дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Sprache in Zeiten des Krieges

    Sprache in Zeiten des Krieges

    Ende April hat die ukrainische Rada ein neues Sprachgesetz beschlossen. Es soll das Ukrainische stärken und sieht es unter anderem als einzige Sprache in öffentlichen Einrichtungen vor. Außerdem ist etwa auch eine höhere Quote für Ukrainisch in Filmen und TV- und Radiosendungen vorgesehen (bei landesweiten Medien soll sie von 75 auf 90 Prozent steigen, bei Regionalsendern von 60 auf 80 Prozent). Landesweit soll das Erlernen der ukrainischen Sprache gefördert werden. Gleichzeitig sieht das Gesetz Geldstrafen vor, wenn die neuen Regelungen nicht eingehalten werden.

    Seit der Unabhängigkeit 1991 ist das Ukrainische alleinige Amtssprache, mit dem Krieg in der Ostukraine und nach Angliederung der Krim 2014 wurde die russische Sprache zunehmend zum Politikum. So wurde das neue Sprachengesetz verabschiedet unmittelbar nachdem Russlands Präsident Putin einen Erlass unterzeichnet hatte, der es den Bewohnern der besetzten Gebiete erleichtern soll, die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

    Bereits im Vorfeld hatte es heftige Debatten um das neue Gesetz gegeben. Tatsächlich ist die Ukraine ein zweisprachiges Land, wobei Ukrainisch vorwiegend im Westen, Russisch vorwiegend im Osten und Süden gesprochen wird. Viele Ukrainer sind bilingual: So sprechen einer aktuellen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) zufolge 46 Prozent der Befragten hauptsächlich oder ausschließlich Ukrainisch mit ihrer Familie, 28,1 Prozent Russisch und 24,9 Prozent Ukrainisch und Russisch (die umkämpften Gebiete im Donbass und die Krim sind von solchen Umfragen ausgenommen).
    Der neu gewählte ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky, der vorwiegend Russisch spricht, kündigte schließlich auch an, das Gesetz nach seinem Amtsantritt prüfen zu wollen.

    Auf Republic kommentiert Wladimir Pastuchow, Politologe am Londoner University College, das neue Sprachengesetz und befindet, es sei „das beste Geschenk, das man Putin in fünf Jahren Krieg machen konnte“. 

    Irgendwie bekommt man den Eindruck, als hätte man weder in Moskau noch in Kiew verstanden, was bei dieser Wahl eigentlich passiert ist – und ob überhaupt was passiert ist. Bis jetzt tun alle so, als wäre Selensky ein Stein im Schuh des „großen Spiels“, das die „ernsthaften Männer“ miteinander spielen. Und die sind entschlossen, in der Zeit bis zur Amtseinführung eine so vielversprechende Agenda vorzulegen, dass dem neuen Präsidenten das Lachen vergeht. Poroschenko wirkt bei diesem Unterfangen nicht weniger einfallsreich als Putin. Blitzartig beförderte er die Sprachenfrage, die lange irgendwo in der Mitte der To-do-Liste vor sich hin geschmort hatte, ganz nach oben. So wird Selensky sich zum Auftakt wohl nicht mit prosaischen Dingen wie Korruption abgeben dürfen, sondern gleich eine Grundsatzdiskussion führen. Diese wird nicht leicht und allem Anschein nach langwierig.

    Die Kompassnadel spielt verrückt

    Was die europäische Integration angeht, spielt die Kompassnadel offenbar völlig verrückt und zeigt in eine ganz andere Richtung – in der man mit europäischen Werten kreativer umgeht als in der EU selbst. Ein kurzer Blick auf die europäische Praxis zeigt, dass die Ukraine hier alles andere als im Trend liegt.

    In Finnland, wo die schwedischsprachigen Finnen etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind die Amtssprachen Finnisch und Schwedisch; jede Schule muss das Recht auf schwedischsprachigen Unterricht für schwedische Muttersprachler gewährleisten. Auf den Åland-Inseln ist Schwedisch die einzige Amtssprache. Darüber, dass die Straßennamen dort allesamt zweisprachig sind, hat schon jeder geschrieben, der sich nicht zu schade war. Und selbstverständlich senden die Medien für jedes Publikum in der jeweiligen Sprache.

