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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • WM: Potemkinsche Städte

    WM: Potemkinsche Städte

    Alles dreht sich im Kreis und nicht um den Fußball: Die WM-Gäste werden natürlich nichts davon erfahren, wie ganz Moskau drei Jahre lang brav im Stau gestanden hat, während die Innenstadt und die Ausfallstraßen einmal komplett für die WM umgegraben wurden. Und auch über andere Dinge wird geschwiegen. Aber Andrej Archangelski hat’s aufgeschrieben und so erfahren sie’s nun doch.

    „Ein Deutscher“, sagte sich Berlioz. „Ein Engländer“, dachte Besdomny. „Boah, dass dem nicht zu heiß wird mit seinen Handschuhen!“

    Es war Frühling, eine ungewöhnlich heiße Dämmerstunde am Patriarchenteich … und Bulgakow betrachtet Moskau, wie wir uns erinnern, durch die Augen eines ausländischen Konsultanten – eines Ausländers. Diese Projektion kommt nicht von ungefähr: So sieht man Moskau besser.

    Auch jetzt, kurz vor der Weltmeisterschaft, ist die Stadt, wenn man sie durch die Augen eines ausländischen Besuchers betrachtet, ungewöhnlich schön. Ohne die jahrelang aufgerissenen Straßen, die dann ganz plötzlich, innerhalb von nur zwei Wochen nigelnagelneu aussahen, wie von Zauberhand … Die Gäste werden natürlich nichts davon erfahren, wie ganz Moskau drei Jahre lang brav im Stau gestanden hat, während die Innenstadt und die Ausfallstraßen einmal komplett umgegraben wurden – „wir bitten um Geduld für die WM“. Wie es in all den anderen Städten ausgesehen hat, in denen die Fußballsause ausgetragen wird, kann man nur erahnen.

    Wir bitten um Geduld für die WM

    Eine der Absonderlichkeiten an jenem Frühlingsabend, mit dessen Schilderung Meister und Margarita beginnt, ist die folgende: „Nicht nur am Büdchen, nein, auf der gesamten Allee […] war nicht ein einziger Mensch zu sehen.“ Und auch jetzt wirkt Moskau halbleer – nur dass diesmal niemandes teuflischer Plan dahintersteckt. Ja, stimmt, laut Gerüchten gab es in manchen Ecken der Hauptstadt hier und da Säuberungsaktionen gegen Migranten, aber wesentlich für die Leere Moskaus ist heute etwas ganz anderes: seine städtebauliche Struktur.

    Die Stadt, in der wir heute leben und wie wir sie kennen, wurde noch unter Stalin erdacht. Aus dieser Zeit stammen ihre Hochhäuser und Prospekte, damals wurde ihr die totalitäre Logik aufgeprägt. Eine solche Stadt entsprach, wie man heute sagen würde, dem Geist der totalen Repräsentation: Alles war ausgerichtet auf die Durchführung von Fest- und Arbeiterkundgebungen, Ehrenformationen und Pionierparaden – all das sollte der Welt den Sieg des Sozialismus demonstrieren. Der Sozialismus ist längst Geschichte, aber das Schaufenster, zu dem die ganze Stadt gemacht wurde, ist noch da. Nur dass man sie jetzt Podium nennt.

    Moskauer Menschenleere

    Der Abriss der Verkaufspavillons, aber auch die Verbreiterung der Gehwege waren Teil einer „Vermenschlichungsstrategie“, die die Stadt den Menschen zurückgeben sollte, doch sie brachte den entgegengesetzten Effekt. In ihrem Alltag brauchen die Leute keine derart breiten Gehwege mehr; der moderne Städter flaniert und lustwandelt nicht mehr wie im 19. Jahrhundert. Vor allem abends wird das allzu deutlich – die breiten Trottoirs unterstreichen nur die Moskauer Menschenleere.

    Im Endeffekt hat Sobjanin nur die Idee des stalinistischen Moskaus, die einer anderen Gesellschaft galt, verewigt und neu verputzt. Leuchtende Beispiele sind der Gorki-Park oder das WDNCh, die zum Denkmal des Stalinismus, seiner Geometrie und Totalität geworden sind. Die totalitäre Infrastruktur zwingt den heutigen Stadtbewohner, entgegen seinen Bedürfnissen, Gewohnheiten und Wünschen zu leben, sie nimmt ihm die Alternative, zwingt ihn wieder und wieder, sich im Kreis zu bewegen. Die Menschen stimmen unbewusst mit ihren Füßen ab – gegen diese Logik; und weil die Weltmeisterschaft mit zusätzlichen Einschränkungen droht, halten sie sich naturgemäß ganz von selbst aus der Stadt fern.

    Moskau ist nun zugeschnitten für den Blick aus dem Busfenster

    Das ist das paradoxe Ergebnis der Umgestaltung: Moskau ist nun zugeschnitten für den Blick aus dem Busfenster – und der fällt genau auf diese Leere, die Menschenlosigkeit, dem unkontrollierbaren, aber bestimmenden Merkmal der Stadt. Genau so wird sich die Stadt den WM-Besuchern präsentieren. Und das offenbart die unbewusste Aufgabe, die mit dem Umbau einhergeht: Das ganze Land in die Vergangenheit zurückzuversetzen, sagen wir, in die 1980er Jahre, um dann die Zeit für immer anzuhalten.

    1980 reloaded

    Moskau wird sich genauso präsentieren, wie es 1980 war. Die Gäste der Hauptstadt bekommen die einmalige Gelegenheit zu einer Reise in die fortgesetzte Vergangenheit. Das äußere Beiwerk ändert dabei nichts am Grundprinzip der Existenz: Was zählt, sind die Wünsche des Staates, nicht die der Menschen.
    Wie es der Zufall will, kommt ausgerechnet in diesen Tagen Kirill Serebrennikows neuer Film Sommer in die Kinos – während der Regisseur selbst seit einem Jahr unter Hausarrest steht.

    Sein Film spielt ebenfalls in den 1980ern. Auch dort herrscht eben jenes Gefühl von Endlosigkeit – es scheint, als würde alles für immer so bleiben; nur die Rockmusik überschwemmt von Zeit zu Zeit das von allen Seiten abgedichtete Gebäude namens UdSSR. Schließlich beschließt der Staat, dies zu kanalisieren – in Form des Leningrader Rock-Klubs. Die Freiheit des Menschen, seine Emotionen, sein Tatendrang gepaart mit staatlicher Kontrolle – das ist noch ein Geheimrezept der späten Sowjetunion.

    Auch heute wird jede menschliche Regung, jedes Verlangen kontrolliert. Du kannst zum Beispiel dein Fußballteam anfeuern, aber halte deine Gefühle bitte im Zaum, denn die Rostower Kosaken werden „alle Männer, die sich während der WM 2018 küssen, der Polizei melden“.

    Das Grundprinzip der Existenz ist und bleibt: Jeder, der leben will, muss eine Erlaubnis für dieses Leben einholen. 

    Freiwillig unfrei

    Den Zustand freiwilliger Unfreiheit können Ausländer nur schwer nachvollziehen. Allein die Existenz dieser menschlichen Maschine ist auf ihre Art einzigartig – es braucht dafür gleichzeitig millionenfache Selbstzensur. Nur eine Minderheit empfindet die Abwesenheit von Freiheit als Problem; die Erfahrung der individuellen Freiheit hat es nicht bis in den kollektiven Erfahrungsschatz geschafft, Freiheit ist nie zu einem Wert geworden.

    „Im Sport sind alle Länder vereint!“ verkündet fröhlich ein Werbespot im Propagandaradio, das noch gestern fast Funken sprühte vor antiwestlicher Rhetorik. Und auch das spiegelt nur einen Wunsch der obersten Führung wider: Solange wir das Sportfest zelebrieren, sollen „alle alles vergessen“ – weil es ihr, der Führung, gerade so passt. Genau das ist das totalitäre Bewusstsein, von dem Orwell schreibt: Es will alles vergessen, wenn es gerade bequem ist, und erwartet von allen, dass sie dasselbe tun.

    Aber die Welt funktioniert anders, und dort wird man nichts vergessen, auch nicht für die Dauer der Weltmeisterschaft: Weder die Ukraine, noch Senzow, noch Serebrennikow. Und dann, wenn die WM vorbei ist, wird alles wieder von vorne beginnen – immer im Kreis, immer im Kreis.

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  • „Sumbur – ein heilsames Durcheinander“

    „Sumbur – ein heilsames Durcheinander“

    Das Studio Sumbur ist ein besonderes Theater: Seine Schauspieler sind an einer psychiatrischen Einrichtung in Petersburg in Therapie und bespielen Festivalbühnen. Der Fotograf Oleg Ponomarev hat die Schauspieler porträtiert und die Studio-Leiterin Irina Kulina interviewt.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Ich mag alles, was wir machen, weil wir es mit der Seele tun. Die Menschen hier sind herzensgut, zuverlässig, tolle Leute, mit denen es Spaß macht zu kommunizieren. Hier hat sich mein Potenzial vollständig entfaltet, beim Theaterspielen, Tanzen, Singen und allem, was ich gerne tue. - IWAN WASSILJEW
    Ich mag alles, was wir machen, weil wir es mit der Seele tun. Die Menschen hier sind herzensgut, zuverlässig, tolle Leute, mit denen es Spaß macht zu kommunizieren. Hier hat sich mein Potenzial vollständig entfaltet, beim Theaterspielen, Tanzen, Singen und allem, was ich gerne tue. – IWAN WASSILJEW
    Eine Zeitlang habe ich nicht am Theaterleben teilgenommen. Es war schwierig, als wäre nichts Wichtiges mehr da. - BOGDAN MAKAROW
    Eine Zeitlang habe ich nicht am Theaterleben teilgenommen. Es war schwierig, als wäre nichts Wichtiges mehr da. – BOGDAN MAKAROW
    Wir realisieren hier unsere Hoffnungen und Möglichkeiten. Möchtest du jemand oder etwas sein – sei es! - ALEXANDER ANDREJEW
    Wir realisieren hier unsere Hoffnungen und Möglichkeiten. Möchtest du jemand oder etwas sein – sei es! – ALEXANDER ANDREJEW
    Ich schaue Filme, lese Bücher und höre internationale Rockmusik wie ‚Dream Theater‘ oder ‚Nightwish‘. Aber das Wichtigste für mich ist das Spiel im Theaterstudio ‚Sumbur‘. - ANDREJ ROMIN
    Ich schaue Filme, lese Bücher und höre internationale Rockmusik wie ‚Dream Theater‘ oder ‚Nightwish‘. Aber das Wichtigste für mich ist das Spiel im Theaterstudio ‚Sumbur‘. – ANDREJ ROMIN
    Das Theater hat mir persönlich geholfen, mich zu entwickeln und etwas Neues im Leben zu entdecken, die Leere zu füllen. Ich will für immer hier im Theater sein. - SWETLANA ALEXEJEWA
    Das Theater hat mir persönlich geholfen, mich zu entwickeln und etwas Neues im Leben zu entdecken, die Leere zu füllen. Ich will für immer hier im Theater sein. – SWETLANA ALEXEJEWA
    Ich saß und wartete auf die Aufnahmekommission für die Einrichtung, in der ‚Sumbur‘ probt. Die Schlange war lang, dazusitzen war langweilig und dauerte. Plötzlich ertönte ein Bajan. Ich freute mich und schaute, wer da spielt. Das war Dima Rasguljajew. Als er aufhörte bat ich ihn, mir das Instrument zu geben. Ich spielte. Nach 15 Minuten kam dann Irina Walentinowna zu mir, die Leiterin von ‚Sumbur‘, und fragte mich ‚Bist du Bühnenkünstler?‘ Und ich ‚Ja, mehr oder weniger.‘  So bin ich zu ‚Sumbur‘ gestoßen. – PJOTR MASLENNIKOW
    Es war so schön, hier auf eine künstlerisch begabte und wohlmeinende Truppe zu stoßen. - ANNA SUJKOWA
    Es war so schön, hier auf eine künstlerisch begabte und wohlmeinende Truppe zu stoßen. – ANNA SUJKOWA

    Für mich ist das Studio ‚Sumbur‘ zum zweiten Zuhause geworden. In jeder Rolle versuche ich besser und besser zu werden. - NATALJA KOLOSUNINA
    Für mich ist das Studio ‚Sumbur‘ zum zweiten Zuhause geworden. In jeder Rolle versuche ich besser und besser zu werden. – NATALJA KOLOSUNINA
    Mir bereiten die Proben große Freude, die Kommunikation mit den anderen und auch mit den Ärzten während der Aufführungen. - MARINA ANTONOWA
    Mir bereiten die Proben große Freude, die Kommunikation mit den anderen und auch mit den Ärzten während der Aufführungen. – MARINA ANTONOWA



    Die ganze Welt ist Theater – und die Menschen darin Schauspieler. Theater ist Luft und ohne Luft – kein Leben. Mir gefällt das Theater sehr, es gibt mir etwas Persönliches. Ich bin dadurch viel selbstsicherer geworden, habe gelernt mich auszudrücken, mein Gedächtnis ist besser geworden und ich habe neue Freunde gefunden.  Das Theater ist ein Meer. Mal trägt dich eine Welle nach oben, mal zieht sie einen runter. Und das Theater ist Wärme, die man Menschen einfach so schenken kann. - MARINA ANISCHEWSKAJA
    Die ganze Welt ist Theater – und die Menschen darin Schauspieler. Theater ist Luft und ohne Luft – kein Leben. Mir gefällt das Theater sehr, es gibt mir etwas Persönliches. Ich bin dadurch viel selbstsicherer geworden, habe gelernt mich auszudrücken, mein Gedächtnis ist besser geworden und ich habe neue Freunde gefunden. Das Theater ist ein Meer. Mal trägt dich eine Welle nach oben, mal zieht sie einen runter. Und das Theater ist Wärme, die man Menschen einfach so schenken kann. – MARINA ANISCHEWSKAJA

    Oleg Ponomarev: Woher kam die Idee für das Studio, womit hat alles angefangen?

