlich schön, aber wie soll ich bitte in einem Hochhaus durchs Fenster klettern, wenn ich meinen Schlüssel vergessen habe?
Natalja, Roman und Wladimir Oreschkin Bezirk: Oktjabrskoje Polje Baujahr: 1959 Einzugsjahr: 1974 Wohnfläche: 43 m2 (2 Zimmer) Bewohner: 2 Personen Umzugswunsch: durchaus
Für eine Frau ist so eine kleine Küche ein Alptraum!
Natalja: Im Prinzip haben wir nichts gegen einen Umzug. Ich weiß wahrlich nicht, wer diese Wohnung geplant hat! Mit Durchgangszimmer und einem Flur, in dem man gerade mal alleine stehen kann, die Küche hat 4,5 m². Für eine Frau ist eine kleine Küche ein Alptraum!
Wladimir: Dafür, sehen Sie mal! (Setzt sich auf einen Hocker mitten in die Küche.) Von hier aus komme ich ans Fensterbrett, den Kühlschrank, den Herd und die Mikrowelle! Sehr praktisch! (lacht)
Roman: Wir haben nichts gegen Hochhäuser, aber ich persönlich kann nicht hoch oben wohnen. Ich habe panische Angst. Mich haben damals die Terroranschläge an der Kaschirka, wo die Hochhäuser in die Luft gejagt wurden, schwer mitgenommen.
Sofia Meshenina und Pawel, Antonina und Valentin Broner Bezirk: Beljajewo Baujahr: 1967 Einzugsjahr: 2009 Wohnfläche: 60 m² (3 Zimmer) Bewohner: 4 Personen, 1 Hund, 1 Ratte und Gespenstschrecken im Aquarium Umzugswunsch: eher nein
Warum für ein Haus kämpfen, das sowieso auseinanderfällt?
Sofia: Wenn unser Haus abgerissen wird, ziehen wir aufs Land. In dieser Wohnung habe ich meine frühe Kindheit verbracht, und ich wollte immer hierher zurück. Das ist das einzige Haus, das einzige Viertel, das ich liebe. Aber was hat es für einen Sinn, bis zum Schluss für ein Haus zu kämpfen, das früher oder später sowieso auseinanderfällt.
Jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft
Jelena: Ich mag keine Menschenmassen. Überhaupt nicht. Ich kann alleine leben. Was ein modernes Hochhaus bedeutet, kann ich mir lebhaft vorstellen: ein Haufen neuer Gesichter, Autos und niemand, den ich kenne.
Ich bin eine „Grüne“, lebe ohne Vorhänge – aus dem Fenster sehe ich den Park. Und jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft (gemeint ist der Hund – Anm. Novaya Gazeta). Wo soll ich mit ihm hin, wenn wir umziehen müssen? Zwischen den Häusern Gassi gehen?
Julia, Igor, Sofia und Anissija Obrasow Bezirk: Sapadnoje Degunino Baujahr: 1964 Einzugsjahr: von Geburt an Wohnfläche: 40 m2 (2 Zimmer) Bewohner: 4 Personen, 1 Katze Umzugswunsch: ja
Auf 26 m² mit zwei Kindern, Frau und Katze
Igor: Ich lebe seit meiner Geburt in dieser Wohnung, früher gehörte sie meinen Eltern. Auf 26 m² [sic] mit zwei Kindern, Frau und Katze – wie würdest du da einem Umzug gegenüberstehen? Gut natürlich. Hauptsache, sie stecken uns nicht in eine noch kleinere.
Julia: Wir haben keinen Müllschlucker, keinen Aufzug. Müssen den Kinderwagen in den vierten Stock schleppen. Unser alter Kinderwagen hat 14 Kilo gewogen. Dazu das Baby sieben Kilo. Allein schon, wenn alle zusammen einkaufen gehen wollen, ist das ein Problem. Außerdem muss alles platzsparend sein, wir haben zwei teure Ausziehsofas gekauft. Und Gäste können wir auch kaum einladen.
Julia: Diese Wohnung hat schon viel gesehen. Ich wollte immer in so einer leben. Ich hatte nicht genug Geld, aber der Makler hat mich überzeugt, dass das Geld schon kommt, ich es außerdem nirgendwo so gut habe wie hier.
Ich liebe meine Wohnung, den Apfelbaum, der vor meinem Balkon blüht.
Jetzt träumen sie von einer Aufwertung dieser Gegend hier, wollen eine Zufahrtsstraße zum MKAD bauen, viele Spielplätze und Häuser abreißen (unter anderem meines). Wir sammeln Unterschriften dagegen, gehen auf die Straße und halten Pikety, aber es gibt wenig Hoffnung.
Natalja Markewitsch Bezirk: Retschnoi Woksal Bauzeit: 1950er Jahre Einzugsjahr: 2008 Wohnfläche: 31 m2 (2 Zimmer, umgebaut in 1 Zimmer) Bewohner: 1 Person, 1 Katze Umzugswunsch: ja
Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha
Natalja: Ich habe diese Wohnung wegen des Fensterblicks gekauft. Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha. In der Nähe ist eine Haltestelle, es gibt Obstbäume, Spielplätze und die Bäume wachsen bis an die Fenster. Sogar aus weiter entfernten Häusern kamen die Menschen mit ihren Kindern zum Spielen her. Jetzt haben sie mich quasi umgesiedelt, ohne mein Wissen: Vor meinem Fenster wurden Stromleitungen gespannt und eine vierspurige Straße gebaut. Es gab keinerlei Gespräche mit den Einwohnern, die Proteste haben niemanden interessiert.
Mittlerweile gibt es keine Nachfrage mehr nach den Grundstücken hier, sogar das Bürogebäude nebenan steht leer. Die Leute warten darauf, neue Wohnungen zu bekommen, leben oft in Großfamilien auf engstem Raum. Aber es passiert nichts.
Wlad Suslow und seine Mitbewohner Damir und Shenja Bezirk: Lefortowo Bauzeit: 1950er Jahre Einzugsjahr: 2017 Wohnfläche: 48 m2 (2 Zimmer) Bewohner: 3 Personen Umzugswunsch: eher dagegen
Die Oma hat die Wohnung in sehr authentischem Zustand hinterlassen
Wlad: Wir haben diese Wohnung zu dritt angemietet. Früher hat hier eine alte Frau gelebt, sie hat die Wohnung in einem sehr authentischen Zustand hinterlassen: ziemlich runtergelebt und mit über viele Jahre angesammeltem Ruß, den man nur schwer abbekommt.