    In Belgien verteilen sich die beiden großen Sprachgruppen – Französisch und Niederländisch – auf etwa 40 zu 60 Prozent. Es erstaunt nicht weiter, dass beides Amtssprachen sind. Erstaunlich ist allerdings, dass wegen eines winzigen deutschsprachigen Bevölkerungsanteils Deutsch die dritte Amtssprache ist.

    Mindestens seltsam

    Vor diesem Hintergrund sieht die Ukraine, die das Russische nicht als Amtssprache anerkennen will, mindestens seltsam aus – nach vorsichtigsten Schätzungen beträgt hier der Anteil der russischen Muttersprachler 30 Prozent. Natürlich können Verweise auf fremde Erfahrungen nichts beweisen – auf der Welt gibt es alle möglichen Erfahrungen.

    Und die Einwände liegen auf der Hand. Die Schweden versuchen nicht, Finnland zu besetzen, und die Deutschen marschieren nicht durch Antwerpen. Das ist richtig, auch wenn die Schweden Finnland einst besetzt hatten und die Deutschen durch Antwerpen marschiert sind. Aber das ist lange her, und es ist Gras drüber gewachsen, wohingegen die hybride russische Intervention sich im Netz weiterentwickelt. Deshalb muss das Sprachengesetz als eine Art Notgesetz in Kriegszeiten betrachtet werden, das die nationale Sicherheit der Ukraine gewährleisten soll. Und so wird es heute im Grunde auch begründet.

    Sprache in Zeiten des Krieges

    Ich will das nicht grundsätzlich bestreiten. Ich will nur sagen, dass Russland wirklich alles dafür getan hat, damit so ein Gesetz in der Ukraine entstehen konnte, und dass es die volle Verantwortung dafür trägt, dass der Status der russischen Sprache in einem Land mit einer der weltweit größten russischsprachigen Gemeinden geschwächt wird, ja unter Umständen zu Trash verkommt. Es bringt nichts, auf Poroschenko zu schimpfen, wenn an den eigenen Händen Blut klebt. Nachdem ich das gesagt habe, erlaube ich mir allerdings, den Nutzen dieses Gesetzes für die Ukraine zu bezweifeln, und zwar innerhalb genau der Logik, mit deren Hilfe es vorangetrieben wird: der Logik eines Staates im Krieg.

    Wie ein ukrainischer Kommentator auf meinem Blog bei Echo Moskwy treffend bemerkte, besteht das Problem der russischen Sprache in der Ukraine darin, dass dort, wo sie sich konzentriert, schnell auch der russki mir mit der Kalaschnikow auf den Plan tritt. Dieses Problem ist absolut real. Angesichts der anhaltenden russischen Aggression im Osten der Ukraine werde ich nicht darüber streiten, wie moralisch es ist, das Problem lösen zu wollen, indem man den Gebrauch der Sprache einschränkt, die für ein knappes Drittel der eigenen Bevölkerung grundlegend ist. Ich will nur anmerken, dass mir das gesetzte Ziel völlig utopisch erscheint, und aller Voraussicht nach wird genau das Gegenteil erreicht: Die nationale Sicherheit des jungen ukrainischen Staates wird nicht gestärkt, sondern gefährdet.

    Die breite Masse wird vergrämt

    Auf dem Papier lässt sich alles Mögliche verordnen, auch die russische Sprache über Nacht aus dem Verkehr ziehen. Aber im Leben ist das unmöglich. Mit welchen Konsequenzen muss man rechnen? 15 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung werden sich vielleicht wirklich bemühen, schnellstens auf Ukrainisch umzusteigen und zu vollwertigen Staatsbürgern zu werden. Nochmal so viele werden versuchen, nach Russland auszureisen, deutlich mehr jedoch in die EU (danke, Visafreiheit – die sagt nichts zum Thema Sprache). Doch die breite Masse wird vergrämt und gedemütigt zurückbleiben und sich mit den Gegebenheiten arrangieren, wobei sie ihre Minderwertigkeit im Rahmen der Neuerungen auf Schritt und Tritt zu spüren bekommen wird: Ihre Kinder werden in der Schule nicht in ihrer Muttersprache lernen können, sie werden weder Filme noch Theaterstücke in ihrer Muttersprache sehen, bei keinem Amt in ihrer Muttersprache vorsprechen können und so weiter.

    Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte

    Und wie wird sich das auf die nationale Sicherheit der Ukraine auswirken? Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte. Die Rolle, die dieses Gesetz bei der Bildung der russischen Fünften Kolonne in der Ukraine spielt, ist womöglich so bedeutend, dass man schon jetzt allen Mitwirkenden per Geheimdekret den Titel „Held der Russischen Föderation“ verleihen könnte. 
    Wenn diese Fünfte Kolonne bislang als Frucht entzündeter Phantasie des radikal eingestellten Flügels der ukrainischen Intelligenz existiert hatte, allenfalls als Potenzial, dann materialisiert sie sich jetzt buchstäblich aus dem Nichts, und allein beim Donbass wird es nicht bleiben. Von Odessa bis zum Dnepr wird die Situation wieder genau so verworren sein wie ganz zu Beginn des „russischen Frühlings“.

    Die überstürzte Verabschiedung des Sprachengesetzes kann genauso wenig mit der Sorge um nationale Sicherheit begründet werden wie mit dem Prozess der Eingliederung in die EU. Objektiv betrachtet rückt das Gesetz die Ukraine weiter weg von europäischen Standards und gefährdet die nationale Sicherheit noch stärker, weil es in einer Grundsatzfrage zu einer beunruhigenden neuen Spaltung der Gesellschaft führt. Nach den Gründen und Ursprüngen der Eile muss man also woanders suchen …

    Genau zu diesem Zeitpunkt sollte man sich erinnern, dass die Ideen, die dem just verabschiedeten Gesetz zu Grunde liegen, schon lange vor dem Ausbruch des Krieges mit Russland existierten, ja noch bevor die Ukraine den EU-Integrationskurs eingeschlagen hatte, und sich bei Teilen der ukrainischen Intelligenz großer Beliebtheit erfreut hatten. Sie waren ein Teil dessen, was man als den „ukrainischen Traum” bezeichnen könnte – dem Streben weg von Russland hin zu einem unabhängigen ukrainischen Staat. Der Schlüsselbegriff ist hier „weg von Russland“.

    Flucht aus der russischen Sprachzone

    Ein wesentlicher Teil dieser Unabhängigkeit bestand für viele Ideologen eines ukrainischen Nationalstaates in der kulturellen Unabhängigkeit, der Befreiung vom Kleiner-Bruder-Komplex. Viele sahen das Erlangen der kulturellen Eigenständigkeit schon vor einem halben Jahrhundert in der Flucht aus der russischen Sprachzone.

    Der Krieg mit Russland war also nie der Grund, warum die Partei, die für die Verdrängung der russischen Sprache eintritt, gewonnen hat. Ohne diesen Krieg hätte diese Partei aber kaum je eine echte Chance gehabt, ihr radikales Projekt umzusetzen. Putin kann daher als Koautor des Projekts gelten. Mit seiner Ukraine-Politik hat er geholfen, den Traum des radikalsten Flügels der ukrainischen Intelligenz zu verwirklichen. Zumindest vorerst.

    An sich ist der Wunsch, die Ukraine zu ukrainisieren, historisch wie politisch gerechtfertigt. Fraglich ist die Wahl der Mittel und des Tempos. Kein Staat der Welt kann ohne einen einheitlichen Sprachraum existieren. Der Wunsch, einen solchen Raum zu schaffen und zu schützen, ist daher vollkommen adäquat.

    Ferner besteht kein Zweifel, dass sich in der Ukraine – genau wie in einer ganzen Reihe anderer ehemaliger russischer Kolonien – eine Schieflage ergeben hat, als sich dieser universelle Sprachraum nicht auf der Basis der Sprache der Titularnation herauszubilden begann, sondern auf der einer großen ethnischen Minderheit (wobei ein nicht unwesentlicher Teil der ethnischen Ukrainer Russisch als Muttersprache empfindet). Sprich: Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der UdSSR ist Russisch in der Ukraine immer noch die Sprache der innerukrainischen Verständigung.

    Die Wahl der Mittel

    Es ist völlig klar, dass keine normale Entwicklung des ukrainischen Nationalstaates möglich ist, solange die Situation sich nicht umkehrt und Ukrainisch zu jener universellen Sprache wird, welche die kulturelle, wirtschaftliche und politische Integrität festigt. Bis zu diesem Punkt verstehe und unterstütze ich die Beschützer der ukrainischen Sprache. Doch dann kommen wir zur Wahl der Mittel. Entweder man erschafft den Sprachraum, indem man die Verbreitung des Ukrainischen fördert oder indem man die Verbreitung des Russischen zurückdrängt. Das heißt, man hat die Wahl zwischen einem diskriminierenden und einem nicht-diskriminierenden Modell.

