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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Nicht menschengemacht – 10 Fotos von Sergey Maximishin

    Nicht menschengemacht – 10 Fotos von Sergey Maximishin

    Der preisgekrönte russische Dokumentarfotograf Sergey Maximishin formulierte für sich einst sechs Kriterien, die ein gutes Foto ausmachen:

    • • ein gutes Foto ist immer überraschend
    • • ein gutes Foto lässt einen nicht los
    • • ein gutes Foto kann man nicht nachmachen
    • • ein gutes Foto ist ehrlich
    • • ein gutes Foto kann man nicht einfach am Telefon wiedergeben
    • • ein gutes Foto ist „nicht menschengemacht“

    Während die ersten fünf Kriterien verständlich und plausibel sind, wirft das letzte mehrere Fragen auf. Wie?! „Nicht menschengemacht“? Der Fotograf geht doch selbst mit seinem Fotoapparat irgendwohin und hält die Kamera oder befestigt sie auf dem Stativ, drückt auf den Knopf. Aber gemeint ist damit: Jedes wirklich gute Foto entsteht gleichzeitig durch ein Wunder, das man nicht vorprogrammieren, vorbestimmen oder vorhersehen kann. 
    Unter anderem darum geht es in den kleinen Erzählungen von Sergey Maximishin, die die 100 Bilder in seinem Buch 100 Fotos von Sergey Maximishin (Sankt Petersburg, 2015) begleiten. 

    dekoder hat zu Weihnachten zehn Fotos aus diesem Buch ausgewählt. Wir sind uns sicher, dass diese ehrlichen Bilder die Leser überraschen und nicht loslassen werden. Auch wenn Fotografieren und Telefonieren zu den Feiertagen gehört: Versuchen Sie nicht, Maximishins Bilder nachzumachen oder sie einfach am Telefon wiederzugeben – denn die sind „nicht menschengemacht“. 

    Tosnenski Rajon, Leningradskaja Oblast, Russland, 2004 / Fotos: © Sergey Maximishin
    Tosnenski Rajon, Leningradskaja Oblast, Russland, 2004 / Fotos: © Sergey Maximishin

    Die französische Frauenzeitschrift Elle hatte mich mit einer Reportage über russische Frauen beauftragt. Ich präsentierte der Redaktion eine Liste mit möglichen Heldinnen: eine Eiskunstlauftrainerin, eine neue russische Ehefrau, eine Kindergärtnerin, eine Restauratorin der Eremitage und eine Milchbäuerin. Die Elle stimmte zu, aber nur unter der Bedingung, dass die Heldinnen allesamt hübsch und glamourös wären.

    Jemand, der nicht vom Fach ist, kann sich gar nicht vorstellen, auf welche Probleme man stößt, wenn man für Magazine arbeitet. Einmal sollte ich für eine englischsprachige Zeitschrift in Saudi-Arabien eine Reportage über Kasan fotografieren. Ich bekam eine Liste von Dingen zugeschickt, die man auf den Bildern nicht sehen durfte: Neben Alkohol, Menschen mit Hunden, Männern mit freiem Oberkörper standen auch Frauen in kurzärmeliger Kleidung auf der Liste. Draußen herrschte eine Bullenhitze, und ich antwortete der Redaktion, es gebe in Kasan nur einen Menschen in langen Ärmeln: mich. Ich habe nämlich eine Sonnenallergie.

    Genauso ist es mit Texten: Viele Zeitschriften haben eine Liste von Wörtern, die nie auf ihren Seiten erscheinen dürfen. Ein Hochglanzmagazin für Männer hat es seinen Autoren zum Beispiel verboten, das Wort „Liebe“ zu benutzen – es würde die Leser irritieren. Und der französische Journalist, mit dem ich für die Elle zusammenarbeitete, klagte über eine redaktionelle Sperrliste von Begriffen, die für die Leser angeblich zu kompliziert seien. Angeführt wurde sie von dem Wort „Paradox“.

    Wo bekommt man glamouröse Milchbäuerinnen her? Ich rief den wunderbaren Fotografen Shenja Astaschenkow an. Er arbeitet seit 30 Jahren für die Zeitung Tosnenski Westnik und kennt nicht nur alle Milchbäuerinnen im Bezirk Tosnenski, sondern, da war ich mir sicher, auch alle Kühe. „Ja!“, sagte Shenka, „Glamouröse haben wir! Werden dir gefallen!“

    Die Mädels erwarteten uns schon in Kriegsbemalung. Wie sich herausstellte, war eine der Schwestern die Karriereleiter aufgestiegen und arbeitete mittlerweile als Besamungstechnikerin. Umso besser, fand ich. Während wir durch den Kuhstall gingen, fiel mir auf, dass eine der Kühe sich immer zu den Menschen reckte, Aufmerksamkeit suchte. Ich stellte die jungen Frauen zu der liebebedürftigen Kuh, sagte ihnen, sie sollen ernst und immer schön ins Objektiv schauen. Die Kuh enttäuschte mich nicht und reckte die Lippen zum Kuss. Und dann sandte uns Gott auch noch einen Mann mit Schubkarre.


    Sabaikalski Krai, Russland, 2006
    Sabaikalski Krai, Russland, 2006

    Von Tschita nach Krasnokamensk sind es mit dem Zug 15 Stunden. Von Kransnokamensk bis an die chinesische Grenze – eine. Den besten Blick auf die Stadt hat man von einer Anhöhe aus, die die hiesigen Bewohner „Liebeshügel“ nennen: Mitten in der vollkommen flachen Steppe eine lange schmale Reihe von Hochhäusern. Rechts außen – Urangruben. In der Mitte – der zentrale Platz mit den goldenen Kuppeln. Links außen – ein Stahlbetonwerk und die Zone.

    In der Strafkolonie von Krasnokamensk saß Michail Chodorkowski den ersten Teil seiner Haftstrafe ab. Seine Frau und seine Mutter waren zu einem Besuch angereist. Im Auftrag der Weltwoche sollte ich zusammen mit dem deutschen Journalisten Jens Hartmann hinterherfahren, um sie zu interviewen und über den Inhaftierungsort zu berichten.

    Mit der Ankunft des Häftlings von föderaler Bedeutung war die Stadt aufgeblüht. Der nicht abreißende Strom an Geschäftsreisenden – Polizisten, Justizmitarbeiter, Anwälte, Journalisten – führte zu einem sprunghaften Wachstum von Unternehmen im Dienstleistungssektor. Und trotzdem blieb das Angebot hinter der Nachfrage zurück: Das einzige Hotel der Stadt platzte aus allen Nähten.

    Man verdoppelte die Anzahl der Betten, indem man die (ohnehin schon kleinen) Zimmer halbierte. Ich musste mit einer schmalen Box mit Heizung Vorlieb nehmen, Jens bekam die Heizungsrohre. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil es brütend heiß war, Jens hat kein Auge zugetan, weil er fast erfroren wäre.

    Am nächsten Morgen fuhren wir los, um Chodorkowskis Mutter zu fotografieren, wie sie aus dem Lager kommt. Die Bullen waren so schlau, etwa 800 Meter vor dem Tor ein Schild anzubringen: „Foto- und Videoaufnahmen verboten“. Ich ging daran vorbei und stellte mich vor dem Tor auf, ohne die Kamera auszupacken. Ein Polizist gesellte sich zu mir. Als Marina Filippowna in Begleitung der Anwältin im Tor erschien, schob sich der Polizist vor mich. Ich versuchte, meine Kamera rauszuholen, aber der Bulle brüllte: „Keine Fotos vom Objekt!“ und wollte mir die Kamera aus der Hand reißen. „Das ist kein Objekt, das ist eine Mutter!“, schrie die Anwältin zurück, aber der Moment war vorbei. Die Fotos konnte ich vergessen.

    Danach saßen wir mit Marina Filippowna und Irina Chodorkowskaja in einem Café. So vertrieben wir uns den Tag. Den ganzen nächsten Tag hatten die Chodorkowskis zu tun, also machte ich ein paar Aufnahmen von der Stadt, Jens unterhielt sich mit dem hiesigen Popen, und dann machten wir einen Ausflug ins Stahlbetonwerk, wo, so sagte man uns, Chodorkowskis Mitinsassen arbeiteten.

    Am Tor angekommen hupten wir – man machte uns auf. Wir fuhren aufs Gelände – niemand sagte ein Wort. Wir liefen durch die Werkhallen, warteten, dass uns jemand von hinten zurückrief – alles still. Wir fanden die Häftlingsbrigade. Wir stellten uns vor, unterhielten uns, die Gefangenen schlugen mir einen Deal vor: Du gibst uns deine Kamera und hundert Dollar, und wir liefern dir morgen die allerbesten Fotos von Chodorkowski. Ich ärgerte mich sehr, dass ich keine einfache Knipse dabei hatte (später sah ich solche Bilder in irgendeiner Zeitung), aber meine Arbeitskamera schien mir dann doch zu kostbar. Und so fuhren wir wieder – niemand sagte ein Wort. So ist das manchmal.

    Am Abend nahmen Irina und Marina Filippowna den Zug nach Hause. Jens und ich setzten uns in ein Taxi, fuhren zu irgendeinem Bahnhof – ich wollte die Frauen im Zugfenster fotografieren. Dann fuhren wir auf schnellstem Weg zum Flughafen nach Tschita. Etwas zu schnell – wir kamen um fünf Uhr morgens an. Unser Flug ging um zehn, der Flughafen machte erst um acht auf (ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt), draußen -30 °C. Das Flughafenhotel war ebenfalls zu; wir hämmerten an die Tür, der Nachtwächter rief die Polizei. Die Bullen kamen, sahen ein, dass uns der Kältetod erwartet, und befahlen, uns reinzulassen. Am Morgen hoben wir planmäßig ab.

    Das Bild habe ich quasi im Vorbeigehen geschossen. Mir war klar, dass ein Kreml aus Eis eine starke Metapher ist, und ich mich dort ein bisschen umsehen musste. So ist es immer: Hast du die Kulisse, warte auf den Darsteller, hast du einen Darsteller, such die Kulisse. Aber mit einem derart gewaltigen Exponat habe ich natürlich nicht gerechnet. Dieses Foto ist später viele Male veröffentlicht worden, und ich habe mich sehr gefreut, als die berühmte Kuratorin und Herausgeberin Leah Bendavid genau dieses Bild für das Buch Siberia: In the Eyes of Russian Photographers auswählte.


    Tobolsk, Russland, 2005
    Tobolsk, Russland, 2005

    Ein Freund von mir sagte, als er dieses Bild sah: „Das Lächeln des Sauron“. An dem jungen Mann ist nichts Dämonisches – er heißt Sascha und ist Fahrer beim Kulturkomitee der Stadtverwaltung von Tobolsk. Sie schickten mir Sascha und seinen Buchanka-UAZik zu Hilfe, als wir für die russische GEO eine Reportage über Tobolsk machten. Das Bild ist entstanden, als wir zusammen mit dem Journalisten Alexander Moshajew abends mit der Fähre über den Irtysch setzten. Wir zwei waren an Deck gegangen, Sascha, der Fahrer, war im Auto geblieben, und es war schwer, dieses Dreieck zu übersehen – die Zähne, die Kirche, das Kreuz. In der Kamera war kein Film mehr, ich hatte schon alle Vorräte für den Tag aufgebraucht. Nur noch eine alte 800er Rolle, die seit Monaten im Fotokoffer rumlag, war noch da (dass ich mich überhaupt erinnerte!) – ein exotisches Teil für die damalige Zeit. Während ich den Film einlegte, wanderte die Kirche von selbst zum linken Rand des Autofensters, ich konnte gerade noch ein paar Bilder schießen. Und wie das immer so ist, unabhängig davon, wie viele Schüsse man macht – es ist immer genau das eine richtige Bild dabei.

    Sascha hat sich nicht nur mit seinem blendenden Lächeln verewigt, sondern auch mit dem Spruch: „Fleisch ohne Wodka fressen nur die Hunde“. Als ich einmal eine Reportage über russischen Wodka für eine deutsche Kochzeitschrift machte, gefiel meinem deutschen Kollegen Saschas Lebensweisheit so gut, dass er sie als Überschrift für den Artikel benutzte.


    Oserkowski-Lachszucht, Kamtschatka, Russland, 2006
    Oserkowski-Lachszucht, Kamtschatka, Russland, 2006

    Aus der Oserkowski-Lachszucht werden die herangezogenen (1,5 Gramm, 7 Zentimeter) Setzlinge in den Pazifischen Ozean entlassen. Von der Küste Kamtschatkas schwimmen die Jungfische zu den Küsten Amerikas, wachsen unterwegs heran. Wenn sie groß genug sind, eilen sie nach Hause, einem Instinkt folgend, den man homing nennt. Die wenigen Lachse, die es schaffen, den Wilderern zu entwischen, kehren in ihre Geburtsfarm zurück. Dort presst man aus den Weibchen die Fischeier und sammelt sie in Eimern. Die Männchen betäubt man mit einem Holzknüppel, schlitzt ihnen die Bäuche auf und schüttet die Fischmilch in die Eimer mit dem Kaviar. Dann werden die Weibchen und Männchen auf einen Laster geladen und in die Resteverarbeitung geschickt – zum Essen sind sie nicht mehr geeignet. Aus den befruchteten Eiern schlüpft die Fischbrut. Die herangezogenen (1,5 Gramm, 7 Zentimeter) Setzlinge werden in den Pazifischen Ozean entlassen. Von der Küste Kamtschatkas schwimmen die Jungfische zu den Küsten Amerikas, wachsen unterwegs heran …

    Genauso geht es in der Natur zu, nur dass es niemanden gibt, der die Setzlinge wiegt und misst, die Männchen mit einem Knüppel erschlägt und die Kadaver in ein Auto lädt.

    Und wieder mal ein Foto darüber, dass man Gott eine Chance geben muss. Wie oft hat der Arbeiter Fische geworfen, wie oft habe ich auf den Auslöser gedrückt. Und nur bei einem von hundert geschossenen Bildern hat sich alles gefügt. Was dem Betrachter als phänomenales Glück erscheint, ist in der Regel ein Werk der Statistik.


    Sankt Petersburg, Russland, 2000
    Sankt Petersburg, Russland, 2000

    Noch ein Foto, das nur zum Teil mir gehört. Die Pressevorführung einer Ausstellung zu Iwan Aiwasowski. Die Museumsmitarbeiter waren noch nicht ganz fertig, als die Presse schon da war. Wir wurden vom Wachpersonal durchgeführt, eine große Gruppe – Fotografen, Kameraleute, schreibende Journalisten. Ein paar meiner Kollegen blieben vor der Glasvitrine stehen und begannen zu fotografieren.

    Das, was dir einfach so zufliegt, weißt du weniger zu schätzen. Ich schickte das Bild zusammen mit den anderen weg und vergaß es. Ich dachte, so eins haben viele.

    Ein paar Monate später fiel das Foto zufällig meiner Frau in die Hände. Mascha sagte: „Wow!“, was selten passiert und wirklich ein Grund ist, sich Gedanken zu machen. Ich durchsuchte die Timelines der Agenturen und stellte fest, dass es zwar ähnliche Fotos gab, aber genau so eins hatte niemand. Ich schickte das Bild an Rossija Press Foto, und es gewann in der Kategorie Kultur.

    Das Bild ist vor allem unter Kuratoren und Museumsleuten beliebt. „Jeder Kurator kippt vom Stuhl vor Lachen, wenn er sieht, wie die Frau auf dem Foto die Vitrine putzt. Wir alle haben das schon mal gemacht, nur lagen wir dabei vielleicht nicht alle auf dem Boden“, schrieb Anne Tucker, [ehemals] Kuratorin am Museum of Fine Arts in Houston.


    Sankt Petersburg, Russland, 2004
    Sankt Petersburg, Russland, 2004

    Am zehnten Tag des heiligen Monats Dhul-Hidscha feiern die Muslime im Gedenken an die Opferbereitschaft des Propheten Ibrahims Kurban Bayrami das islamische Opferfest. Nach dem Gebet muss jeder rechtschaffene Muslim Allah einen Hammel, eine Kuh oder ein Kamel opfern. Das Opfertier darf keine physischen Blessuren aufweisen. Vor der Schlachtung muss man die Worte „Bismillah, Allahu Akhbar“ aussprechen. Das Fleisch soll in drei Teile geteilt werden: Ein Drittel soll man zu Hause essen, ein Drittel bedürftigen Verwandten oder Bekannten geben und das restliche Drittel Armen spenden, in Übereinstimmung mit dem Koran: „So esset davon und speiset den Bedürftigen und den Bittenden.“

    Die Händler verkauften die Hammel von Lastwagen. Mir fiel auf, dass einer der Käufer mit seinem Hammel nicht zum Parkplatz ging, sondern ihn in Richtung Moschee schleifte, also folgte ich ihm und versuchte im Gehen zu fotografieren. Wahrscheinlich ist so der „Mitzieheffekt“ entstanden, den man auf dem Foto sieht. Als Artjom Tschernow und Andrej Polikanow mit mir die Fotos für den Band auswählten, musste ich dieses Bild buchstäblich durchdrücken: Meine Kollegen reagierten relativ kühl, ich aber leide fast körperlich, wenn ich diese Respektlosigkeit vor dem Tod sehe, mich durchbohrt der Blick des verurteilten Tieres, das sich (buchstäblich!) an das Leben klammert. Hoffnung ohne Hoffnung.

    Barthes schreibt in Die helle Kammer: „Im Jahre 1865 versuchte der junge Lewis Payne den amerikanischen Außenminister W. H. Seward zu ermorden. Alexander Gardner hat ihn in seiner Zelle fotographiert; er wartet auf den Henker. Das Foto ist schön, schön auch der Bursche: das ist das studium. Das punctum aber ist dies: er wird sterben. Ich lese gleichzeitig: das wird sein, und das ist gewesen; mit Schrecken gewahre ich eine vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist.“ Gut möglich, dass das eines der Bilder ist, die nur mir und niemandem sonst gefallen. Es gibt auch Fotos, die sehr beliebt sind und bei denen ich keine Ahnung habe, was an ihnen so gut sein soll.

    Abdallah ibn ʿAbbas, der Cousin des Propheten, berichtete: „Einst sah der Gesandte Allahs einen, der sein Messer schärfte, während er mit einem Fuß auf der Schnauze des Schafs stand und das Schaf zu ihm hinaufsah. Da fragte der Prophet den Mann: Warum schärftest du dein Messer nicht, bevor du das Tier zu Boden warfst? Willst du ihm etwa zweimal das Leben nehmen?“


    Sankt Petersburg, Russland, 2003
    Sankt Petersburg, Russland, 2003

    Die Dreharbeiten im Internat dauerten drei Wochen. Zum Abschied wollte ich ein bisschen feiern, kaufte eine Torte aus Schokowaffeln und Kekse. Die Regisseurin Ljudmila Arkadjewna warf den elektrischen Samowar an, die jungen Leute setzten sich im Speiseraum auf ihre gewohnten Plätze, wie beim Mittagessen. Im Bild ist eine Uhr zu sehen – das ist einer der seltenen Fälle, wenn auf dem Film, wie in einer EXIF-Datei, die Aufnahmezeit festgehalten ist.

    Die Jungs und Mädels tranken Tee, alberten herum, kokettierten, stritten sich. Aus über hundert Schüssen habe ich das Bild ausgewählt, auf dem fast nichts passiert, ich finde, so liest sich die Allusion auf das berühmte Fresko besser heraus.