Die meisten Leute im Haus sind Mieter. Hier ist es um einiges günstiger. Aber der Hauptgrund, hier zu wohnen, ist die gute Lage, man ist schnell zu Fuß an der Uni.
Ich fühle mich wohl in diesem Haus, man spürt hier sowas wie Geschichte, eine besondere Atmosphäre.
Seit der Angliederung der Krim ist Russlands Präsident im Umfrage-Hoch: Seine Beliebtheitswerte liegen bei über 80 Prozent. Doch wie zuverlässig sind solche Zahlen? Nicht sehr, meint Grigori Judin. Der Sozialwissenschaftler forscht an der renommierten Moskauer Higher School of Economics. Ein etablierter Name in der Wissenschaft ist er noch nicht, sein Interview auf Colta.ru aber verspricht frischen Wind für die russische Soziologie – es erfuhr recht große Aufmerksamkeit und wurde auch über Soziale Medien viel geteilt. dekoder bringt es in zwei Teilen.
Im ersten spricht Judin über trügerische Aussagekraft von Meinungsumfragen – selbst wenn sie von so renommierten Instituten wie dem Lewada-Zentrum kommen.
Gleb Naprejenko: Heutzutage ist in Russland die Vorstellung verbreitet, es gäbe eine konservative Mehrheit, die Putin und seine Politik unterstützt. Diese Vorstellung basiert auf soziologischen Umfragen, die uns, so wird behauptet, eben jene Mehrheit dokumentieren. Was aber zeigen uns diese Umfragen tatsächlich?
Grigori Judin: Wir haben irgendwie nicht bemerkt, wann soziologische Umfragen in Russland zur zentralen Institution politischer Repräsentation wurden. Das ist eine spezifisch russische Situation, obwohl Umfragen im Prinzip weltweit immer wichtiger werden. Aber speziell in Russland konnte das Modell der Meinungsumfragen das Publikum leicht in seinen Bann ziehen, weil es einen Anspruch auf demokratische Teilhabe verkörpert, darauf, die unverstellte Stimme des Volkes zu sein.
Es hypnotisiert das Publikum mit seinen Zahlen. Wäre das Publikum weniger hypnotisiert und würden wir unterscheiden zwischen dem demokratischen Prozess als Selbstbestimmung des Volkes auf der einen und Umfragen als Institution der totalen politischen Repräsentation auf der anderen Seite, dann würden wir schnell ein paar Dinge feststellen, die allen klar sind, die mit Umfragen zu tun haben.
Erstens ist Russland ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen – als würde man über etwas Unanständiges reden. Es ist also kein Wunder, dass nur eine verschwindend geringe Minderheit Fragen beantwortet – erst recht zum Thema Politik. Deshalb entbehrt der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, in der Realität jeder Grundlage.
Russland ist ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen – als würde man über etwas Unanständiges reden
In den Umfragen gibt es einen technischen Kennwert – die Ausschöpfungsquote: Sie zeigt an, wie viele der insgesamt Befragten auf die Fragen geantwortet haben, also wie viele überhaupt zu einem Interview bereit waren. Je nach Methode bewegt sich der Anteil zwischen 10 und 30 Prozent.
Das ist nicht sehr viel, oder?
Das bedeutet einfach nur, dass wir über die restlichen 70 bis 90 Prozent nichts wissen. Daraus folgt wiederum eine zähe Diskussion, in die uns die Meinungsforschungsinstitute immer wieder zu verstricken versuchen, darüber, dass wir ja keine Beweise hätten, dass sich diese 10 bis 30 Prozent von den anderen 70 bis 90 unterscheiden würden.
Natürlich haben wir keine Beweise. Beweise hätten wir nur, wenn es uns gelingen würde, diese 70 bis 90 Prozent zu befragen, von denen wir wissen, dass sie sich nicht an Umfragen beteiligen wollen.
Der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, entbehrt jeder Grundlage
Aber unsere allgemeinen Beobachtungen bestätigen die Annahme, dass die Weigerung, an solchen Umfragen teilzunehmen, eine Form des passiven Widerstands ist. Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Das alles geschieht aus denselben Gründen.
Seit wann ist das so?
Es gab ein Aufflammen des politischen Enthusiasmus Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, und genau in dieser Zeit, 1987, wurde das erste Meinungsforschungsinstitut gegründet, das WZIOM. Meinungsumfragen waren ein neues Instrument der Repräsentation, das die sowjetische Gesellschaft nicht gekannt hatte. Sie kamen auf mit der Welle der postsowjetischen Demokratie-Begeisterung in den Jahren der Perestroika.
Schon Ende der 1990er flachte diese Begeisterung wieder ab, die in den 2000er Jahren in Politikverdrossenheit mündete. Deshalb bekamen wir in den 2000er Jahren diese ganzen Polittechnologien, die bewusst auf Entpolitisierung abzielten, darauf, die Politik als eine Witzveranstaltung darzustellen, wo absurde Clowns gegeneinander antreten, die kein vernünftiger Mensch jemals wählen würde.
Das alles schadete auch den Umfragen.
Denn Umfragen sind keineswegs nur eine wissenschaftliche Methode zur Erforschung der öffentlichen Meinung, wie das allgemein angenommen wird, sondern auch eine Institution der politischen Repräsentation. Als solche wurden sie nämlich von George Gallup erdacht, und genau so haben sie immer funktioniert. Deshalb war die Enttäuschung über die politischen Institutionen unter anderem auch eine Enttäuschung über die Meinungsumfragen.
Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Beides geschieht aus denselben Gründen
In letzter Zeit kommt außerdem hinzu, dass Umfragen ganz gezielt als Technologie zur Unterdrückung politischer Partizipation eingesetzt werden. Der Staat hat sich die Meinungsforschungs-Branche praktisch angeeignet.
Obwohl es heute drei Hauptakteure im Bereich der Meinungsumfragen gibt – FOM, WZIOM und das Lewada-Zentrum (und wir wissen, dass das Lewada-Zentrum eine regierungsferne Position einnimmt und ständigen Attacken durch den Kreml ausgesetzt ist) –, so arbeiten diese drei Unternehmen doch alle fast innerhalb ein und desselben Diskurses.