    Das Sprachengesetz wurde eilig unter dem Druck der Radikalen Maidan Partei beschlossen, die um ihre letzte Chance fürchtete, ihr Ideal in die Tat umzusetzen. Das Gesetz ist mehrdeutig und enthält eine Reihe von Bestimmungen, die als gegeben gelten können und sollten.

    Unumstritten ist der Status des Ukrainischen als Amtssprache, vernünftig erscheint die Forderung, dass sie obligatorisch auf allen Bildungsstufen gelehrt werden soll, gerechtfertigt ist die Forderung, dass jeder Staatsbürger sie in der einen oder anderen Form beherrschen soll, wobei im öffentlichen Dienst das fließende Beherrschen verpflichtend ist. Selbst in der Forderung, dass fremdsprachige Filme und Theateraufführungen mit ukrainischen Unter- beziehungsweise Übertiteln versehen gehören, liegt eine gewisse Logik. Man darf in dieser Frage nicht die Auffassung vieler Anhänger des russki mir übernehmen, die meinen, es würde irgendwie ihre Rechte und ihre Würde verletzen, wenn man von ihnen fordert, die Landessprache des Landes zu lernen, in dem sie leben und deren Staatsbürger sie darüber hinaus sind.

    Die Situation sieht jedoch anders aus, wenn es um diskriminierenden und äußerst selektiven Maßnahmen in Bezug auf russische Muttersprachler geht. Hier nur die wichtigsten: Unmöglich ist die freie Entfaltung der kulturellen Identität durch die Einschränkung von muttersprachlicher Lehre auf allen Bildungsebenen, durch begrenzten Zugang zu Informationen und kulturellen Gütern in der jeweiligen Muttersprache, durch eingeschränkten Zugang zum Rechtssystem aufgrund von sprachlicher Angreifbarkeit und durch weitere Auswüchse der Diskriminierung aufgrund der Sprache. Solche Maßnahmen machen nicht so sehr das Ukrainische zum universellen Mittel der Kommunikation, sondern vielmehr das Russische zur Sprache der Spaltung. Das eigentliche, ausdrückliche Ziel wird nicht erreicht – es wird kein gemeinsamer Sprachraum geschaffen.

    Die tieferen Ursachen für die Popularität des diskriminierenden Ansatzes bei einem großen Teil der ukrainischen Intelligenz liegen auf der Hand, und sie stehen in keinem Zusammenhang mit dem Krieg und der daraus resultierenden psychologischen Sprengkraft der Diskussion. Der Grund ist die Ungeduld, der Unwillen und die Unfähigkeit zu warten. Die heutige Sprachsituation in der Ukraine ist über Jahrhunderte gewachsen, und es braucht mitunter viel Zeit, um die Stellung der beiden Sprachen umzukehren. Ein nicht-diskriminierender, motivationsbasierter Weg würde Jahrzehnte mühevoller Arbeit bedeuten. Aber das Ergebnis soll ja noch zu Lebzeiten sichtbar werden, am besten sofort. Das führt zu einem Sprach-Bolschewismus mit seiner Philosophie des großen Sprungs. Wenn man schon nicht das Ukrainische schnell verbreiten kann, dann kann man doch wenigstens das Russische schnell verdrängen. Wie jeder andere große Sprung ist das eine Utopie.

    Weitere Themen

    Der russische Frühling

    Funkstille

    Russischer Winter

    In der Eskalations-Spirale

    Wir wollen es so wie in der Ukraine!

    Debattenschau № 75: Was bedeutet Selenskys Sieg für Russland?

  • Ayka – Moskau kann dein Freund und Feind sein

    Ayka – Moskau kann dein Freund und Feind sein

    „Du hast genau zwei Tage. Wenn du bis dahin nicht bezahlst, dann wird es hässlich.“ Ayka hat aber kein Geld. Die junge Kirgisin lebt illegal in Moskau, nun muss sie schnell neue Schwarzarbeit finden, um ihre Schulden zurückzuzahlen. Eigentlich müsste sie aber zurück in die Geburtsklinik: Kürzlich hat sie einen Sohn zur Welt gebracht und ist danach aus dem Krankenhausfenster getürmt, um Geld zu verdienen. Ayka hat Blutungen, nimmt Schmerztabletten und sucht im winterlichen Moskau fieberhaft nach einem Ausweg. 