    Irina Kulina: Unsere allererste Veranstaltung war ein Ball. Wir haben ein paar Kostüme genäht, Paare gebildet und drauflos getanzt. Das war 2007. So kam der Stein ins Rollen.

    Wir traten in unserem eigenen Zentrum für Psychoneurologie auf, dann gaben wir Gastspiele in anderen Gesundheitseinrichtungen und traten in einer Bibliothek auf – das war ein wichtiger Moment, weil wir damit die Gesundheitseinrichtungen verlassen haben. Es folgten Festivals. Die Bühnen, die wir bespielten, wurden langsam größer.

    Ein Konzept hatten wir nicht wirklich. Vielmehr entwickelte sich das Studio aus der Ergotherapie heraus, wo wir genäht und gestrickt haben und etwas Größeres wollten.

    Wir proben sogar in den Therapie-Werkstätten, haben dort unsere Schränke mit den Kostümen und Requisiten.

    Welche Rolle nimmt das Theater im Leben der Patienten ein?

    Manche empfinden es als ihre Arbeit, sagen: „Ich arbeite im Studio Sumbur. Ich bin Schauspieler.“ Wir proben eigentlich ständig. Sobald sich irgendwo zwischendurch ein bisschen Zeit ergibt, schnappen wir uns ein Instrument und singen, und während wir singen, kommen die anderen dazu.

    Es ist aber trotz allem ein therapeutischer Prozess – man darf ihn gesondert betrachten, es ist einer von vielen Ansätzen, die als Ganzes zu einem Ergebnis führen.

    Im Studio herrscht eine besondere Atmosphäre, hier sind wir alle gleich, es gibt keine Distanz, keinen Arzt im weißen Kittel und auf der anderen Seite den Patienten, es gibt vielmehr die künstlerische Leiterin und die Truppe. Hier bekommen sie etwas, das fast jedes Mitglied der Gesellschaft braucht: das Gefühl, gebraucht zu werden, etwas gut zu können.

    Im Studio sind wir alle gleich, es gibt keinen Arzt im weißen Kittel und auf der anderen Seite den Patienten

    Wie sie sich dadurch verändern, kann man allein bei unseren Gastspielen beobachten. Wenn wir zum Beispiel in eine psychiatrische Klinik fahren. Die ersten Male dort waren schwierig, denn natürlich haben einige unserer Schauspieler schon ihre Erfahrungen damit gemacht, und das waren nicht die schönsten. Aber wenn wir jetzt hinfahren, sagen sie: „Wir kommen von der anderen Seite, nicht als Patienten.“ Man kennt und respektiert sie dort. Ihre Stellung hat sich verändert.

    Einer unserer Patienten sagte einmal: „Wir sind Aussätzige in dieser Gesellschaft. Die Menschen wollen nichts mit uns zu tun haben. Aber im Studio lernen wir uns kennen, verlieben uns, heiraten, haben Kontakt zu anderen. Hier haben wir eine Aufgabe. Hier werden wir gebraucht. Hier ist alles anders.“

    Dieser Satz: „Wir sind Aussätzige“ – ist das ein Gefühl, das die Gesellschaft ihnen vermittelt?

    Natürlich. Sie haben Angst. Angst, auf die Straße zu gehen. Und die Art, wie die Gesellschaft auf sie reagiert, verstärkt die Ängste, die sie ohnehin haben. Sie bewegen sich fast ausschließlich unter ihresgleichen.

    Der Psychiatrie haftet immer noch das Image einer Strafmedizin an, das man nur sehr schwer los wird, und entsprechend nimmt man diese Patienten auch wahr. Viele denken, diese Menschen seien zu nichts fähig, obwohl das eine Lüge ist – und diese Wahrnehmung wirkt sich negativ auf ihren Zustand, und auch auf die Ergebnisse unserer Arbeit aus. Dabei sind sie Menschen wie du und ich. Der eine leidet eben an Bluthochdruck, der andere an Schizophrenie – das ist der einzige Unterschied, beides muss behandelt werden.

    Der eine leidet eben an Bluthochdruck, der andere an Schizophrenie – das ist der einzige Unterschied, beides muss behandelt werden

    Damit die Therapie und die Resozialisierung funktionieren können, braucht es auch eine kritische Selbstwahrnehmung. Wenn diese Menschen nun etwas haben, wofür es sich lohnt, an sich zu arbeiten, wenn sie unter Leuten sind, Zuschauer haben und spüren, dass sie etwas wert sind, oder vielleicht auch nur, dass wir alle gleich sind, und der Arzt, der sie behandelt, neben ihnen steht und alle zusammen singen, dann erst wird ihnen bewusst, dass sie niemand bei dem geringsten – oder auch ohne – Anlass wegsperren will. Sie bekommen dieses Vertrauen, das so wichtig ist und das ich sehr hoch schätze, es entsteht ein Verantwortungsgefühl gegenüber dem Publikum und damit auch diese kritische Haltung sich selbst gegenüber.

    Heißt das, die moderne Medizin hat gelernt, mentale Erkrankungen in den Griff zu bekommen?

    Natürlich gibt es gegen die verschiedenen Krankheiten diverse Medikamente, die sich in ihrer Stärke und Wirkungsart unterscheiden. Andererseits gibt es keine Pille, die das Thema ein für allemal abhaken würde. Und keine Kriterien, nach denen man beurteilen kann, ob jemand einmal unser Patient wird. Das verstehen aber die meisten Menschen in unserer Gesellschaft nicht, sie denken, diese Menschen wären irgendwie anders, sehr weit weg von einem selbst, obwohl uns von unseren Patienten nur der Zufall trennt.

    Die Arbeit des Studios besteht ja nicht nur aus den Auftritten und Theaterstücken – das ist nur die Spitze des Eisbergs. Um auf die Bühne zu gehen, reicht es nicht, seine Rolle oder ein Lied einzuüben, einen Tanz zu lernen.

    Viele Krankheitsbilder sind geprägt von einer fortschreitenden Lethargie, die sich in der Vernachlässigung von selbst einfachsten, alltäglichsten Handlungen äußert: seine Sachen bügeln, sich die Haare kämmen. Aber sobald wir mit unserer Arbeit beginnen, sind sie alle wie gestriegelt. Das Theater motiviert sie dazu, ganz normale Dinge zu tun, die dann später zur Routine werden und automatisch passieren, so wie es sein soll.

    Wenn die Leute im Zuschauerraum sitzen, machen sie sich ja keine Gedanken darüber, dass die Schauspieler nicht nur das Stück auf die Beine gestellt, sondern sich zurechtgemacht, sich rasiert und ihre Sachen gebügelt haben, und dass sie sich diese Mühe gemacht haben, um sich dem Zuschauer zu präsentieren.

    Alles fängt bei diesen kleinen Dingen an, und die Arbeit an diesen Details ist ebenfalls Teil der Studioarbeit.

    Kostüme, Requisiten, Musikinstrumente – das alles kostet Geld. Ihr Studio gibt es nun schon seit zehn Jahren – wie ist die Finanzierung geregelt?

    Es gibt keine. Wir haben mit den Ärzten zusammengelegt und gekauft, was gebraucht wurde. Die Kostüme sind selbstgenäht, die Requisiten gebastelt. Wir brauchen Sponsoren, aber es gibt keine. Offensichtlich interessiert das niemanden.

    Wie geht es weiter? Wie wollen Sie wachsen, welche Pläne gibt es für das Studio?

    Zunächst einmal wird das Material komplexer, wir entwickeln uns wie jedes andere Theater. Wir planen neue Stücke, die aufwendiger sein werden und interessanter, sowohl für uns als auch für die Zuschauer.

    Wir wollen ein Kinderprogramm aufbauen und vor Kindern spielen, in Heimen und Krankenhäusern. Die Kinder sollen nicht nur zuschauen, sondern auch mitmachen können. Wir haben so etwas Ähnliches schon einmal auf unserer Bühne aufgeführt. Es war toll. Unsere Schauspieler, die Ärzte, deren Kinder – alle sind zusammen aufgetreten. Kurz: ein heilloses Durcheinander – Sumbur eben.

    erschienen am 08.06.2018
    Bilder und Interview: Oleg Ponomarev
    Übersetzerin: Jennie Seitz

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Die Schule der inneren Emigration

    Die Schule der inneren Emigration

    In Deutschland ist das Phänomen bekannt aus NS- und DDR-Zeit: Statt auszuwandern oder in eine offene Opposition zu treten, ziehen sich Menschen unter unliebsamen äußeren Umständen oft zurück in eine innere Emigration. Wer in der Sowjetunion aufgewachsen ist, verfügt hier über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz, der zu einem gefragten Gut werden könnte, meint Maxim Trudoljubow auf Republic.

    Unbeteiligt und abwesend sein, den lästigen Lärm der Außenwelt ausblenden, innerlich emigrieren, an verschiedenen Orten und zugleich nirgendwo sein können – diese Fähigkeiten sowie die damit verbundene Geistesschule sollten wir zum goldenen Erbe der Sowjetunion zählen. Es ist ein Gut, das sich mit anderen zu teilen lohnt.

    Brodskys Strategie macht Schule in den USA

    „[Joseph – dek] Brodskys Strategie des Abschaltens machte plötzlich auf abstruse Weise Sinn für mich“, schreibt eine Redakteurin des jungen amerikanischen Magazins The Point mit Blick auf die aktuelle politische Lage in den USA. Der ehemalige Top-Manager eines internationalen Konzerns setzt diese Strategie in die Praxis um – indem er seinen Alltag so gestaltet, dass er buchstäblich keine Nachrichten mehr bekommt, und die New York Times bringt darüber eine große Reportage. Außerdem gibt es mittlerweile zahlreiche praktische Ratgeber und Berichte über das Flüchten aus der US-amerikanischen Wirklichkeit nach Kanada.

    Und das bereits nach anderthalb Jahren Trump. Was kommt nach vier oder nach – gar nicht so undenkbaren – acht Jahren? Genau hier können wir eine helfende Hand reichen. Die Russen haben sich von den Amerikanern so einiges an Technologie und Praxis abgeguckt. Es ist höchste Zeit, die Schuld zu begleichen.

    Ein Leben im Kloster des eigenen Geistes

    Doch die Sache ist ernst, und so schnell wird das nicht gehen. Dort, wo der US-Bürger vor der simplen Entscheidung des An- oder Abschaltens steht, verfügen wir über fünfzig Facetten der Teilnahmslosigkeit und inneren Emigration. In welcher Kultur sonst findet man so feine, ausgeklügelte Überlebenstechniken und Wege, den gesunden Menschenverstand unter Bedingungen zu bewahren, die dafür nicht geschaffen sind? Wo sonst hatten die Menschen so viel Gelegenheit zu lernen, wie man abwesend ist, während man anwesend zu sein vorgibt?

    Brodsky hat ein völlig neues Verhaltensmuster vorgelegt. Er lebte nicht in einem proletarischen Staat, sondern im Kloster seines eigenen Geistes. Er kämpfte nicht gegen das Regime. Er nahm es nicht zur Kenntnis.

    (Sergej Dowlatow, Das unsichtbare Buch)

    „Die ewigen Fotos von Stahlgießereien in jeder Morgenzeitung und der ununterbrochene Tschaikowski im Radio – diese Dinge hätten einen in den Wahnsinn treiben können, hätte man nicht gelernt abzuschalten“, schreibt Brodsky selbst in [seinem autobiographischen Essay – dek] Weniger als man. Nicht nur Brodsky beherrschte das Abschalten, viele konnten das, vielleicht sogar alle, selbst die Parteifunktionäre. Man hat gelernt, die Außenwelt zu akzeptieren, aber diese Akzeptanz war eine rein oberflächliche, formelle. Die sowjetischen Gelehrten fügten Lenin-Zitate in ihre Schriften ein, ohne den abgetippten Buchstaben den geringsten Sinn beizumessen. Sowjetische Führungskräfte hielten Reden, ohne sich bewusst zu machen, was sie da eigentlich erzählen. Der sowjetische Mensch konnte anwesend sein, ohne wirklich da zu sein.

    Das Außerhalbsein – ein sowjetisches Konzept

    „Innerhalb des Systems, als Teil davon, existierte das Individuum im selben Moment auch außerhalb dessen, an einem anderen Ort“, schreibt der Anthropologe Alexei Yurchak in seinem Buch Everything Was Forever, Until It Was No More. Diesen Zustand, wenn man sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Systems befindet, bezeichnet Yurchak als wnenachodimost – das Außerhalbsein.

    Und es geht nicht nur um die Hausmeister und Nachtwächter, das heißt, um Menschen, die in Heizwerken und Kesselhäusern arbeitend Lieder dichteten, alte Sprachen lernten und philosophische Traktate verfassten. Auch Verkäufer und Kassierer waren oft gleichzeitig anwesend und woanders. Ganz zu schweigen von der praktischen Unmöglichkeit, einen zuständigen Beamten physisch an seinem Arbeitsplatz anzutreffen. Die Menschen konnten Positionen bekleiden und, ob sie nun da waren oder nicht, anstatt zu arbeiten, ihre gesamte Zeit mit Gesprächen zubringen. Eine gängige Praxis war das Abfeiern – man verdiente sich Urlaubstage, indem man an (den ausschließlich offiziellen) Demonstrationen teilnahm oder zur Kartoffelernte aufs Land fuhr.

    Das Regime war etwas, das man am besten einfach nicht bemerkte

    Aktives Dissidententum konnte dabei genauso zu Ausgrenzung führen wie aktive Unterstützung des Regimes. Politische Themen galten in der spätsowjetischen Kultur als nicht der Rede wert. So war es – das ist wichtig – bis zum Beginn der Perestroika. Gegen das Regime zu kämpfen hätte bedeutet, es anzuerkennen, doch das Regime war etwas, das man am besten einfach nicht bemerkte.

    Verbotene Literatur wurde gelesen – von denen, die an sie herankamen, aber gelesen wurde auch sonst alles, was unter den Bedingungen des Informationsdefizits nur entfernt Beachtung verdiente. Was zählte, war das Gespräch.