Nachdem es nun dem Kreml gelungen war, dieses Feld unter seine ideologische Kontrolle zu bringen, wurden auf einmal genau die Ergebnisse produziert, die der Kreml brauchte.
Von welchem Diskurs redest du?
Wie funktioniert die Umfrage-Industrie heute? Man bezichtigt die Organisatoren von Umfragen derzeit oft der Fälschung, aber das ist fern der Realität. Die brauchen gar nichts zu erfinden oder zu lügen, sie nehmen einfach die Abendnachrichten und befragen am nächsten Morgen die Menschen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde. Und weil das komplette Nachrichtenprogramm vom Kreml diktiert wird, begreifen diejenigen, die zu einem Interview bereit sind (und das sind, wie gesagt, die Wenigsten), schnell, was von ihnen erwartet wird.
Warum bewegt sich sogar das Lewada-Zentrum innerhalb dieser Logik, obwohl es, zumindest scheint es so, oppositionell-liberal eingestellt ist?
Weil es in genau denselben konservativen Rahmen existiert, mit dem einzigen Unterschied, dass die Staatspropaganda Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg zeichnet und sagt, wie toll das sei. Das Lewada-Zentrum dagegen bezeichnet Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg – und sagt, wie schlimm das sei. Im Hinblick auf die Sprache, mit der sie die Welt beschreiben, unterscheiden sie sich meistens nicht sonderlich voneinander.
Wird eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen, so antworten die Menschen sofort anders
Obwohl das Lewada-Zentrum manchmal Umfragen bringt, deren Fragestellungen nicht aus den Nachrichten vom Vortag stammen. In diesem Fällen zeigen sich dann übrigens ziemlich unerwartete Ergebnisse – eben weil man anders mit den Menschen spricht.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Ein gutes Beispiel dafür war, als der Militäreinsatz zur Unterstützung Assads in Syrien gestartet wurde. Gleich zu Beginn, als die Möglichkeit solch einer Operation erstmals im Raum stand, hat das Lewada-Zentrum die Menschen befragt, ob Russland Assad direkt militärisch unterstützen und Truppen nach Syrien verlegen sollte. Die Reaktion war wenig überraschend: Im Grunde wollte kaum jemand, dass Russland sich in diese kriegerische Auseinandersetzung einmischt.
Gerade mal zwei Wochen später, als die Intervention schon im Gange war, hatte die Regierung eine Nachrichtensprache dafür entwickelt, und das Lewada-Zentrum griff genau diese Sprache in seiner Fragestellung auf: „Wie stehen Sie dazu, dass Russland Stellungen des Islamischen Staates (eine in Russland verbotene terroristische Vereinigung – Red.) angreift?“
Hier wurde also, grob gesagt, ohne jegliche Zitatkennzeichnung eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen. Die Menschen reagierten sofort anders. Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung der Menschen zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen.
Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen
Wichtig ist außerdem, dass die reale Produktion der Umfragen nicht den Moskauer Instituten obliegt, die sich die Umfragen ausdenken, sondern den konkreten Interviewern und Befragten in ganz Russland.
Gerade erst haben wir eine Interviewreihe mit solchen Interviewern durchgeführt, und die sagen für gewöhnlich zwei Dinge. Erstens: Die Menschen wollen nicht über Politik sprechen. Das ist ein großes Problem. Wenn eine Umfrage zum Thema Politik kommt, versuchen [die Interviewer – dek] sie nach Möglichkeit loszuwerden, weil es sehr schwer ist, die Menschen dazu zu bringen, über politische Fragen zu sprechen.
Das Zweite hängt mit der Kluft zwischen Stadt und Land und zwischen Jung und Alt zusammen. Junge Leute sprechen besonders ungern über Politik; und was die Städte betrifft – je größer die Stadt, desto weniger wollen die Leute auf Fragen über Politik antworten.
Also bleibt uns eine sehr spezifische Bevölkerungsgruppe, die mehr oder weniger bereit ist, nach folgenden Regeln mitzuspielen: Ihr stellt uns Fragen aus den Abendnachrichten von gestern, und wir zeigen euch, dass wir die Nachrichten verinnerlicht haben.
Man könnte also sagen, dass wir es mit einer allgemeinen Skepsis gegenüber der Politik zu tun haben. Aber gleichzeitig würden Sie nicht von einer konservativen öffentlichen Meinung sprechen, sondern eher davon, dass die Meinungsforschungsinstitute in ihren Methoden selbst konservativ sind?
Konservativ ist die Sprache, in der sie mit den Menschen zu sprechen versuchen. Die öffentliche Meinung ist etwas, das von Umfragen produziert wird. Umfragen sind performativ. Von Pierre Bourdieu stammt der berühmte Aufsatz Die öffentliche Meinung gibt es nicht, der von vielen leider missverstanden wurde. Bourdieu sagt, dass es zweifelsfrei eine öffentliche Meinung als Produkt der Tätigkeit von Meinungsforschungsinstituten gibt. Wir könnten sogar sehen, dass sie eine immer größere Rolle in den Polittechnologien spielt. Sie existiert nur in dem Sinn nicht, als dass es keine unvoreingenommene, unabhängige Realität gibt, die man mittels Umfragen einfach nur neutral misst und abbildet.
Jegor Skoworoda nimmt den Leser mit tief ins sibirische Nirgendwo, wo der Wald „ganz dicht“ ist, „überall Fichten, Zedern, Tannen, Birken“. Er stellt unterschiedliche Gruppierungen von Altgläubigen vor und die abgelegenen Klöster, sogenannte Skiten, der Tschassowennyje. Zu ihnen führen keine Wege, „man geht einfach querfeldein, über Wurzeln, durch Sumpfgebiet“.
Skoworoda protokolliert außerdem die Geschichte von Jelisaweta, einer jungen Amerikanerin russischer Abstammung. Sie floh aus einem Kloster am Dubtsches, 40 Kilometer zu Fuß, weiter mit dem Boot – aber erst 15 Jahre nachdem ihre Verwandten sie zu einem „Besuch“ ins Kloster gebracht hatten.
Skoworodas Bericht über Jelisawetas Schicksal erfuhr einige Aufmerksamkeit, er ist einer der mit Abstand meistgelesenen Beiträge auf dem unabhängigen Portal Mediazona. Dort sind auch die O-Töne Jelisawetas zu hören. dekoder hat ihre Geschichte nun ins Deutsche übersetzt.