    Nur die Optik hat mich etwas im Stich gelassen: Ich habe die Aufnahmen mit einem billigen 50mm-Plastikobjektiv gemacht, das mir kurz davor runtergefallen war. Der linke Bildrand ist leicht verschwommen.

    Das Foto war schon bekannt, bevor es den World Press Photo Award gewonnen hat. Hin und wieder begegnet es mir in unerwarteten Situationen, mit unerwarteten Lesarten. Einmal fragte mich jemand, ob ich absichtlich gewartet hätte, bis die Uhr sieben vor zwölf zeigt. Als ich nicht recht verstand, sagte er: „Naja, es sind doch zwölf Apostel, und am Tisch sitzen sieben!“


    Kamtschatka, Russland, 2006
    Kamtschatka, Russland, 2006

    Der letzte Tag der Reise, das Pflichtprogramm war geschafft. Der Autor Pyotr Vail, mit dem ich die Reportage-Serie zu Kamtschatka machte, flog zurück nach Moskau. Ich hatte noch einen halben Tag, bis mein Flug ging. Ich beschloss, einen Blick auf die berühmten Thermalbäder zu werfen. Als ich mich etwas umgeschaut hatte, verstand ich, dass ich den höchsten Punkt suchen musste. Zum Glück hatten die Betreiber eine Klappleiter.


    Sankt Petersburg, Russland, 2003
    Sankt Petersburg, Russland, 2003

    Fast zweihundert Journalisten waren zur Abschlusskonferenz des Petersburger Dialogs gekommen. Präsident Putin und Kanzler Schröder wurden erwartet. Nach dem Sicherheitscheck versammelten sie uns im riesigen Auditorium, niemand durfte raus, und Putin kommt ja nie weniger als zwei Stunden zu spät. Alle 15 Minuten rief mich die Redaktion von Izvestia an, für die ich damals arbeitete, und verlangte nach fröhlichen Fotos von Putin und traurigen von Schröder. Die Ausgabe ging um zwei Uhr mittags in Druck. Nur fünf Minuten zu spät, und die Fotos würden direkt in die Tonne wandern.

    Endlich trafen die Staatschefs ein. Die Journalisten stürzten los, um einen Platz im riesigen Saal zu ergattern. Putin und Schröder setzten sich an einen langen Tisch weit weg voneinander, und ich ärgerte mich, dass ich mir einen frontalen Blickwinkel ausgesucht hatte – von der Seite fotografiert, hätte man optisch die Entfernung zwischen den Personen verkürzen können. In unserem Rücken waren die Vorhänge im Halbkreis zugezogen. Plötzlich kämpfte sich ein Lichtstrahl durch eine Lücke und fiel direkt auf Putins Gesicht, während Schröder im Schatten blieb. Alle hörten auf zu fotografieren, wegen der ungleichmäßigen Beleuchtung war ein gutes Doppelporträt unmöglich. Und ich denk mir so, Putin sieht doch gar nicht so schlecht aus, ganz hübsch. Drücke ein paar Mal ab. Der Präsident schaut zu mir hoch – und so ist dieses Bild entstanden.

    Auf dem Weg nach draußen fragte ich den amerikanischen Fotografen, den ich beim Warten kennengelernt hatte: „Und, wie war’s?“ „Zu förmlich“, sagte der. Dann musste es schnell gehen, die Redaktion wartete. Ich schnappte mir ein Taxi, fuhr ins Labor, entwickelte den Film, suchte noch im Taxi auf dem Weg nach Hause ein Foto raus, mit fröhlichem Putin und traurigem Schröder. Das scannte ich zu Hause ein, schickte es raus und vergaß den Auftrag.

    So wäre das Bild verschütt gegangen, wenn nicht mein Freund Sergej Tjagin auf einem Fotoportal ein Bild von Putin veröffentlicht hätte, das er genau im selben Moment, mit demselben Lichteffekt geschossen hatte, nur im Profil. Es hagelte Kommentare: „Guckt mal, wie toll!“ Ich wurde neidisch: Ich hab auch so eins! Fand den richtigen Filmausschnitt (nur drei Bilder), steckte ihn in den Scanner. Eine Minute später erschien dieses Bild auf dem Monitor.

    Die höchste Anerkennung für einen Fotografen ist es, wenn ein Bild es schafft, durch die dünne Expertenschicht zu dringen und Menschen zu erreichen, die sonst mit Fotografie wenig am Hut haben. Wenn es sich quasi unter’s Volk mischt. Wenn man sich an das Bild erinnert, aber nicht mehr an den Künstler. Für mich ist das größte Kompliment die Frage: „Ach, dann haben Sie das Foto gemacht?“ Ich hoffe sehr, dass das eines dieser Bilder ist.

    Und noch was: Erstaunlicherweise wird das Foto sowohl von Putins Befürwortern wie von seinen Gegnern aufgenommen. Jeder sieht darin das, was er sehen will.


    Sankt Petersburg, Russland, 2003
    Sankt Petersburg, Russland, 2003

    Das Verlagshaus Conde Nast hatte Illustrationen für einen Reiseführer zu Sankt Petersburg bestellt. Ich bekam eine Liste von Orten, die ich fotografieren sollte. Unter anderem das Restaurant Sow IljitschaDer Ruf des Iljitsch. Ich wählte die Nummer. Die Administratorin sagte mir, in Anwesenheit der Gäste seien Aufnahmen nicht erlaubt, aber tagsüber könne ich kommen.

    Zwei schelmische Kellnerinnen in einer Mischung aus Pionier- und Gesundheitshelfer-Uniform bereiteten den Laden für den Abendbetrieb vor. Die eine wischte die Lenin-Büsten auf dem Fensterbrett ab. Ich fotografierte sie und behielt im Hintergrund das Iljitsch-Porträt an der Wand im Blick. Dann schob sich beim Tischabwischen ihre Kollegin vor die Linse.

    „Geh mal weg, du störst den Mann! Dein Arsch verdeckt das ganze Bild!“, sagte die erste Kellnerin.

    „Vielleicht ist mein Arsch ja auch nicht so übel!“, erwiderte die zweite kokett und beugte sich nach vorne.

    Vielleicht hat sie sogar recht, dachte ich schon zu Hause, als ich nach einem passenden Bild suchte.

    Fotos: Sergey Maximishin
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Jennie Seitz
    Veröffentlicht am 24.12.2018 

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  • „Wir müssen die Erinnerung wiederbeleben“

    „Wir müssen die Erinnerung wiederbeleben“

    Der Große Terror unter Stalin ist in der russischen Gesellschaft bis heute kaum aufgearbeitet und bleibt immer noch viel zu oft ein Tabu. Ganz anders in Tugatsch, wo vor 65 Jahren ein Lager des stalinistischen Gulag-Systems stand. In dem Ort leben die Kinder und Enkel von ehemaligen Lagerhäftlingen heute Seite an Seite mit den Nachkommen der Lagermitarbeiter. Statt einander zu hassen, erzählen sich die Menschen in Tugatsch gegenseitig ihre Geschichten – und sie haben ein Museum gegründet.

    Swetlana Chustik und die Fotografin Jewgenia Shulanowa haben Tugatsch für Takie Dela besucht, viele Geschichten gehört und aufgeschrieben. 

    dekoder bringt die Reportage zum Gedenktag an die Opfer politischer Repressionen, dem 30. Oktober.

    In Tugatsch leben heute Kinder und Enkel ehemaliger Lagerhäftlinge und Lagermitarbeiter Seite an Seite / Foto © Jewgenia Shulanowa
    In Tugatsch leben heute Kinder und Enkel ehemaliger Lagerhäftlinge und Lagermitarbeiter Seite an Seite / Foto © Jewgenia Shulanowa

    In Tugatsch, einem Dorf in der Region Krasnojarsk, befand sich vor 65 Jahren, zwischen 1938 und 1953, eines der Lager des stalinistischen Gulag-Systems – das Tugatschinsker Kraslag. 1800 Gefangene waren dort inhaftiert. Die meisten von ihnen aufgrund des „politischen“ Paragraphen 58. Also Menschen, die wegen einer ungeschickten Äußerung, eines Scherzes oder auch einfach nur wegen eines Logos auf einem Heft zwischen die Mühlsteine der Repressionen geraten waren.

    Nach der Schließung des Lagers blieben die meisten ehemaligen Häftlinge in Tugatsch. Um wegzugehen, fehlte ihnen das Geld – Freunde und Verwandte hatten sich abgewandt, vielen war zudem die Ausreise auch nach der Befreiung verboten. Heute leben hier die Kinder und Enkelkinder von Gefangenen Seite an Seite mit den Nachkommen der Lagermitarbeiter. Und in dieser Situation, die eigentlich alle Bedingungen für gegenseitigen Hass und Feindschaft erfüllt, werden in den Menschen plötzlich Wunder der Nächstenliebe wach.

    Lidija Slepez wurde in Tugatsch geboren, ihr Vater war aus Kasachstan hierher deportiert worden / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Lidija Slepez wurde in Tugatsch geboren, ihr Vater war aus Kasachstan hierher deportiert worden / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Lidija Slepez wurde in Tugatsch geboren. Ihr Vater, Gerassim Alexandrowitsch Bersenew, war aus West-Kasachstan hierher deportiert worden, er war erst 22 Jahre jung. Damals hatte er als Fahrer für den Kolchose-Leiter gearbeitet. Der Leiter wurde denunziert und verhaftet. Nach einer Weile kamen sie und holten auch Gerassim – fuhren ihn in einem Anhänger weg. Die Troika des NKWD verurteilte ihn zu „zehn Jahren ohne Recht auf Briefverkehr“.

    10 Jahre ohne Recht auf Briefverkehr

    „Als wir noch klein waren und Vater noch lebte, redeten wir zu Hause nur selten über diese zehn Jahre. Immer, wenn er anfing zu erzählen, musste er weinen. Die schlimmste Erinnerung war der Hunger, von dem alles anschwoll. Brot bekamen sie 400 Gramm pro Tag, dazu gab es dünne Balanda und wässrigen Brei. Sie mussten Essen aus den Trögen der Ferkel stehlen, die für die Lagerleitung gehalten wurden. Im Winter war es eiskalt, zum Anziehen hatten sie nur Wattejacken, in den Baracken fraßen einen die Bettwanzen und im Sommer bei lebendigem Leib die Stechfliegen, Kriebelmücken und Moskitos.
    Für jedes kleine Vergehen konnte man in der Baracke mit verschärften Haftbedingungen (BUR) landen, wo es pro Tag nur einen Becher Wasser und 200 Gramm Brot gab.
    Einmal hat mein Vater zufällig beobachtet, wie Häftlinge, die wegen Bandenkriminalität einsaßen, den Lebensmittelschuppen plünderten. Sie drohten ihm: ‚Ein Wort, und du bist tot.‘ Er schwieg. Aber die Lagerleitung fand es trotzdem heraus und steckte ihn wegen Beihilfe für einen Monat in diese Baracke. 
    Als er da rauskam, wog er 38 Kilo. Auf die Beine brachten ihn dieselben Häftlinge, die ihm das eingebrockt hatten. Sie besorgten ihm Arbeit in der Lagerküche. Am ersten Tag aß er so viel Suppe, dass sie ihm zu allen Löchern wieder rauskam, er wäre fast gestorben. Danach verboten sie ihm zu viel zu essen, päppelten ihn Stück für Stück wieder auf.“

    Gerassim Bersenew mit seiner Familie – „Immer, wenn er anfing zu erzählen, musster er weinen.“ / Foto © privat
    Gerassim Bersenew mit seiner Familie – „Immer, wenn er anfing zu erzählen, musster er weinen.“ / Foto © privat

    Gearbeitet wurde in Tugatsch bis zur völligen Erschöpfung. Hauptsächlich in der Holzbeschaffung: Sie mussten die Stämme ins Wasser rollen und per Hand den Fluss hinabflößen. Von den ersten Frühlingstagen an bis spät in den Herbst, so lange wie die Eisschicht am Rand sich noch brechen ließ. Den ganzen Tag bis zum Knie im Eiswasser. Die Flüsse der Taiga werden nicht einmal im heißesten Sommer warm. Über den Tag kam Sand in die Stiefel und scheuerte die Haut an den Füßen blutig. Die Wachen wüteten. Einmal, als sie eine Arbeitsbrigade durch den Wald führten, setzte sich ein Gefangener auf einen Baumstumpf, um einen Moment in die Sonne zu schauen, da feuerten sie eine Salve auf ihn ab – „Fluchtversuch“. 

    Die Misshandlungen hatten Methode, sie schossen auf die Beine, kamen angelaufen und fragten: „Tut‘s weh?“ Schossen wieder: „Und jetzt?“ So ging das mehrere Male. Grausamkeit wurde honoriert. Nach der Schließung des Lagers fand man Dokumente über derartige Belohnungen. Der Name Medwedew tauchte oft auf. Offenbar war der besonders „tüchtig“.

    Ein Teil des Damms – einst gebaut von den Lagerhäftlingen / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Ein Teil des Damms – einst gebaut von den Lagerhäftlingen / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Gegen Ende seiner Haftstrafe wurden die Haftbedingungen meines Vaters gelockert, er fing wieder an, als Fahrer zu arbeiten. Er lernte meine Mutter kennen, sie verliebten sich. Damals war sie schon seit sechs Jahren Witwe mit drei Kindern. Ihr Mann, ein Lagerwachmann, war 1941 an die Front gerufen worden, bald darauf kam die Todesnachricht. Die jüngste Tochter war gerade erst drei Monate alt. Meine kleine dünne Mutter schrubbte die Böden der Abteilung für die Arbeiterversorgung (ORS) und kam kaum über die Runden mit ihrer Kinderschar.“

    Gerassim unterstützte seine Geliebte von Anfang an, von jeder Dienstfahrt brachte er etwas Leckeres mit. Als er endlich freigelassen wurde, war sie schon schwanger. „Nadjuscha“, „Nadenka“, „mein Sonnenschein“, „mein Entchen“, so nannte er die Kleine. Lidija war die Zweite, später wurde noch ein Schwesterchen geboren. Insgesamt waren sie zu sechst. Dass er die Kinder seines eigenen Wächters großzieht, darüber verlor Gerassim kein Wort, er hatte sie alle gleich lieb.

    Erst vor Kurzem entdeckten die Dorfbewohner auf einem Dachboden Fellmützen der Lagerinsassen / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Erst vor Kurzem entdeckten die Dorfbewohner auf einem Dachboden Fellmützen der Lagerinsassen / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Anfang der 1970er Jahre kam auf eine Anfrage von den westkasachischen Organen des NKWD die Antwort, Bersenew Gerassim Alexandrowitsch sei „mangels Tatbestand rehabilitiert“. Aber eine Entschädigung erlebte er nicht mehr. Zehn Jahre Lagerhaft hatten ihre Spuren hinterlassen. Die Gesundheit war dahin. Der erste Schlaganfall traf ihn 1968, er kam nur schwer wieder auf die Beine – ein Monat zwischen Leben und Tod. 1981, mit 66, folgte der zweite. Zwei Wochen ist er noch selbst gelaufen, obwohl das Atmen ihm schon schwer fiel, dann löste sich ein Blutgerinnsel, er schaffte es gerade noch zum Haus, ließ sich auf die Stufen sinken, und so, im Sitzen, starb er auch. Nadenka überlebte ihn um vierzehn Jahre.

    Truhe, Karte, Erinnerung

    65 Jahre lang erwähnte man in Tugatsch das Lager nur im Flüsterton. Man wollte die Vergangenheit nicht aufwühlen, versuchte zu vergessen und weiterzuleben. Aber die Nachklänge ließen den Leuten keine Ruhe. Einmal erzählte ein alter Mann, ein ehemaliger Wächter, in einem Laden genussvoll davon, wie sie die „Knackis fertiggemacht haben, damit sie endlich alle verrecken“. Da meldete sich am Ende der Schlange eine leise Frauenstimme: „Nicht alle, ich lebe noch.“ Grabesstille.

    Lidija Gerassimowna erinnert sich: „Mein Vater hatte im Lager gesessen, und der Mann meiner Tante war ehemaliger Wächter, aber sie redeten normal miteinander, saßen an einem Tisch, gingen zusammen spazieren – solche Geschichten gibt es in fast jeder Familie. Das war kein Grund, dass jemand ein schlechterer Mensch war. Es hieß, die Lagerleute hätten einfach Pech gehabt, es sei nun mal ihre Arbeit gewesen, sie hatten keine andere Wahl.

    Aber natürlich lastete das auch schwer auf den Herzen. Die Wachleute, die am grausamsten gewesen waren, versuchten gleich nach der Schließung hier wegzukommen, aber einige sind eben auch geblieben.“

    Die Geschichtslehrerin Ljudmila Konstantinowna Miller war die erste, die anfing über die Vergangenheit in Tugatsch zu sprechen /  Foto © Jewgenia Shulanowa
    Die Geschichtslehrerin Ljudmila Konstantinowna Miller war die erste, die anfing über die Vergangenheit in Tugatsch zu sprechen / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Klawdija Grigorjewna Gurjanowa war aus Dshambul (Kasachstan) nach Tugatsch deportiert worden. Sie war erst 15 Jahre alt. Eine Freundin hatte sie angeschwärzt. Sie hatten Hefte mit einem Logo, das man als „weg mit der WKP(B)“ lesen konnte. Das war so ein Witz. Klawdija hatte damals einen Verehrer, einen Studenten. Diese Freundin hatte ein Auge auf ihn geworfen und beschlossen, ihre Konkurrentin auf diese Art loszuwerden. Klawdija Grigorjewna erzählte, dass es nachts war und alle schliefen, als jemand an die Tür klopfte. Drei NKWDler kamen herein: ‚Wer von euch ist Ljamkina?‘ Und so nahmen sie sie mit. 
    Ihre ältere Schwester studierte damals. Zu ihr sagten sie: ‚Entweder du lässt sie fallen oder du verlierst deinen Studienplatz.‘ Und die Mutter unter Tränen: ‚Klawa, wir müssen dich vergessen.‘ 
    So war sie schon als junges Mädchen auf sich allein gestellt. Sie war eine Frohnatur, tanzte gern, ein zierliches, lebensfrohes Wesen – trotz allem.

    Nach der Befreiung blieb sie, weil sie nirgendwohin gehen konnte, in Tugatsch, heiratete einen Frontsoldaten, bekam einen Sohn und eine Tochter. Einmal spielten wir mit ihrer [Tochter] Weronika im Hof. Da geht plötzlich das Gartentor auf, und eine Frau kasachischen Aussehens fällt zu Boden und kriecht auf uns zu, streckt flehend die Hände aus. Hinter ihr läuft eine zweite, jüngere Frau, mit Tränen in den Augen: ‚Klawa, vergib uns.‘ Das waren ihre Mutter und ihre Schwester. Klawdija hat ihnen natürlich vergeben, aber nach Hause ist sie nicht zurück. Ihre Schwester hatte dann auch kein Glück im Leben, fing an zu trinken.“

    Abteilung für die Arbeiterversorgung (ORS) / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Abteilung für die Arbeiterversorgung (ORS) / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Die erste, die anfing, über die Vergangenheit in Tugatsch zu sprechen, war die Geschichtslehrerin Ljudmila Konstatinowna Miller, das war noch 2009. Sie ist die Tochter eines Aufsehers und die angesehenste Pädagogin im Dorf:

    „Mein ganzes Leben war mit dem Lager verbunden. Mein Vater hat erst als einfacher Wachmann gearbeitet, später dann als Vorsteher über die Baracke mit verschärften Haftbedingungen (BUR). Wir waren fünf Geschwister, lebten in einem kleinen Häuschen ganz in der Nähe. Jeden Tag brachten mein Bruder und ich unserem Vater das Essen in seinen Turm. Ich war mit den Aufsehern genauso befreundet wie mit den Gefangenen. Obwohl wir Kinder waren, verstanden wir damals schon viel. Aber die wichtigste Frage – warum diese Menschen das alles erleiden mussten – bleibt für mich bis heute unbeantwortet.“

    Im vergangenen Jahr fand die Schulleiterin eine Karte – so fing alles an / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Im vergangenen Jahr fand die Schulleiterin eine Karte – so fing alles an / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Wer man auch vor 65 Jahren gewesen sein mochte – es ist Geschichte. Ljudmila Konstantinowna hat beschlossen, dass man offen darüber sprechen muss. Gemeinsam mit ihren Schülern fing sie an, die älteren Dorfbewohner zu befragen und ihre Geschichten aufzuschreiben. Zuerst hat dem niemand große Beachtung geschenkt – ein Schulprojekt eben. Aber irgendwann fügten sich die Geschichten zu einem einzigen gemeinsamen Drama zusammen.