    Diese Not beschreibt der Regisseur Sergej Dworzewoi in seinem preisgekrönten Spielfilm Ayka. Ähnlich wie der Protagonistin geht es vielen Gastarbajtery in Russland. Russische Behörden gehen davon aus, dass im Land rund vier Millionen Arbeitsmigranten leben, die meisten sind aus Zentralasien. Ihre Einkünfte, die sie zurück nach Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan schicken, betragen bis zu einem Drittel der jeweiligen Bruttoinlandsprodukte. Damit gehören diese Länder zur Weltspitze bei Rücküberweisungen. Schiere Not treibt die Gastarbajtery nach Russland, selten sind sie hier willkommen: Rund zwei Drittel der Russen wollen laut Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum den Zuzug anderer Ethnien nach Russland einschränken.

    Der Film Ayka war 2018 in Cannes für die Goldene Palme nominiert, die Hauptdarstellerin Samal Yeslyamova wurde als beste Darstellerin ausgezeichnet. Am Donnerstag, 18. April, läuft der Streifen auch in den deutschen Kinos an.
    Im Interview mit Moskvich Mag spricht Dworzewoi über den Film, über die zentralasiatischen Parallelgesellschaften in Moskau und darüber, wie es Menschen trotz Extremsituationen schaffen, menschlich zu bleiben.

    Jaroslaw Sabalujew: Was hat Sie generell an dem Thema Migranten in Moskau gereizt?

    Sergej Dworzewoi: Ich hatte irgendwo gelesen, dass innerhalb eines Jahres 248 Kinder von kirgisischen Frauen in den Geburtskliniken zurückgelassen wurden. Das hat mich so erschüttert, dass ich den Grund verstehen wollte. Ich begann nachzuforschen, was da passiert. Und mir wurde klar, dass es nichts mit Unmenschlichkeit zu tun hat, sondern mit der Extremsituation, in der sich die Frauen hier befinden. Einige, die aus Kirgistan nach Moskau gekommen sind, sehen ihre Kinder jahrelang nicht, die sie in der Heimat zurücklassen. Gleichzeitig haben sie auch hier ein Leben – Beziehungen, sogar Ehen, Schwangerschaften, gewollte und ungewollte. Natürlich lassen sie ihre Kinder nicht zurück, weil es ihnen so gut geht. 

    Das Eine ist die Statistik, das Andere – wenn man die Menschen dahinter kennenlernt

    Das eine ist die Statistik, das andere – wenn man die Menschen dahinter kennenlernt. Und irgendwann lernte ich eine Frau kennen, die ein ganz ähnliches Schicksal hatte wie meine Heldin.

    Gab es etwas, dass Sie ernsthaft erschüttert hat, als Sie in dieses Milieu eingetaucht sind?

    Ja, natürlich, vieles. Zum Beispiel erzählte mir eine der Frauen, die im Film zu sehen ist, folgende Geschichte. Sie hatte ein Kind bekommen, ein ziemlich hellhäutiges Baby – sie ist Usbekin, da kommt das vor. Damals arbeitete sie bei irgendwelchen Leuten, auch Zugezogene, aus Moldawien. Und eines Tages schlugen die ihr plötzlich vor, ihnen das Kind zu verkaufen. Sie redeten lange auf sie ein, aber sie lehnte ab und wurde gefeuert. Verstehen Sie? „Verkauf uns dein Kind“ – als ginge es, was weiß ich, um ein Telefon.

    Wie haben Sie Ihre Protagonistin gefunden?

    Ich kenne hier in Moskau Zentralasiaten, die haben mich mit ihr bekanntgemacht. Diese Frau hatte genau wie Ayka den Wunsch, sich als Näherin selbständig zu machen. Und auch sie war in der Situation, dass sie in Moskau ein Kind zur Welt gebracht hat und es im Krankenhaus zurücklassen musste. Später ist sie zurückgekommen, um es zu sich zu holen. Das, was wir auf der Leinwand sehen, ist natürlich nicht eins zu eins ihre Geschichte.

    Später habe ich andere Frauen kennengelernt, die in der gleichen Situation waren. Ein paar ihrer Geschichten waren noch viel dramatischer. Den Moskauern ist nicht klar, wie stark der Grad der Anspannung ist, der Druck, unter dem diese Menschen leben. Es ist ein ständiger, erbarmungsloser Kampf um das Leben, in dem es kein Mitleid gibt. Nicht nur, dass sie von der Polizei verfolgt werden, sie werden auch von ihr bestohlen, so wie das im Film passiert.