Die Skiten am Dubtsches bilden das geistige Zentrum der Tschassowennyje, einer Strömung innerhalb der priesterlosen Altgläubigen. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten flohen viele Tschassowennyje zunächst nach China und zogen später nach Süd- oder Nordamerika weiter. Diejenigen, die das Land nicht verlassen hatten, wichen immer weiter in die Peripherie zurück, um der Verfolgung und Kollektivierung zu entgehen.
So fanden sie sich Ende der 1930er Jahre in der tiefsten Taiga im Turuchanski Krai wieder – mitten in der rauen, sumpfigen Wildnis. Von dort, wo der Dubtsches in den Jenissei mündet, sind es noch 500 Kilometer bis nach Krasnojarsk. Stromaufwärts einsam am Dubtsches liegen die kleinen Skiten, Klöster und Höfe der Tschassowennyje. Dorthin gelangt man nur auf dem Wasserweg und nur bei hohem Wasserstand.
In jenem Jahr kündeten die Ikonen in unserer Skite von Unglück
1951 wurden die Skiten von der Sowjetmacht entdeckt und zerschlagen. Die Häuser wurden in Brand gesteckt und ihre Bewohner gewaltsam deportiert.
„In jenem Jahr kündeten die Ikonen in unserer Skite von Unglück. Sie knarzten und knackten. Die Starzen verspürten Unruhe in ihren Herzen. Die Ikonen würden von etwas künden, sagten sie …“, so schildert Afanassi Gerassimow die letzten Tage vor dem Einfall der Strafexpedition.
Auch er wurde festgenommen, konnte jedoch fliehen. Die Gefangenen wurden auf einem Floß transportiert. Als die Aufseher eingeschlafen waren, sprang Afanassi ins Wasser. Heute weiß man, dass außer ihm noch ein paar anderen Altgläubigen die Flucht gelungen ist.
Viktor Makarow, einer der Soldaten von damals, erinnert sich ebenfalls an den Gefangenentransport:
„Die Männer aus der Taiga haben mit unserer Hilfe Flöße gebaut, und als der Dubtsches über die Ufer trat, machten wir uns zur Abfahrt bereit. Man hatte Fladenbrot gebacken und irgendwelche anderen Speisen als Proviant vorbereitet, alles ohne Salz. Kurz vor der Abfahrt setzte noch ein Mitarbeiter der Staatssicherheit das Kloster in Brand. […] Der Wasserpegel war hoch. Auf den Flößen befanden sich etwa 130 Personen, wir trieben Tag und Nacht mit dem Strom, wie Eisschollen. Das Wetter war kalt und regnerisch. Es donnerte und blitzte unaufhörlich. Durchnässt bis auf die Knochen trieben wir mehrere Tage so dahin. Als wäre das nicht genug, lief unser Floß auch noch auf eine Wurzel auf und zerschellte. Plötzlich waren die Menschen im Fluss, und wir mussten einen nach dem anderem aus dem eiskalten Wasser ziehen. Unter großer Anstrengung gelang es uns, anzulegen, wir machten Feuer und wärmten uns ein wenig auf. Während dieser Rast baten zwei oder drei Leute, austreten zu dürfen und kamen nicht wieder. Sie liefen zurück in die Taiga.“
Von denen, die bis Krasnojarsk gebracht wurden, wurden 33 wegen „geheimen antisowjetischen Zusammenschlusses von altgläubigen Sektierern“ zu zehn bis 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Vater Simeon, der Gründer der Klöster am Dubtsches starb im Lager. Ziemlich bald nach Stalins Tod, im Jahr 1954, wurden alle verurteilten Tschassowennyje amnestiert und kehrten allmählich an den Dubtsches zurück, wo sie ihre Höfe und Klöster wieder aufbauten.
Von nun an erfuhr niemand mehr den genauen Standort der Skiten
„Auch der unter den Altgläubigen hochgeschätzte Vater Antoni kehrte in die Taiga am Dubtsches zurück. Von nun an erfuhr niemand mehr den genauen Standort der Skiten, er unterlag strengster Geheimhaltung. Um sich keiner Gefahr auszusetzen, pflegte Vater Antoni sehr einseitigen Kontakt mit den Weltlichen und seinen geistlichen Zöglingen und suchte sie für seelenrettende Gespräche und Abnahme der Beichte in den Ortschaften auf. Begleitet von Jungmönchen nahm er stets einen anderen Weg, um zu vermeiden, dass sich Pfade herausbilden“, schrieb der Diakon Alexander Kolnogorow nach seinem Besuch bei den Skiten Anfang der 2000er.
Anfang der 1970er verstarb Vater Antoni, und Vater Michail nahm seinen Platz ein. Er war es auch, der den Skiten bis vor kurzem vorstand. Nach dem Zerfall der Sowjetunion lebte die Beziehung zwischen den Tschassowennyje aus der Taiga und ihren Glaubensbrüdern im Ausland wieder auf. Seitdem besuchen Nachfahren der Emigranten regelmäßig die Skiten oder schließen sich sogar der Klostergemeinschaft an.
„Die Zahl der Klosterbrüder wächst beständig, und die Zahl der Schwestern hat sich sogar verdreifacht“, berichtet Kolnogorow. „Derzeit wird die gesamte Klosteranlage erneuert. Eine Kapelle wird errichtet, ein Refektorium und neue Klosterzellen entstehen. Vor allem aber werden die leicht abgelegen vier Frauenklöster ausgebaut.“
Heute ist unter den Novizen immer öfter Englisch zu hören
Laut Kolnogorow stammen die meisten Mitglieder der heutigen Klostergemeinschaft aus anderen altgläubigen Ortschaften. Als der Diakon Mitte der 2000er Jahre über die Skiten schrieb, lebten „in den Männer- und Frauenklöstern insgesamt über 3000 Personen“. Dabei seien es in den 1990ern gerade mal „60 bis 70 Personen im Männerkloster und circa 300 Personen in den vier Frauenklöstern“ gewesen.
Vor allem seit ein Teenager aus den USA in das Kloster gezogen ist, weil er so beeindruckt von der Strenge der Skiten-Ordnung war, festige sich der Kontakt der Tschassowennyje mit den US-amerikanischen Altgläubigen. „Heute ist unter den Novizen immer öfter Englisch zu hören, auch wenn ihnen das Beten auf Englisch bisher verboten ist“, heißt es in Kolnogorows Aufzeichnungen.