    Dann, im vergangenen Jahr, fand die stellvertretende Schulleiterin, Swetlana Nikolajewna Shukowitsch, bei sich zu Hause eine Karte. So fing alles an.

    „Wir waren in das Haus einer unserer Alteingesessenen umgezogen, dort stand eine alte Truhe. Ganz unten war sie mit Papier ausgelegt. Ich habe diese Truhe fünf Jahre lang benutzt, bis ich schließlich auf die Idee kam, mir die Rückseite anzuschauen. Als ich das Papier umdrehte, sah ich eine Karte: Erschließung der Rohholzbasis im Tugatschinsker Kraslag des MWD.“

    Das war der Auslöser. Es stellte sich heraus, dass alle davon gehört hatten und es wussten, viele erinnerten sich noch deutlich an die Ereignisse hier. Nur haben alle geschwiegen. Und plötzlich war es, als hätten sich die Schleusen geöffnet. Es gab Gespräche, die Leute hielten endlich nicht mehr die Luft an, entspannten sich. Sie brachten verschiedene Dinge, Alltagsgegenstände, die Geschichten strömten nur so. Die Engagiertesten bildeten eine Initiativgruppe, die den Informationsfluss koordinierte. Eine der ersten, die sich ihr anschloss, war Lidija Gerassimowna.

    Der Friedhof für Lagerhäftlinge hat jetzt ein Kreuz – eines für alle / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Der Friedhof für Lagerhäftlinge hat jetzt ein Kreuz – eines für alle / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Als meine Geschwister noch am Leben waren, haben wir nie darüber gesprochen, dass wir die Erinnerung wiederbeleben müssen. Erst jetzt habe ich verstanden, dass meine Seele sich schon lange danach sehnte. Unsere Verwandten waren ja vollkommen unschuldig.“

    Und so entstand in Tugatsch Stück für Stück ein interaktives Freilichtmuseum: Streng geheim – das Tugatschinsker Kraslag. Der außergewöhnliche Name kommt nicht von ungefähr – der Großteil der Informationen zum Lager wird bis heute unter dem Vermerk „Geheim“ aufbewahrt. Das Projekt gewann einen Wettbewerb der Timtschenko-Stiftung: Ein Kulturmosaik unserer Kleinstädte und Dörfer. Das ermöglichte nicht nur, dass weitere Erinnerungen gesammelt wurden, sondern auch, dass das Museum selbst Form annahm.

    Man rekonstruierte verschiedene Außenobjekte: einen Damm, einst gebaut von den Gefangenen, um das Holz auf den Fluss zu lassen, der jetzt als Aussichtsplattform mit Blick auf das gesamte Gelände der ehemaligen Kolonie dient; eine Baracke, in der die Habseligkeiten der Häftlinge ausgestellt sind (die Gegenstände haben die Dorfbewohner selbst hergebracht). Ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen wurde errichtet. Der verlassene Friedhof des Lagers, wo man die Gräber nur anhand der länglichen Vertiefungen entlang der Kiefern erkennt, hat jetzt ein Kreuz – eines für alle.

    Dank der Arbeit am Museum füllen sich allmählich weiße Flecken im Schicksal des Dorfes / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Dank der Arbeit am Museum füllen sich allmählich weiße Flecken im Schicksal des Dorfes / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Erst vor Kurzem entdeckten die Dorfbewohner auf dem Dachboden eines der Häuser Fellmützen, Tassen und Löffel, die früher den Lagerinsassen gehörten, Schüsseln, auf denen die Namen ihrer Besitzer eingraviert sind, dazu Briefpapier und Umschläge, alte Fotos und Karten von Außeneinsatzstellen – Waldstücke, in denen die Gefangenen gearbeitet haben.

    Bald soll eine Übersichtskarte an der Ortseinfahrt entstehen, damit die Besucher sich schneller zurechtfinden. Außerdem ist ein Nachbau der Schmalspurbahn in Planung, mit deren Hilfe die Gefangenen Holz transportiert haben, und die Rekonstruktion einer Dampfmaschine, die auf dem Museumsgelände ausgestellt werden soll.

    Die Träume des Lju Pen-Sej 

    Dank der Arbeit am Museum füllen sich allmählich weiße Flecken im Schicksal des Dorfes und seiner Bewohner mit Geschichten. Zuweilen ganz zufällig.

    Am Rande von Tugatsch steht ein Spezial-Pflegeheim für alte und behinderte Menschen. Hierher kommen Menschen aus der ganzen Region, die wegen Verhaltensauffälligkeiten nicht in den üblichen Heimen leben können, aber auch ehemalige Häftlinge, die auf der Straße gelandet sind. Im Grunde ist das ein Gefängnis mit erleichterten Haftbedingungen. Seit letztem Jahr ist auch Lju Pen-Sej hier. Er stammt aus China, aber er spricht akzentfreies Russisch und möchte Kolja Iwanow genannt werden.

    Die ersten sechs Jahres seines Lebens verbrachte Lju Pen-Sej im Lager in Tugatsch / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Die ersten sechs Jahres seines Lebens verbrachte Lju Pen-Sej im Lager in Tugatsch / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Ich bin 77 Jahre alt. Geboren wurde ich in China. 1941 herrschte dort eine schwere Hungersnot, und meine Eltern überquerten mit mir als Säugling die Grenze zur UdSSR. Sie wurden als Überläufer verhaftet und ins Lager geschickt, wo ich die ersten sechs Jahre meines Lebens verbrachte. Woran ich mich selbst erinnere und was ich aus den Erzählung meiner Eltern weiß, lässt sich nicht mehr unterscheiden. Ein paar Bilder sehe ich noch vor mir. Meine liebe Amme, eine Tatarin, Tamara Iwanowna, und wie ich mich an ihrem Rocksaum festhalte, ihre Stimme ist liebevoll, sie dehnt meinen Namen: ‚Ko-o-o-lja‘. Und dann wie ich renne.

    Von meinen Eltern weiß ich, dass sie fast die ganze Zeit über eingesperrt waren, die Frauen in der Frauenbaracke, die Männer bei den Männern. Besuche waren nur am Tag erlaubt. Sie sprachen kein Wort Russisch. Mein Vater wurde zum Holzfällen mitgenommen, meine Mutter putzte und kochte im Lager. Freigelassen wurden wir erst 1946. Ich sehe noch vor mir, wie mein Vater, meine Mutter und ich uns an den Händen halten und aus dem Lager laufen. Wir fuhren nach Krasnojarsk, und dort ging ich verloren. Ich kam in eine Sammelstelle, dann ins Kinderheim. Aus dem Kinderheim holten mich meine Eltern erst, als meine Schwester schon da war.

    Meine Mutter starb 1977, mein Vater 1980. Als Jugendlicher war ich ein paar Mal in China, aber weg wollte ich aus Russland nie. Mein Leben war ziemlich turbulent, zuletzt habe ich in Sozialeinrichtungen gewohnt, hab es dort etwas zu bunt getrieben, und jetzt bin ich hier gelandet.“

    65 Jahre lang erwähnte man in Tugatsch das Lager nur im Flüsterton / Foto © Jewgenia Shulanowa
    65 Jahre lang erwähnte man in Tugatsch das Lager nur im Flüsterton / Foto © Jewgenia Shulanowa

    In Tugatsch hatte Kolja gleich das Gefühl, dass ihm dieser Ort bekannt vorkam. Er fing an zu träumen: Kindheit, Jugend, alles durcheinander. Dann fragte er nach: „Jungs, gab es hier früher Lager?“ „Ja, die gab’s“, hieß es.

    Wie sich herausstellte, standen früher buchstäblich fünf Meter vom Wohnheim entfernt die Baracken, in denen die Häftlinge untergebracht waren. So fügte sich das Bild zusammen. Er verstand, dass er praktisch in seiner Heimat gelandet war. Kolja ist der letzte noch lebende Gefangene des Tugatschinsker Kraslag. Und er sagt, dass er nicht mehr weg will. In Krasnojarsk wartet niemand auf ihn, und hier träumt er Träume aus seiner Kindheit.

    Sie sind keine Feinde

    Nicht alle in Tugatsch sind der Ansicht, dass man an der Vergangenheit rühren sollte. Manche meinen, dass hier nur Mörder und Vergewaltiger saßen, man hätte die Menschen ja nicht ohne Grund weggesperrt – und warum sollte man deren Andenken bewahren? Aber von denen, die so denken, gibt es immer weniger.
    Lidija Slepez sagt, man könne täglich beobachten, wie sich die Einstellung der Menschen zum Museum verändere. Jemand, dem das Ganze gestern noch völlig egal war, stellt heute plötzlich seinen Traktor zur Verfügung, damit ein Weg aufgeschüttet werden kann. Jemand erinnert sich, dass auch in seiner Familie Gefangene waren, also geht es plötzlich auch um deren Andenken.

    Der Werklehrer der Schule arbeitet schon seit fast einem Jahr an einem Modell des Lagers: „Für mich ist das leicht, mein Onkel war ja Lagerwächter, ich habe eine ungefähre Vorstellung, wo was war.“

    Das Einzige, was Lidija Gerassimowna bedauert, ist, dass sie den letzten Willen ihres Vaters nicht erfüllt hat. Vor seinem Tod hatte er sie gebeten: „Kind, wenn ich sterbe, stell bitte keinen Zaun auf, ich habe zehn Jahre hinter Gittern verbracht.“ 
    Damals hat sie das nicht ernstgenommen und sein Grab eingezäunt (wie es die Tradition verlangt). Erst jetzt versteht sie, wie sehr es das Leben ihres Vaters wirklich zerstört hat. Sie wurden zwar rehabilitiert, aber der endgültige Freispruch, der laute Ausruf: „Sie sind keine Feinde!“ – der kam erst jetzt.

    „Überhaupt kommt es mir so vor, als hätte man mich zusammen mit meinem Vater freigesprochen, als wäre auch ich von etwas reingewaschen worden.“

    Erst vor Kurzem wurde ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen errichtet / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Erst vor Kurzem wurde ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen errichtet / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • „Russland ist ein einziges großes Meme“

    „Russland ist ein einziges großes Meme“

    Eigentlich ist Rap in Russland Teil der Massenkultur. Timati, der als reichster Rapper des Landes gilt, besang auch schon mal Putin. Ansonsten zelebriert er wie viele andere genau das, was auch europäische und US-amerikanische Rapper tun: einen Lifestyle mit Benz, Bitches und viel Bling-Bling. 

    Auch Face gehörte bis vor Kurzem dazu. Mit seinen sexistischen Texten fand er durchaus Anklang bei der russischen Jugend. Sein neues Album ist anders, es führt gewissermaßen back to the roots: Rap wird zur Gegenkultur, wie zu den Entstehungszeiten in den USA. Unzufriedenheit mit Politik kommt dabei zu Tage, Protest und Wut.

    Meduza befragte Face zu seinem neuen Album und wie es dazu kam. Eschtschkere!

    „Ein russischer Rapper hat einfach die Pflicht, ein Album über soziale Probleme zu schreiben“. Foto: Alexander Anufriev / Meduza

    Alexander Gorbatschow: Du hast gesagt, du würdest Meduza ein Interview geben, weil wir nicht übertrieben russophob sind. Was meinst du damit?

    Iwan Face Drjomin: Es gibt einen Grad der Russophobie, der ist keine Russophobie, sondern gesunder Menschenverstand. In diesem Staat – und nicht nur in diesem, eigentlich in jeder Gemeinschaft – gibts das. Wenn du die Wahrheit sagst, wirst du unter Umständen sofort zum Gegner dieser Gemeinschaft, zum Oppositionellen. Es reicht doch schon zu sagen: „Es gibt Scheißbullen, die Geld abzocken.“ Wenn du eine mediale Person bist, kannst du sofort zum Volksfeind werden.

    Leute, die Schwarze oder Schwule hassen – das sind verfickte Faschisten!

    Gemeinschaften haben ihr Wesen, haben Regeln, die sie befolgen, damit es sich bequemer lebt und die Menschen nicht nachdenken müssen, denn Gedanken machen das Dasein zur Qual. Außerdem haben die Menschen eine sehr starke Bindung an ihre Eltern. Die Menschen wollen nicht genauer nachdenken, ob die Eltern ihnen Feind oder Freund sind, wollen sie nicht gleichsetzen mit anderen Menschen, die ihnen zum Beispiel Schmerzen zugefügt haben. Warum schalten die Leute nicht ihren Kopf an? Weil die Eltern das so gesagt haben.

    Wie soll man einem Durchschnittsrussen zum Beispiel erklären, dass Afroamerikaner oder Afrorussen, Chinesen, Japaner, Usbeken Menschen sind? Ein banales Beispiel, aber das ist oft ziemlich schwer. Und dann denkst du, du hast es ihm erklärt, und er nickt, aber dann gehts von vorne los: „Überall laufen hier diese Tschurken und Neger rum, hahaha, hihihi.“ Von Schwulen darf man gar nicht erst anfangen. Hier wird man Homosexuelle wahrscheinlich nie als Menschen betrachten. Wieso hackt man auf diesen Menschen rum? Wieso frikassiert man sie, nur weil sie sind, wie sie sind? Leute, die Schwarze oder Schwule hassen – das sind verfickte Faschisten!*

    Ist das ein russisches Problem oder ein allgemeines?

    Ein allgemeines. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was besser ist: Seinen Hass zu verstecken oder ihn zu zeigen. Es ist natürlich schlecht, ihn auf radikale Weise zu äußern. Wenn man nur eine Meinung formuliert, ist das eher besser, würde ich sagen. In Europa ist es oft ziemlich verfickt: Viele hassen Minderheiten und Migranten und verstecken das. Hier würde ich Russland gern freisprechen – Russland verdient mehr Respekt als ein Land mit aufgesetzter Toleranz. Es gibt sicher auch Länder mit echter Toleranz. Die haben meinen vollsten Respekt. Ich will Bürger einer solchen Polis sein.

    Mich würde deine persönliche Beziehung zu Gott interessieren. Das scheint in deinem neuen Album eine große Rolle zu spielen.

    Als Kind war ich krass gläubig. Wir waren gehirngewaschen, weil unsere Mutter tief gläubig ist. Dir wird keine Wahl gelassen, du darfst nicht selber nachdenken. Du bekommst ein Kreuz umgehängt und fertig: Du glaubst!

    Wir waren gehirngewaschen, weil unsere Mutter tief gläubig ist

    Für mich ist das Faschismus. Psychische Gewalt. Das ist wie mit der Musikschule. Ich weiß nicht, was ich mit sechs machen wollte, aber ich musste zur Musikschule, und ich habe es verdammt gehasst. Genauso ist es mit der Kirche, wenn man da um 9 Uhr morgens hingeschleift wird, obwohl man nicht will. Dafür habe ich null Verständnis. Aber ja, als ich Molitwa [dt. „Gebet”] schrieb, dachte ich daran, wie ich als Kind gebetet habe. Und ich habe selbst ein Gebet geschrieben. Aber in dem Song geht es eigentlich um etwas anderes. Ich habe Gott geliebt, aber wir sind zu verschieden. Das ist die letzte Zeile auf der Platte.

     
    „Ich habe den Herrgott geliebt, aber wir sind zu verschieden“ – Molitwa (dt. „Gebet“, 2018)

    Vorhin hast du gesagt, die Gemeinschaft reagiert negativ, wenn man die Wahrheit sagt. Jetzt hast du ein Album veröffentlicht, auf dem du – in deinen Augen – die Wahrheit sagst. Gibt es negative Reaktionen?

    Klar gibt es die. Es gibt Menschen, die sagen, was soll das, sing lieber über Burger. Dann gibt es welche, die sagen: „Fuck, sowas hab ich vor zehn Jahren schon gemacht, das Zentrum E hat mich auf den Index gesetzt, man bin ich krass.“ Warum sagen die das, wenn es um meinen Release geht? Weil sie sich auf Twitter feiern wollen. Aber so wie ich hat das noch niemand gemacht. Vor allem, wenn man mein Alter bedenkt und wer ich bin. Das war mutig, und ich bin stolz, dass ich dieses Album geschrieben und rausgebracht habe. Ich musste das einfach tun, um mich von meinen Kindheitstraumata zu befreien. Das habe ich gemacht – wie ich finde, erfolgreich.

    Meine Wahrheit liegt im Rahmen des Gesetzes. Nicht irgendein absurdes Gesetz, sondern das echte, menschliche

    Dann gibt es noch die Fraktion „Wieso erzählst du uns das? Wissen wir auch ohne dich“. Und so Clowns, die finden, ich wär russophob und würde auf die Heimat spucken, ein Volksfeind.

    Gut, Hater gab es bei uns wohl schon immer. Was ist mit dem Staat? BBC berichtete von Anrufen aus der Präsidialadministration, in denen es um deine Tweets geht. Wenn sie die Tweets lesen, wird ihnen nicht ein ganzes Album entgangen sein?

    Naja, es gibt schon Anfragen zu Konzerten, Gerüchte über Durchsuchungen, irgendwer hat von irgendwem irgendwas gehört … Aber ich versuche, das locker zu sehen, weil ich weiß, dass ich sauber bin. Ich sage meine Wahrheit, und die bewegt sich im Rahmen des Gesetzes. Nicht irgendein absurdes Gesetz, sondern das echte, menschliche. Aber auch im Rahmen des geltenden Gesetzes kann man mir nichts vorwerfen. Das würde ich auch nicht wollen. Wenn ich Krieg führen wollte, würde ich andere Wege gehen. Aber ich bin immer auf alles vorbereitet. Ich weiß, dass ich in dieser Situation nichts falsch gemacht habe und mache.

     

    „Ich fahr zu Gucci in Sankt Petersburg // Sie frisst meinen Schwanz als wärs ein Burger“ – Burger (2017)

    Wie ist die Musik zu Puti neispowedimy [dt. „Die Wege sind unergründlich”] entstanden? Sie ist etwas anders als früher – schwerer, ruheloser vielleicht.

    Diese acht Songs sind das Ergebnis der letzten zwei, drei Monate und der seelischen Krisen, mit denen ich zu kämpfen hatte, ich habe viel gerungen und ausprobiert. Der Sound ist hundertpro Meek Mill. Und Drake. Gemischt mit gesellschaftskritischem Rap. Ziemlich originell. Aber ich betrachte rezitativen Rap nicht wirklich als Musik, deswegen will ich nicht damit rumprotzen, was für gute Musik ich geschrieben habe. Guten Rap – ja, auf jeden. Wer was anderes behauptet, der kann mir verfickt noch mal den Schwanz lutschen. Weil die Zeile „Ein russischer Dichter, das ist einer, der eine spitze Feder trägt“ genial ist. Nochmal, ich bin 21. Ihr alten Säcke könnt euch verpissen, zum Arsch.