    Es ist ein ständiger, erbarmungsloser Kampf um das Leben, in dem es kein Mitleid gibt

    Nach den ersten Screenings wurde ich gefragt, warum Ayka niemand hilft, aber genauso läuft es eben, das ist doch kein Geheimnis. Illegale Abtreibungen, Babys, die nach der Geburt im Krankenhaus zurückgelassen und manchmal sogar verkauft werden – das ist ihre Realität, auch wenn es schwer ist, das zu glauben. Man sagt mir, ich hätte das Bild düsterer gemalt, als es ist, aber in Wirklichkeit habe ich sogar Szenen rausgelassen, weil sie einen um den Verstand bringen.

    Wie haben Sie sich Ihren Protagonisten angenähert?

    Unter meinen Bekannten waren natürlich keine Putzkräfte, nicht einmal Kellner. Das hängt auch damit zusammen, dass sie alles tun, damit ihnen niemand zu nah kommt. Das heißt, man kann schon mit ihnen reden – Kirgisen sind überhaupt die aufgeschlossensten Menschen, die ich kenne. Sie erzählen dir ganz offen von ihrem Leben, aber wenn es darum geht, etwas zu zeigen, dann ist das praktisch ein Ding der Unmöglichkeit, dafür haben sie viel zu viel Angst. Jeder Nicht-Kirgise ist für sie eine potenzielle Gefahr – Abschiebung, Deportation, Polizei et cetera. 

    Die Menschen leben in einer Atmosphäre ständiger Täuschung – ihr Vertrauen gewinnt man nur langsam

    Und selbst wenn dein Gesprächspartner mit deiner Anwesenheit einverstanden ist, dann sind es seine Nachbarn noch lange nicht. Es ist praktisch unmöglich, einen Einblick in ihren Alltag zu bekommen. Wir haben sechs Jahre an diesem Film gearbeitet, und trotzdem habe ich ständigen Widerstand gespürt.

    Dabei sind in Ihrem Film auch Laien-Darsteller zu sehen …

    Ja, aber sie haben mich erst nach jahrelanger Bekanntschaft an sich herangelassen. Man muss verstehen, dass diese Menschen in einer Atmosphäre ständiger Täuschung leben und man ihr Vertrauen deshalb nur durch langfristige Zusammenarbeit gewinnen kann. Irgendwann ist es mir sogar gelungen, das Vertrauen ihrer Nachbarn zu gewinnen, ab da wurde es einfacher mit dem Dreh.

    Ayka ist in vielerlei Hinsicht ein Film über Moskau, deshalb meine Frage: Wie ist Ihr Verhältnis zu dieser Stadt?

    Ich wurde in Kasachstan geboren, habe 29 Jahre dort gelebt, in der Luftfahrt gearbeitet. Dann bin ich nach Moskau gegangen, an die Uni, und bin geblieben, das war vor etwa 30 Jahren. Dann zerfiel die UdSSR, und es gab nichts mehr, wohin ich hätte zurückgehen können. 

    Je mehr Menschen, desto einsamer ist der Einzelne

    Moskau ist eine einzigartige Stadt, sie hat eine ganz besondere Anziehungskraft. Sogar Menschen, denen sie nicht gefällt, wollen hierher zurückkommen. Für mich ist Moskau mittlerweile meine Heimat, aber jetzt, während der Dreharbeiten zu Ayka, habe ich mit vielen Zugezogenen gesprochen. Diese Gespräche haben mir die vielen Gesichter Moskaus noch einmal deutlich gemacht: Die Stadt kann Freund und Feind sein, schön und schrecklich zugleich. Das ist normal – je mehr Menschen, desto einsamer ist der Einzelne, desto schwerer ist es für den kleinen Mann. Städte mit einer solchen Energie heißen dich nicht unbedingt willkommen, aber gleichzeitig funktionieren sie wie ein Magnet.

    Ich für meinen Teil liebe Moskau, aber in dem Film ging es mir nicht darum, meinen eigenen Blick darauf zu zeigen, sondern den Blick einer jungen Frau, die hierhergekommen ist und seit etwa einem Jahr hier lebt. Und zu Menschen wie Ayka ist die Stadt nicht gerade freundlich.

    Gab es Schwierigkeiten, weil sie an öffentlichen Orten gedreht haben?