Aber nicht alle entscheiden sich freiwillig für ein Leben in den sibirischen Klöstern. Gut möglich, dass der Diakon Kolnogorow bei seinem Besuch Anfang der 2000er Jahre auch auf Jelisaweta traf (ihr Nachname bleibt auf ihren Wunsch hin ungenannt – Mediazona) – eine US-Amerikanerin, die von ihren altgläubigen Verwandten noch als Teenagerin unter falschem Vorwand in die Skiten am Dubtsches gebracht wurde. Erst nach 15 Jahren gelang der jungen Frau die Flucht.
Jegor Skoworoda hat ihre Geschichte aufgeschrieben:
Ich heiße Jelisaweta. Eigentlich bin ich aus Oregon in den USA. Meine Großeltern waren richtige Russen, sie haben noch da gelebt. In der Stalinzeit mussten sie nach China fliehen und versteckten sich dort in den Bergen, meine älteren Onkel kamen in China zur Welt. Irgendwann haben sie gehört, dass es in Südamerika besser sein soll, weil man da wegen der Religion nicht verfolgt wird. Also gingen sie nach Südamerika, dort wurde meine Tante geboren. Und dann haben sie gehört, dass es in den USA noch besser sein soll und sind dahin weitergezogen. Dort kamen dann meine Mutter und ihre zwei Brüder zur Welt. Sie alle waren Altgläubige.
Mit 16 ist meine Mutter von zu Hause abgehauen und mit einem Amerikaner zusammengezogen. Das war mein Vater. Mamas Brüder und Schwestern sind alles Altgläubige, aber sie wollte weg von der Religion. Unser Vater hat uns verlassen, als ich fünf war. Sie waren beide Alkoholiker, haben Drogen genommen.
Mama wollte weg von der Religion, zwischendurch war sie im Knast
Eine Weile wohnte ich bei einer Tante, später bei einem Onkel, noch später beim Großvater. Zwischendurch war Mama im Knast. Ich hatte immer mehr mit meiner Tante zu tun, und mit ihren Kindern. Sie hatte elf. Wir standen uns sehr nahe. Im Sommer war ich oft bei ihnen zu Besuch. Meine beste Freundin war auch eine Altgläubige.
Mir wollten sie das Altorthodoxe auch nahebringen und haben mir gezeigt, wie man betet. Als ich 13 war, haben sie ihre Kinder in die Klöster nach Sibirien geschickt. Zu mir sagten sie, ich könne sie dort besuchen. Ich hab damals nicht weiter drüber nachgedacht, weil ich gar nicht vorhatte, dahin zu fahren. Ich ließ mich taufen, aber nur, weil ich später mal einen Christen heiraten wollte. Die Taufe hatte noch gar nicht stattgefunden, da hat meine Tante einen Reisepass für mich machen lassen, heimlich, ohne mir ein Wort zu sagen. Sie hatte schon alles geplant – wie sie mich nach Russland schickt, in die Klöster. Nur ich wusste davon nichts.
Meine Tante hatte heimlich einen Reisepass für mich machen lassen
Ich wurde also getauft, und kurz nach der Taufe … es waren grad mal zwei Wochen vergangen, am 10. Mai 2000, da sagt die Tante zu mir: „Du fährst morgen ins Kloster.“ Ich reiß die Augen auf: „Wie bitte?! Ich kann nicht mal Russisch und du willst mich dahin schicken?!“ Die Koffer waren längst gepackt, die Tickets gekauft, also überredeten sie mich, wenigstens für zwei Wochen auf Besuch dahin zu fahren, einfach nur, um mir Russland anzusehen. Keiner hat mir gesagt, dass es keine Rückfahrtickets sind. Die haben mich angelogen und dahin geschickt. Wir kamen zum Kloster, und da blieb ich dann die nächsten 15 Jahre.
Jetzt bleibst du für immer hier
Im Turuchanski Krai mündet ein kleiner Fluss in den Jenissei – der Dubtsches. Den genauen Ort, wo wir gewohnt haben, findet man auf keiner Karte. Aber den Jenissei kennt jeder. Wo wir gewohnt haben, fließen auch noch der Tyna und der Tugultsches. Wenn man etwa 48 Stunden auf dem Dubtsches mit dem Boot fährt, kommt man in das Dorf Sandaktsches. Von Sandaktsches sind es dann noch circa 300 Kilometer bis zu uns. Dahin führen keine Straßen mehr, dahin kommt man nur noch zu Fuß.
Entlang des Dubtsches erstrecken sich immer wieder kleine Höfe, hier ein paar Hütten, da drei oder vier, dort vielleicht zehn. Aber das größte Dorf ist Sandaktsches. Dort gibt es sicher um die 200 Familien und genauso viele Häuser. Alles Altgläubige, wirklich alle.
Am Ende liefen wir noch 40 km zu Fuß
Wir hatten einen Flug bis Moskau. Da war ein junger Russe, Andrej Muratschew. Er war für ein halbes Jahr bei Mamas Stiefschwester (in den USA – Mediazona) zu Besuch gewesen, und als er wieder zurückflog, musste ich mit. Er konnte kein Englisch und ich kein Russisch. Es war sehr hart. Fünf Tage war ich bei seiner Familie in Tscheremschanka, dann ging es weiter nach Krasnojarsk. Erst da traf ich auf andere Amerikaner. Ich wusste gar nicht, dass wir jemanden treffen sollten. Aber es war schon alles ausgemacht. Wir flogen mit einem Hubschrauber nach Sandaktsches, fuhren dann zwei Tage mit einem Motorboot, und am Ende liefen wir noch 40 km zu Fuß.
Der Wald ist da ganz dicht, überall Fichten, Zedern, Tannen, Birken. Kiefern gibt’s auch, aber nicht so viele. Man geht einfach querfeldein, über Wurzeln, durch Sumpfgebiet.
Dort gibt’s sieben Klöster, jedes Kloster hat seine eigene Kirche. Männer und Frauen leben getrennt, nicht in Familien. Da, wo ich gewohnt habe, waren wir 150 Frauen. Es gab noch drei andere Frauenklöster, in allen zusammen waren wir um die 700 bis 800. Manche Klöster liegen drei Kilometer auseinander, andere 15, wieder andere 30. Das weiteste Kloster war rund 60 Kilometer entfernt, würde ich sagen.