    Ein russischer Dichter, das ist einer, der eine spitze Feder trägt

    Man kann meine lyrischen Triumphe abtun und sagen: Alles Hype, Show, Performance, Pose, zu einfach usw. Aber es ist viel schwieriger, einfach und genial zu schreiben als umgekehrt. Ich sage nicht, dass ich genial bin, aber das Album ist eine 1-, mindestens eine 2+. Es ist ein wirklich gutes Rap-Album, mit dem ich im Grunde zufrieden bin.

    Warum nennen Sie keine Namen? Staatsbeamte, Putin meinetwegen?

    Das würde die ganze Geste entwerten. Wenn ich das wegen Knete machen würde, hätte ich das gemacht, aber es war nicht wegen Knete. Ich glaube nicht, dass man mit Namedropping von Politikern ein cooles Album machen kann. Ich könnte das nicht. Das würde nur prollig klingen.

    Wenn wir schon bei Kritik sind. Ich kenne Leute, die deine früheren Lieder als frauenfeindlich bezeichnen. Kannst du das nachvollziehen?

    Natürlich, denn es ist so. Diese Songs sind absolut frauenfeindlich. Ich musste sie singen, um dank ihnen und ein paar anderen Umständen dahinterzukommen, dass Frauen wundervolle Wesen sind, die man lieben muss.

    Diese Songs sind absolut frauenfeindlich. Das war meine Rache am weiblichen Geschlecht

    Ich war aus meiner Kindheit traumatisiert, war unglücklich verliebt. Außerdem hat eine Rolle gespielt, dass wir meiner Mutter megascheißegal waren. Das kam alles zusammen, natürlich war ich ein Frauenhasser. Ich habe sogar eine EP gemacht, Revenge – das war meine Rache am weiblichen Geschlecht. Meine Idee war: Ihr habt mich nicht geliebt, und jetzt hüpft ihr um mich rum, weil ich Geld und Ruhm hab und das alles. Ihr könnt euch alle mal verpissen!

     
    „Spiel nur keine Spielchen mit mir, du verlierst unter Garantie“ – Revenge (2017)

    Wirst du deine alten Songs noch performen?

    Ja, warum nicht? Die Leute sollen meine Entwicklung, den Weg sehen, den ich gegangen bin. Er soll sie dazu inspirieren, dass man aus Scheiße zum Künstler werden und statt über irgendeinen Bullshit zu singen was Wichtiges erzählen kann. Aus einem einfachen Typen aus Ufa, der seine Songs selbst zusammengebastelt und mit dem Geld seiner Oma aufgenommen hat, kann jemand werden, der ein glückliches Leben führt, im Reinen mit sich ist und etwas tut, das tausenden von Menschen gefällt. Oder auch nicht, aber jedenfalls ist er im Reinen mit sich, es fehlt ihm an nichts.

    Mein Weg soll sie inspirieren, dass man aus Scheiße zum Künstler werden kann

    Ich schäme mich nicht für diese Songs, falls das irgendwer denken sollte. Ich versuche das so zu sehen – auch wenn ich mir das vielleicht zurechtbiege, weil mir diese Legende gefällt: In diesen Songs bin ich ein Spiegel der Jugend. Ich habe das erst viel später verstanden, aber genauso ist es. Das ist die Gesellschaft. Frauenfeindlichkeit liegt in der Luft, alle wollen sich aufblasen, was beweisen – ich bin so reich, so cool, so berühmt. Das ist normal. Ich habe mit solchen Songs angefangen, dann habe ich ein Album aufgenommen, um mir die Seele zu erleichtern, wie man das als Russe manchmal eben tun muss. Ein russischer Rapper hat einfach die Pflicht, ein Album über soziale Probleme zu schreiben.

    Warum gibt es dann so wenig gesellschaftskritischen Rap?

    Weil die Leute Angst haben. Erstens vor Problemen mit den Staatsorganen. Zweitens, Geld zu verlieren, weil Konzerte verboten werden. Drittens, Geld zu verlieren, weil keiner zum Konzert kommt. Viertens, Geld zu verlieren, weil sich alle abwenden. Daher kommt auch diese ganze Schulterklopf-Rhetorik. Eigentlich gibt es nur einen Menschen, auf dessen Meinung wir was geben.

    Und wer ist das?

    Oxxxymiron.

    Warum ausgerechnet er?

    Oxxxymiron ist ein wirklich guter Rapper, eine bedeutende Persönlichkeit. Wir haben ein Rap-Album gemacht, und uns interessiert die Meinung des einzigen bedeutenden Rappers, der technisch echt was draufhat, was von Lyrik versteht, der interessant ist, originell. Er ist gut in dem, was er tut. Sehr gut sogar.

    Ich fühle, dass ich mit diesem Album rausgegangen bin und mit Kreide eine Linie gezogen habe. Mich abgesetzt habe. Ich bin wirklich der einzige. Wenn mir irgendjemand künstlerisch nahesteht, dann ist das Oxxxymiron.

     

    „Ich knocke den Westen aus, auf meinem Schwanz steht die gesamte Industrie der USA“ – Ja ronjaju Sapad (2017)

    Früher gab es in deinen Songs Sex, Geld und keine Politik. Und jetzt gibt es nur Politik und keinen Sex. Haben diese Themen für dich nichts miteinander zu tun?

    Was soll ich dazu sagen? Erstens habe ich seit einem Jahr nichts mehr veröffentlicht. In meinem Alter kann sich in einem Jahr viel verändern. Auf einmal war ich mit Geld und Popularität konfrontiert, einer ernsten Beziehung. Das alles hat mich geflasht, in ein emotionales Loch gestürzt, mich zum Nachdenken gezwungen. Ich habe bekommen, was ich wollte. Worüber habe ich früher gesungen? „Ich bin reich, ich bin berühmt“. Warum? Weil ich nicht reich und berühmt genug war, um darüber zu schweigen. Das habe ich jetzt geschafft. „Ich werd euch alle ficken, ficke alle“. Ich wollte einfach ein Mädchen kennenlernen. Ich war traurig, daher die Texte.

    Und dann? Ich wusste nicht, worüber ich singen sollte. Darüber, dass es mir schlecht geht mit meiner Liebsten? Ne, es geht mir ja verfickt gut mit meiner Liebsten. Darüber, dass ich jetzt scheiße viel Geld habe, dass ich berühmt bin? Wozu? Ich bin ja wirklich berühmt, ich habe wirklich Geld.

    Der hatte alles und keinen Schiss, es zu verlieren

    Ich habe so eine Ahnung: Wenn sich irgendwann mal die Spreu vom Weizen trennt, werden die Leute nicht denken: „Erinnerst du dich an den Vollpfosten, der dieses eine Jahr so gehyped wurde?“ Sie werden in anderen Kategorien denken: „Weißt du noch, dieser Typ, der immer noch verfickt gute Mucke macht: Als der Die Wege sind unergründlich rausgebracht hat, und niemand hat auch nur annähernd mitgeschnitten, was das für eine Hammergeste war? Ich mein, der hatte verfickt noch mal alles und hatte keinen Schiss, das alles zu verlieren.“

    „Ich fühle, dass ich mit diesem Album rausgegangen bin und mit Kreide eine Linie gezogen habe.“ Foto: Alexander Anufriev / Meduza

    Ein anderer möglicher Kritikpunkt: Du hast schon erwähnt, dass du ein relativ gutes Leben hast. Du wohnst mitten in Moskau, hast eine tolle Wohnung, isst in teuren Restaurants – und singst von Abgründen und Hölle, obwohl dein Leben heute ein ganz anderes zu sein scheint.

    Von den 21 Jahren meines Lebens hab ich nur das letzte Jahr so gelebt. Die 20 davor (und 17 davon – wirklich krass) habe ich gelebt wie jeder andere und habe jedes verschissene Recht darüber zu reden. Die, die sowas sagen, leben momentan im Durchschnitt schlechter als ich, und sagen: Du lebst hier dein Dolce Vita und lässt hier so nen Scheiß los. Aber den größten Teil ihres Lebens haben die besser gelebt als ich 20 Jahre. Das sind die von der Sorte: Wenn du nicht gesessen hast, bist du kein Russe. Du musst erst im Gefängnis gewesen sein, bevor du schreiben darfst, wie beschissen es den Leuten da drin geht.

    Ich habe gelebt wie jeder andere und habe jedes verschissene Recht darüber zu reden

    Es gab einen Moment, da hatte ich plötzlich, was ich wollte. Mir war alles scheißegal, das war alles ein einziges Meme für mich. Du kannst dir mein Interview mit [Juri] Dud angucken, da wird dir klar, dass das alles nur Memes für mich sind, Jokes.

    Vor einem Jahr war also alles nur ein Witz – und was ist dann passiert?

    Ich habe angefangen nachzudenken, als Bürger eine Haltung zu entwickeln. Und ich bedauere das nicht, denn je weniger Haltung du hast, desto weniger Sinn hast du im Leben. Du stehst für nichts ein, höchstens für das Stück Brot auf deinem Teller.

    Ist etwas schlecht an politischen Aktionen?

    Sie sind ein Instrument zur Einschüchterung und Kontrolle. Warum sind da so wenig Leute? Weil sie wissen: Du gehst hin und kriegst eins aufs Maul. Normalfall in Russland.

    Die Welt ist nunmal so geschaffen. Und hier ist es ganz deutlich: Der Stärkere hat Recht, und alle scheißen drauf. In diesem Land wird alles über rohe Gewalt, Geld und Beziehungen entschieden. Sonst nichts.

    Politische Aktionen sind ein Instrument zur Einschüchterung

    So läuft das doch: Wenn du in der Schule einen auf Macker machst, dann musst du damit rechnen, dass du nach der Schule eins aufs Maul kriegst. Hier [auf den Demos] ist das genau so: Du läufst herum, schreist irgendwas und und wirst durchgenudelt. Die Leute gucken sich das an und sagen sich, warum soll ich da hingehen. Sie haben Schiss.

    Du gehst auch nicht hin – hast du Schiss?

    Wir haben keinen Schiss. Als ich dieses Album geschrieben habe, habe ich darüber nachgedacht, wie weit ich bei diesem Thema gehen kann. Und weißt du, ich bin ziemlich weit gegangen. So weit, wie es Sinn macht. Weiter wäre sinnlos. Es macht nur Sinn, sich auszudrücken und anderen diese Möglichkeit zu geben – wenn jemand sich die Songs zu Hause anhört und mit dem Kopf nickt. Zu mehr sind die Leute nicht im Stande.

    Wenn du ein Held bist, macht es keinen Sinn, rauszugehen und im Namen der großen Gerechtigkeit zu sterben

    Wenn du ein Held bist, macht es keinen Sinn, rauszugehen und im Namen der großen Gerechtigkeit zu sterben. Was für Gerechtigkeit überhaupt, wenn die Leute drauf scheißen? Wenn ich jetzt rausgehe und irgendwas mache, wofür ich in Schwierigkeiten komme, werden alle drauf scheißen.

    Das heißt, wenn man versuchen würde dich einzusperren, würde sich niemand für dich einsetzen?

    Ich bin zu folgendem Schluss gekommen. Wenn du Business machen willst und Geld verdienen, dann geh verfickt noch mal Geld verdienen, du musst nicht Musik machen. Wenn du Politik machen willst, geh und mach Politik. Wenn ich auf die Barrikaden gehen würde, wäre das so, als würde Nawalny ein Album machen. Das wäre doch völlig absurd, oder?

    Überhaupt ist Russland ein einziges großes Meme. Genau deswegen stehen hier alle auf Meme-Interpreten und so Zeugs. Die Leute hier stehen auf billige Jokes. Das Leben ist viel zu kompliziert, und die Menschen nehmen das hin. Sie haben sich längst damit abgefunden, dass man nichts dagegen unternehmen kann, sie sind schwache, verängstigte Schäfchen.

    Alles, was wir können, ist über Memes lachen und in allem einen großen Witz sehen. Wenn ein Typ in den Knast kommt – ist das ein Meme, Nawalny – ist ein Meme. Nawalny – der ist kein ernstzunehmender Politiker, weil er das mitmacht. Echt mal, ein Typ, der sein Logo von Supreme abgekupfert, wird niemals Präsident.

    Ist es schlecht, dass Russland ein Meme ist? Oder hat das auch was Schönes?

    Es hat Charme. Aber erstens kann man in allem das Schöne sehen. Zweitens, auf der menschlichen Ebene … Spaß hin oder her, aber die Leute denken nicht darüber nach: Einmal kann man über etwas lachen – aber wenn es einfach so weitergeht, dann muss man etwas tun. Kaum jemand von denen lacht doch über einen Behinderten ohne Beine? Aber das hier ist dasselbe! Worüber die lachen, ist verfickt noch mal kein Stück witzig. Das Leben hier ist nicht witzig. Und sie leben dieses verfickte Leben. Sie sind einfach nur schwach, richtig schwach. Das einzige, was denen noch bleibt, ist ne Psychowaffe.

    Worüber die lachen, ist verfickt noch mal kein Stück witzig. Das Leben hier ist nicht witzig

    Genau, wie man meine früheren Songs als Psychowaffe gegen dieses Scheißleben sehen kann. Das ist alles, was dir bleibt. Ich habe Mitleid mit den Leuten, genau wie ich Mitleid mit dem kleinen Jungen, dem jungen Erwachsenen habe, der ich war. Es sind krass unglückliche Menschen, bei denen alles so zum Kotzen ist, dass ihnen nichts mehr bleibt, als darüber zu lachen. Und genau deswegen lieben sie diesen ganzen Entertainmentscheiß.

    Wie siehst du dich in einem anderen Land? Deine Songs schreibst du ja auf Russisch.

    Vielleicht schreibe ich irgendwann auf Englisch. Aber es ist kein Problem, für Konzerte nach Russland zu kommen. Ich bin Russe, mit meiner Sprache bin ich in voller Harmonie und habe auch weiterhin vor, auf Russisch zu schreiben, egal wo ich mich befinde. Is okna [Aus dem Fenster] habe ich zum Beispiel in Japan geschrieben, im Bus nach Osaka. Ich glaube also nicht, dass das was ändern würde.

    Gibt es schon konkrete Pläne?

    Wir haben noch kein konkretes Land im Blick, aber sind dabei.

    Ich finde, in dem Staat, in dem wir leben, ist das einzig Vernünftige, nicht auf die Barrikaden zu gehen, weil das einfach sinnloser Selbstmord ist, sondern ein Leben irgendwo anders auf unserem schönen Planeten zu suchen. Sich mit Leuten zu umgeben, die dir mit ihren Scheißvisagen zumindest nicht die Laune vermiesen und sich etwas Mühe geben, was gegen ihre sauren Fickfressen zu tun.

    Ich fordere niemanden zu irgendetwas auf. Ich erkläre nur, warum ich emigrieren will. Wie soll ich das sagen? Die größte Revolution, die du machen kannst, ist die Revolution in dir selbst, als Persönlichkeit. Das ist alles, was du für die Gesellschaft tut kannst. Aber es ist sauschwer, sich weiterzuentwickeln, wenn du selbst in die Höhe wächst und die Leute um dich herum verfickt langsam wachsen, oder eben gar nicht. Das zieht mich runter. Außerdem hab ich die Schnauze verfickt voll von der Kälte und der wenigen Sonne. Das ist alles. Für mich, mit meinen Depressionen und psychischen Problemen, an denen ich arbeite (und an denen alle arbeiten müssen), ist es einen Versuch wert. Der Rest wird sich zeigen.


    * Seit 2013 ist die Benutzung nicht-normativer Lexik (Mat) in russischen Medien gesetzlich verboten. Der stellenweise Gebrauch von Mat ist im Original durch Sternchen gekennzeichnet.

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  • Das Moskau-Experiment

    Das Moskau-Experiment

    Wer Moskau noch aus den frühen 2000er Jahren kennt, wird staunen: Das Moskau unter Bürgermeister Sergej Sobjanin ist heute ein ganz anderes als damals. Die Kioske vor den Metrostationen sind weg, mitten in der Innenstadt sieht man auch Radfahrer, der Gorki-Park hat sich vom runtergerockten Rummelplatz zum hippen Großstadtpark mit einem Museum für moderne Kunst, Bühnen und mehreren Spielplätzen verwandelt. Unweit vom Roten Platz am Ufer der Moskwa, wo früher das Hotel Rossija war, blühen nun im neu angelegten Sarjadje-Park Blumen und Bäume aus sämtlichen russischen Vegetationszonen.

    Ist doch schön? Maria Kuwschinowa spaziert auf Colta durch „eine Stadt der Trugbilder”.
     

    Wenn man spät nachts nach langer Reise und langer Abwesenheit die Twerskaja hinunterfährt, scheint es, als gleite man einen blankgeputzten, weiß schimmernden menschlichen Schädel hinab. Alles Organische – alles, was atmet, duftet, geboren wird, stirbt, alles, was lebt – ist ausgerottet und beseitigt, stattdessen haben sich überall phosphoreszierende Chimären breitgemacht. 

    Gleich kosmischem Staub hat sich über Nacht der Sarjadje-Park niedergelassen / Foto: Мos.ru, Wikipedia CC BY 4.0
    Gleich kosmischem Staub hat sich über Nacht der Sarjadje-Park niedergelassen / Foto: Мos.ru, Wikipedia CC BY 4.0

    Unter Sobjanin hat sich Moskau in eine Stadt der Trugbilder verwandelt, wo die halluzinogene experience selbst dem Abstinenzler an jeder Ecke auflauert: Im Minutentakt schießen wie Pilze neue Metrostationen aus dem Boden; gleich kosmischem Staub hat sich über Nacht neben dem Kreml der Sarjadje-Park niedergelassen; die Stadt dehnt sich mit der Geschwindigkeit eines aggressiven Krebsgeschwürs aus. Plötzlich – ein gigantischer Filzstiefel mitten auf einer Hauptstraße, ein Aufmarsch von Kreuzzüglern auf dem Boulevard; in jeder Seitenstraße der Goldenen Meile ein Wachmann, das Passwort, das du sagen musst, lautet: „Es gibt keinen Gott“, denn sie bewachen die Warteschlange vor den Reliquien, damit sich keiner vordrängelt.

    Phosphoreszierende Chimären

    Die verzweifelte Suche nach einem Parkplatz, das tägliche mehrstündige Manöver zur Verpflanzung der Kinder auf das gegenüberliegende Ufer des Prospekts. Der störungsfrei funktionierende Separator, der den Pöbel mit einem Einkommen unter 200.000 Rubel im Monat [ca. 2.500 Euro – dek] aus dem historischen Zentrum verdrängt. Das alles zusammen heißt: „Seht nur, wie schön Moskau unter Sobjanin geworden ist.” 
    Über den universellen Hauptstadtsnobismus und die spezifischen Arroganz gegenüber den SaMKADowzy hinaus – der neue Moskauer hat sich, selbst wenn er mit den Veränderungen nicht einverstanden ist, mittlerweile daran gewöhnt, sich täglich in einer Situation des Absurden wiederzufinden, die ein Außenstehender kaum ertragen würde. Das Absurde kann nicht anders, als das Bewusstsein zu beeinflussen, es formatiert das Bewusstsein; und schon wird der Blick deines alten Bekannten glasig, und er sagt: „Wieso, die Sachen von WkusWill haben mir die importierten Nahrungsmittel komplett ersetzt.“

    Urbanistische Karzinogenese 

    Es ist bereits festgestellt worden, dass die Testversion unter Kapkow und dann auch die umfassende urbanistische Karzinogenese unter Sobjanin eine Antwort auf die Bolotnaja-Proteste gewesen seien – auf die Unzufriedenheit der Mittelschicht auf die Stagnation der MedwedewschenModernisierung“. Als Reaktion auf die Karnevalsproteste wird jetzt das ganze Jahr über fieberhaft und unaufhörlich Karneval gefeiert.