    Ja, natürlich gab es die. Wir haben mit einer kleinen Kamera gedreht und formal nicht gegen Gesetze verstoßen, aber die Leute reagierten ganz unterschiedlich. Passanten sahen in die Kamera, oder sie versuchten im Gegenteil ihr Gesicht zu verstecken. Aber genau diese Momente sind mir besonders wichtig. Wir haben ja eine fast subjektive Kamera, Ayka ist kein Landschaftsfilm. Ich wollte einfangen, wie sich die Stadt anfühlt.

    Den Moskauern geht es immer besser, den Migranten aber nicht unbedingt. Die Stadt hat nicht auf sie gewartet; man braucht sie bloß als Menschen, die bestimmte Funktionen erfüllen. Sie leben immer noch mit sehr vielen Leuten in einem Zimmer, oft unter grauenvollen Bedingungen.

    Apropos Moskauer: Von denen verstehen viele überhaupt nicht, wie man so leben kann. Ihre Protagonistin ist hierhergekommen, ohne eine Arbeit, ohne eine Wohnung oder irgendwelche klaren Perspektiven zu haben.

    Naja, Perspektiven hat sich schon. Sie spricht gut russisch, könnte zum Beispiel als Kellnerin arbeiten, das wäre ein Anfang … Wenn es darum geht, warum sie überhaupt hier ist, dann deshalb, weil die Kirgisen mit einem Monat Schwarzarbeit in Moskau mehr verdienen als in einem halben Jahr in Kirgistan. Und solche Arbeit gibt es viel. Aber auch ich habe mich gefragt, wie diese Frauen leben. Zu Hause ein Kind, das sie ein, zwei Jahre am Stück nicht sehen. Hier müssen sie auf der Straße ständig Angst haben. Die Polizei könnte sie abschieben, und auch die Moskauer mögen Migranten nicht besonders.

    Vielen gefällt es hier, trotz ihrer Lebensumstände

    Aber nichtsdestotrotz gibt es hier Arbeit. Solange sich nichts an der wirtschaftlichen Lage in Moskau ändert, wird sich auch in dieser Welt nichts ändern. 

    Aber da gibt es noch etwas. So seltsam es erscheinen mag, vielen von ihnen gefällt es hier, trotz ihrer Lebensumstände. In Moskau funktionieren die zwischenmenschlichen Beziehungen anders. Auch deswegen wollen viele Kirgisen hier Fuß fassen. Viele von denen, die schon lange hier sind – damals konnte man noch die russische Staatsbürgerschaft bekommen – haben sich assimiliert, ich kenne solche Menschen.

    Wenn man bedenkt, was Sie alles gesehen haben: Ist Moskau eine europäische oder doch eher eine asiatische Stadt?

    Das Leben, von dem ich in Ayka erzähle, ist Underground. Doch es beeinflusst das gesamte übrige Leben und gibt ihm eine starke asiatische Note. Äußerlich ist Moskau also eine europäische Stadt, aber innen drin ist sie sehr unterschiedlich, vielseitig. Und wissen Sie was – mir gefällt das.  

    Weitere Themen

    An der Polarkreis-Route

    Business-Krimi in drei Akten

    Entlaufene Zukunft

    Wandel und Handel

    Die unbemerkten Flüchtlinge

    Wir sind dann mal weg …

  • „Dieses Haus ist eine Metapher“

    „Dieses Haus ist eine Metapher“

    Das Haus der Regierung entstand 1931 am Ufer der Moskwa. Yuri Slezkine, Geschichtsprofessor an der Universität Berkeley, erzählt in seinem gleichnamigen Buch die Geschichte des Sowjetkommunismus anhand des Gebäudes und seiner Bewohner. 2018 ist es auf dem deutschen, 2019 auch auf dem russischen Markt erschienen.

    Jahrzehntelang hat Slezkine dafür in Archiven recherchiert, entsprechend unterteilt der US-amerikanische Historiker, der 1982 aus der Sowjetunion emigrierte, sein Buch in drei unterschiedliche Stränge: einen biografischen, einen historischen und einen analytischen.

    Im Interview mit Maxim Trudoljubow für Colta.ru spricht Yuri Slezkine über das besondere Gebäude und seine Bewohner und darüber, weshalb er den Kommunismus als Sekte begreift.

    © Peter-Andreas Hassiepen
    © Peter-Andreas Hassiepen
    Maxim Trudoljubow: Die Baustelle ist eine gute Metapher. Die Bolschewiki machten sich an den Bau dessen, was sie Sozialismus nannten, ohne einen Bauplan zu haben. Aber für das Haus der Regierung gab es einen Bauplan – übrigens eines der wenigen Wohnhäuser, die damals überhaupt gebaut wurden.