Je mehr du leidest, desto mehr wirst du im Jenseits dafür entlohnt
Man hat uns nett empfangen, die sind dort … es sind gute Menschen, sie haben nur ganz andere Vorstellungen, ganz anders als der Rest der Welt. Sie meinen zum Beispiel, dass wir der Welt entgegengesetzt leben müssten. Damit wir nicht zugrunde gehen. Sie haben so einen ganz strengen Glauben. Sie denken, je mehr du leidest, desto mehr wirst du im Jenseits dafür entlohnt. Sie denken, wenn du hinausgehst in die Welt, wirst du zugrunde gehen. Du musst dort leben und dort sterben.
Ich war 15 als wir dort ankamen. Wir blieben alle, es war noch ein anderes Mädchen dabei. Die Amerikaner sagten mir, sie würden in zwei Wochen fahren. Aber sie sind eher gefahren und haben uns nichts gesagt, sind einfach weggefahren. Wie sollte ich da wegkommen? Ich war ja grad mal 15.
Wenn du da weg willst … 40 Kilometer musst du laufen, dann fährst du mit dem Boot – und wie sollte ich allein Boot fahren? Ich brauchte ja jemanden, der mich fährt. Später, als ich schon eine Weile da gelebt habe … ich war schon vier Monate da – kamen die Amerikaner nochmal zu Besuch. Es waren sogar Verwandte von mir dabei. Aber die wollten mich auf keinen Fall wieder mitnehmen, da war nichts zu machen. Ich habe geweint, gebettelt, sie angefleht. Ich hatte ja kein Geld und gar nichts, aber sie wollten nicht für mich zahlen.
Ich saß dort fest. Vier Jahre später haben sie dann meinen Pass verbrannt. Jetzt bleibst du für immer hier, haben sie gesagt.
Einen Pflug hatten wir, aber ziehen mussten wir ihn selbst
Ich wurde nicht geschlagen. Sie haben mich einfach nur dazu gezwungen, genauso ein strenges Leben zu führen wie sie. Wir haben ständig gefastet – jeden Montag, Mittwoch und Freitag. Und dann noch vor Weihnachten und Ostern. Fleisch aßen wir überhaupt nicht. Zu essen gab es nur zweimal am Tag – mittags und abends, alles andere war verboten. Gekocht wurde in der Küche, da kam man hin und musste essen, was da war. Alle aus einer Schüssel. Zur Großen Fastenzeit war es noch strenger: Die erste Woche durfte man nichts Gekochtes essen – nur ein klein bisschen Möhren und Rote Bete und das auch nur einmal am Tag.
Für mich war es besonders schwer, weil ich ja kein Russisch konnte, und mit Englisch kommt man da nicht weit. Ich glaube, ungefähr nach einem Jahr konnte ich es so einigermaßen. Lernte langsam lesen und schreiben. Die ganzen Jahre habe ich weitergelernt.
Alles dort war selbstgemacht. Wir hatten noch nicht mal Vieh. So weit draußen wie wir lebten, gab es auch keine Geschäfte, alles musste selbst angebaut werden. Es war richtig harte Arbeit – kochen, sägen, Holz hacken und schleppen. Wir haben alles auf Schlitten geladen und sie selbst gezogen. Die ersten Jahre hatten wir keine Pferde, wir haben alle Felder von Hand umgegraben. Dann bekamen wir einen Pflug, aber den mussten wir auch selbst ziehen. Erst in den letzten Jahren, als wir schon ein Pferd hatten, hat dann das Pferd die Felder umgepflügt. Die Schlitten mussten wir selbst ziehen, wir mussten Brennholz heranschaffen. Und unser Boden da war sehr schlecht, wie Lehm. Deshalb haben wir am Fluss weiche Erde gesucht, sie in große Säcke geschaufelt und heimgeschleppt. Dann wurde noch Erde verbrannt und alles miteinander vermischt. Wir lebten in Blockhütten, die Kerben schlugen wir mit der Axt in die Baumstämme. In einem Haus wohnten zwischen vier und zehn Personen.
Und die Mücken! Furchtbar, wie viele es waren! Einfach nicht auszuhalten. Wir liefen den ganzen Sommer in Netzen herum, ohne konntest du gar nicht vor die Tür. Und dann auch noch diese kleinen Stechfliegen! Immer musste man langärmlige Sachen tragen, Hosen, zwei Paar Socken – alles aus ganz festem Stoff. Die kommen nämlich durch alles durch. Deswegen liefen wir immer in Netzen rum, wirklich immer.
Altgläubige kamen von überall her und zahlten, damit man für sie betete
Ich war so ein Leben nicht gewohnt. Im ersten Sommer war es sehr heiß, aber nachts gab es Minusgrade. Die Kartoffeln durften keinen Frost abkriegen, deswegen machten wir Lagerfeuer rund ums Feld, deckten alles mit Stoff ab, deckten den Kohl zu. Geschlafen haben wir kaum. Dort liegt nur drei Monate im Jahr kein Schnee, in denen muss man alles schaffen. Morgens musste man gleich weiterarbeiten. Und nachts wieder alles abdecken. In diesem Winter hatten wir fast keine Kartoffeln.
Die Leute dort [im Kloster – dek] haben viel gebetet, deswegen kamen Altgläubige von überall her und wollten, dass man für sie betet, sie zahlten dafür, brachten einfach Spenden. Man kommt aber nur rein, wenn man getauft ist. Also kommen Verwandte, die selbst Altgläubige sind, zu Besuch und bringen Geld oder Milch mit.
Im Frühling fuhren wir mit dem Boot in die Stadt, holten Mehl, Zucker, Getreide. Ich meine natürlich, nicht wir, sondern die Männer fuhren ins Dorf. Sie fuhren mit dem Boot nach Krasnojarsk. Sie blieben lange fort, mehrere Monate.
Ich war in den 15 Jahren kein einziges Mal woanders, ich durfte nicht. Und dann bin ich weggelaufen.
Bald wirst du sterben und dann kommst du in den Himmel
Nach vier Jahren hatte ich mich etwas eingelebt, mich an das alles ein bisschen gewöhnt. Sie sagten mir noch, dass … dass ich ein gutes Leben haben werde. Sie haben das jeden Tag wiederholt und geredet und geredet, man darf dies nicht, das ist nicht gut, und jenes führt ins Verderben. Mach es so, dann kommst du in den Himmel. Das haben sie mir immer und immer wieder gesagt. Irgendwie glaube ich immer noch an Gott, aber so wie sie leben, das ist grausam.