    Ihre Bewohner unterhaltend und ablenkend, erfüllt die Stadt, die mit der Zeit neu verpackt und zur Vitrine des putinistischen Russland gemacht worden ist, mittlerweile eine weitere wichtige Funktion für die Bewahrung des Status quo: Moskau, das auf Kosten des gesamten Landes existiert, entzieht den Regionen nicht nur die natürlichen Ressourcen, sondern auch die menschlichen, die ambitioniertesten und talentiertesten – damit deren Energie in die Produktion von blutleeren Chimären einfließen kann. Rein formell ist das noch immer derselbe Deal, den ein gewöhnlicher zentralistischer Staat seinen Bürgern anzubieten hat: ein Umzug in die Hauptstadt im Tausch gegen Geld und Möglichkeiten, die man in der Provinz nicht hat. 

    Biete Status, verlange Abkehr von der Produktion von Sinn

    Doch im Grunde macht das heutige Moskau, das sich im Herzen des heutigen Russland befindet, ein anderes Angebot: Es bietet Status und verlangt dafür die freiwillige Abkehr von der Produktion von Inhalten. Du kannst „Kurator“ werden, „Regisseur“, „Journalist“, „Micro-Influencer“ (jemand, der sein Essen und seine Klamotten, die er von Werbekunden bekommt, fotografiert und in sozialen Netzwerken postet), „Mitarbeiter bei Yandex“, „Drehbuchautor“, „Guest-Manager“ (jemand, der Geld dafür bekommt, dass er seine Micro-Influencer-Freunde persönlich zu Partys einlädt), „Künstler“, „Promoter“ – die Liste ist lang. Du wirst etwas haben, das du auf deine Visitenkarte schreiben kannst, ein Gehalt und eine Krankenversicherung, du wirst von einer Stelle zur nächsten gehen und deinen Triumph auf Facebook teilen, aber Gott bewahre, dass du einen Fuß dahin setzt, wo ein auch nur ein ansatzweise sinnvolles Gespräch über Gegenwart und Zukunft stattfinden könnte. 

    Kultur in Moskau – das ist, wenn Menschen, die 700 Rubel [9 Euro – dek] Eintritt gezahlt haben, sich auf der Strelka oder im Garash den letzten Hit aus Cannes ansehen, der niemals auf die Leinwände anderer Städte kommen wird, weil die politische und wirtschaftliche Zensur den unabhängigen Verleih zu Grunde gerichtet hat. Aber du kannst zehn mal das Garash sein, nie im Leben wirst du Loznitsas Donbass zeigen dürfen, denn die Frage nach dem Grenzzustand des postsowjetischen Menschen und des postsowjetischen Raums darf weder ernsthaft noch laut gestellt werden.

    Moskau fehlt Energie, Kompromisslosigkeit und innere Freiheit

    Sobjanins Wahlkampfleiter Konstantin Remtschukow erzählt etwas von einer globalen Konkurrenz der Metropolen, in der die erneuerte russische Hauptstadt auf Augenhöhe mit New York, Paris und London figurieren würde. Und vergisst dabei, dass New York, Paris und London Ideen für die ganze Welt produzieren, während Moskau, umzingelt von eingebildeten Feinden und einem real ausgebluteten Land, nicht einmal hybride Propaganda of international fame produziert, weil die Trolle von Olgino woanders sitzen (in den letzten vier Jahren wurde die russische Staatsbürgerschaft auf Basis der Quote für „gesuchte Fachkräfte“ ganze zwölf Mal erteilt). Das einzig nennenswerte popkulturelle Phänomen der vergangenen Jahre – die Rap-Battles – kam in Krasnodar auf und donnerte durch St. Petersburg; Moskau hatte dafür weder genug Energie noch Kompromisslosigkeit noch innere Freiheit.

    Das, was von Zeit zu Zeit aus diesem hermetisch abgeriegelten elektrisch-sauren Universum nach außen dringt – Ausgaben in Millionenhöhe für Sobjakuras (Plastikbäume in Kübeln) oder das Olympiastadion, bis oben hin gefüllt mit Leuten, die das Monats- oder gar Jahresgehalt eines Durchschnittsverdieners für einen Abend in Gesellschaft eines Motivationstrainers zahlen –, ruft im Rest des Landes nur banges Unverständnis hervor. Der einstige Neid auf das Geld und die Möglichkeiten der Hauptstadt weicht nämlich langsam der Angst, man könnte sich noch am Moskauer Wahnsinn infizieren.


     


    Moskau lesen: Wir haben einzelne Orte mit dazu passenden Artikeln, Gnosen und Blurbs verlinkt. Zum Spazieren, Schmökern und Staunen. Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg/Ctrl-Taste gedrückt halten.

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  • „Die Nowosibirsker ähneln den Leuten im Mittleren Westen“

    „Die Nowosibirsker ähneln den Leuten im Mittleren Westen“

    US-Fotograf Nathan Farb hatte die Gelegenheit, in den 1970er Jahren in der Sowjetunion zu fotografieren: Im Rahmen einer Ausstellung über US-amerikanische Fotokunst fotografierte er etwa 5000 Porträts. Jetzt kehrt er zurück und sucht nach den Menschen auf seinen Fotos. Die Kinobrigada, ein Filmteam aus Frankfurt am Main, begleitet ihn dabei. Hessen Film und Media fördert das internationale Projekt. Die Fotos werden dafür auch über Social Media verbreitet, einige Menschen haben schon sich selbst, Freunde oder Verwandte darauf wiedererkannt.

    Lera Schwez hat für Meduza mit Nathan Farb gesprochen – über seine Eindrücke damals, seine Art zu fotografieren und warum er findet, dass die Menschen in Nowosibirsk denen im Mittleren Westen der USA ziemlich ähnlich sind. 

    Lera Schwez: Wie kamen Sie in den 1970er Jahren in die UdSSR? 

    Nathan Farb: Ich musste regelrecht betteln. Aus Sicht der amerikanischen Informationsagentur USIA, die diese Reise organisiert hat, war ich ein Niemand. Ich hatte kaum Erfahrung, hatte nur ein paar Ausstellungen gemacht. Ich unterrichtete an der Rutgers University, gab dort einen Foto-Kurs; ich war nicht besonders bekannt, habe auch für keine große Organisation gearbeitet. Ich war völlig unabhängig. Ausgewählt wurden [für die US-Delegation] entweder bekannte Leute oder, nun ja, Fotografen von National Geographic
    Ich hatte damals die Idee mit den Polaroid-Aufnahmen. Suchte mir Filme, die gleichzeitig Positiv- und Negativbild erzeugen, und fing an zu fotografieren. Wenn du als professioneller Journalist oder Künstler jemanden fotografierst, kommt etwas anderes dabei heraus, als wenn du es für die Person selbst tust. Wenn du etwas machst, das du ihnen geben kannst, bekommst du ein besonderes Ergebnis. Das klingt einfach, aber ich habe Jahre gebraucht, bis ich das verstanden habe.

    Und dieses Verfahren wollten Sie auch in der UdSSR einsetzen?

    Genau. Ich landete zwar zunächst auf der Warteliste, wurde aber am Ende genommen, weil jemand anderes abgesagt hatte. Etwa drei Wochen vor der Abreise bekam ich einen Anruf: „Wollen Sie immer noch nach Nowosibirsk?“ Ich sagte: „Klar!“ 
    Wissen Sie, im Leben gehört auch immer etwas Glück dazu.

    Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Eindrücke?

    Als ich gerade erst in Nowosibirsk angekommen war und die Menschen traf, war ich erstaunt. Wenn ich zum Beispiel zu jemandem nach Hause kam, sah ich dort eher untypische sowjetische Kunst, so was a lá Rodtschenko. Ich fragte, wie ist das denn einfach so möglich, und sie lachten: „Wir sind sehr weit weg von Moskau.“ In Nowosibirsk, habe ich bemerkt, dass alle Industriegesellschaften etwas gemeinsam haben. Das [politische] System spielt gar nicht wirklich eine Rolle. Zum Beispiel war die Scheidungsrate in Russland und den USA damals gleich hoch.

    Welche Gemeinsamkeiten gab es noch?

    Die Sowjetunion war als klassenlose Gesellschaft aufgebaut. Aber ich sah sofort, dass es in der UdSSR verschiedene Typen von Menschen und auch unterschiedliche Klassen gab.
    Außerdem hatte ich den Eindruck, dass die Menschen in Nowosibirsk sehr den Menschen im Mittleren Westen der USA ähnelten. Sie sind nicht so prätentiös wie in New York oder Kalifornien. Ich war froh, dass ich ausgerechnet in Nowosibirsk gelandet war und nicht in Moskau oder St. Petersburg. Ich fand, dass ich auf diese Weise dem normalen Leben der Sowjetmenschen näher kam.

    Waren Sie lange dort?

    Ich glaube, sechs Wochen. Ich bin jeden Tag in die Ausstellung [amerikanischer Fotokunst, die in Nowosibirsk gezeigt wurde – dek] gegangen, sie war riesig. Ich habe gehört, es waren täglich 5000 bis 10.000 Besucher da.

    Wie verlief Ihre Arbeit dort in der Ausstellung?

    Ich habe in einem Studio gearbeitet. Die Menschen kamen dorthin und warteten, bis sie fotografiert wurden. Ich nahm mir so viel Zeit, wie ich brauchte.

    Haben die Menschen, die Sie fotografiert haben, versucht, mit Ihnen ins Gespräch kommen?

    Viele kamen einfach, um zu sehen, wie ich arbeite. Sie hatten noch nie ein Polaroid gesehen. Sie bekamen ihr Bild sofort und konnten es mit nach Hause nehmen. Das war etwas völlig Neues. 

    Mit einigen russischen Fotografen habe ich mich unterhalten. Sie sagten: „Oh, wir sind viel fortschrittlicher, wir machen schon alles in 3D.“

    Aber die amerikanische Fotografie bewegte sich damals in eine etwas andere Richtung – sie erforschte, was psychisch in den Menschen vor sich ging. Technische Aspekte, so etwas wie 3D, interessierten mich damals nicht so sehr. Ich war eben Teil der amerikanischen Kultur.      

    Was haben Sie in den Sowjetmenschen aus Nowosibirsk gesehen, die bei Ihnen vor der Kamera standen?

    All diese Menschen waren in einer bestimmten Lebensphase, ich sah sie an und versuchte zu erahnen, was sie über sich erzählen. Wir verbergen immer etwas, das liegt in der Natur des Menschen. 
    Miteinander gesprochen haben wir wenig, aber viele Emotionen ausgetauscht.

    Welchen Eindruck hatten Sie nach sechs Wochen in Nowosibirsk von der sowjetischen Gesellschaft?

    In gewisser Hinsicht erschien sie mir der US-amerikanischen sehr ähnlich. Mehr als ich gedacht hätte. Aber damals gab es zwei Pole. Auf der einen Seite war da die US-amerikanische Propaganda, die alle [Sowjetbürger] als völlig gequält und unterdrückt darstellte. Auf der anderen stand die Sowjetpropaganda, mit traktorfahrenden Frauen, und so – alle sind gleichberechtigt und jeder leistet seinen Beitrag zum Aufbau der klassenlosen Gesellschaft. Diese zwei Narrative gab es, aber keines davon passte zu dem, was ich sah. 

    Waren Sie auch bei jemandem zu Hause zu Besuch?

    Während meines Aufenthalts habe ich drei, vier Menschen kennengelernt. Mir ging es ja hauptsächlich ums Fotografieren. 
    Aber es gab da eine junge Frau – die würde ich übrigens sehr gern finden und erfahren, was aus ihr geworden ist – mit sehr langen Zöpfen. Sie war damals noch ein Teenager. Sie erzählte mir, sie sei Künstlerin, und zeigte mir ein paar Zeichnungen. Man nannte sie Zöpfchen. Einmal habe ich sie zum Mittagessen eingeladen. Für uns Amerikaner gab es ein spezielles Restaurant, es hieß, das Essen dort sei wesentlich besser. Danach hat der Mann, der dafür zuständig war, mich zu beaufsichtigen, der amerikanischen Delegation gemeldet, ich hätte mit ihr zu Mittag gegessen, und das sei inakzeptabel. 

    Sie sagten, Sie hätten es geschafft, die Negative der Portraits per Diplomatenpost außer Landes zu bringen. Komisch, dass es keiner in Ihrem Umkreis mitbekommen hat, nicht einmal der Geheimdienst, der sie überwachte.

    Manche Techniker wussten, was ich mache, sie haben mir ja geholfen, die Filme zu reinigen. Deswegen bin ich nicht davon überzeugt, dass keiner etwas wusste. Bei der Ausreise aus der UdSSR wurde am Flughafen mein Gepäck kontrolliert. Da kam der [Zoll-]Chef und sagte: „Seine Negative haben die Sowjetunion schon verlassen.“ Es hat also definitiv jemand davon gewusst.

    Was passierte danach, als Sie in die USA zurückkehrten? 

    Ich habe mich sofort darangemacht, die Fotos zu vergrößern. Mir war klar, dass ich einmaliges Material aus der UdSSR hatte. Dann reiste ich nach Europa. Ich fuhr mit einem Eurail-Ticket von Hauptstadt zu Hauptstadt und bot den renommiertesten Zeitschriften meine Fotos an. Viele haben welche gekauft, alle fanden es interessant. 
    Später hat ein Bekannter von mir, ein Kunsthistoriker, meine Arbeiten seinem Verlag gezeigt. So ist der Bildband The Russians entstanden.

    Glauben Sie, es ist Ihnen gelungen, den Zeitgeist der Menschen in der damaligen Sowjetunion einzufangen?

    Das ist eine sehr gute Frage. Ich habe mich bemüht, unterschiedliche Menschen zu zeigen, einschließlich ziemlich seltsamer Gestalten, oder freundlicher gesagt, Sonderlingen. 

    Nehmen wir zum Beispiel den Jungen mit der Sonnenbrille und dem langen Mantel. Das ist ein sehr interessanter Fall. Er sah vollkommen gewöhnlich aus. In den USA würde man sagen, das ist ein Junge, der nur Weißbrot isst. Ich meine so Industriebrot. Seine Mutter stand jeden Tag lange dort an und winkte mir zu: „Bitte fotografieren Sie meinen Jungen!“ Eine Woche stand sie so da, vielleicht sogar zehn Tage. Am Ende willigte ich ein. Da zieht sie ihm plötzlich ihren Mantel an und setzt ihm ihre Sonnenbrille auf. Keine Ahnung, warum! Später hat sich gezeigt, dass sich viele genau so einen [typischen] sowjetischen Jungen vorstellen. Sie hat mir diese Aufnahme quasi geschenkt.

    Wie kamen Sie auf die Idee, jetzt noch einmal nach Russland zu fahren?

    Es war nicht meine Idee, sondern die des Schriftstellers Andrej Filimonow und seiner Freunde von der Filmtruppe Kinobrigada aus Frankfurt. Sie haben den Artikel in der New York Times gelesen, Kontakt zu mir aufgenommen und gefragt, ob ich Interesse hätte, noch einmal nach Russland zu fahren. Ich dachte mir, es könnte wieder ein Abenteuer werden und sagte ja.

    Je näher die Reise rückt, desto nervöser werde ich, denn ich habe viele Fragen, auf die ich noch keine Antwort weiß. Ich muss zum Beispiel lernen mit der Digitalkamera zu arbeiten. In den letzten Monaten verbringe ich mehrere Stunden täglich damit und übe. Die Ausrüstung, mit der ich 1970 gearbeitet habe, gibt es nicht mehr. Aber ich möchte den Leuten die Aufnahmen wieder gleich vor Ort mitgeben. 



    Wenn Sie sich auf einem Foto von Natan Farb wiedererkannt haben oder er Sie 1977 in Nowosibirsk bei der Ausstellung „Fotokunst aus den USA“ fotografiert hat und Sie auch an seinem neuen Projekt teilnehmen möchten, melden Sie sich bei Anatoli Skatschkow: NKnop@kinobrigada.net 

    Fotos: Nathan Farb
    Interview: Lera Schwez
    Bildauswahl: Franziska Schmidt
    Übersetzung: Maria Rajer und Jennie Seitz
    veröffentlicht am 14.09.2018

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  • Moskau. Kreml. Putin.

    Moskau. Kreml. Putin.

    Der staatliche Fernsehsender Rossija-1 hat eine neue Sendung an den Start gebracht: Moskau. Kreml. Putin. – jeden Sonntag eine Stunde über den Präsidenten, moderiert von keinem Geringeren als Wladimir Solowjow. Ein Relaunch der Sowjetpropaganda, wie manche Kommentatoren schreiben, oder ein adäquates Mittel um schlechte Ratings aufzubessern? Dimitri Kolesew kommentiert auf Znak.

    „Putin liebt nicht nur Kinder, er liebt alle Menschen“ / © Screenshot aus „Moskau. Kreml. Putin.“ vom 02.09.2018/Rossija-1
    „Putin liebt nicht nur Kinder, er liebt alle Menschen“ / © Screenshot aus „Moskau. Kreml. Putin.“ vom 02.09.2018/Rossija-1

    Eine ganze Stunde lang erzählt Moderator Wladimir Solowjow, bekannt für seine Loyalität gegenüber der amtierenden Regierung, ausschließlich positiv, ja mit Begeisterung davon, was der Präsident in den letzten Tagen so alles gemacht hat. In den Kommentaren zur Sendung fühlen sich viele inhaltlich und vom Tonfall her an die preisende Leniniana, das Fernsehen der Breshnew-Zeit oder stalinsche Propaganda erinnert. Von einem neuen Personenkult ist die Rede. Doch im Jahr 2018 fällt es schwer, ein derartiges TV-Format ernstzunehmen.

    Von einem neuen Personenkult ist die Rede

    Die Sendezeit beträgt sechzig Minuten. In seiner gewohnten Manier berichtet Wladimir Solowjow aus dem Studio, was Wladimir Putin in letzter Zeit so alles erlebt hat: Er hat verschiedene Regionen in Sibirien besucht, begabte Schüler im Zentrum Sirius getroffen und mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu und FSB-Chef Alexander Bortnikow zusammen Urlaub in der Taiga gemacht.

    Am Ende der Sendung verraten wir Ihnen, warum Putin so gut in Form ist

    Um über die Handlungen und Erlebnisse des Präsidenten zu diskutieren, werden sogenannte „Experten“ ins Studio eingeladen, wie zum Beispiel der Journalist Pawel Sarubin, der auch für Rossija-1 arbeitet und im Pressepool des Präsidenten mit ihm quer durchs Land fährt, oder der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow. Natürlich können die nur in begeisterten Tönen von Putin sprechen. Pawel Sarubin beispielsweise wundert sich, wie der Präsident ein solch straffes Arbeitspensum meistert. „Ich verstehe nicht, wie man so ein Tempo durchhält, ein Marathon ist das … Anfang der Woche – Kemerowo, Nowosibirsk, Omsk, dann wieder Moskau. Und überall – vergessen Sie das bitte nicht – unterschiedliche Zeitzonen! Und jetzt noch Sotschi. Alles innerhalb einer Woche. Das verlangt höchste Konzentration. Physisch eine echte Herausforderung.“

    „Am Ende der Sendung verraten wir Ihnen die Fitness-Geheimnisse des Präsidenten und zeigen Ihnen, warum er so gut in Form ist“, verspricht Solowjow.