    Diskussion als lebendige Reaktion der Gesellschaft auf Zensur und Kontrolle

    Der Raum der Diskussion und des – persönlichen – Austauschs war eine lebendige Reaktion der Gesellschaft auf Zensur und Kontrolle. Aber weil solcher Austausch Vertrauen voraussetzt, bildeten sich bald Erkennungsmethoden nach dem Prinzip „Freund oder Feind“: Man konnte in den engeren Kreis aufgenommen, aber auch plötzlich ausgestoßen werden, was in einer Kultur, die sehr sensibel mit der Würdigung per Handschlag umging, eine empfindliche Strafe sein konnte. Formelle Anerkennung war so gut wie nie deckungsgleich mit informeller Anerkennung, inoffizielle Autorität wog schwerer als die offizielle.

    Übrigens, wir sollten die Prinzipien der Realitätsflucht auch heute an uns selbst überprüfen. Die Praktiken liegen uns im Blut und lassen sich sicher leicht abrufen. Es würde mich zum Beispiel nicht wundern, wenn Angestellte im öffentlichen Dienst für die Teilnahme an offiziellen Demonstrationen einen Ausgleichstag bekämen. Genauso wenig würde mich wundern, wenn Führungskräfte ihre Reden heute wieder hielten, ohne groß über deren Inhalt nachzudenken. Und genügend Arbeitsplätze, wo sich die Angestellten den ganzen Tag nur unterhalten, gibt es sowieso.

    Die russische Lebensweise als unvollständig anwesende Existenz

    Sich entziehen, sich um etwas herumdrücken, anwesend sein und im selben Moment nicht – diese Dinge sind in den unterschiedlichsten Formen weit verbreitet. Die russische Lebensweise – mit ihren ständigen Abstechern auf die Datscha oder, wenn man in der Provinz lebt, Ausflügen in die Großstadt – hat an und für sich etwas von einer unvollständigen Anwesenheit.

    Und doch hindert uns irgendetwas daran, die Glückseligkeit des totalen Abschaltens zuzulassen. Die Ähnlichkeiten mit der späten UdSSR sind augenfällig, sollten uns jedoch nicht täuschen. Im heutigen Russland ist es ohnehin schwer, sich eine allgemeingültige Praktik auszumalen.

    Heutzutage gibt es ungleich mehr Möglichkeiten, sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, sich seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit zu schaffen, als zu Sowjetzeiten.

    Aber das sollte uns natürlich nicht davon abhalten, jene Praktiken des Abschaltens zu erforschen, die so tief in unserer Kultur verwurzelt sind – und diese Kunst der jungen und noch unerfahrenen US-amerikanischen Intelligenzija beizubringen.

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  • Kanonen auf Telegram

    Kanonen auf Telegram

    Seit über einer Woche liefern sich Telegram und Roskomnadsor einen Wettlauf, der an die Geschichte von Hase und Igel erinnert: Jedes mal, wenn die Beamten IP-Adressen von Telegram blocken, weicht der Messenger auf andere aus und entgeht damit der Blockade. Während Telegram-Chef Pawel Durow tausende neue Nutzer verzeichnen kann, versucht Roskomnadsor weiter mit allen Mitteln, Telegram zu blockieren: Mittlerweile sind in Russland fast 20 Millionen IP-Adressen gesperrt, ein großer Teil davon dürfte gar nichts mit dem Messenger zu tun haben.

    In der Novaya Gazeta sieht Kirill Martynow einen „Bürgerkrieg“ heraufziehen und fragt, wie weit die „Flächenbombardierung des Internets“ noch gehen kann.

    Der Konflikt zwischen der russischen Regierung und dem Messenger-Dienst Telegram hat qualitativ einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Spielregeln der ganzen Branche drohen verändert und die Zensur auf eine neue Ebene gehoben zu werden. Der Gesellschaftsvertrag, wie er über die letzten Jahre gewachsen ist, setzte stillschweigend voraus, dass die russischen Silowiki, Gesetzgeber und Funktionäre des Roskomnadsor so tun, als würden sie in Russland verbotene Informationen blockieren, und die Nutzer und Dienste tun ihrerseits so, als hätten sie keinen Zugriff darauf. Nach diesem Modus läuft es beispielsweise mit einem der weltweit größten sozialen Netzwerke LinkedIn, das zu Microsoft gehört und [in Russland] seit 2016 gesperrt ist.

    Sergej Golubizki bemerkte kürzlich in einem Artikel für die Novaya Gazeta, dieser ganze „Krieg gegen das Internet“ trage ausschließlich rituellen Charakter. Die Geschichte um die Telegram-Sperrung verwandelt das Ritual nun offenbar in einen Bürgerkrieg.

    Bürgerkrieg im Internet

    Am 16., beziehungsweise 17. April hat Roskomnadsor mehr als 2,4 Millionen IP-Adressen gesperrt [Stand 24. April: fast 20 Millionen – dek], die zu großen Subnetzen von Google- und Amazon-Diensten gehören. Zum Vergleich: Vor Beginn der Telegram-Blockierung hatten auf der schwarzen Liste von Roskomnadsor 38.000 IP-Adressen gestanden.

    Um an Telegram heranzukommen, musste die Behörde zum größten Angriff auf die Infrastruktur des Internets in der gesamten Geschichte der Zensur in Russland ausholen.

    Roskomnadsor hatte offenbar vermutet, dass Pawel Durow für seinen  Messenger eine Standardvorgehensweise entwickelt hatte, um Sperrungen zu umgehen, und zwar unter Einbeziehung der Cloud-Dienste großer Internetkonzerne, speziell von Amazon. Und darauf hatten sich die Beamten vorbereitet. Die Flächenbombardierung des Internets durch Roskomnadsor sorgte für beunruhigende Gerüchte in der IT-Branche. Am Abend des 16. April tauchten die ersten Meldungen auf: von Störungen in Kassensystemen des Einzelhandels, Problemen bei der Sprachübertragung des Messengers Viber, Unregelmäßigkeiten bei Microsoft-Diensten, darunter Office-Anwendungen und Onlinefunktionen von Spielekonsolen.

    So wurde, ohne Rücksicht auf Opfer und Verluste, die russische Gesetzgebung durchgesetzt.

    Ohne Rücksicht auf Opfer und Verluste

    Gegen Mittag des 17. April konnte der Großteil der russischen User die Telegram-App immer noch ohne VPN nutzen, wenn auch nicht störungsfrei. Der Versuch des Roskomnadsor, den Messenger auf Kosten der Abschaltung der Cloud-Dienste von Drittanbietern zu vernichten, war gescheitert. Wie Fachleute berichten, hatte Telegram eine Funktion namens DC_update aktiviert. Diese dient unter normalen Umständen dazu, die Server-Adresse, mit der sich der Nutzer verbindet, ständig zu aktualisieren und so die Geschwindigkeit und Stabilität der App zu erhöhen. Bei einer Sperrung erlaubt diese Funktion, in Echtzeit zig Millionen von IP-Adressen, die Google, Apple oder Microsoft gehören und auf welche Telegram zugreifen kann, nach verfügbaren Adressen zu durchsuchen und den Datenverkehr [der App – dek] darüber zu leiten. Die Telegram-Weboberfläche bleibt dabei aufgrund der technischen Besonderheiten der verwendeten Protokolle weiterhin blockiert.

    Anders gesagt: Um Telegram zu sperren, müsste Roskomnadsor im ganzen Land sämtliche internationalen Dienste abschalten – darunter Finanz-, Office- und Unterhaltungsdienste, von Apple Pay bis Xbox Live. Die Zahl der blockierten IP-Adressen würde auf Dutzende von Millionen ansteigen, die Provider hätten entsprechende Ausfälle, und Russland wäre de facto abgeschnitten vom World Wide Web.

    Roskomnadsor hat wohl den Kürzeren gezogen

    Kurz, um Durow zu besiegen, müsste man sich von dem Segen der Zivilisation verabschieden. Es sieht ganz danach aus, als hätte Roskomnadsor in diesem rasanten Schlagabtausch den Kürzeren gezogen. Doch dieser Schluss ist nur zu ziehen, wenn man annimmt, dass in der Behörde im Großen und Ganzen vernunftgeleitete Menschen sitzen, und ihrem Chef Alexander Shаrow kein direkter Befehl der Geheimdienste vorliegt, Telegram mit allen Mitteln zu zerschlagen.

    Klar ist im Moment nur, dass Roskomnadsor zum ersten Mal in seiner Geschichte auf solchen Gegendruck stößt; zum ersten Mal versucht er landesweit, einen so großen und technisch so anspruchsvollen Dienst zu deaktivieren, und damit ist er nun einen direkten Konflikt mit GAFA eingegangen (dieses Kürzel bezeichnet in Europa die vier weltweit führenden Internetriesen, mit einer Gesamtreichweite von mehreren Milliarden Menschen: Google, Apple, Facebook und Amazon).

    Als das Ausmaß des Problems klar wurde, haben die russischen Zensoren, wie es aussieht, vorerst eine Pause eingelegt und begnügen sich mit kleinen Rachefeldzügen gegen User, die sich mittels Proxy und VPN vorsorglich gegen ein Telegram-Blackout gewappnet hatten: Sie blockieren Seiten mit entsprechenden Einstellungen – offenbar ohne jede gesetzliche Grundlage.

    Geschenk für Telegram

    Zwei weitere Handlungsstränge sind für das Verständnis des Ganzen wichtig.

    Erstens: Die Ereignisse sind ein wahres Geschenk für Durow und sein Unternehmen. Die Zahl der Telegram-Nutzer stieg auf über 200 Millionen, 15 Millionen davon sind in Russland aktiv. Ein Wegfall des russischen Markts wird das Business-Modell des Messengers nicht in den Ruin treiben, welches sich, wie jetzt bekannt wurde, auf die Entwicklung eines globalen Bezahlsystems mit einer eigenen Kryptowährung konzentrieren wird.

    Darüber hinaus genießt Durow bereits jetzt eine unbezahlbare Reputation: als Kämpfer für die Freiheit und die Privatsphäre im Internet und als wichtigster Gegenspieler der russischen Regierung. Angesichts der aktuellen internationalen Atmosphäre bedeutet das, dass die Anhängerschaft von Durows Projekt schneller wachsen wird als je zuvor. Den Zuwachs der Abonnenten im Zuge der Sperrungen erwähnten selbst die großen russischsprachigen Kanäle, obwohl man diese Information nicht allzu optimistisch sehen sollte – einen beträchtlichen Teil der unpolitischen Nutzer in Russland könnte das instabile und „verbotene“ Telegram durchaus verlieren.

    „Patriotische“ Dienste und Bürger

    Zweitens: Es ist äußerst unterhaltsam, die Aktivitäten diverser „patriotischer“ Dienste und Bürger zu verfolgen. Längst nicht alle sind dem Ratschlag vom Internet-Berater und vom Pressesprecher des Präsidenten, German Klimenko und Dimitri Peskow, gefolgt, zu einem Messenger aus den 1990ern zu wechseln: ICQ. Der aktuelle Betreiber der Plattform, die Mail.ru Group, brachte umgehend einen Telegram-Klon unter dem Namen TamTam heraus. Kurz vor der Sperrung des Messengers schalteten russische Wirtschaftsblätter wie Kommersant und Vedomosti eine breit angelegte Werbeaktion für den Dienst.

    Jetzt werden auf TamTam aktiv Klone von populären Telegram-Kanälen erzeugt. So gibt es auf TamTam beispielsweise am 17. April schon ganze zwei Nesygars – mit 89, beziehungsweise 13 Followern.

    Eine Order, zu TamTam zu wechseln, bekamen auch die Mitarbeiter einiger Staatsmedien, aber wie man munkelt, kommunizierte jedenfalls noch vor wenigen Tagen das gesamte Management über die bisher verschont gebliebene WhatsApp. Einige russische Bürger lassen sich seit dem Mittag des 16. April ganz loyal nicht mehr auf Telegram blicken und demonstrieren so ihre Treue und in den meisten Fällen nicht unentgeltliche Liebe zum Kreml.

    Das Private ist politisch

    Andererseits war zum Beispiel auf dem Telegram-Account von Wadim Ampelonski, dem Ex-Pressesprecher des Roskomnadsor, der aktuell wegen Hinterziehung unter Hausarrest steht, in der Nacht zum 17. April Aktivität zu verzeichnen. Und so bewahrheitet sich einmal mehr, was die zeitgenössische Philosophie postuliert: Das Private ist politisch.

    Telegram steckt den Schlag ein und bereitet sich darauf vor, der Welt das libertäre Wunder vom Sieg über die russische Zensur zu offenbaren – um daran dann tüchtig zu verdienen. Die Frage ist, was der nächste Zug des Roskomnadsor sein wird. Schließlich vermeldeten die Beamten noch vor einigen Jahren ihre Bereitschaft, das Land vom weltweiten Internet abzutrennen. Zum Schutz der Souveränität, versteht sich.

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  • Es stinkt zum Himmel

    Es stinkt zum Himmel

    Russland hat ein Müllproblem: Rund 100 Milliarden Tonnen unverarbeitete Abfälle lagern derzeit auf einer Fläche von ungefähr vier Millionen Hektar, was etwa der Größe der Schweiz entspricht. Das sind zumindest die offiziellen Zahlen, die Dunkelziffer dürfte größer sein. Haushaltsmüll macht dabei rund zwei Drittel aus – da allerdings über 90 Prozent davon nicht recycelt wird, wachsen die Müllberge täglich weiter. 


    Nachdem im Sommer 2017 in der Oblast Moskau massenhaft Deponien stillgelegt wurden, wird der in Moskau anfallende Haushaltsmüll auf die verblieben knapp 20 Halden verteilt. Viele davon platzen aus allen Nähten, in den Städten ringsum klagen Anwohner über giftige Gase, die krank machen.


    Am 14. April fanden nun in neun betroffenen Orten der Oblast Moskau Protestveranstaltungen statt. Tausende Menschen gingen zum Geburtstag des Gouverneurs Andrej Worobjow auf die Straßen, um ihn auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Irina Gordijenko und Wlad Dokschin waren für die Novaya Gazeta in der Stadt Serpuchow dabei.