Ich war sehr traurig, niedergeschlagen, dass sie meinen Pass verbrannt hatten, aber … in dieser Zeit habe ich auch noch Asthma bekommen, und sie sagten mir die ganze Zeit, dass ich bald sterben und in den Himmel kommen würde. All diese Jahre, elf Jahre war ich krank, konnte ich nicht sterben.
Mir ging es damals immer schlechter, die letzten zwei Jahre war ich dann sehr krank. Im Frühling 2015 konnte ich mir nicht mal mehr selbst die Haare kämmen, hatte nicht genug Kraft. Ich war verzweifelt, wusste einfach nicht weiter … Sie ließen mich keine Medizin nehmen. Erst durfte ich ein bisschen, aber dann sagten sie, es wäre Gottes Wille, mein Kreuz. Du musst das ertragen.
Und dann wurde ich einfach wütend
Und dann, weißt du, dann wurde ich einfach wütend. Ich kann nicht leben, kann nicht gesund werden, und sterben kann ich auch nicht. Ich wurde wütend, überlegte, wie ich von da wegkomme. Ich fing an, heimlich was gegen das Asthma zu tun, ging nachts mit einem anderen Mädchen zum Fluss, wir bauten uns Holzwannen, dann machten wir in einem Bottich Wasser warm und legten da Fichtenzweige rein. Ich hatte gelesen, dass das gegen Asthma hilft.
Dann fing ich an zu essen, weil … also, wir hatten dort keine Kühe, keine Milch. Sechs Jahre lang hab ich nichts mit Milch gegessen, nur Brei und eingekochte Beeren. Kein Brot, kein Gebäck, nichts. Ich habe sehr abgenommen. Sie haben mich ständig ermahnt, ständig kontrolliert. Dann fing ich an, mir einfach was aus der Küche zu holen, aus dem Keller, und nahm es mit in meine Hütte. Im Sommer sammelte ich Beeren und sowas. Mit dem Essen und den Kuren ging es mir langsam besser.
Wir kommen vom Kloster, Geld haben wir nicht
Sie sagten mir, es gäbe keine Hoffnung, ich müsse sterben und Punkt. Aber als es mir etwas besser ging, fing ich an zu überlegen, wie ich von da wegkomme. Ich wollte nur ins Krankenhaus fahren, wissen, was mit mir los ist.
Wir hatten dort Klöster für Frauen und für Männer. Als alle schliefen, bin ich weggerannt, zu Fuß – da ist so ein Kloster am Dubtsches, das war näher an der Stadt. Da habe ich mich mit einer verabredet, und eine andere wollte uns ins nächste Dorf bringen.
In dem Kloster blieb ich vielleicht zwei Wochen, dann hörten wir, dass in dem Dorf, es lag 15 Kilometer entfernt, eine Frau schwer krank war und in die Stadt ins Krankenhaus wollte. Also sind wir dorthin und haben sie gebeten, uns mitzunehmen. Das sind Altgläubige, sie wussten, dass wir aus dem Kloster sind und kein Geld haben. Wir haben nichts bezahlt, und sie wollten auch nichts haben. Wir sind bis nach Sandaktsches gefahren, und von da aus mit anderen Leuten bis Jenisseisk.
In Jenisseisk haben die Amerikaner, die wir unterwegs aufgegabelt hatten, ein Taxi genommen, und wir sind einfach mitgefahren.
Sie sagten mir, ich sei allergisch gegen Kälte
Das war im August 2015. Ich hatte zwei Telefonnummern, rief von Krasnojarsk aus in Amerika an, bei meinen Verwandten, und sie schickten mir Geld. Die Tante, die mich hergeschickt hatte, war schon tot, seit fünf Jahren. Ich habe meinen leiblichen Bruder angerufen, meinen Onkel, Mamas leibliche Schwester, meine leibliche Tante, und alle schickten ein bisschen Geld. Dann bin ich zu verschiedenen Ärzten, ließ mich untersuchen.
Die Ärzte bezahlte ich sofort, alles funktionierte (ohne Pass und Papiere – Mediazona). Das ist das Gute an Russland, da ist das alles viel einfacher, hier in Amerika ist es schwieriger. Ich lag dann sogar im Krankenhaus, ohne Papiere. Sogar Inhalatoren gaben sie mir, ich habe nie groß etwas dafür bezahlt.
Ich hatte Freunde in Krasnojarsk, die haben auf ihren Namen eine Wohnung gemietet, die habe ich bezahlt. Ohne Pass konnte ich nichts mieten.
Der Fluss war schon zugefroren, es fuhren keine Schiffe mehr
Im Oktober dann … ich wollte ja eigentlich zurück ins Kloster, da man mir gesagt hatte, wenn du irgendwohin fährst, wirst du kein Glück haben, du wirst sterben. Das war alles in meinem Kopf. Außerdem hatte ich keinen Pass. Keinen Pass, kein Visum. Ich bin ja mit 15 weg, ich wusste nichts.
Ich dachte, einfach wegfahren ist unmöglich. Am wichtigsten war für mich, dass die Krankheit ein bisschen besser wird. Im Oktober habe ich dann ein Ticket gekauft für das letzte Schiff von Jenisseisk nach Worogowo, glaube ich, in irgendein Dorf da oben. In diesem Dorf gab es Altgläubige, die sollten mich bis Sandaktsches bringen, und wieder andere Altgläubige von Sandaktsches aus weiter.
Aber am 6. Oktober bin ich zum Arzt. Es hatte sich rausgestellt, dass ich allergisches Asthma habe, und ich brauchte den passenden Inhalator. Naja, später haben sie mir dann gesagt, dass ich Asthma und eine Kälteallergie habe. Ich würde Kälte nicht vertragen.
Ich saß da bei diesen Ärzten, und plötzlich bekam ich keine Luft mehr, bekam einen Anfall. Sie riefen den Notarzt, und ich kam sofort ins Krankenhaus und blieb dort eine Woche. Da war der Fluss schon zugefroren, es fuhren keine Schiffe mehr. Ich saß fest, bis der Schnee kam.