    „Ja! Genau!“, freut sich Sarubin.

    Mit Bergleuten des Kusnezker Beckens spricht Putin über Produktionsrekorde und Pläne für ein glückliches Leben

    Gleich der erste Sendebeitrag lässt Erinnerungen an den Lieben Leonid Iljitsch oder die Lobgesänge auf Stalin wach werden. Die Erzählung beginnt mit einem heiteren Bericht über die Bergleute des Kusnezker Beckens: Was für eine gewaltige technische Ausrüstung (die, wie im Bild zu sehen, größtenteils von ausländischen Marken stammt – Caterpillar und P & H)! Weiter über Produktionsrekorde und Pläne für ein glückliches Leben. „Wie gefährlich und anstrengend die Arbeit der Bergleute ist, weiß Putin aus eigener Erfahrung“, sagt Sarubin. Offenbar ist damit eine einmalige Grubenfahrt gemeint, die der Präsident Anfang der 2000er Jahre in Norilsk unternommen hat. Und die Archivaufnahmen werden mit einem Stolz präsentiert, als hätte Putin da eine wahre Heldentat vollbracht. Am Ende des Beitrags zeigt sich Sarubin freudig überrascht, dass der Präsident bei diesem Anlass sogar ein paar Sekunden aufgebracht hat, damit der Gouverneur die Telefonnummer eines Kumpels notieren konnte. „Ich bin sicher, da folgen noch Telefonate, ob [der Gouverneur] seine Versprechen auch alle gehalten hat. Da versteht der Präsident keinen Spaß“, resümiert Wladimir Solowjow.

    In einem ganz ähnlichen Duktus ist auch der Rest der Sendung gehalten. Zusammen mit dem Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, dem Jedinoross​ Andrej Makarow, „analysiert“ Solowjow Putins Auftritt zur Rentenreform (in Wirklichkeit vergehen beide die meiste Zeit im Chor vor Rührung, wie präzise Putin das Problem und die Lösungsansätze benannt hat). Wieder derselbe Pawel Sarubin erzählt von Putins Besuch im Sirius-Zentrum – auch dieser Beitrag sprüht vor Wohlwollen und entfaltet seine ganze Komik erst angesichts der Nachricht, dass einer der Jugendlichen auf dem Foto mit dem Präsidenten ein Nawalny-T-Shirt trägt.

    Er ist ein sehr menschlicher Mensch

    Dimitri Peskow plappert im TV-Studio fast wortwörtlich die Klischees der Sowjetpropaganda nach: „Putin liebt nicht nur Kinder, er liebt alle Menschen … Er ist überhaupt ein sehr menschlicher Mensch“, sagt Peskow. Die Majakowski-Worte über Lenin als „Der menschlichste Mensch“, sind in Wörterbüchern und Zitat-Sammlungen meist mit der Bemerkung  „in der Regel ironisch verwendet“ versehen, doch hier ist von Ironie nicht viel zu spüren.

    In den Schilderungen Peskows kommt Putin einem mythischen Helden gleich

    Peskow geizt auch nicht mit Lob für seinen Vorgesetzten: Der würde „in Sekundenschnelle auf neue Umstände reagieren“, eigenhändig an seinen Reden arbeiten; er sei „ein Mensch wie jeder andere“, könne jedoch „mit seinen Emotionen ganz feinsinnig umgehen“. Putin schwimme täglich eine Stunde, trainiere im Fitnessstudio, spiele Eishockey usw. In den Schilderungen Peskows kommt Putin einem legendären, mythischen Helden gleich – so habe er zum Beispiel eine ganz besondere Verbindung zu Tieren: „Der Bär ist ja nicht dumm. Wenn er Putin sieht, benimmt er sich natürlich anständig“, sagt Peskow, und aus seinem Munde klingt das nur teilweise wie ein Scherz.

    Der Bär ist nicht dumm. Wenn er Putin sieht, benimmt er sich anständig

    Das Finale von Solowjows Sendung bilden aktuelle Videoaufnahmen von Putins letztem Urlaub in Tuwa, die man sich offenbar eigens für die Premiere von Solowjows Sendung aufgespart hat. Putin wandert durchs Sajan-Gebirge („Acht Kilometer ist er gelaufen!“, begeistert sich wiederum Pawel Sarubin, diesmal aus dem Off), sammelt Beeren und Pilze, geht „bis an den Abgrund“, kocht sich eigenhändig Tee und rettet junge Bäume. Und wieder diese animalischen Motive: Ein Bergadler schwebt über Wladimir Putin, er selbst beobachtet Steinböcke, und auch die haben überhaupt keine Scheu vor dem Staatsoberhaupt, ganz, als hielten sie ihn für einen Artgenossen.

    Auch die Steinböcke haben überhaupt keine Scheu vor dem Staatsoberhaupt

    Nachdem man die Sendung gesehen hat, bleibt ein großes Fragezeichen: Was war das? Der Versuch einen Personenkult zu etablieren, wie manche Kommentatoren sofort danach behaupten? Doch die medialen Techniken, die zu Zeiten von Lenin und Stalin noch durchaus Erfolg hatten, riefen schon in der Breshnew-Periode eher Ärger und Sarkasmus in der Bevölkerung hervor: Zu groß war die Kluft zwischen dem Propaganda-Bild und dem wirklichen Leben. Schwer vorstellbar, dass im Jahre 2018, in Zeiten von Internet, Trollen und allgegenwärtiger Ironie, selbst der konservativste Teil der Bevölkerung einer solchen Berichterstattung glaubt.

    Die staatlichen Sender waren das Zaubermittel, Putins Beliebtheit aufrecht zu erhalten

    Vielmehr wirkt es wie ein ungeschickter Versuch, auf die Schnelle die sinkenden Zustimmungswerte des Präsidenten zu retten. Wladimir Putin und seine PR-Leute scheinen weiterhin bedingungslos an die magische Kraft des Fernsehens zu glauben. Die staatlichen Sender haben Putin 1999-2000 auf den Gipfel der Macht befördert und waren seitdem das Zaubermittel, das die Beliebtheit des Staatsoberhaupts allen Schwierigkeiten zum Trotz aufrecht erhielt.

    Aber die Entwicklung des Internets hat Jahr um Jahr das Monopol der TV-Kanäle untergraben, und die aktuelle Situation um die Rentenreform zeigt, dass das Fernsehen nicht mehr das effektivste Propaganda-Werkzeug ist. Alle Bemühungen der staatlichen TV-Sender konnten die Menschen bisher nicht von der Richtigkeit der Reform überzeugen, und Putins Zustimmungswerte stagnieren auf einem ungewohnt niedrigen Niveau.

    Wenn die Menschen Putin weniger lieben, muss man mehr und besser von ihm sprechen

    Angesichts dessen sind die Kreml-Propagandisten aber nicht so sehr darum bemüht, neue Methoden zu entwickeln – sie intensivieren einfach die erprobten. Wenn die Menschen Putin weniger lieben, dann muss man eben mehr und besser im Fernsehen von ihm sprechen. Doch scheint eine so grobschlächtige, schlecht zusammengezimmerte Propaganda selbst für den unbedarften russischen Zuschauer ein zu großer Fake. Oder denken wir zu gut über ihn?

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Fremdschämen im weißen Kleid

    Fremdschämen im weißen Kleid

    „Die Russen können gut feiern.“ So lautet ein gängiges Klischee, das der Wahrheit entspricht. Aber möchte man bei den Hardcore-Festen a là Hochzeit wirklich dabei sein? Marina Wassiljewa auf Batenka mit einer kleinen Kulturkunde zum Thema große Feste feiern.

    „Guten Abend, meine Damen und Herren! Draußen ist es bitterkalt, aber hier im Saal wärmt uns die herzliche Stimmung. Also nehmt Platz, werte Gäste, macht’s euch bequem, denn so eine Feier, die dauert ihre Zeit. Sucht euch einen gut gelaunten Tischnachbarn und eine hübsche Tischnachbarin. Jeder Dritte ist Kommandeur über eine Feier-Truppeneinheit – zu seinen Pflichten gehört: einschenken, nachschenken, den Tischnachbarn nicht übersehen und sich selbst nicht übergehen.

    Während ihr das erledigt, will ich die Gästeliste überprüfen. Zuallererst die Jubilarin – prächtig wie die Königin von England, schön wie Angelina Jolie, sexy wie Pamela Anderson, klug wie Einstein, tüchtig wie Aschenputtel, reinlich wie Meister Proper – ist anwesend! Und die Gäste – teuer wie die Spieler von Chelsea, lustig wie Regierungsbeschlüsse, feurig wie Shirinowski, großzügig wie arabische Scheichs – alle da! Es kann losgehen! […]“

    So steht es in einem Skript für eine Feier, zu finden in der VKontakte-Gruppe Texte für Feste.

    „Wenn ich das lese, erkenne ich alles wieder“, sagt Nastja aus Ishewsk. „Genau so läuft das ab. Eine irrsinnig aufwändige Hochzeit, auf der ich mal war, fand in Sankt Petersburg statt. Da gab es einen Zauberer, Sandmalerei, einen Schokoladenbrunnen. Die Mutter des Bräutigams hatte eine Schachtel mit exotischen Schmetterlingen mitgebracht. Und dann die Spiele: Triff mit dem Stift in die Flasche. Alle Teilnehmer binden sich ein Band um den Bauch, an dem hinten ein Bleistift oder ein Kugelschreiber baumelt, wie ein Schwanz. Mit dem soll man in eine Flasche zielen. Wenn ich daran denke, ist mir das echt peinlich. Die Finnen haben ein Wort dafür, wenn man sich für jemand anderen schämt. Jemand tut etwas, und du schämst dich.“

    „Es gab durchaus schon mal peinliche Situationen, in denen ich mich geschämt hab“, gibt der Hochzeitsfotograf Walentin zu. „Für den Stumpfsinn und die Blödheit der Leute, die sich bei Spielen irgendwelche Gegenstände hin- und herreichen und die Körper aneinanderreiben.“

    Den angebotenen Aktivitäten kann man sich nicht entziehen

    Bei Nötigungen auf Feiern sehen Anthropologen zwei zentrale Mechanismen am Werk: Erstens ist da der rituelle Aspekt – die Ältesten sind gleichsam Priester, die dafür sorgen, dass die Traditionen streng befolgt werden. Zum anderen – gewöhnliches Mobbing wie in jedem Kollektiv, in dem sich die Mehrheit auf Kosten eines Opfers Bestätigung holt.

    Grafiken © Sascha Krawtschenko
    Grafiken © Sascha Krawtschenko

    An dem Mobbing beteiligen sich in der Regel fast alle Gäste, während die Rolle der Priester bei Familienfeiern die engagiertesten Vertreter der älteren Generation übernehmen – Eltern, Großväter, Großmütter. Sie bestimmen, was wohin kommt, wer sprechen darf und wer nicht, wer was unbedingt gegessen haben muss. Manchmal geht die Priesterrolle auch auf den Moderator über – den Tamada, eine Art Alleinunterhalter.

    Ritual und Mobbing

    Vor ein paar Jahrhunderten hat es im Leben eines Menschen nur ein paar wenige Großereignisse gegeben. Das waren Geburt, Heirat und Tod – Momente, in denen ein Mensch von einem Zustand in einen grundlegend anderen wechselt, daher bezeichnen die Ethnologen diese Ereignisse als „Übergangsriten“. Heute gibt es solche Riten im Grunde nicht mehr: Die Grenzen zwischen den Feiern sind verwischt, Feste wie Geburtstage und Silvester, die man jedes Jahr feiert, sind hinzugekommen. Die Geburt eines Kindes zelebrieren die meisten nicht mehr, weil sie alle Hände voll zu tun haben, Beerdigungen sind immer weniger ritualisiert und gleichen immer mehr jedem anderen Festgelage. Hochzeiten besitzen heute die größte Bedeutung und das größte Gewicht, auch der Ablauf hat sich mit der Zeit fest etabliert: Standesamt, Spaziergang, Essen, Spiele, Tanz.

    Festes Drehbuch sorgt für Wiedererkennung

    Den beiden Mechanismen – Mobbing und Ritual – ist gemeinsam, dass sie einem strengen Drehbuch folgen, ohne jede Improvisation. Und genau deshalb setzt bei Filmen wie Gorko! bei uns dieser Wiedererkennungseffekt ein.

    Kulturanthropologe Michail Okunew erklärt: „Die Witze drehen sich um Alter, Gewicht und Kleidung der Gäste, weil der Moderator Unbekannte zusammenbringen und unterhalten muss – und diese Dinge betreffen ohne jeden Zweifel alle ohne Ausnahme.“

    Während der Feiern führen die Moderatoren häufig Situationen herbei, die es den Gästen schwermachen, sich den angebotenen Aktivitäten zu entziehen, weil alle Blicke auf sie gerichtet sind. Alleinunterhalter Alexander holte zum Beispiel bei einer Veranstaltung einen Gast auf die Bühne, damit der dem jungen Paar gratuliert, aber nachdem der Toast gesprochen war, verkündete Alexander plötzlich laut, der Gratulant würde jetzt „den Mr. Bean tanzen“ und bat den DJ, die Musik zu spielen.

    Und als es ans Brautstraußwerfen ging, forderte er die unverheirateten Frauen auf, vorher Selfies zu machen – erst mit dem ältesten und dann mit dem „sexiesten Mann im Saal“. Alle diese Ankündigungen spricht der Moderator ins Mikrofon, und der, der dann gerade auf der Bühne steht, müsste nicht nur den Tamada enttäuschen, sondern alle Anwesenden, die ihre Blicke auf ihn gerichtet haben und erwarten, dass alles glattläuft und niemand einen Aufstand macht.

    Witze über die Hochzeitsnacht

    „Ein eigenes Thema für Witze ist die Hochzeitsnacht“, erzählt Nastja aus Ishewsk. „Manchmal geht die Feier mehrere Tage lang, und die Gäste kommen am Morgen nach der Hochzeit wieder zusammen. Und dann hörst du irgendeinen Vater oder Onkel sagen: „Sieh an, der Bräutigam kann kaum noch gerade stehen, hat sich wohl mächtig ins Zeug gelegt!“ Oder: „Na Natascha, wie geht’s dir denn so heut‘ Morgen?“ Und natürlich: „Wann kommen die Kinderchen?“ Außerdem lassen sich solche Gäste auch gerne mal volllaufen und baggern dich an. Und du kannst nichts tun und sie zum Teufel jagen, weil deine Mama daneben steht, und wenn du irgendwem eine Abfuhr erteilst, bist du die Zicke. Nein sagen kannst du nicht, das macht alles nur noch schlimmer. Tu lieber so, als hättest du Spaß, dann ist das alles schneller vorbei.“ Nastja meint, man findet man das alles normal, solange man in seiner kleinen Heimat ist, „aber sobald man da rauskommt, merkt man, wie krass das eigentlich ist.

    „In der neunten Klasse war ich auf der Hochzeit meiner ältesten Cousine“, erinnert sich Assja aus Pskow. „Um die fünfzig Leute waren da, und die Schwestern der Frau von Onkel Wassja – jede von ihnen konnte über den ganzen Tisch hinweg irgendwas über die Hochzeitsnacht brüllen oder, dass sie nur ja gleich mit den Kindern anfangen sollen, weil Kinder ja das Wichtigste in der Ehe sind. Für mich war das damals der reinste Schock. Ich war so traurig! In meiner Vorstellung war eine Hochzeit (besonders die meiner Lieblingscousine) was Tolles: Du trägst ein schönes Kleid, bist mit dem Menschen zusammen, den du liebst, alle sind gerührt und beglückwünschen euch.

    Aber stattdessen war ich in einem Schmierentheater gelandet, und jeder konnte ihr die intimsten Fragen stellen, schlüpfrig-debile Anspielungen auf die Hochzeitsnacht machen, und sie saß da in ihrem Kleid, wurde rot vor Scham, schwieg und schaute zu Boden. Nein, natürlich, alle wussten, was eine russische Hochzeit ist, und alle haben genau das erwartet. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass irgendjemand protestiert hätte – wogegen denn? Ist doch normal! Manchmal dachte ich, die Braut würde gleich losheulen und weglaufen, aber alle feierten fröhlich, aßen Salate und tanzten.“

    Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s mal langsam

    Hochzeitsmoderator Alexander lässt Kommentare fallen wie: „Sie sind 70 Jahre alt, Sie können sprechen, solange Sie wollen“, „Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s langsam!“ Aber auf die Frage, ob es eine ungeschriebene Sperrliste von Hochzeitswitzen gibt, sagt er: „Man darf nicht intim werden, nicht die Gäste erniedrigen. Vor allem nichts sagen, was irgendwen beleidigen könnte. Auf keinem Gebiet.“

    Dimitri Piterski, einem anderen Alleinunterhalter, zufolge, hänge es vom „Humorniveau“ des Moderators ab, wie gut ein Scherz ankommt. „Der eine kann locker das Thema Scheidung auf einer Hochzeit anschneiden und die Gäste mit einem spontanen Witz zum Brüllen bringen. Wenn man entsprechende Literatur zu der Frage liest, gibt es eine Reihe von Themen, über die man bei Feiern (und generell) keine Witze macht: Religion, Physiologie, Patriotismus, die eigene Überlegenheit. Die Liste ist lang, aber ich für meinen Teil glaube, intelligente Witze kann man zu jedem Thema machen. Nur dumme Witze sind verboten, und noch dümmer ist es, Witze zu machen, wo sie nicht verstanden werden“, sagt Dimitri.

    Das ist eine Art Traumatherapie

    Auch wenn viele, vor allem junge Menschen zugeben, dass sie sich auf Hochzeiten unwohl fühlen, hat das Fremdschämen offenbar auch was Gutes: In so einem Moment bist du froh, dass das gerade nicht dir passiert. Auf VKontakte gibt es eine Gruppe namens Die Hochzeit deiner Klassenkameradin, die sich im Prinzip genau diesem Gefühl widmet.

    In dieser Gruppe kursieren mehrere Videos, die schnell Hunderttausende von Zuschauern haben und zum Beispiel die Braut dabei zeigen, wie sie über das erste Kennenlernen rappt („Dann holst du mich zum Spazierengehn, komm mal mit, und nun kann’s für immer voll abgehn“), oder wo Hochzeitsgäste sich mit vor den Bauch gebundenen Kissen Wettrennen liefern und so weiter. Den Kommentaren nach zu urteilen, gefällt keinem, was er da sieht – aber man schaut es trotzdem. „Das ist eine Art Traumatherapie“, meint Oleg, einer der Abonnenten. „Viele haben das selbst erlebt, ich zum Beispiel sehe mir das an und denke: Gott sei Dank, dass das diesmal nicht ich bin. Oder: Okay, das ist noch schlimmer als bei uns, wenigstens musste bei uns der Bräutigam nicht aus dem Brautschuh trinken.“

    Oleg erzählt, er sei schon auf vielen Hochzeiten gewesen und habe sich oft unwohl gefühlt. Aber trotzdem fand er es auch lustig. „Das Problem ist, dass alles durcheinander geht. Ich singe zum Beispiel gerne Karaoke, aber dann folgt danach gleich irgendein dämliches Ratespiel, wie: Wer von beiden macht später den Abwasch, und dann wieder was Witziges, und du hast keine Zeit zu reagieren. Naja, eigentlich wie im richtigen Leben.“

    Russische Festrituale können nicht als brutal bezeichnet werden

    Der Anthropologe Michail Okunew findet nicht, dass man russische Festrituale als „brutal“ bezeichnen kann. Vielmehr würden diejenigen, die möglichst unbemerkt bleiben wollen, einfach deshalb von den anderen Gästen zum fröhlichen Mitmachen „gezwungen“, weil die Gäste bereits in einem feierlichen, „rituellen“ Zustand seien und wollen, dass alle Anwesenden diesen Zustand mit ihnen teilen. „Wenn man über Gewalt sprechen will, dann gibt es meiner Meinung nach in der russischen Festtradition nur eine Form: Faustkämpfe, die während der Masleniza und an den kleineren Festen danach, an den Wochenenden bis Pfingsten ausgetragen werden. Ich kann nicht bestätigen, dass es in der russischen oder russländischen Tradition versteckte Formen von Gewalt bei Festen gibt, denn das würde den moralisch-ethischen Normen unserer Kultur widersprechen.