    „Wir werden für unsere Rechte kämpfen, und wir werden nicht weichen“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    „Wir werden für unsere Rechte kämpfen, und wir werden nicht weichen“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    „Vor einigen Tagen hat das Schiedsgericht die Schließung der Mülldeponie Lesnaja angeordnet, gegen die wir seit fast einem Jahr kämpfen. Wir haben vor Gericht Recht bekommen“, die Demonstration in [der Ortschaft Bolschewik bei – dek] Serpuchow eröffnet der Organisator Nikolaj Dishur, ein Abgeordneter im Stadtkreis Tschechow. „Die Deponie muss jetzt unverzüglich geschlossen werden, ich wiederhole: un-ver-züg-lich. Sie ist nun per Gesetz verboten – und wir alle zusammen verkörpern jetzt hier und heute dieses Gesetz. Wir sind eine Macht.“

    Durch die Menge geht ein zustimmendes Raunen.

    Um die fünftausend Menschen haben sich hier versammelt. Überall schimmern bunte Flaggen, Luftballons, Plakate:

    „Hört auf uns zu vergiften!“

    „Moskaus Umland ist kein Müllplatz!“

    „Worobjow, mach die Müllkippe dicht!“

    Auf die größte Zustimmung, die lebhafteste Reaktion bei den Menschen jedoch stößt die Forderung: „Worobjow, ab in den Ruhestand!“

    Viele sind mit ihren Kindern gekommen. Überall in der vier Kilometer von Serpuchow entfernten Ortschaft hingen bereits Tage vor der Demonstration riesige Plakate, die die Protestaktion ankündigten. Die Veranstalter hatten die Aktion ursprünglich in Serpuchow selbst durchführen wollen. Doch die dortige Stadtverwaltung hatte das untersagt und stattdessen eine eigene, alternative Demonstration abgehalten unter dem Motto „Mülltrennung“ – mit Musik, kostenlosem Essen und Volksbespaßung in Form von Tauziehen. Doch die Protestkundgebung in Bolschewik hat weitaus mehr Menschen mobilisiert.

    Der Gestank erreicht nun auch die Städter

    „Ich selbst wohne jetzt in Serpuchow – bei meiner Mutter“, erzählt die Teilnehmerin Tatjana der Novaya [Gazeta – dek]. „Aber unser Haus steht hier, praktisch direkt an der Lesnaja. Vor einem halben Jahr mussten wir es verlassen, weil sich das bei ihr gesundheitlich bemerkbar machte.“ Tatjana nickt in Richtung ihrer fünfjährigen Tochter. „Der Gestank war unerträglich. Früher haben die Städter unsere Proteste gegen die Müllhalde nicht verstanden. Aber vor einem halben Jahr hat der Gestank auch sie erreicht.“

    Die Mülldeponie Lesnaja liegt vier Kilometer von Serpuchow entfernt. Drumherum – eine Reihe kleinerer Dörfer. Die Deponie belegt eine Fläche von 33 Hektar. Sie ist damit eine der größten in der Oblast Moskau – und aktuell die einzige im Süden des Gebiets.

    „Die Deponie verstößt gegen drei Grundbedingungen: Der Müll wird nicht sortiert, es gibt kein Auffangsystem für das Sickerwasser, und das Wichtigste: Das Limit für die Mülleinfuhr ist längst ausgeschöpft“, erklärt Nikolaj Dishur. „Laut Projektkapazität kann die Halde 300.000 Tonnen Müll pro Jahr fassen. Unseren Berechnungen zufolge landen dort aber momentan übers Jahr rund 1,2 Millionen Tonnen. Innerhalb der letzten zwei Jahre ist der Müllberg auf die Höhe eines zehnstöckigen Hauses angewachsen, das ist mehr als in den ganzen 50 Jahren seiner Existenz. Wir haben ausgerechnet, dass unsere Deponie einen Gewinn von einer Milliarde Rubel [ca. 13 Millionen Euro – dek] abwirft. Und ich bin sicher, dass Gouverneur Worobjow und seine Leute – trotz des Gerichtsurteils – bis zum letzten Moment Widerstand leisten werden. Aber auch uns sollte man nicht unterschätzen.“

    Erfolgreicher Hungerstreik

    Dishur weiß, wovon er spricht. Im vergangenen Jahr konnten er und seine Mitstreiter die Schließung der Mülldeponie Kulakowo erreichen, in der Nähe der Stadt Tschechow, in deren Stadtduma er als Abgeordneter sitzt. Anfangs hatten die Abgeordneten sich um einen Dialog mit dem Gouverneur Worobjow bemüht und darauf verwiesen, dass die Müllkippe Kulakowo sich bis an die nahegelegene Schule ausgebreitet hat. Nur 480 Meter lagen dazwischen. Dabei schreiben die Gesundheitsauflagen eine Sperrzone von mindestens 500 Metern vor. Das Amt für Umweltnutzung und andere regionale Instanzen behaupteten allerdings stur, die Entfernung bis zum Schulgebäude betrage 501 Meter, es läge also kein Grund vor, die Deponie zu schließen. Daraufhin war eine dreizehnköpfige Initiativgruppe mit Dishur an der Spitze vor Gericht gezogen und am 1. Juni, dem Internationalen Tag des Kindes, in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Die Behörden des Gouvernements wurden sichtlich nervös. Und weil ihre Überredungsversuche nichts brachten, wurde die Mülldeponie Kulakowo zum 1. September im Eilverfahren stillgelegt.

    „Die Schließung haben wir zwar erreicht. Aber die Müllkippe wurde einfach brach liegengelassen. Fast ein Jahr ist vergangen, aber allen Versprechen zum Trotz kümmert sich niemand um ihre Rekultivierung. Mit der Lesnaja wird das nicht so laufen. Wir fordern nicht nur die Schließung, sondern auch die Wiederurbarmachung. Andernfalls wird sich das ganze Moskauer Umland zum Protest erheben“, sagt Dishur.

    „Wir wollen keinen Dreck einatmen!“
    „Wir wollen keinen Dreck einatmen!“

    Die Organisatoren der Protestaktionen in den verschiedenen Städten sind gut vernetzt. Außerdem haben Dishur und seine Mitstreiter im vergangenen Jahr die Organisation Bürgerforum registrieren lassen. Sie soll alle unabhängigen Abgeordneten, Stadt- und Bezirksvorsitzenden der Moskauer Oblast vereinen und so gemeinsam die „Interessen der Bevölkerung verteidigen“.

    Unter Jubelrufen und Applaus betritt Alexander Schestun die Bühne. Er ist der Vorsitzende der Bezirksverwaltung Serpuchow.

    „Noch ist es zu früh für eine Siegesfeier. Aber wir werden für unsere Rechte kämpfen, und wir werden nicht weichen“, sagt Schestun emotionsgeladen in die völlige Stille hinein. „Schauen Sie, Anhänger der unterschiedlichsten Parteien und Bewegungen haben sich hier versammelt. Wir halten zusammen. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Jeder von Ihnen erfüllt mich mit Stolz. Danke. Zusammen mit Ihnen fühle ich mich sicher. Ich werde mich von Gouverneur Worobjow nicht unter Druck setzen lassen.“

    In der allgemeinen Stille ertönt deutlich eine Frauenstimme:

    „Vors Gericht mit ihm!“

    Die Menge bricht in tosenden Beifall aus.

    Alexander Schestun ist bereits in der dritten Legislaturperiode Vorsitzender des Deputiertenrats im Rajon Serpuchow. Er genießt in der Region tadellose Autorität. Und obwohl Schestun seit Langem in Konflikt mit den Behörden der Moskauer Oblast steht (er ist der einzige unter allen Vorsitzenden der Verwaltungskreise im Gebiet, der sich vehement gegen die Abschaffung der Direktwahl bei Kommunalwahlen wehrt – eine Reform, für die Worobjow lobbyiert), war der Druck auf ihn noch nie so enorm wie seit Beginn der Müll-Krise. Die Regionalverwaltungen werden laufend durchsucht; laut Schestun kommen Drohungen direkt von den Mitarbeitern des FSB und Beamten der Gouvernementsbehörden: Entweder du trittst von deiner Kandidatur bei den kommenden Wahlen zurück und stoppst die Proteste, oder es passiert was.

    Malheur für die Regierungspartei

    Vor dem Hintergrund der Müll-Proteste geriet [die Regierungspartei – dek] Einiges Russland – genauer, die hiesige Abteilung – in eine Bredouille. Die Jedinorossy im Rajon Serpuchow sind nämlich selbst aktive Teilnehmer der Müll-Proteste. Auf der Demonstration sind neben Flaggen der KPRF, der Anarchisten und von Jabloko auch zahlreiche blau-weiße Flaggen der Regierungspartei zu sehen. Und es ist längst nicht die erste Demo, an der hiesige Parteimitglieder teilnehmen.

    Einige Tage zuvor, nach Bekanntwerden der Aufruhr, bekamen die Regionalpolitiker Besuch vom stellvertretenden Regierungsvorsitzenden der Oblast Alexander Kostomarow und von der Gebietsvorsitzenden der Partei Lidija Antonowa. Sie wollten ihre Parteigenossen zur Räson bringen. Doch der Trip war nicht von Erfolg gekrönt. „Leben Sie mal selbst hier auf der Müllkippe“, schlug man den Funktionären vor. Seit Montag, dem 16. April, soll die Abteilung der Partei Einiges Russland im Rajon Serpuchow nun per Eilbeschluss des Parteirats aufgelöst werden.

    Um die 5000 Menschen haben sich versammelt, überall schimmern bunte Flaggen, Luftballons und Plakate
    Um die 5000 Menschen haben sich versammelt, überall schimmern bunte Flaggen, Luftballons und Plakate

    Die Kundgebung endete mit der Verabschiedung einer Resolution. Die drei Hauptforderungen lauten: Die Deponie ist sofort zu schließen. Die Verwaltung der Moskauer Oblast hat drei Monate Zeit, der Öffentlichkeit einen Rekultivierungs-Plan für die Mülldeponie vorzulegen. Ferner ist ein Plan für den Bau einer Recycling-Anlage zu erarbeiten.

    Die Resolution wurde einstimmig angenommen.

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  • Besondere russische Werte?!

    Besondere russische Werte?!

    „Wir haben eben andere Werte als ihr“: Egal, ob es um LGBT, häusliche Gewalt oder auch politische Konflikte geht, in den letzten Jahren betont Russland in Streitfragen mit dem Westen immer wieder die  „besonderen russischen Werte“. Sie sind auch im Disput zwischen russischer Staatsmacht und Liberalen oft ein Hauptargument. Doch welche konkreten Werte sind damit gemeint? Und worin unterscheiden sie sich von „westlichen Werten“?

    Der Moskauer Soziologe Grigori Judin sprach am Hertie Innovationskolleg in Berlin im Rahmen des Projektes von Dr. Evgeniya Sayko Wertediskurs mit Russland über solche Werte-Debatten, Republic bringt eine Kurzfassung des Vortrags:


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Der Mythos von den „besonderen russischen Werten“ ist einer der gefährlichsten, den die Staatspropaganda den Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Landesgrenzen eingeimpft hat. In seiner Extremversion lautet er: „Im Gegensatz zum Westen hat Russland Werte.“

    Die Wirksamkeit dieses Mythos lässt sich kaum überbewerten. Einerseits hört man immer häufiger europäische Politiker sagen, man müsse mit Russland einen Dialog über gemeinsame Werte führen. Dieser Dialog endet dann aber jedes Mal in der gleichen Sackgasse: „Was sind eure Werte?“ „Andere als eure.“ „Und welche genau?“ „Besondere.“

    Gleichzeitig sprechen die Russen von Werten in einem Atemzug mit Mentalität und anderen sinnentleerten Begriffen, die sich gut eignen, wenn man sich selbst erklären will, warum etwas unnütz ist und sowieso nicht klappt.

    Werte – ein ziemlich neues rhetorisches Phänomen

    „Werte“ sind in der politischen Rhetorik Russlands vergleichsweise neu. Weder für die Jelzin- noch für die frühe Putin-Zeit waren sie charakteristisch – damals sprach man vielmehr von „Entwicklung“, „Demokratie“ und „Freiheit“.

    Diese Begriffe fügten sich in die Ideologie der Modernisierung: Es gibt für alle Gesellschaften den einen richtigen Entwicklungsweg, der über liberale Demokratie und einen freien Markt führt. Von diesem Weg ist Russland abgekommen und nun hat es die Aufgabe, den Westen, der schon um Längen voraus ist, einzuholen. Über Werte diskutierten damals hauptsächlich Politologen, von denen viele daran glaubten, dass man für Fortschritt, Demokratie und Freiheit erst die richtigen Werte innerhalb der Bevölkerung braucht.

    Vor etwa zehn, zwölf Jahren änderte sich alles. Die Russen waren ermüdet von der Ideologie der nachholenden Modernisierung, derzufolge sie vom Westen lernen sollten: Der Westen kommt und erklärt euch, wie ihr euer Land organisieren müsst, um richtig zu leben. Genau das war (und ist bis heute) die Rhetorik der russischen Liberalen seit Ende der 1980er Jahre. Dumm nur, dass sich Menschen nicht gerne belehren lassen, besonders wenn es zu lange geschieht und sie sich nicht einmal sicher sind, ob sie darum gebeten haben. Es entstand ein Minderwertigkeitskomplex und Russlands Eliten sahen dann im Zuge der arabischen und der Farbrevolutionen plötzlich, dass der Glaube an die Überlegenheit des Westens sie – unter anderem – die Macht kosten könnte. Genau in diesem Moment begannen die Staatsdiener, allen voran der Präsident, die Sprache der „besonderen Werte“ zu sprechen.

    Der Westen kommt und erklärt euch alles

    Die russische Werte-Debatte der letzten zehn Jahre ist sehr einfach gestrickt. Fast alle genannten Werte lassen sich leicht in zwei Schubladen stecken. In der ersten liegen die westlichen Werte, die europäischen, liberalen und allgemein-menschlichen sowie ein Fehlen von Werten. In der zweiten liegen die besonderen, traditionellen, konservativen und russischen Werte, die im Gegensatz zu den anderen stehen, und außerdem das Vorhandensein von moralischen und geistlich-kirchlichen Werten. Es liegt auf der Hand, dass die beiden Schubladen nicht ohne einander existieren: Ihre Opposition gründet auf dem Prinzip Westen versus Russland. Spricht in Russland jemand von Werten, dann will er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit entweder sagen: „Wir müssen so sein wie der Westen“, oder er will sagen: „Wir müssen unter uns bleiben“.