Ich kaufte mir das billigste Smartphone und meldete mich bei facebook an
Im Kloster habe ich ohne Strom gelebt, ohne Technik, ohne Telefon. Als ich 2000 weg bin, gab es noch keine Smartphones. Aber als ich in Krasnojarsk war, habe ich für 2000 Rubel [knapp 30 Euro – dek] das billigste Smartphone gekauft. Ich wusste nicht genau, wie es funktioniert, aber im Krankenhaus hatte ich nichts zu tun und brachte es mir bei und meldete mich bei facebook an. Da haben mich dann meine leiblichen Brüder gefunden. Ich hatte meine Brüder seit 15 Jahren nicht gesehen, nicht gesprochen. Meine Brüder – die sind keine Altgläubigen, sie sind nicht getauft, haben vom Glauben noch nie was gehört. Die sind einfach nur Amerikaner.
Sie wollten, dass ich nach Hause komme: Wir schicken dir Geld, wir kaufen dir ein Ticket, komm nach Hause. Ich war eine ganze Woche im Krankenhaus, und die ganze Zeit hörte ich von den Ärzten: „Du darfst nicht in Russland leben, es ist hier zu kalt für dich. Du hast sowieso keine russischen Papiere, du kannst hier nicht leben, fahr zurück nach Amerika.“ Das kriegte ich jeden Tag mehrmals zu hören. Ich überlegte hin und her und beschloss, nach Amerika zurückzugehen. Weil die Ärzte zu mir gesagt haben: „So lange du hier in Sibirien bist, so lange wirst du krank bleiben.“ Da wo ich gelebt habe, im Turuchanski Krai, wurde es manchmal bis zu -60° C kalt.
Da, wo ich gelebt habe, wurde es bis zu -60° C kalt
Meine Brüder haben mir geholfen, mir Telefonnummern gegeben. Meine Freunde in Krasnojarsk haben mir auch geholfen, wir sind zur Polizei und haben erzählt, dass ich meinen Pass verloren hätte. Die haben mir (eine Bescheinigung – Mediazona) ausgestellt, dass mein Pass weg ist. Dann bin ich zumMigrationsamtUFMS, und die haben mir gesagt, dass ich nur in Moskau oder in Wladiwostok einen Pass bekomme, weil es da amerikanische Botschaften gibt. Aber ich war in Krasnojarsk.
Bei diesem Amt hat man mir gesagt, ich müsse dort erst eine Strafe zahlen, danach würden sie mich irgendwo einsperren, kein richtiges Gefängnis, aber man sitzt da einen Monat, und dann würden sie mich rauslassen. Ich sagte: „Nein.“ Ich war schon 15 Jahre eingesperrt gewesen.
Fahre morgen mit dem Auto nach Moskau suche Mitfahrer
Also suchte ich nach anderen Möglichkeiten, meine Freunde halfen mir dabei. Erst dachten wir, vielleicht mit dem Zug, aber das ging auch nicht, dafür braucht man einen Pass. Irgendwann suchten wir einfach im Internet, und kaum hatten wir angefangen, stießen wir auf eine Anzeige: „Fahre morgen mit dem Auto nach Moskau, allein, suche Mitfahrer, nehme fünftausend Rubel [knapp 70 Euro – dek].“ Das war perfekt für mich. Aber das war schon morgen, ich war nicht vorbereitet, hatte für den nächsten Monat schon die Wohnung gemietet. Naja, ich rief da erst mal an, unterhielt mich ein bisschen mit ihm, er klang nett.
Als ich meinen Freunden davon erzählte, sagten sie: „Du spinnst doch, du kennst ihn gar nicht, wie kannst du da mitfahren?“ Ich sagte, ich habe keine Wahl, ich will nicht irgendwo festsitzen, will keine Strafe zahlen, ich fahre einfach. Das war meine einzige Möglichkeit.
Moskau – Seattle
Ich beeilte mich, packte alles zusammen, und wir fuhren los. Ich habe immer noch Kontakt zu diesem Menschen. Ich hatte auch Angst, weil ich in Moskau niemanden kannte, mein Geld war fast alle, reichte nur noch für ein Ticket. Er hatte einen Freund, der in Moskau in einem Wohnheim lebte, und zu dem brachte er mich, sein Name war Anatoli. Ein sehr guter Mensch. Da blieb ich einen Monat, weil ich auf die Tickets wartete. Ich kam im Dezember dort an, Neujahr und Weihnachten standen vor der Tür, deswegen waren die Tickets furchtbar teuer, bis zu 100.000 oder 150.000 Rubel [1300 bis knapp 2000 Euro – dek]. Ich wartete bis zum 15. Januar und kaufte dann für 25.000 [330 Euro – dek] ein Ticket nach Seattle.
In der Botschaft haben sie mir innerhalb von drei Stunden einen Pass ausgestellt, ich hatte ja diesen Schein von der Polizei, dass ich ihn verloren hatte, dadurch ging das alles sofort, ich musste 150 Dollar bezahlen, glaube ich. Und dann, ach, dann bin ich durch ganz Moskau zu diesem Amt für Migration, weil die einen sagten, dass ich ein Visum brauche, die anderen sagten, ich brauche keins … Das ist es, was ich nicht mag an Russland: Sie lieben es, dich irgendwohin zu schicken, geh hierhin, geh dorthin. Niemand will einem helfen, sie schicken dich bloß ständig irgendwohin.
Ich fuhr quer durch Moskau, und niemand wollte mir helfen. Dann wurde ich zum Chef geschickt, ich musste ganze zwei Stunden auf ihn warten, und dann sagte der: „Geh zur Polizei, sag, ich bin Amerikanerin, habe 15 Jahre hier gelebt und kein Visum, alles ist abgelaufen, bitte lassen sie mich raus.“ Ich ging zur Polizei, aber da hat man mich ausgelacht und gesagt: Kauf dir ein Ticket und fahr. Also bin ich geflogen.
Nach meiner Rückkehr habe ich meine alten Freunde wiedergetroffen, aber andere Altgläubige nicht. Ich habe noch Verwandte, die Altgläubige sind, aber die finden nicht gut, dass ich zurückgekommen bin.
Irgendwie ist alles glücklich ausgegangen für mich, obwohl sie mir im Kloster immer gesagt haben, dass ich kein Glück haben werde, kein Leben – aber es ist alles gut ausgegangen. Ich habe nicht damit gerechnet, ich kannte niemanden, hatte kein Geld, und trotzdem ging alles irgendwie gut, alles hat geklappt.