    Ich glaube, das heutige Programm – Essen-Spiele-Tanz – hat seine feste Form schon vor gut fünftausend Jahren angenommen, in der Mittelsteinzeit, als die Jäger von einer erfolgreichen Jagd nach Hause kamen oder es einen anderen religiösen oder gesellschaftlichen Anlass zum Feiern gab. Man bereitete Speisen zu, lieferte sich Wettkämpfe, tanzte zu primitiver Musik ums Feuer und versuchte die junge Frau, die einem gefiel, mit einer nonverbalen ‚Unterhaltung‘ über die Erhaltung der eigenen Art zu beeindrucken. Und das Vollstopfen der Kinder mit Essen ist eine ganz normale Sorge darum, dass ein Kind satt wird. Man sollte da nicht unnötig viel Semantik suchen.“

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  • „Der Geschichte sind die Augen verbunden“

    „Der Geschichte sind die Augen verbunden“

    Sandarmoch ist ein ursprünglich namenloses Waldgebiet in Karelien. In der Zeit des Großen Terrors wurde es neben Kommunarka bei Moskau und Lewaschowo bei Leningrad zu einem der größten geheimen Erschießungsplätze des NKWD. Stalins Schergen erschossen hier 1937/38 mehr als 7000 Menschen und verscharrten sie in Massengräbern. 60 Jahre später wurden sie von Memorial-Mitarbeitern unter Leitung des Lokalhistorikers Juri Dmitrijew entdeckt und zur Gedenkstätte Sandarmorch gemacht.

    Seit 1998 findet am 5. August in Sandarmoch der Tag des Gedenkens der Opfer des Stalinismus statt. In diesem Jahr wird er zugleich ein Tag der Solidarität mit Juri Dmitrijew sein. Dem Memorial-Mitarbeiter wurde erst die Herstellung von Kinderpornografie vorgeworfen. Nach seinem Freispruch im April 2018 läuft nun eine neue Ermittlung: Ihm wird der sexuelle Missbrauch seiner Ziehtochter zur Last gelegt.

    Das Leben der Angehörigen von Opfern des Großen Terrors war geprägt von dem oft unbegreiflichen Verschwinden ihrer Nächsten. Nun kommen Nachfahren derer zu Wort, die in dem Wald Sandarmoch getötet wurden und erst seit 1998 Namen bekommen. Zugehört hat ihnen Anastasija Platonowa für Takie Dela.

    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova
    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

    Taissija Fjodorowna Makarowa, Medweshjegorsk

    Wir waren morgens schon in die Schule gegangen, unser Vater machte sich gerade für die Arbeit fertig. Er war Verwalter eines Warenlagers, das sich gegenüber von unserem Haus befand. So sahen wir ihn nie wieder. Als wir nach Hause kamen, war er nicht da, sie haben ihn direkt von der Arbeit weggeholt. Am selben Abend durchsuchten sie das Haus. Unsere Mutter hatte eine Schatulle, in der sie die Briefe unserer älteren Schwestern aufbewahrte, die in Petrosawodsk lebten. Die Ermittler haben diese Schatulle förmlich umgekrempelt, sonst hatten wir auch nichts, nur unsere Betten.

    Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut

    Das war 1937, ich war zehn Jahre alt. Ich weiß noch, dass sie alle geholt haben. Wir lebten mitten in der Stadt, direkt vor dem Haus war eine Bushaltestelle. Wenn man morgens aus dem Haus ging, gab es da nur Heulen und Tränen. Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut. Bei allen ist jemand geholt worden.

    Auch abends nichts als Tränen. Papas Schwester war zu uns gekommen und meine großen Schwestern aus Petrosawodsk. Wir waren sechs Geschwister. Als unser Vater plötzlich verschwunden war, wurde es bitter. Es war hart.

    Wir haben ihn gesucht, meine Mutter fuhr nach Medweshja Gora, meine Schwestern schrieben Briefe, aber man sagte uns nichts. Nur einmal haben sie ein Päckchen entgegengenommen, mit Schuhen: Der Schnee war mittlerweile schon geschmolzen, aber als man ihn geholt hatte, hatte er noch Filzstiefel an. Ansonsten hörten wir nichts von ihm.

    Taissija Fjodorowna auf dem Gelände des Hotels „Medweshonok“ (dt. „Bärchen“) in Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova
    Taissija Fjodorowna auf dem Gelände des Hotels „Medweshonok“ (dt. „Bärchen“) in Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

    Wir lebten in Powenez, und manchmal wurden am Haus Gefangene vorbeigeführt, zum Kanal [in Powenez befinden sich die ersten Schleusen des Belomorkanals – Anm. Takie Dela], und dann setzten wir uns auf die Bank vor unserem Haus und beobachteten sie: Vielleicht würden wir ja unseren Vater sehen. Es waren viele, sie liefen und liefen und liefen.

    Aber wir sahen ihn nie, unsere Mutter starb, ohne zu wissen, wo er liegt. Wir hörten und wussten also nichts von ihm.

    Wir sahen ihn nie, unsere Mutter starb, ohne zu wissen, wo er begraben liegt

    Erst als die Ausgrabungen bei uns in Sandarmoch losgingen, erfuhren wir, dass er dort ist. Wir sahen im Gedenkbuch nach und fanden seinen Namen. Alle haben geweint, alle. Meine Schwester Raja und ich sind dorthin gefahren, nach Sandarmoch – und es war, als würde die eine Stelle uns besonders anziehen. Dort stellten wir einen Gedenkstein auf.

    Als ich erfuhr, dass mein Vater dort ist, war das bitter. Sie haben ihn nicht leben lassen! Wenn er noch gelebt hätte, wäre ja auch unser Leben ganz anders verlaufen, wir hätten eine Ausbildung machen können …

    Aber wenigstens wissen wir jetzt, wo er ist, können ihn besuchen. Ich glaube, sie haben damals nach „Parasiten“ gesucht, aber mitgenommen haben sie unschuldige Menschen. Diese Menschen hatten nichts verbrochen, sie hätten noch lange leben können …

    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova
    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

    Ljudmila Jakowlewna Stepanowa, Medweshjegorsk

    Sie kamen nachts, klopften an die Tür. Er hat sofort gewusst, was los war: Wir lebten im Dorf, da führte nicht einmal eine richtige Straße hin, wer sollte da sonst mitten in der Nacht kommen? Schon als sie ihn das erste Mal verhaftet und wieder freigelassen hatten, hatte er zu meiner Mutter gesagt: „Dascha, wenn nachts jemand kommt, dann wollen sie zu mir.“

    Und so war es auch. Meine Mutter hat erzählt, dass sie alle Männer aus unserem Dorf geholt haben, alle bis auf den Stallknecht Jascha, den einzigen echten Nichtsnutz. Mama lebte dann mit uns Fünfen, alles Mädchen: Jahrgang 1928, 32, 34, ich von 37 und Walja von 39. Wir zwei Kleinen waren von einem anderen Vater.

    Sie haben alle Männer aus dem Dorf geholt, nur den einzigen Nichtsnutz nicht

    Als der Krieg begann, war ich vier und meine kleine Schwester zwei. Wir wurden nach Saoneshje evakuiert. Nach dem Krieg kehrten wir nach Hause zurück. Ohne Mann hatte es meine Mutter sehr schwer. Sie wurde zur Holzverarbeitung geschickt, meine Schwester und ich waren den ganzen Winter über alleine, da war sie elf und ich acht. Zur Schule bin ich in Soldatenstiefeln gegangen, die ich bei uns im Haus gefunden hatte. Einmal hat meine Mutter darum gebeten, dass man ihr etwas Stoff gibt, damit sie Sachen für uns nähen kann. Da hörte sie: „Halt den Mund. Weißt du, wo dein Mann ist? Da kommst du sonst auch hin.“

    Wir wussten gar nichts von ihm. Nach der vierten Klasse bin ich arbeiten gegangen – meine Mutter hat mich als Kindermädchen nach Medweshja Gora geschickt. Zur Schule bin ich nicht mehr gegangen. Später habe ich am Belomorkanal gearbeitet. Schon damals hat man gesagt, er sei auf Knochen errichtet.

    Schon damals hat man gesagt, der Kanal sei auf Knochen errichtet

    In den 1950er Jahren kam ein Schreiben, dass unser Fjodor in Norilsk an Bauchtyphus gestorben wäre. Dem Schreiben waren 100 Rubel beigelegt. Mama hat dieses Geld auf uns vier Schwestern aufgeteilt, jede bekam 25. Ich habe mir Wollstoff gekauft, für ein Kleid.

    Später stellte sich heraus, dass er nie in Norilsk gewesen war. In den 1990ern bekamen alle, deren Eltern erschossen wurden, sogenannte Gedenkbücher. Da haben wir ihn dann gefunden. Und nicht nur ihn, sondern alle aus dem Dorf. Da war sein Bruder und der Mann seiner Tante, Gorbatschow. Ich war erschüttert: Sie hatten uns gesagt, er wäre irgendwo in Norilsk gestorben, und plötzlich liegt er hier, ganz in der Nähe! 40 Kilometer hatte man ihn weggebracht und erschossen.

    Ljudmila Jakowlewna / Foto © Anna Ivantsova
    Ljudmila Jakowlewna / Foto © Anna Ivantsova

    Meiner Meinung nach liegt die Verantwortung bei der obersten Führung unseres Landes. Vollkommen unschuldige Menschen sind umgekommen. Er war Flößer – was soll er angestellt haben? Er hat Holzstämme zusammengebunden. Das war das reinste Verbrechen: Alle Männer haben sie vor dem Krieg weggeholt.

    Tamara Semjonowa Schikowa, Sosnowka

    Meine Großeltern mütterlicherseits, Alexandra Dmitrijewna und Iwan Fjodorowitsch, lebten damals im Rajon Kalinin. 1937 wurde mein Großvater geholt. Wir haben nie wieder von ihm gehört. Nur von einem ehemaligen Nachbarn, dass er ihn 1941 in einem Strafbataillon gesehen habe, das in südlicher Richtung abgeführt wurde. Dort ist er auch gestorben.

    Meine Großmutter hatte fünf Kinder, ihr war klar, dass sie alleine nicht überleben würde. Deshalb beschloss sie, nach Leningrad zu fahren und die Kinder dort am Bahnhof zu lassen, damit man sie in ein Kinderheim bringt.

    Am Ufer des Onegasees in Sosnowka / Foto © Anna Ivantsova
    Am Ufer des Onegasees in Sosnowka / Foto © Anna Ivantsova

    Großmutter hat nie wieder geheiratet, sie hat immer gesagt, so einen wie ihren Wanetschka würde sie nicht noch einmal finden. Aber darüber zu sprechen hatten wir Angst, das ganze Leben lang hatten wir Angst davor und wenn ich sie bat: „Oma, lass uns doch versuchen, ihn zu finden“, sagte sie: „Lass ruhen. Ich fürchte mich vor diesen Zeiten.“

    Ich habe in den Listen nach ihm gesucht, aber nichts gefunden.

    Ich habe deinen Wanja denunziert

    Was damals geschehen ist, kann ich noch immer nicht begreifen. Noch vor dem Krieg war ein Nachbar zu meiner Großmutter gekommen. Er warf sich vor ihr nieder und sagte: „Alexandra Dimitrijewna, verzeih mir. Ich war es, ich habe deinen Wanja denunziert.“ Er hatte ihn aus purem Neid angezeigt, mein Großvater war ein tüchtiger Mann, fleißig und geschickt. Dafür musste er büßen. Wie soll man sich das erklären? Der Nachbar hat alles zugegeben, hat um Verzeihung gebeten. Aber sie hat zu ihm gesagt: „Gott wird dir vergeben, ich kann das nicht.“

    Tamara Semjonowa / Foto © Anna Ivantsova
    Tamara Semjonowa / Foto © Anna Ivantsova

    Sandarmoch war schon immer ein unguter Ort. Selbst als dort noch nichts entdeckt war und wir nichts davon wussten. Einmal sind mein Mann und ich mit dem Fahrrad in die Pilze gefahren. Wir fuhren weit, bis in dieses Waldstück. Als wir anfingen Pilze zu suchen, wurde mir plötzlich ganz anders. Da habe ich zu meinem Mann gesagt: „Edik, lass uns schnell hier weg, mir ist hier ganz unheimlich.“

    Alexandra Alexejewna Bassalajewa, Pinduschi

    Beide meiner Großväter waren Repressierte. Papas Vater war Pionier bei der Leibgarde, hatte in der Schützenbrigade beim Semjonowski-Leibgarderegiment gedient. Er wurde mit zwei Georgskreuzen ausgezeichnet – 1. und 4. Grades.

    In der Kolchose war er Brigadier, irgendwer hat ihn angezeigt: Man machte ihn für den Tod eines Pferdes verantwortlich, dafür kam er für zehn Jahre ins Lager nach Komi. Er hat überlebt, aber er kam als gebrochener kranker Mann zurück.

    Mamas Vater war ein Kulak: Zwei Desjatinen [circa zwei Hektar – dek] Land, Waldbestand. Sie kamen nachts. Der Vorsitzende der Kolchose hatte ihn angezeigt, und er wurde erschossen, er liegt bei Leningrad. Meine Mutter hat mir von meinem Großvater erzählt. Was für ein guter Mann im Haus er war, sehr ordentlich, ein kluges Köpfchen. Aber immer, wenn sie das erzählte, fügte sie hinzu: „Sascha, sag das nur ja niemandem.“ Außerdem sagte sie: „Der Geschichte sind die Augen verbunden, aber wenn die Zeit gekommen ist, wird sich alles offenbaren. Die Leute werden erfahren, was 1937/38 vor sich ging.“

    Alexandra Alexejewna auf der Bank im Hof ihres Hauses in Pinduschi / Foto © Anna Ivantsova
    Alexandra Alexejewna auf der Bank im Hof ihres Hauses in Pinduschi / Foto © Anna Ivantsova

    Ich verstehe nicht, wofür man völlig unschuldige Menschen erschossen hat

    Als ich 1997 von Sandarmoch erfuhr, war ich erschüttert. Ich fahre seitdem jedes Jahr am 5. August dorthin. Lege Blumen an einem der Gräber nieder und denke an meine Großväter. Ich verstehe nicht, wofür man völlig unschuldige Menschen erschossen hat. Ich habe an den FSB geschrieben, sie haben mir beide Akten geschickt, von dem einen und dem anderen Großvater. Das ist ein einziger Witz! Stalin hat damals verkündet, der Klassenkampf werde verschärft, also haben sie angefangen, kräftige Männer mit einem gut laufenden Hof zu verhaften.

    Die Großeltern Alexandra Alexejewnas / Foto © Anna Ivantsova
    Die Großeltern Alexandra Alexejewnas / Foto © Anna Ivantsova

    Jelena Jerschowa, Brjuchowo:

    Irgendwie hat es meine beiden Eltern nach Brjuchowo verschlagen.

    Meine Urgroßmutter väterlicherseits erzählte, dass sie nachts gekommen sind und meinen Urgroßvater mit einem Schwarzen Raben weggebracht haben. Sie und ihre beiden Söhne wurden nach Karelien deportiert.

    Meine beiden Urgroßeltern waren Finnen. Pjotr Fjodorowitsch und Anna Dawydowna Rantanen, sie hatten im Leningrader Rajon Toksowo gelebt.

    Auch mein Opa mütterlicherseits war Repressionen ausgesetzt: Im Krieg war er gefangengenommen worden, aus dem Lager befreiten ihn die Amerikaner. Zurück in der UdSSR wurde er sofort verhaftet und ebenfalls nach Karelien deportiert.

    Jelena Jerschowa / Foto © Anna Ivantsova
    Jelena Jerschowa / Foto © Anna Ivantsova

    An meine Uroma erinnere ich mich noch deutlich. Sie sprach sehr gut Finnisch und hat sich immer von der Masse abgehoben: Sie beherrschte mehrere Sprachen, nähte außergewöhnliche Kleider, sah einfach ganz anders aus …

    Ich denke, meine Familiengeschichte ist nur ein Millionstel von dem, was im Land los war

    1956 bekam sie mit der Post eine falsche Todesurkunde. Darin hieß es, mein Urgroßvater sei 1942 in der Oblast Kirowo an einem Lungenabszess gestorben. In Wirklichkeit ist er fast direkt nach seiner Verhaftung erschossen worden. Das haben wir erst erfahren, als die Archive geöffnet wurden.

    Die „Kirche zur Geburt der heiligen Mutter Gottes“ / Foto © Anna Ivantsova
    Die „Kirche zur Geburt der heiligen Mutter Gottes“ / Foto © Anna Ivantsova

    Ich denke, meine Familiengeschichte ist nur ein Millionstel von dem, was im Land los war. Die Menschen sind durch die Hölle gegangen. Über Sandarmoch wissen wir zumindest Bescheid, aber wie viele solcher Massengräber gibt es wohl noch entlang des Kanals, die niemals jemand finden wird?

    Die Menschen sind durch die Hölle gegangen

    Bei uns in Brjuchowo stand immer eine eingefallene Holzkirche. Schon in den 1930er Jahren wurde sie geschlossen, bis 1942 fanden Gottesdienste darin statt, es gab einen Altar. Dann stand sie lange Zeit leer, war dem Verfall ausgesetzt, und uns blutete das Herz. Jetzt wird sie wieder aufgebaut. Diese Kirche und Sandarmoch – das ist ein und dieselbe Epoche. Wir bauen auf, was zerstört wurde, wir beschäftigen uns mit unserer Geschichte – damit unsere Kinder eine Zukunft haben.


    Text: Anastasija Platonowa
    Fotos: Anna Ivantsova
    Übersetzung: Jennie Seitz
    erschienen am: 03.08.2018

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Der Fall Schaninka: „Es ist eine Farce“

    Der Fall Schaninka: „Es ist eine Farce“

    Die Nachricht erschüttert die Wissenschaftsszene: An der Moscow School of Social and Economic Sciences, einer der renommiertesten Hochschulen in Russland, dürfen keine staatlichen Diploma mehr erworben werden. Das gab das Rosobrnadsor, die staatliche Aufsichtsstelle für Bildung und Wissenschaft, Ende Juni bekannt. Zuvor hatte die Aufsichtsbehörde an der Schaninka, so wird die Hochschule nach ihrem britischen Gründer Teodor Shanin genannt, eine Überprüfung durchgeführt, die notwendig ist für die sogenannte Akkreditierung der Hochschule. 
    Den Vorwurf des Rosobrnadsor, dass an der renommierten Schaninka bestimmte Bildungsstandards nicht eingehalten würden, halten viele für einen Vorwand. Unabhängige Beobachter werten die Entscheidung vielmehr als politisch motiviert. Die Schaninka pflegt enge Verbindungen nach Großbritannien. So können Studenten der Schaninka ihr Studium auch mit einem Diplom an der University of Manchester abschließen. Die Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien jedoch gelten seit dem Fall Skripal als stark belastet.