    Sehr viel seltener wird über konkrete Werte diskutiert. Wenn Wladimir Putin jene Werte aufzählt, die für ihn und das Land am wichtigsten sind, fällt die Liste symptomatisch inhaltsleer aus: Leben, Liebe, Freiheit, Nächstenliebe, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Güte. So ähnlich antwortet ein Kind, wenn es gefragt wird: „Welche Eigenschaften sind am wichtigsten, wenn man ein braver Junge sein will?“

    Die innere Leere der Werte-Ideologie ist im Übrigen leicht zu erklären. Sie kommt daher, dass Werte-Bekenntnisse nicht darauf abzielen, Werte zu verteidigen. Sie funktionieren nur ex negativo – man braucht sie in Russland nur, um die „uns fremden“ Werte abzulehnen.

    Werte-Bekenntnisse nur ex negativo

    Es ist zwecklos, in den Russen nach irgendwelchen besonderen „konservativen“ Werten zu suchen. Gilt womöglich in Russland eine gemeinnützige Tätigkeit mehr als persönlicher Erfolg? Soziologische Umfragen sind ein nur wenig verlässliches Instrument, denn sie fallen der Propaganda als erstes zum Opfer. Aber selbst die bescheinigen den Russen eher einen stark ausgeprägten Individualismus, keineswegs Konservatismus. Wie die führenden russischen Werte-Forscher Wladimir Magun und Maxim Rudnew zeigen, ist für Russland eine individualistische Orientierung charakteristisch, die mit der Zeit immer stärker wird.

    Sind die Russen womöglich immun gegen das Hauptleiden der Neuzeit – das Schwinden von althergebrachten Beziehungen und Vertrauen? Nein. Wie aus den Erhebungen des World Value Survey hervorgeht, ist Vertrauensmangel und der hohe Grad sozialer Atomisierung nach wie vor ein zentrales Problem: 66 Prozent der Befragten geben an, dass man anderen Menschen nicht vertrauen könne. Von familiären und religiösen Werten braucht man gar nicht erst zu reden: Zum Beispiel sind in Deutschland Kirchengemeinden um ein Vielfaches stärker und aktiver als in Russland, und die Scheidungsrate ist deutlich geringer.

    Die Werte-Rhetorik ist leeres Gerede: Russland hat heute keine „besonderen Werte“, die es sich selbst und der Welt anzubieten hätte. Man sollte aber gleichzeitig genau hinhören, was hinter den hochtrabenden Worten steckt und in den Herzen der Russen tatsächlich Anklang findet. Der Begriff „Werte“ wird in Russland verwendet, um sich selbst vom sogenannten „Westen“ abzugrenzen, um zu zeigen, dass man „nicht so“ ist. Das Wort verspricht Freiheit – die Freiheit von ideologischer und moralischer Abhängigkeit, von der Rolle eines unzulänglichen Erwachsenen, der belehrt werden muss.

    Die Erziehungsmetapher: Ihr habt mir gar nichts zu sagen

    Die Ideologie der Modernisierung mit ihrer Unterteilung in entwickelte und Entwicklungsländer zwingt eine Erziehungsmetapher auf. Russland hatte sich in der Rolle des Heranwachsenden so gut eingerichtet, dass es die offensichtlichen Schwachstellen der Metapher aufdeckte, die ihre Schöpfer nicht bedacht hatten. Nämlich, dass ein Heranwachsender längst nicht immer brav den Belehrungen der Erwachsenen und „Entwickelten“ folgt: Viel häufiger rebelliert er, strebt nach Unabhängigkeit und hat keine Lust, dass jemand über ihn bestimmt. Er weigert sich, etwas zu tun, nur weil es alle tun, und erklärt, er sei eben „nicht so“, und überhaupt, wer seid ihr schon, dass ihr mich belehren wollt? Unter diesen Bedingungen autoritären Druck auszuüben und auf „allgemein-menschliche Werte“ zu verweisen, ist die denkbar schlechteste Strategie.

    Aber vielleicht wird ja ausgerechnet in Russland die Sprache der Werte irgendwie falsch benutzt? Dem ist leider nicht so. Die Werte-Philosophie geht zurück auf die Arbeiten von Hermann Lotze Mitte des 19. Jahrhunderts. Und sie hat schon mehr als einmal ihr aggressives Potential gezeigt. Die Idee, der Mensch würde von höheren, ewigen Werten geleitet, die aus einer anderen Welt sind, führt schnell zu der Überzeugung, dass es zwischen Menschen, die unterschiedliche Werte vertreten, auch sonst keine Verständigung geben kann.

    Mit dem Verweis auf die ‚eigenen Werte‘ legitimiert man die ewige Feindschaft mit dem imaginierten Westen

    Max Weber bezeichnete in seiner berühmten Rede [Wissenschaft als Beruf, 1917 – dek] den Widerstreit der Werte als einen „Kampf der Götter“, zwischen denen es keinen Kompromiss gibt und geben kann. Jeder Versuch, „universelle Werte“ aufzustellen, führe unweigerlich zum Vorwurf der Anmaßung und zur Beschuldigung, man wolle seine eigenen Interessen als allgemeingültige Werte ausgeben. Im Grunde ist das genau die Position, die Russlands Elite heute erfolgreich auf der internationalen Bühne einnimmt.

    Die Logik von Werten erlaubt es, Unterschiede zwischen den Menschen als radikal, ergo als unüberwindbar zu beschreiben. Zwischen verschiedenen Standpunkten kann es einen Dialog geben, zwischen verschiedenen Wertesystemen aber nicht. Werte sind wie Geschmack (versuchen Sie mal jemanden davon zu überzeugen, dass Käsekuchen besser schmeckt als Apfelstrudel), mit dem einzigen Unterschied, dass Werte unser gesamtes Leben durchdringen, uns abverlangen, dass wir für sie einstehen und die feindlichen Werte bekämpfen. „Die Wertlehre feiert, wie wir sahen, in der Erörterung der Frage des gerechten Krieges ihre eigentlichen Triumphe“1, konstatierte Carl Schmitt 1960 in seiner Streitschrift mit dem sprechenden Titel Die Tyrannei der Werte. Genauso funktioniert die Sprache der Werte heute in Russland: Mit dem Verweis auf die „eigenen Werte“ legitimiert man die ewige Feindschaft mit dem imaginierten Westen.

    Wenn von „besonderen Werten“ die Rede ist, liegt die Betonung immer auf dem ersten, nicht auf dem zweiten Wort. Russland ist in keiner Hinsicht besonders in Bezug auf seine Werte, aber es hat den Komplex einer Kolonie, die sich aus der Fremdherrschaft befreien will. Trotz allem Lamento, „freiheitliche Werte“ seien nichts für die Russen, steckt hinter der fixen Idee, die eigene Einzigartigkeit hervorzuheben, das Streben nach der Emanzipation von einem allwissenden und autoritären Westen. Und auch wenn die Russen bislang kaum eine Vorstellung davon haben, was sie stattdessen wollen, kommt man schwer umhin, in diesem Drang eine echte Freiheitsliebe zu sehen, die Respekt verdient.  


    1.Schmitt, Carl (1967): Die Tyrannei der Werte, Berlin [3. Aufl., 2011]   

     

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

     

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • „Wie es ausgeht, weiß keiner”

    „Wie es ausgeht, weiß keiner”

    Akribisch und detailversessen forscht und gräbt er in Archiven und in Erdhügeln nach Toten aus der Zeit des Großen Terrors. Er sorgt dafür, dass die Ermordeten und anonym Begrabenen wieder einen Namen und einen Gedenkort bekommen.

    Juri Dmitrijew, Leiter von Memorial in Karelien, hat mit seinen Nachforschungen ein Tabu gebrochen. Denn bis heute ist die Zeit des Großen Terrors kaum aufgearbeitet.

    Am 13. Dezember 2016 wurde Juri Dmitrijew verhaftet. Der ungeheure Vorwurf lautet: Kinderpornographie. Dabei werden ihm Fotografien zur Last gelegt, die er vor einigen Jahren von seiner Pflegetochter machte. 2008 hatte er das damals dreijährige Mädchen zu sich genommen. Nach den Anschuldigungen wurde das Kind aus der Familie genommen und ein Kontaktverbot verhängt. Dmitrijew bestreitet die Vorwürfe vehement und gibt an, mit den fraglichen Fotografien bloß die korrekte körperliche Entwicklung der erkrankten Tochter dokumentiert zu haben.

    Die Vorwürfe und der Prozess erregten großes Aufsehen, viele Beobachter zweifeln die Beschuldigungen an, glauben an eine Kampagne, um Dmitrijew zum Schweigen zu bringen. Ende Dezember 2017 wurde eine psychiatrische Untersuchung angeordnet, Dmitrijew wurde dazu nach Moskau geflogen. Dort saß er im berüchtigten Butyrka-Gefängnis ein. Am 27. Januar wurde Juri Dmitrijew aus der Untersuchungshaft freigelassen, nach mehr als einem Jahr hinter Gittern. Im Februar ist seine nächste Anhörung vor Gericht.

    Anna Jarowaja von 7×7 traf ihn zuhause in Petrosawodsk.

    „Ich habe meinen Kampfgeist nicht verloren.“ Juri Dmitrijew nach mehr als einem Jahr Haft / Fotos © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    Wie war das letzte Jahr für Sie?

    Sagen wir mal so: Ich habe meine Zeit nicht vergeudet. Auch meinen Kampfgeist habe ich nicht verloren. Wenn man in eine Lage gerät, die ungewiss und schwierig ist und an der man nichts ändern kann, dann muss man seine Einstellung dazu ändern. Das habe ich getan.

    Womit haben Sie sich beschäftigt?

    Zunächst mal weiß ich ziemlich viel über dieses Gefängnis. Ich kenne die Schicksale von vielen Menschen, die dort zwischen 1937 und 1938 waren. Ich kenne Menschen, die durch diese Flure gegangen sind, in diesen Zellen gesessen haben, auch in der, in der ich einsaß. Ich verstehe jetzt, wie es diesen Menschen damals ergangen ist, wie es war, dort eingesperrt zu sein, was in ihnen vorging, was sie gefühlt haben.

    Wenn man in eine Lage gerät, an der man nichts ändern kann, muss man seine Einstellung dazu ändern. Das habe ich getan

    Auch sie wurden ja aufgrund von Denunziationen und falschen Anschuldigungen ins Gefängnis geworfen. Auch sie hat man angelogen, ihren Familien entrissen, als Volksverräter beschimpft, als Spione, Konterrevolutionäre und so weiter.

    Ich verstehe jetzt, woran sie gedacht haben, als sie diese Decke oder den Fußboden angestarrt haben oder während sie über diese Flure gegangen sind. Wie sie sich danach gesehnt haben, ihre Liebsten zu sehen … Wie sehr es sie verletzte, dass man sie als Verräter hinstellt.

    Ich will keine Prognosen aufstellen, aber ich kann mir gut vorstellen, wenn nicht ein ganzes Buch, so wenigstens ein Kapitel über die Menschen zu schreiben, die in diesem Gefängnis waren.

    Wieder zuhause – Dmitrijew mit der erwachsenen Tochter Katja und den Enkeln
    Wieder zuhause – Dmitrijew mit der erwachsenen Tochter Katja und den Enkeln

    Haben Sie die Unterstützung von außen vor Gericht gespürt?

    Das war eine gewaltige Unterstützung. Das berührt einen tatsächlich sehr. Und es gibt dir eine gewisse Hoffnung, dass sie dich nicht zerdrücken können, selbst wenn sie noch so wollen. Deshalb bin ich allen dankbar, die gekommen sind. Tatsächlich gab es ja nicht nur eine Sitzung, sondern es waren an die 30. Du sitzt da unten [im Gericht, 7×7], wartest, dass man dich nach oben bringt, die Wärter unterhalten sich darüber, dass sie gleich wieder vor die Kameras müssen, vor das applaudierende Publikum. Und ich: „Richtig, Jungs. Putzt euch die Federn, die Stiefel, dass alles schön glänzt!”

    Das Wachpersonal war jedes Mal ein anderes. Haben sie sich auf irgendetwas vorbereitet?

    Die haben da ihre ganz eigenen Anweisungen. Einen kleinen Dieb kommen vielleicht mal ein paar Kumpels besuchen. Und da ist plötzlich der ganze Flur voll mit Leuten. Wer weiß, was die da wollen. Und dann klatschen die auch noch. Was soll man davon halten? Wenn da so ein Waldschrat in Handschellen abgeführt wird. (lacht)

    Plötzlich der ganze Flur voll mit Leuten. Und dann klatschen die auch noch. Was soll man davon halten?

    Nicht auszudenken …

    Ja, nicht auszudenken. Später, als die FSIN-Leute wissen wollten, warum alle applaudieren, habe ich zu ihnen gesagt: „Jungs, diese Menschen hier – sie sind das Gewissen Russlands. Sie haben ihre Angst überwunden und sind hergekommen, um mich zu unterstützen.“ Naja, der eine oder andere fängt vielleicht an nachzudenken, aber die meisten verstehen das nicht.

    Seit Beginn der Gerichtsverhandlung am 1. Juni [2017], welche Momente waren besonders hart? Welche Zeit war die schwerste?

    Das Schwerste waren wahrscheinlich die Gespräche mit meinem Ermittler. Das war noch vor den Verhandlungen. Das Gericht ist dann die Institution, die sich mit dem auseinandersetzt, was er aufschreibt und was gesagt wurde.

    Diese Menschen hier – sie sind das Gewissen Russlands

    Der Löwenanteil des Erfolgs vor Gericht gehört der Arbeit meines Anwalts. Er hat alles sehr intelligent aufgebaut, wir waren ständig in Kontakt, er hat mich von so manchem Auftritt und harten Worten [vor Gericht, 7×7] abgehalten.

    Als man Sie in die Psychiatrie brachte, dachte niemand, dass das alle so schnell ein Ende nimmt.

    Ich denke, dass die öffentlichen Appelle doch eine Rolle gespielt haben. Schließlich gab es mehrere direkt an den Präsidenten. Es ging dabei nicht darum, mich freizusprechen, aber doch zumindest nach dem Gesetz zu handeln und nicht so, wie man gerade Lust hat.

    Es ist jedenfalls offensichtlich, dass es ein Signal von oben gab. Denn das ging so rapide: mit dem Flugzeug dorthin und wieder zurück.

    „Ich werde meine Kinder und Enkel erziehen und Bücher schreiben“
    „Ich werde meine Kinder und Enkel erziehen und Bücher schreiben“

    Was werden Sie als Nächstes tun? Während Ihrer Zeit in Haft sind zwei Bücher von Ihnen erschienen. Was nun? Ein neues Buch? Ein neues Thema?

    Leider wurde ich verhaftet, als ich kurz davor war – zwei Wochen, vielleicht etwas mehr –, die Arbeit der letzten zehn Jahre abzuschließen – ein Buch über die Sonderumsiedler von Karelien. Mir fehlten nur noch ein paar Kapitel. Jetzt werde ich versuchen, die bisherige Arbeit zu rekonstruieren und alles abzuschließen. Ich werde meine Kinder und Enkelkinder erziehen, Bücher schreiben, also das tun, was ich vorher auch getan habe.

    Bücher, also …

    Ich weiß nur eins: Ich muss zusehen, dass ich dieses Buch beende, weil den Menschen noch 126.000 Namen [von Sonderumsiedlern, 7×7] zurückgegeben werden müssen, die von allen schon lange und gründlich vergessen sind. Und mit „alle“ meine ich die staatlichen Strukturen.

    Diese Menschen wurden irgendwo enteignet, von irgendwo hierher gebracht. Mehr als die Hälfte wurde hier ermordet, in Waldgräbern verscharrt. Geblieben sind ihre Nachkommen, das ist etwa ein Viertel der heutigen Bevölkerung in Karelien – diesen Nachkommen will ich Informationen über ihre Großmütter, Urgroßmütter, Urgroßväter geben. Woher sie stammen, wo ihre Wurzeln sind, wo ihre Familien herkommen.

    Ich will erzählen, wie diese Menschen hier hergebracht wurden, wer sie damals enteignet hat. Was man hier mit ihnen gemacht hat, wo sie umgebracht wurden, wo sie begraben sind.

    Den Menschen müssen noch 126.000 Namen zurückgegeben werden, die von allen schon lange und gründlich vergessen sind

    Solche Grabstätten wie Krasny Bor, Sandarmoch – wir haben hier in Karelien leider mindestens 30 davon. Und so sehr wir auch wollen, wir, das heißt meine Freunde und ich, haben einfach weder genug Ressourcen noch Zeit, diese Grabstätten zu pflegen. Also will ich die Nachfahren zusammenbringen, wenigstens anhand der Sondersiedlungen. Sie sollen sich informieren können, hinfahren, irgendetwas aufstellen auf diesen Friedhöfen.

    Ihr Fall jedenfalls ist noch nicht abgeschlossen. Und keiner weiß, wie es ausgeht.

    Ja, das weiß niemand. Erstmal bin ich hier.

    Patronen einer Browning-Pistole in den Händen von Juri Dmitrijew. Er fand sie 2004 zwischen den Überresten von 26 Menschen
    Patronen einer Browning-Pistole in den Händen von Juri Dmitrijew. Er fand sie 2004 zwischen den Überresten von 26 Menschen

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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    Debattenschau № 61: The Death of Stalin nicht im russischen Kino

  • Mit Folter gegen Drogen

    Mit Folter gegen Drogen

    Eine Routinekontrolle auf der Straße, der Kontrollierte kann sich nicht ausweisen und wird auf die Wache gebracht. Dort „findet“ die Polizei bei ihm Marihuana, konfisziert es und verklagt den vermeintlich Süchtigen oder Dealer. Nicht selten gesteht dieser seine Schuld in Videos öffentlich ein


    Oft sind die Beklagten jedoch unschuldig, wie Recherchen von Republic ergeben. Demnach verläuft der Anti-Drogen-Kampf in Tschetschenien nicht selten nach dem oben beschriebenen Muster, bei Verhören wendet die Polizei zudem häufig Gewalt an. 


    Ilja Roshdestwenski hat mit Betroffenen und deren Anwälten gesprochen – und zeigt, wie plötzlich auch Menschenrechtler ins Visier geraten.

    Ramsan Kadyrow führt angebliche Drogensüchtige öffentlich vor / Foto © Screenshot aus Kadyrow w Pjatigorske poimal Narkotorgowzew i Narkomanow/YouTube
    Ramsan Kadyrow führt angebliche Drogensüchtige öffentlich vor / Foto © Screenshot aus Kadyrow w Pjatigorske poimal Narkotorgowzew i Narkomanow/YouTube

    Am 16. August 2017 wurde Magomed-Ali Meshidow aus dem tschetschenischen Dorf Awtury zum wiederholten Mal in Begleitung eines Vollzugsbeamten ins Büro der Kriminalpolizei des Innenministeriums im Bezirk Schali geführt. Die Kripo-Mitarbeiter gingen zum Safe auf der linken Seite und holten ein Gerät heraus, das mit einer Trainingsjacke abgedeckt war. Das Gerät diente, wie sich kurz darauf herausstellte, der Folter mit Strom. Gewöhnlich nimmt man dafür alte Isolationsmessgeräte, Kondensator-Zündmaschinen oder Feldtelefone mit Kurbelinduktoren; sie erzeugen Starkstrom, aber mit geringer Kraft; Spuren bleiben fast keine zurück, nur schwarze Punkte.


    Die Beamten sagten, dass sie mich so lange foltern, bis ich das Geständnis unterschreibe


    Dem Inhaftierten wurden mit der Trainingsjacke die Augen verbunden, ihm wurden Klemmen an die Daumen gesteckt und das Gerät eingeschaltet. „Ich habe geschrien, es tat höllisch weh. Die Beamten sagten, dass sie mich so lange foltern, bis ich das Geständnis unterschreibe“, erklärt Meshidow in seiner Strafanzeige. Eine Kopie liegt Republic vor. In dem Dokument betont Magomed-Ali, die Beamten hätten mehrmals wiederholt: „Bei uns kommt niemand ohne Schuldgeständnis raus.“ „Zwei Tage später wurde ich wieder mit Strom gefoltert, diesmal wurden die Klemmen an den kleinen Fingern und an den Handschellen befestigt, damit ich etwas gestand, das ich nicht getan hatte“, so Meshidow.


    Er war einer von etwa 70 Menschen, die Mitte August im hiesigen Untersuchungsgefängnis gelandet waren. Die Verhaftungen waren Teil einer Anti-Drogen-Kampagne, die der tschetschenische Staatschef Ramsan Kadyrow ausgerufen hatte. 

    Razzien und Folter

    Auf Anfrage von Republic gab das Innenministerium der Teilrepublik an, die Rechtsschutzorgane hätten bis Ende Dezember 507 Verstöße gegen entsprechende Artikel des Strafgesetzes aufgedeckt. Zwei Informanten, die mit dem Verlauf der Operation vertraut sind, berichten, die Polizisten hätten Razzien in den Ortschaften durchgeführt und jeweils mehrere Dutzend Menschen festgenommen. Sie hätten von ihnen verlangt zuzugeben, illegale Substanzen konsumiert oder verbreitet zu haben, und wollten weitere Personen genannt bekommen, die im Besitz von Drogen seien. 


    Die Situation erinnert zum Teil an das, was in Tschetschenien mit den Menschen geschah, die einer nichttraditionellen sexuellen Orientierung bezichtigt wurden. Diesmal aber ohne Mord und Totschlag: Jetzt setzt man auf das Androhen von besonders schwerwiegenden Strafparagraphen, auf Folter und per Video aufgenommene Geständnisse.


    Wochenlanges Verhör


    Am 14. August hatten zwei Polizeimitarbeiter in Zivil Magomed-Ali Meshidow vor seinem Wohnhaus auf der Bamat-Girej-Straße festgehalten, das offizielle Protokoll ist jedoch auf den 31. August datiert; am 2. September erließ das Gericht den Haftbefehl. Eine Woche lang verhörte man den 31-Jährigen, wer im Dorf Drogen konsumiere oder verkaufe, und schlug mit einem Metallverbundrohr auf ihn ein. Am 20. August willigte Meshidow ein, das Geständnis zu unterschreiben, aber man ließ ihn trotzdem nicht frei, sondern wartete, bis die Spuren der Schläge nicht mehr zu sehen waren.
    Zusammen mit Magomed-Ali wurde auch sein Bruder Magomed-Sidik festgenommen: Er war zu Hause und wollte gerade los, um seine Kinder aus dem Kindergarten abzuholen, als ein Mann in Zivil in den Hof kam und ihn aufforderte, auf ein paar Worte mit vor das Tor zu kommen. Dort steckte man Magomed-Sidik in dasselbe Auto, in dem auch schon sein jüngerer Bruder saß, und brachte die beiden aufs Polizeirevier. 


    Die Polizisten sagten, wenn ich nicht gestehe, würde man mir einen ‚terroristischen Akt‘ anhängen

    „Im Büro waren mehrere Mitarbeiter, die mir sagten, ich hätte keine Wahl, ich würde sowieso gestehen, sonst würde man mir einen ‚terroristischen Akt‘ anhängen oder eine Klage wegen der Mitgliedschaft in einer ‚illegalen bewaffneten Organisation‘, und dann könnte man mit mir sowieso alles machen, was man will“, berichtet Magomed-Sidik in seiner Strafanzeige. Genau wie sein Bruder wurde er mithilfe von Klebeband und Handschellen so lange gefesselt und gefoltert, bis er das Geständnis unterschrieb.


    Schließlich wurde Magomed-Ali zur Last gelegt, am 20. August gut 16 Gramm Marihuana für 1000 Rubel [ca. 14 Euro – dek] verkauft zu haben (für diesen Drogendeal gibt es keine Videobeweise, nicht einmal markierte Geldscheine kamen zum Einsatz). Magomed-Ali hat seine Ware dabei deutlich unter Wert verkauft: Aus einem Bericht des Amtes für Rauschgiftkontrolle beim tschetschenischen Innenministerium geht hervor, dass man 2016 für ein Gramm Marihuana durchschnittlich 600 Rubel hinlegen musste [ca. 8,50 Euro – dek].


    Seinem Bruder wird der Besitz von fast 128 Gramm Marihuana vorgeworfen, die man am selben Tag bei der Körperkontrolle gefunden haben will und die er, so heißt es im Ermittlungsprotokoll, im August 2016 für den Eigengebrauch gekauft habe. 

    Die Strafverteidigung besteht darauf, dass die Fälle gefaked seien, allein, weil die Meshidow-Brüder am 20. August bereits seit einer Woche in Untersuchungshaft saßen. Beweise dafür gibt es reichlich: Mindestens zwei Nachbarn können die Festnahme bezeugen; Magomed-Sidiks Frau hat den beiden zwei Wochen lang Essen gebracht und ihre Wäsche gewaschen; aufgrund der Folter bekam einer der Brüder eine Nierenentzündung, weswegen ein Rettungswagen kommen musste. Nicht zuletzt nennt die Verteidigerin Marina Dubrowina in ihrem Antrag an den Ermittlungsrichter die Namen von vier Mitinsassen, die gesehen haben, wie man die Brüder geschlagen hat.


    Zeugen werden eingeschüchtert

    Die Meshidows befinden sich im Moment in U-Haft und warten auf die Verhandlung. Zeugen, die den Fakt ihrer Entführung bestätigen könnten, seien von den Kriminalbeamten eingeschüchtert worden, berichtet Anwältin Dubrowina. Sie selbst habe sich mehrfach von den Mitarbeitern der Rechtsschutzorgane anhören müssen, sie hätten „so Anwälte schon gesehen“, die mit der „besonderen tschetschenischen Mentalität“ und den Feinheiten der Strafverfolgung in der Republik nicht vertraut seien, aber sobald man ihnen „alles verständlich erklärt“ hätte, wären die bald wieder nach Hause gefahren. Zu guter Letzt wurde Dubrowina, ob spaßeshalber oder im Ernst, von einem der Richter ans Herz gelegt: „Wie wäre es mit Personenschutz, Marina Alexejewna.“


    „Unsere Parole lautet: Drogensucht und Terrorismus sind gleichwertige Übel!“, sagte Ramsan Kadyrow im September 2016. Ihm zufolge sei Tschetschenien, was das angeht, eine der sichersten Regionen denn in der Teilrepublik würden weder illegale Substanzen hergestellt noch führten die Apotheken Psychopharmaka. „Aber sie werden von außerhalb eingeschleust und an Heranwachsende und junge Leute verkauft. Unsere Aufgabe muss es sein, diese Kanäle zu kappen und die Jugend vor diesem üblen Einfluss zu retten“, fügte der Republikchef hinzu. 


    Abknallen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum – Problem gelöst!


    Wenige Tage später berichtete die Novaya Gazeta von einer Konferenz zum Kampf gegen die gestiegene Zahl der Verkehrstoten und gegen den Drogenkonsum. „Wer in der Tschetschenischen Republik Ärger macht, wird verdammt nochmal abgeknallt. Gesetz hin oder her, was bedeutet das schon … Abknallen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum – Problem gelöst! Das ist das Gesetz!“, hatte Kadyrow damals in Anwesenheit von örtlichen Silowiki, Staatsbeamten und Vertretern der Geistlichkeit gesagt. Der Mitschnitt wurde in den 7-Uhr-Nachrichten im TV-Kanal Grosny  ausgestrahlt, aber aus nachfolgenden Beiträgen wurde dieser Teil des Auftritts herausgeschnitten. Die Staatsanwaltschaft behauptete später, die Worte Kadyrows seien aus dem Zusammenhang gerissen worden: „In dem Ausschnitt ging es darum, dass Drogen- und Rauschgiftsüchtige sehr empfänglich sind für die Verlockung von terroristischen Aktivitäten.“


    Mahnrede vor 700 Menschen

    Seit ein paar Jahren bekämpft Kadyrow das Drogenproblem mithilfe des Glaubens: Im März 2015 legten in der Achmat-Kadyrow-Moschee 300 Menschen vor ihm Buße ab, und im Herbst 2016 hielt er im Amphitheater von Grosny eine Mahnrede vor 700 Menschen. Derartige Veranstaltungen führt auch der stellvertretende Vorsitzende des tschetschenischen Innenministeriums Apti Alaudinow durch. Und manche Drogensüchtige fängt Kadyrow fast höchstpersönlich.