    Auch ohne staatliche Diplome können Studierende ihr Studium an der Schaninka abschließen und haben als Alumni dieser renommierten Hochschule hervorragende Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Was derzeit vielen Sorgen bereitet, ist vielmehr die Frage, wie frei Lehre und Forschung in Russland sind.
    Erst im September vergangenen Jahres hatte eine andere renommierte unabhängige Privathochschule – die Europäische Universität Sankt Petersburg – sogar ihre Lehr-Lizenz verloren. Inzwischen wird dort nur noch geforscht.

    Die Schaninka erfährt derzeit viel Solidarität, mehr als 200 russische und internationale Wissenschaftler protestierten in einem offenen Brief gegen die Entscheidung des Rosobrnadsor.

    Meduza hat mit dem Dekan der Soziologischen Fakultät Viktor Wachstein gesprochen. Auf Snob kommentiert Boris Grosowski den Fall.

    Viktor Wachstein: „Noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität erlebt wie jetzt.“ / Foto © Viktor Wachstein/vk.com
    Viktor Wachstein: „Noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität erlebt wie jetzt.“ / Foto © Viktor Wachstein/vk.com

    Taissija Bekbulatow: Wie kann es sein, dass an einer Hochschule, die in diversen Rankings an der Spitze steht, so viele Verstöße [gegen die staatlichen Bildungsstandards – dek] gefunden werden?

    Viktor Wachstein: Lassen Sie uns diese Verstöße einmal genauer ansehen. Zum Beispiel gilt es als Verstoß, wenn ich mit meinen Studenten für ein Praxisseminar die Stadt verlasse. Das sind Studenten der Soziologie – Feldforscher.
    Ein weiterer Kritikpunkt sind die fehlenden Laborpraktika in Geschichte der Politik-  und Rechtswissenschaften. Ich finde, diese ganze Farce mit der Akkreditierung an sich ist schon ein ziemlich gutes Laborpraktikum in der neuesten Geschichte der Politikwissenschaft.
    Zu den anderen Verstößen äußere ich mich nicht. Nicht einer davon hat etwas mit der Qualität der Lehre zu tun.

    Wie bewerten Sie die Vorwürfe insgesamt?

    Als bürokratischen Versuch, eine unvoreingenommene Beurteilung der Qualität von Lehre und Forschung zu imitieren.

    Zu welchem Zeitpunkt wurde Ihnen klar, dass es Probleme geben könnte?

    Den Verdacht hatte ich schon sehr früh. Als sie [die Inspektoren – dek] in die Hochschule kamen, haben sie zunächst wirklich gearbeitet – haben dagesessen und Berge von Papier durchwühlt: Die Unterlagen meines Fachbereichs passen nicht alle in mein Büro, ich musste sie im Büro des Hochschulpräsidenten stapeln. Aber dann plötzlich haben sie alles stehen und liegen gelassen und sind weggefahren. Und dann natürlich die Gespräche hinter verschlossenen Türen. Auch mit den Experten.

    Eine Frage, die sich aufdrängt: Warum das alles?

    Das weiß niemand. Nur eines ist klar – die Qualität der Lehre und Forschung ist nicht der Grund für die Entziehung der Akkreditierung.

    Wenn die Entscheidung nicht vom Rosobrnadsor kommt, von wem dann?

    Ich habe nicht die geringste Ahnung.

    Inwiefern könnte die Situation mit den zunehmend schlechten Beziehungen zum Vereinigten Königreich zusammenhängen, wegen denen schon der British Council seine Arbeit einstellen musste?

    Wir verlieren uns hier gerade in Mutmaßungen. Das ist einfach nur eine mögliche Variante. Ich persönlich denke, dass das vielleicht auch ein Grund war. Aber wohl kaum der Hauptgrund.
     
    Glauben Sie, dass der FSB etwas mit den Vorwürfen zu tun haben könnte?
     

    Aktuell habe ich keinen Anlass, das zu glauben. Aber ich verfolge die Entwicklungen aufmerksam.
     
    Wie schätzen Sie die realen Folgen ein, welchen Schaden könnte die Entscheidung der Hochschule zufügen? Und auch den Studierenden?
     

    Es wird sich natürlich auf die Bewerberzahlen niederschlagen. Aber vermutlich nicht zu stark. Unsere Studenten kommen nicht wegen der staatlichen Diplome.
    Die Schaninka hatte die längste Zeit ihrer Geschichte keine [staatliche – dek] russische Akkreditierung. Und sie ist bestens ohne sie ausgekommen.
     
    Wie ist die Stimmung an der Schaninka?
     

    Ganz ehrlich, egal, was für Motive diejenigen haben, die uns damit zeigen wollten: „Für euch ist hier kein Platz“ – sie haben das genaue Gegenteil erreicht. Ich bin schon mein halbes Leben mit der Schaninka verbunden, aber noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität unter Studenten, Professoren und Ehemaligen erlebt wie jetzt.


    „Es gibt nur noch wenig Freiheit für Forschung und Lehre“

    Der Fall Schaninka ist Ausdruck einer fatalen Entwicklung in der russischen Hochschullandschaft, kommentiert Boris Grosowski auf Snob.

    Noch setzt die „Schaninka“ ihre Arbeit fort –  staatlich anerkannte Diplome ausstellen darf sie jedoch nicht. Foto © Moscow School of Social and Economic Sciences
    Noch setzt die „Schaninka“ ihre Arbeit fort – staatlich anerkannte Diplome ausstellen darf sie jedoch nicht. Foto © Moscow School of Social and Economic Sciences

    Die Schaninka ist die führende Universität in Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie, in der Erinnerungsforschung und Geschichte der sowjetischen Zivilisation und in vielen anderen Bereichen. In einem Vierteljahrhundert wird man sich an die Angriffe gegen sie und an die Geschichte der Europäischen Universität in etwa so erinnern wie heute an die Zerschlagung der Genforschung und an die Schließung des Meyerhold-Theaters und an den Philosophen-Dampfer, der 1922 vom russischen Ufer ablegte. 

    Außerdem ist mittlerweile die seit Jahren laufende Zertrümmerung der RGGU vollbracht, und die Europäische Universität in Sankt Petersburg hat ihre Lehre eingestellt.

    Bürokratisches Aufsichtssystem

    Aber das Wichtigste ist: Es wurde ein bürokratisches Aufsichtssystem für Hochschulen geschaffen, das es ermöglicht, jede Uni wegen Verstößen gegen tausende kleiner formaler Anforderungen zu schließen. Es trägt den nicht allzu wohlklingenden Namen: Föderale Aufsichtsstelle im Bereich Bildung und Wissenschaft.

    Die gesamte Arbeit einer Hochschule ist nun der Bürokratie untergeordnet: Der Wust an Dokumenten, die der Föderalen Aufsichtsstelle vorzulegen sind, übersteigt alle Grenzen der Vernunft. Die Dozenten, Institute, Fakultäten, Bachelor- und Master-Programme produzieren tonnenweise vollkommen sinnlose Berichte.

    Über die Qualität der Lehre und Forschung sagen diese allerdings nichts aus. Die Föderale Aufsichtsstelle hat ein Aufsichtssystem geschaffen, das den Dozenten, Forschern und Universitätsmanagern das Leben unmöglich macht und das die besten Universitäten des Landes planmäßig vernichtet. Diese Aufsichtsstelle Rosobrnadsor sollte mitsamt ihrem Kontrollsystem dringend abgeschafft werden. Aber die Regierung hat andere Pläne. Sie will diese Aufsichtsstelle nicht abschaffen, sondern ihr sogar noch das Recht erteilen, wissenschaftliche Einrichtungen zu prüfen.

    Ein System, das besten Universitäten das Leben unmöglich macht und sie planmäßig vernichtet

    Die Autonomie der Universitäten und der Wissenschaft im weiteren Sinne ist eine der wichtigsten Errungenschaften in der Geistesgeschichte. In Russland ist es damit nun vorbei. Dabei ist die Bildungsaufsicht nur ein kleiner Schritt auf Russlands Weg in eine noch härtere Form des Autoritarismus. 
    Die Geheimdienste brauchen keine Universitäten oder Forschungseinrichtungen, diese Brutstätten des freien Denkens. Wozu braucht es schon die sozial- und geisteswissenschaftliche Expertise der Schaninka? Wir haben eine ganz andere Art von Expertise: Ein vom Geheimdienst beauftragter Experte meldet, der Historiker Juri Dmitrijew beschäftige sich mit Kinderpornografie.

    Es ist an der Zeit, offen zuzugeben, dass die Geheimdienste hinter der Zerstörung der Hochschulen stehen. Gleichsam als Vermächtnis der Väter träumen sie von jener Macht, über die die Tschekisten in der Sowjetunion verfügten, als sie der Genetik und der Molekularbiologie einen Riegel vorschoben.

    Gigantische Liste von Minimalverstößen

    Noch setzt die Schaninka ihre Arbeit fort, sie darf „nur“ keine staatlich anerkannten Diplome mehr ausstellen (so festgelegt für zwei Studienjahre). Aber bedenkt man die gigantische Liste von Minimalverstößen, die die Inspektoren bei der Schaninka festgestellt haben, fürchte ich, dass der Entzug der Lizenz nur eine Frage der Zeit ist. Oder eine Frage der „Kompromissfähigkeit“ der Leitung dieser Bildungseinrichtung und ihrer Fürsprecher bei der RANCHiGS (allein die Kooperation dieser staatlichen Akademie mit der nicht-staatlichen Schaninka lässt die für die Bildung zuständigen Geheimdienstler wohl wütend mit den Zähnen knirschen).

    Eine gute Prognose lässt sich hier leider nicht machen. Die Freiheit der Forschung und Lehre wird zunehmend aus den Unis verjagt. Entweder weil Lizenzen entzogen oder weil fähige Forscher und Dozenten ersetzt werden.

    Die 2010er haben sich als äußerst schwere Zeit für die russische Wissenschaft und Bildung erwiesen. Und es wird eher schlimmer als besser.

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  • Juristische Sonderwege

    Juristische Sonderwege

    Nach dreieinhalb Jahren Haft kam Oleg Nawalny am 29. Juni 2018 auf freien Fuß. Zu diesem Strafmaß wurde er 2014 verurteilt, genauso wie sein Bruder. Die Strafe des prominenten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny wurde allerdings auf Bewährung ausgesetzt. Die Anklage lautete auf Betrug des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher, mit dem eine Firma der beiden Brüder Geschäfte gemacht hatte.

    Schon während des Prozesses betonte Alexej Nawalny, dass die Anschuldigungen haltlos seien und sein Bruder nur in Sippenhaft genommen worden sei. Auch Vertreter von Yves Rocher bestritten während des Prozesses die Vorwürfe und äußerten mehrfach, die Geschäfte seien zur Zufriedenheit beider Seiten abgewickelt worden. Unabhängige Beobachter attestierten dem Verfahren einen politisch-motivierten Hintergrund. Schließlich befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Oktober 2017 das Urteil des russischen Gerichts als „willkürlich und deutlich rechtswidrig“.

    Diese vernichtende Einschätzung quittierte das Präsidium des Obersten Gerichtshofes Russlands Ende April 2018 mit Schulterzucken: Das Urteil sei rechtsgültig, die Nawalny-Brüder bleiben vorbestraft. Damit zahlt der russische Staat ihnen auch die vom EGMR zugesprochene Entschädigung von insgesamt 97.000 US-Dollar nicht.

    Warum diese Entscheidung einer Bankrotterklärung des russischen Rechtssystems gleiche und was man tun müsse, um aus Russland einen Rechtsstaat zu machen – das erklärt Alexander Wereschtschagin auf Republic


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Nach dreieinhalb Jahren wird Oleg Nawalny Ende Juni 2018 aus der Haft entlassen / Foto © navalny.com
    Nach dreieinhalb Jahren wird Oleg Nawalny Ende Juni 2018 aus der Haft entlassen / Foto © navalny.com

    Die Entscheidung des Obersten Gerichts im Fall Yves Rocher (so heißt der Fall der Nawalny-Brüder) kann zugleich als Urteil über das russische Rechtssystem angesehen werden.

    Das Präsidium des Obersten Gerichts ist die höchste gerichtliche Instanz der Russischen Föderation, gegen deren Entscheidung man nirgendwo im Land Berufung einlegen kann. Es hatte sich mit dem Fall befassen müssen, weil der Europäische Gerichtshof in Straßburg (EGMR) darin eine Reihe von Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention erkannt hat. Nach russischem Recht ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ein „neuer Sachverhalt“ und somit ein Grund für eine Revision des Falls.

    Urteilsaufhebung oder Urteilsabänderung – das sind die beiden Möglichkeiten, die das Gesetz dem Präsidium lässt. Die Möglichkeit, es unverändert beizubehalten, gibt es nicht.

    Aber wie es bei uns so schön heißt: „Willst du was und darfst es nicht, musst du’s nur wirklich wollen.“ In diesem Fall wollte man es wirklich. Und so verkündete das Präsidium einen abenteuerlichen Beschluss, der vom Gesetz nicht vorgesehen ist: Das Urteil im Fall Yves Rocher wird nicht geändert.

    Eine Frage der Technik

    Gerechterweise muss man sagen, dass es das zwar sehr selten, aber nicht zum ersten Mal gibt. Das Präsidium hat lange darauf hingearbeitet. Schon vor zehn Jahren tauchten in seiner Verordnung interessante Formulierungen auf. Denen zufolge hat das Präsidium eine Zusatzbedingung für die Revision eines Falls aufgestellt: Es ist nicht genug, dass der Europäische Gerichtshof Verstöße attestiert. Die Urteile, in denen er sie vorfindet, müssen auch rechtswidrig, unzulässig oder unbegründet sein.

    Was folgt, ist eine Frage der Technik: Man braucht nur noch zu beweisen, dass ein Urteil, das nach Ansicht des EGMR gegen die Konvention verstößt, doch rechtmäßig, zulässig und begründet ist. Aber weil es keine gerichtliche Instanz gibt, die über dem Präsidium steht und vor der man sich streiten könnte, muss das Präsidium letztlich nur sich selbst überzeugen.

    Und genau das hat es getan – in einem beispiellos langen Urteil (etwa zehn Mal so lang wie üblich), das zunächst einmal in allen Einzelheiten darlegt, was für Gauner die Nawalny-Brüder sind. Dann haspelt das Präsidium im Schnelldurchlauf runter, dass „der Europäische Gerichtshof das Strafverfahren […] für ‚fundamental‘ ungerecht hält“, dann verkündet das Präsidium ohne Umschweife: „Ich bin aber anderer Meinung als der Europäische Gerichtshof!“, und bekräftigt seine Position mit einem erneuten Wortschwall über die kriminellen Machenschaften der beiden Brüder und die Gerechtigkeit ihres Gerichtsverfahrens. Und alles nur, um zum erwünschten Schluss zu kommen: Das Verfahren wird wieder aufgenommen, aber die Gerichtsurteile bleiben unverändert.

    Ich bin aber anderer Meinung als der Europäische Gerichtshof!

    Es ist das erste Mal, dass das Präsidium dem EGMR in der Sache widersprochen hat, wobei es nicht um Aspekte der Prozessführung, sondern um die Bewertung der materiellen Norm selbst geht: Der EGMR wirft den russischen Gerichten vor, das Strafgesetz zu breit und willkürlich ausgelegt zu haben, wodurch eine gewöhnliche unternehmerische Aktivität kriminalisiert wurde; das Präsidium kann nichts dergleichen erkennen und beharrt stur auf seinem Standpunkt, womit es der Position des Europäischen Gerichtshofs jede juristische Bedeutung abspricht.

    Genetische Gründe

    Kommt diese Entscheidung, trotz ihrer Präzedenzlosigkeit, wirklich überraschend? Wohl eher nicht. Eine echte, grundlegende Reform hat es in den letzten 30 Jahren nicht gegeben; allenfalls oberflächliche Reförmchen – Reparaturen und Rekonstruktionen, die das Wesen des Systems nicht berührten. Von der Justiz als einem eigenständigen Zweig der Staatsgewalt kann keine Rede sein, eigenständig ist sie nur in nebensächlichen Fragen (wie jedes andere Verwaltungsorgan auch), in prinzipiellen Fragen jedoch werden ausschließlich Urteile gesprochen, die der Obersten Gewalt genehm sind – in Russland ist die verkörpert durch den Präsidenten. Und der sieht in Nawalny, wie wir alle wissen, seinen Feind (wozu er natürlich allen Grund hat).

    Auf diese Weise bleibt unserem Gerichtssystem das Sowjetische in den Genen. Und ein sowjetisches Gericht ist den Feinden des Regimes gegenüber erbarmungslos, sie dürfen kein Wohlwollen, ja nicht einmal bloße Objektivität von ihm erwarten. Als 1952 das Kriegskollegium des Obersten Gerichts sich mit dem Fall des sogenannten Jüdischen Antifaschistischen Komitees befasste, war es das Politbüro, das die Richter anwies, alle Angeklagten bis auf einen zum Tode zu verurteilen.

    Neues Gericht statt Reform

    Was sich heute von damals unterscheidet, ist allein die Schwere der Urteile und die Zahl der Personen, die das Regime als seine Feinde ansieht. Ihre Chancen auf ein faires Verfahren sind nach wie vor gleich Null. Und das ist nur natürlich, denn an der Macht sind Sowjetmenschen, deren Gewohnheiten, Stereotypen und Vorstellungen von Rechtsprechung aus einer Epoche stammen, in der Recht nichts anderes war als der Wille der herrschenden Klasse, und das Gericht – sein Werkzeug.

    Das Wesen der sowjetischen Justiz ist simpel: Ein „böser Mensch“ muss verurteilt werden, egal wie. Formalitäten, und erst recht die Meinung eines „bourgeoisen“ Gerichts in Straßburg, dürfen dem „Triumph der Wahrheit“ in seinem spezifisch sowjetischen Sinn dabei nicht im Weg stehen: „Der Feind gehört ins Gefängnis“, oder wenigstens schuldig gesprochen.

    Die einen kann man nicht zur Rechenschaft ziehen, weil sie an der Macht sind, die anderen sind machtlos gegen alle falschen Vorwürfe

    Es gibt einen bestimmten Kreis von Personen, bei denen Rechtsprechung unmöglich ist: Die einen kann man nicht zur Rechenschaft ziehen, weil sie an der Macht sind, die anderen sind machtlos gegen die Vorwürfe, die man gegen sie erhebt, weil sie entweder Feinde der Ersteren sind oder als ein machtfeindliches Element gelten.

    Letztendlich läuft es auf die Frage hinaus, ob unsere Richter-Kaste ihre „sowjetischen Gene“ überwinden kann, die sie dazu bringen, sich in jedem politisch gefärbten Fall automatisch auf die Seite der Macht zu stellen. So lange dieser Umbruch noch nicht vollzogen ist (und der Fall Yves Rocher ist eine weitere verpasste Chance), kann von einem Rechtssystem im wahren Sinne des Wortes nicht die Rede sein. Deshalb sollten wir endlich nicht mehr über Reformen diskutieren, sondern darüber, ein neues Rechtssystem zu schaffen. 

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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