    Die aktuelle Anti-Drogen-Kampagne ist ähnlich umfassend: Seit mehreren Monaten schon laufen Festnahmen quer durch die Region. Den Startschuss gab ein Treffen mit der Spitze des tschetschenischen Innenministeriums am 12. August. Damals hatte Kadyrow bekanntgegeben, dass ein Einsatzstab zur Bekämpfung des Drogenproblems eingerichtet wird.


    Urteile nach dem immer gleichen Muster

    Republic hat sich 67 Urteile näher angesehen, die seit August 2017 von tschetschenischen Gerichten in Verbindung mit Drogendelikten gesprochen wurden und die allesamt auf dem Internet-Portal des automatisierten staatlichen Systems Prawosudije (dt.„Rechtssprechung“) öffentlich zugänglich sind. Die Urteilsverkündungen haben einiges gemeinsam. In allen Fällen hatte der Angeklagte einige Blätter von wildwachsenden Cannabispflanzen abgeschnitten und getrocknet. Die Polizei entdeckte die verbotene Substanz, als der Angeklagte sich bei einer Routinekontrolle nicht ausweisen konnte und auf die Wache gebracht wurde, wo man im Zuge einer Durchsuchung das Marihuana fand und konfiszierte. In Einzelfällen wurde der Verdächtige während eines Kontrolleinkaufs festgenommen. Absolut alle Beschuldigten waren geständig, und ihre Fälle wurden fast ausschließlich in Spezialverfahren verhandelt.

    Ein Informant von Republic, der den regionalen Rechtsschutzorganen nahesteht, erklärt, dass die meisten Verhafteten gezwungen würden, Videobotschaften aufzunehmen, in denen sie zugeben, regelmäßig illegale Substanzen zu konsumieren. Wenn jemand sich weigere, vor der Kamera auszusagen, würde man ihn mit Drohungen und Gewalt dazu bringen. Die meisten dieser Fälle hätten sich Ende Oktober bis Anfang November 2017 ereignet, so der Informant.


    „Die Rechtsschutzorgane haben freie Hand, weil sie wissen, dass sie einen Befehl ausführen“, betont ein anderer Gesprächspartner, der Verbindungen zu den obersten Sicherheitskreisen hat. 


    Betroffene holen sich nur selten Hilfe


    Einen praktischen Nutzen hätten die Videogeständnisse nicht, sagt ein dritter Informant. Ihm zufolge würden die Mitarbeiter der Polizei diese Videos wahrscheinlich brauchen, um später vor ihren Vorgesetzten und vor Kadyrow selbst Rechenschaft ablegen zu können. Diese Funktion haben die Videobotschaften auch für die Vorsitzende des Zentrums für Konfliktforschung und -prävention Jekaterina Sokirjanskaja. Darüber hinaus, sagt sie, könnten die Videoaufnahmen im regionalen Fernsehen gezeigt und als Belastungsmaterial eingesetzt werden. Sokirjanskaja merkt an, dass sowohl Anti-Drogen-Kampagnen als auch Anwendung von Gewalt bei Verhören in Tschetschenien keine Seltenheit seien. Die Betroffenen würden sich jedoch nur selten an Journalisten oder Menschenrechtler wenden und die Folter thematisieren.


    ***

    Nicht nur einfache tschetschenische Bürger geraten im Zuge der Anti-Drogen-Kampagnen ins Visier der Rechtsschutzorgane. So hielt die Polizei am 9. Januar auf der Landstraße zwischen Kurtschala und Oischara bei einer Verkehrskontrolle Ojub Titijew an, den Leiter des Memorial-Büros in Grosny. Er wurde festgenommen, und das Innenministerium erklärte, in seinem Pkw sei ein Päckchen gefunden worden, dessen Inhalt „spezifisch nach Marihuana gerochen und ca. 180 Gramm gewogen“ habe. Titijew selbst sagte vor Gericht aus, die Drogen seien ihm untergeschoben worden: Dafür mussten die Polizeibeamten zusammen mit dem Menschenrechtler zur Landstraße zurückkehren, um in Anwesenheit von Zeugen das Protokoll über die Festnahme aufzunehmen. Die Mitarbeiter des Innenministeriums hätten versucht, Titijew zu einem Geständnis zu bewegen, und ihm damit gedroht, dass man andernfalls gegen seinen Sohn ein Verfahren wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen bewaffneten Organisation“ einleiten würde.

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  • Gefühlt Alternativlos

    Gefühlt Alternativlos

    Vergangene Woche, am 6. Dezember, kündigte Wladimir Putin an, was quasi schon jeder wusste, dass er bei der Präsidentschaftswahl 2018 kandidieren wird. Kurz vorher war Russland wegen Dopings von den Olympischen Spielen ausgeschlossen worden. Nachweislich nicht belastete russische Sportler können teilnehmen, allerdings unter neutraler Flagge.

    Für Maxim Trudoljubow ist kein Zufall, dass beide Ereignisse nah beieinander lagen. Das analysiert er auf Republic – und den Umgang des Staates mit der Wahrheit.

    Viele erinnern sich noch an die Zeit, als die Wahrheit noch etwas bedeutete. In den 1980er Jahren konnte eine neue Erkenntnis – eine Publikation, die wenig Bekanntes der Öffentlichkeit zugänglich machte – zum Thema einer landesweiten Diskussion werden. Ähnliches geschieht auch heute noch, aber nur in sehr kleinem Maßstab, sicher nicht mehr im ganzen Land. In den Ereignissen der letzten 30 Jahre offenbaren sich Nervenzusammenbrüche und emotionale Schwankungen im Verhältnis der Gesellschaft zu jener ungreifbaren Wirklichkeit, die sich unter dem erstaunlichen russischen Wort Prawda – „Wahrheit“ – verbirgt.

    Der Umgang des Staates mit der Wahrheit

    Gerade kürzlich war es wieder angebracht, sich das ins Gedächtnis zu rufen, angesichts Olympiade und Doping, und davor zum Beispiel, als das Passagierflugzeug über der Ukraine vom Himmel geholt wurde, und in all den anderen Fällen von aktiver staatlicher Arbeit an den Fakten. Nun, der Umgang des Staates mit der Wahrheit wird wohl auch für die nächsten mindestens sechs Jahre ein aktuelles Thema bleiben, denn der „Chefredakteur“ der Arbeit mit Informationen in der Russischen Föderation hat gerade erklärt, für eine weitere Legislaturperiode zu kandidieren.

    Symbolisch ist der Zeitpunkt, der für die Erklärung der Kandidatur gewählt wurde. Nicht auszuschließen, dass das mit Absicht geschah, um auf diese Weise die aufgeflammte Debatte über den Ausschluss der russischen Staatsdiener vom Sport einzudämmen. Wenn dem so ist, dann wäre das nur ein weiterer manipulativer Zug von tausenden, aus denen die vergangenen 18 Jahre unter Wladimir Putin bestehen und alle noch kommenden bestehen werden.

    Die Entdeckung, dass es so etwas wie PR gibt

    Irgendwo tief vergraben unter all den Ereignissen der letzten zwei Jahrzehnte liegt eine Entdeckung Putins und der Leute in seinem Umfeld. Sie entdeckten, dass es auf der Welt so etwas wie PR gibt, eine Erfindung der gewieften Amerikaner; dass man Informationen auch manipulieren kann, anstatt sie einfach zu unterschlagen und direkte Propaganda zu betreiben, so wie zu Zeiten der UdSSR.

    Jemand, der, sagen wir, 1952 geboren ist, wie eben dieser neue russische Präsidentschaftskandidat zum Beispiel, jemand, der den damaligen ideologischen Kampf unmittelbar miterlebt hat, musste irgendwann zu der Einsicht gelangt sein, dass seine sowjetischen Vorgesetzten alte Idioten waren. Erst haben sie das ausgediente System der Zensur ad absurdum geführt und dann alle Schleusen auf einmal geöffnet. Währenddessen haben die Feinde – langsam, aber stetig – mit den Mitteln von PR, Marketing und Merchandising gearbeitet. Und gesiegt. Man hätte also schlauer sein müssen, PR lernen.

    Der lacht am meisten, der am besten lügt

    Schlauer sein wollten damals vermutlich alle. Der Unterschied bestand darin, was man unter „Schlauheit“ verstand. Der Weg, den die Gesellschaft als Ganzes und einzelne ihrer Mitglieder zurücklegen mussten (vor allem die, die beruflich damit zu tun hatten), war hart. Es war der Weg weg von der Enttäuschung durch die Zensur hin zu einem aufrichtigen Glauben an die Macht der empirischen Wahrheit – und dann hin zu einer neuen Enttäuschung und Erkenntnis: Dass Information zum Gegenstand von Manipulation werden kann. Dass der am meisten lacht, der am besten lügt und daran verdient. Natürlich denken nicht alle so, aber die, die so denken, sind sehr einflussreich.

    Den Weg von der Hoffnung in die Hoffnungslosigkeit beschreibt die Anthropologin Natalia Roudakova, Autorin des Buchs Losing Pravda: Ethics and the Press in Post-Truth Russia in einer jüngst erschienenen Untersuchung zur postsowjetischen Presse folgendermaßen: Zu Zeiten der späten Sowjetunion hätten Journalisten sich als die humanste unter den staatstragenden Stützen gesehen, erklärt Roudakova unter Bezug auf Interviews und das jahrelange Eintauchen in die Journalistenkreise von Nishni Nowgorod. Vor der Perestroika hielt man sich für einen Hort der Humanität in der sowjetischen Welt, für die letzte Hoffnung des kleinen, von der Bürokratie verprellten Mannes.

    Der Weg zum Zynismus

    Während der Perestroika verinnerlichte man eine neue Metapher, die die Rolle der Presse beschrieb – „die vierte Macht“. Journalisten sahen sich als Träger progressiver Werte, als Intellektuelle der Öffentlichkeit, die der Gesellschaft Orientierungspunkte boten. Gegen Ende der 1990er Jahre änderte sich die Leitmetapher wieder – nun war man „das zweitälteste Gewerbe der Welt“. Schon gegen Mitte der 1990er taucht in den Gesprächen immer häufiger das Wort „Verkäuflichkeit“ auf. Und zu Beginn der 2000er war es in Nishni Nowgorod weit verbreitet, Journalismus für „politische Prostitution“ zu halten.

    Im Folgenden entwickelte sich die Stimmung Richtung Zynismus. (Es sei kurz angemerkt, dass ich persönlich mich auch an andere Orientierungspunkte erinnere. Das Gefühl einer vergifteten Atmosphäre in der Medienbranche war Ende der 1990er sicher da. Als die Zeitung Vedomosti 1999 gegründet wurde, wurden nur in Ausnahmefällen Leute mit Arbeitserfahrung aus anderen Medien eingestellt. Dasselbe galt für alle neuen Projekte, die sich auf die Fahne geschrieben hatten, zum Vorbild hoher professioneller Standards zu werden. Für mich persönlich waren die 2000er Jahre und der Anfang der 2010er Jahre eine Zeit der aufrichtigen Wahrheitssuche, allerdings ohne irgendwelche Illusionen oder das Gefühl einer höheren Mission.)

    Der allgegenwärtige Zynismus – das ist eine der Errungenschaften der Regierung Wladimir Putins. Unter ihm einen anderen Zustand der Gesellschaft zu erwarten, ist sinnlos: Putin zu wählen heißt, dasselbe wieder zu wählen, nur in verstärkter Form. Für die Elite ist es ein „Zynismus der Herrschaft“, die Einsicht, dass man zum eigenen materiellen Nutzen alles manipulieren kann, was sich bewegt. Und begrenzt ist diese Herrschaft einzig durch Repressionen, die von anderen ebensolchen Mitspielern organisiert werden.

    Für die Mehrheit der Bürger ist es ein „Zynismus der Benachteiligten“, ein Zynismus der Zurechtgewiesenen, ein Zynismus derer, die die Wahrheit kennen, für die sich dieses Wissen jedoch als bitter erweist. Es ist die Wahrheit von Bediensteten, die hinter dem Rücken der Herren tuscheln. Die Dissidenten der 1980er Jahre lachten über die Lügen der Diktatoren. Putin erinnert sich gut daran und tut deshalb alles dafür, dass in seinem postmodernen Imperium nicht die Lüge das Komischste ist, sondern die Wahrheit.

    Das Gefühl, nichts ändern zu können

    Natürlich ist er nicht uneingeschränkt erfolgreich, und dieser Zustand hat sich in seiner Schwere nicht auf die gesamte Gesellschaft verbreitet: Bei Weitem nicht alle sind zu Zynikern geworden. Es gibt viele Inseln positiven Schaffens, das ohne eine gesunde Portion Idealismus unmöglich wäre. Doch das Gefühl, nichts grundlegend verändern zu können, überwiegt. Wichtig ist, dass es sich nur um eine Wahrnehmung, um ein Gefühl handelt. Es entsteht ganz natürlich aus dem Führungsansatz, den Putin gewählt hat (nicht erfunden) und der auf dem Manipulieren von Information und Ressourcen gründet.

    Der Glaube an die Allmacht von PR und Marketing hat seinen Ursprung irgendwo in den 1990ern. Er gesellt sich in dieser Weltsicht zu dem Unglauben an die Eigenständigkeit der Bürger, an ihre Schaffenskraft. Nicht einmal schnell rennen und Sportrivalen besiegen können sie – sie müssen gedopt werden. Selbstständig Geld verdienen können sie auch nicht – deshalb kann man nur kleine Summen an sie verteilen, das Eigentum ist in den Händen des Staates konzentriert. Und wählen können sie ebenfalls nicht.

    Die Idee der Manipulation widerspricht der Idee des Erschaffens, denn Manipulation ist das bloße Hin- und Herschieben von bereits Vorhandenem. Von den einen nehmen, den anderen geben.

    Die Kehrseite der zum Prinzip erhobenen Manipulation ist der Unglaube an die Fähigkeit der Menschen, ihr eigenes Land zu verändern, seine Entwicklung mitzugestalten, nicht bloß beim Überleben mitzuhelfen. Bewegungsunfähigkeit und existenzielle Skepsis – das ist nicht die offensichtliche, aber die wichtigste Seite von Putin als Politiker.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Die Honigdachs-Doktrin

    Die Honigdachs-Doktrin

    Die außenpolitische Strategie Russlands scheint aufzugehen: Der Syrien-Konflikt ist ohne Russland nicht lösbar, der Westen zerbricht sich den Kopf an der Ukraine-Frage, und alle Welt hat Angst vor russischen Hackern. Bereits vor über einem Jahr bemerkte der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew, dass Russland neben Öl und Gas vor allem eines exportiere: Angst. Mit diesem Exportgut erscheine das eigentlich schwache Land im westlichen Ausland allmächtig.
    Dem kann der Journalist Michail Krostikow auf Carnegie.ru allerdings nur sehr wenig abgewinnen. 

    Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick nicht anlegen sollte – Löwen, Tiger und sogar Alligatoren / © Matěj Baťha/Wikipedia
    Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick nicht anlegen sollte – Löwen, Tiger und sogar Alligatoren / © Matěj Baťha/Wikipedia

    Gegen die russische Außenpolitik der letzten Jahre wettern häufig sogar diejenigen, die die Postulate grundsätzlich teilen. Bemängelt wird vor allem das Fehlen eines strategischen Kalküls, eines Plans wenigstens für die nächsten zehn Jahre. Russland, so die Kritiker, handele situativ und taktisch, es reagiere bloß auf hereinbrechende Schicksalsschläge und verliere allmählich an Kraft.


    Im Grunde jedoch hat Russland über die letzten drei Jahre eine vollwertige außenpolitische Strategie entwickelt, die man fürs Erste als Honigdachs-Doktrin bezeichnen könnte.


    Der Honigdachs merkt sich, wer ihn beleidigt, und macht ihm das Leben schwer

     


    Die kleinen Tiere zeichnen sich vor allem durch eine für ihre Größe unglaubliche Kraft, Zähigkeit und Rachsucht aus. Honigdachse werden dank noch nicht vollständig erforschter regenerativer Eigenschaften sogar mit dem Gift der Kobra fertig – der tödliche Biss setzt sie nur für eine Stunde außer Gefecht. Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick, in Anbetracht der Gewichtsklasse, nicht anlegen sollte: Löwen, Tiger und sogar Alligatoren. Es gelingt ihm natürlich nicht, sie zu töten, aber sie aus dem eigenen Revier zu vertreiben – das schafft es meistens, wovon man sich leicht in zahlreichen YouTube-Videos überzeugen kann. Nicht zuletzt hat der Honigdachs ein hervorragendes Gedächtnis: Er merkt sich genau, wer ihn beleidigt hat, und macht demjenigen noch lange auf jede erdenkliche Weise das Leben schwer.


    Die Außenpolitik soll zeigen, dass Russland international in der Schwergewichtsklasse spielt

     


    Das Verhalten dieser Tiere lässt sich leicht auf die russische Außenpolitik der letzten drei bis vier Jahre übertragen. Diese erfüllt fünf grundsätzliche Aufgaben: Erstens, zu zeigen, dass Russland auf dem internationalen Parkett in der Schwergewichtsklasse spielt, in einer Liga mit den USA und der EU, und sogar noch vor Ländern wie zum Beispiel China.


    Moskau kann eine eigene Wirtschaftsunion bilden (die Eurasische Union), einen Konflikt auslösen (die Ukraine), eine Schlüsselrolle in einem bereits bestehenden Konflikt einnehmen (Syrien), und es scheut nicht vor der Konfrontation mit den heftigsten Gegnern zurück. 


    Dabei ist Russlands Staatshaushalt (2016 rund 233 Milliarden US-Dollar) lächerlich klein im Vergleich zu dem der USA (3,3 Billionen Dollar, also 14 Mal so viel) und geradezu absurd im Vergleich zum Gesamtbudget der EU-Länder (6,4 Billionen Euro, also 32,3 Mal so viel). Beim Verteidigungsbudget sind die Unterschiede zwar geringer, aber immer noch bezeichnend: Das der USA lag 2016 nach Angaben des SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) bei rund 611 Milliarden Dollar, das der EU (2015, laut der European Defense Agency) bei 199 Milliarden Euro, und das russische bei rund 69 Milliarden Dollar.


    Alles unwichtig, sagt die russische Führung. Wenn’s drauf ankommt, schlagen wir euch nicht mit Dollars und Euros, sondern mit TOS-1 „Buratino“-Geschossen. Finanzielle Kennziffern hätten keinerlei Bedeutung, das militärisch-politische Potential Russlands liege bei weitem über dem ökonomischen.


    Wir werden euch das Leben schwermachen …


    Die zweite Aufgabe ist zu zeigen, dass Russland, wenn es will, jedem das Leben schwermachen kann. Die USA möchten Assad entmachten? Tut uns leid, aber nein. Die EU will den Ukraine-Konflikt zugunsten Kiews lösen? Und wieder nein, sorry.


    Stattdessen wird Geld in rechts- und linksradikale Parteien gesteckt, die angesichts der anhaltenden Krise ohnehin genügend Zulauf haben. Ist es möglich, dass sie an die Macht kommen? Wohl kaum. Lässt ihr Erfolg die traditionellen Politiker nervös werden? Ohne Frage.


    Falls ihr uns in die Quere kommt, will Moskau sagen, dann stellt euch schon mal auf jahrelange Kopfschmerzen ein. Wir werden euch das Leben schwermachen, eure Initiativen behindern und die innenpolitische Lage zerrütten, indem wir uns die Verwundbarkeit der Demokratie zunutze machen. Wenn ihr das wollt – nur zu, aber wollt ihr das wirklich?


    Nehmt euren Trump wieder mit nach Russland!

     


    Drittens soll innerhalb der internationalen Beziehungen eine eigene Linie aufgebaut werden, und das tut Moskau fürwahr. Lange hat man der russischen Außenpolitik vorgeworfen, passiv zu sein, nur auf das Handeln der anderen zu reagieren, aber jetzt hat sie offensichtlich zum Gegenangriff ausgeholt.


    Die reale oder mutmaßliche Einmischung Moskaus in politische Prozesse in einem Dutzend Länder ist zum wichtigsten medialen Ereignis in Europa und Nordamerika geworden. Die praktischen Auswirkungen dieser Einmischung, dort wo sie tatsächlich stattgefunden hat, mögen verschwindend gering sein. Doch die Hysterie der westlichen Politiker erweckt den Eindruck, als wäre der Kreml allmächtig und könnte leicht das politische Geschehen in Ländern beeinflussen, die ihm wirtschaftlich weit überlegen sind.


    Als Ergebnis protestieren in den USA Menschen auf Anti-Trump-Demos mit Plakaten, auf denen auf Russisch zu lesen ist: „Nehmt euren Trump wieder mit nach Russland.“ Wer hätte das noch in den 2000er Jahren zu träumen gewagt? Wenn das mal keine eigene Linie ist.


    Die allmächtigen russischen Hacker im Cyberspace


    Viertens will man zeigen, dass Russland ganz weit vorne ist, wenn es um die Mittel der modernen Kriegsführung geht: den Informationskrieg und den Krieg im Cyberspace. Das Jahresbudget des Fernsehkanals RT wirkt geradezu lachhaft, verglichen mit dem der westlichen Kollegen: 323 Millionen gegen zum Beispiel 6,6 Milliarden bei der BBC (Jahresumsatz 2015/2016). Analytiker werden nicht müde, die minimale Reichweite von RT zu unterstreichen (in keinem Land der EU erreicht der Sender mehr als zwei Prozent der Zuschauer), doch wozu gründet man dann auf EU- und Länder-Ebene laufend „Arbeitsgruppen zur Bekämpfung von Desinformation“?


    Im Cyberspace ist alles noch schlimmer: Die allmächtigen russischen Hacker haben angeblich die US-Wahlen geknackt, den Bundestag, das dänische Verteidigungsministerium, und, wenn man den jüngsten Berichten glauben darf, auch beim Brexit nachgeholfen. Die Namen der angeblich von GRU und SWR betriebenen Hackerkollektive Cozy Bear und Fancy Bear sind in aller Munde. Der Effekt, den Russland mit geringstmöglichem Aufwand erzielt, ist phänomenal.


    In Moskau geht man auf die Straße? Uns doch egal


    Und schließlich Aufgabe Nummer fünf: Moskau will demonstrieren, wie vollkommen unempfindlich es gegen Reaktionen aus der eigenen Bevölkerung ist. Der Konflikt mit der Ukraine macht Geschäftsleuten und Menschen, die dort Verwandtschaft haben, schwer zu schaffen? Interessiert uns nicht.
    In Moskau geht man gegen Wladimir Putin auf die Straße? Uns doch egal. 
    Staatsgesellschaften und zahlreichen Unternehmen, die sich anboten, wurde der Kredithahn abgedreht? Selbst schuld, wer Feindesgeld annimmt.


    Der Kreml will uns zeigen, dass ihn die Sanktionen als  Phänomen nicht tangieren: Die Kosten werden auf die Bevölkerung umgelegt, und die ist vom politischen Prozess ausgeschlossen. Die Staatsbeamten aus den Sanktionslisten leben auch weiterhin wie arabische Ölscheichs und kaufen ihren Wein bei Tschitschwarkin in London.


    Die Honigdachs-Strategie verfolgt zwei Ziele: Erstens will man alle Konkurrenten Moskaus davon überzeugen, dass der Nutzen eines Eingriffs in seine existenziellen Interessen viel geringer ist als der potentielle Schaden. Russland vergisst nicht, verzeiht nicht, setzt seine begrenzten Ressourcen äußerst geschickt ein und hat keinerlei Angst vor Gegenangriffen.


    Zweitens will man zeigen, dass es völlig sinnlos ist, auf die russische Innenpolitik Einfluss nehmen zu wollen, schon gar nicht über ein „Sponsern der Demokratie“. Das Volk ist in Russland vom Staat getrennt, und deshalb muss man sich mit den Eliten einigen. Die mögen einem gefallen oder auch nicht – „Geografie ist Schicksal“, und ergo ist der einzige Weg, Moskau eine Reihe von Interessen zuzugestehen und sich um konstruktive Beziehungen zu bemühen.


    Die Strategie verspricht bei minimalem Einsatz enormen Nutzen


    Außenpolitisch betrachtet ist die Honigdachs-Strategie äußerst effektiv: Mit – im internationalen Vergleich – minimalem Einsatz (Geld haben wir keins, und alle wissen’s) wird eine enorme und langfristige Wirkung erzielt. Zudem bekommt Russland Hilfe von den westlichen Medien, die nach Traffic gieren, den die „russische Bedrohung“ bringt: Belanglose Geschichten werden aufgebläht zu echten James-Bond-Comics.


    Und so bekommt die politische Klasse in Russland nach und nach, was sie schon lange will: die Anerkennung als äußerst gefährlicher Gegner. Es ist leicht, Hussein oder Gaddafi mit Krieg zu drohen. Viel schwieriger ist es im Falle des riesigen, mit den modernsten Mitteln der Kriegsführung ausgestatteten Russland – dessen Führung bereit ist, die „nationalen Interessen“ bis zum letzten Russen zu „verteidigen“.

    Die Honigdachs-Doktrin hat aber auch Schwächen. Es ist eine Überlebensstrategie, keine Strategie der Entwicklung. Sie hat nichts zu tun mit dem Anlocken von Investoren, mit einer Verbesserung des Geschäftsklimas, mit dem Schaffen eines positiven Russland-Bildes, mit der Modernisierung der Wirtschaft oder anderen langweiligen Dingen. Sie ist einzig dazu da, die „Souveränität zu gewährleisten“, was nichts anderes heißt als die völlige Autonomie der Elite von äußeren und inneren Einflüssen.


    Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus muss Russland mit dem Westen kooperieren, doch dafür sind gewisse Zugeständnisse nötig. Und das wiederum hieße, die absolute Autonomie bei Entscheidungen zu verlieren. Es gefährdet den Status der russischen Elite, ergo ist es inakzeptabel.


    Die Kontrahenten erkennen mittlerweile die Spielzüge Moskaus


    Darüber hinaus basiert der Erfolg vieler Elemente der Honigdachs-Doktrin auf dem Kriegsnebel-Effekt, das heißt dem gegnerischen Mangel an Informationen über die Ziele, die Russland verfolgt, und die Handlungen, die es auszuführen gedenkt. Leider lichtet sich der Nebel nach und nach; die Kontrahenten lernen, Moskaus Spielzüge zu erkennen und sogar vorauszusagen, die Effektivität der Methode sinkt. Für die westlichen Geheimdienste wird es zur Routine, Trolle und Hacker aufzuspüren, Politiker, denen Verbindungen zu Moskau vorgeworfen werden, scheiden immer früher aus dem Rennen aus und erhalten immer weniger Stimmen.


    Die Honigdachs-Doktrin mag Russland durchaus in die Lage versetzen, seinen Partnern Respekt abzuringen. Aber echten Aufschwung kann sie dem Land nur als Teil einer weiter gedachten Strategie bringen. Die Angst, die die russische Außenpolitik aktuell sät, müsste sich in Achtung verwandeln, nicht in den Wunsch, eine Quarantänezone um die Russische Föderation zu errichten und so wenig wie möglich mit den Russen zu tun zu haben.

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