    Yuri Slezkine: Dieses Gebäude ist in der Tat eine Metapher. Das Haus der Regierung wurde gleichzeitig mit der Sowjetunion erbaut und, wenn man so will, gleichzeitig mit dem Stalinismus – in den Jahren des ersten Fünfjahresplans. Die Bewohner errichteten eine neue Wirtschaft, einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten.

    Die Bewohner errichteten einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten

    Man redete zwar ständig von Städten und Wohnraum, und es wurde viel darüber geschrieben, wie die Wohnkommunen aussehen sollten. Gebaut wurde allerdings wenig, der Staat hatte andere Sorgen – die Industrialisierung, die Kollektivierung. Baustellen gab es viele, vor allem aber industrielle und metaphorische. Das Haus der Regierung war eines der wenigen Wohnprojekte.

    Als ich [Ihr Buch Das Haus der Regierungdek] zu lesen begann, dachte ich, es würde um das Haus und seine Bewohner gehen. Aber es stellte sich heraus, dass die Protagonisten noch etwas anderes als der Wohnort verbindet. Die zentrale Metapher des Buchs (oder ist es keine Metapher?) ist die Sekte. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

    Ich hatte nicht die Absicht, über eine Sekte zu schreiben. Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke. Ich war erstaunt, wie oft das Wort Glaube vorkam, wie diese Menschen dachten und worauf sie hofften. Mich verblüffte die Ähnlichkeit dessen, was sie sagten, mit dem, was ich aus ganz anderer Literatur kannte. Ich fing an, Bücher über Millenarismus, Apokalyptik und ähnliche Phänomene zu lesen. 

    Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke

    Eigentlich wollte ich das Haus der Regierung „bauen“, seine Bewohner dort „einziehen“ lassen, zuschauen, wie sie darin leben, um dann Zeuge ihrer Verhaftung und Hinrichtung zu werden. Aber am Ende hatte ich ein Buch, das viel größer war, in seinem Umfang und auch in jeder anderen Hinsicht.

    Das bolschewistische Sektentum ist für mich keine Metapher. Ich ziehe keinen Vergleich zwischen den Bolschewiki und religiösen Sektenanhängern. Ich verwende das Wort Religion nicht, weil es das Bild nur verstellen würde. Ich behaupte, dass die Bolschewiki Sektenanhänger waren, ohne Anführungszeichen.

    Welche Art von Sektenanhängern?

    Der apokalyptische Millenarismus ist der Glaube daran, dass die Welt, die voller Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist, noch zu Lebzeiten der jetzigen (oder spätestens nachfolgenden) Generation in einem katastrophalen Gewaltausbruch ihr Ende finden wird. 
    Manche bezeichnen solche Bewegungen als religiös, andere nicht – das hängt ganz davon ab, welche Religionsdefinition man ansetzt. Für mich spielt das keine Rolle. Als mir beim Lesen der Dokumente bewusst wurde, dass die Bolschewiki – ganz egal, welche Definition man benutzt – apokalyptische Millenaristen waren, begann ich sie im Vergleich zu anderen, ähnlichen Bewegungen zu betrachten. Cargo-Kulte, das frühe Christentum, der frühe Islam, die Münsteraner Wiedertäufer, die Roten Khmer, der Taiping-Aufstand – all das sind millenaristische Bewegungen. Die Anhänger- oder Opferzahlen miteinander zu vergleichen ist uninteressant. Wichtiger ist der Kern der Sache.

    Lenin nannte sie eine ,Partei neuen Typs’, aber er hätte sie auch ,Sekte gewöhnlichen Typs’ nennen können

    Für die Bolschewiki selbst war ihre Partei keine Partei, wie Politiker und Soziologen sie definieren. Es war keine Vereinigung, deren Tätigkeit auf die Machtergreifung im Rahmen eines bestehenden politischen Systems abzielte. Es war vielmehr eine Organisation, die auf den Sturz des bestehenden politischen Systems im Kontext der Zerstörung der gesamten Alten Welt hinarbeitete – einer Welt der Ungerechtigkeit und unauflösbaren Widersprüche. Lenin nannte sie eine „Partei neuen Typs“, aber er hätte sie auch „Sekte gewöhnlichen Typs“ nennen können.

    Ihre Protagonisten machen keinen Halt vor Grausamkeit, aber sie leiden auch und weinen immerzu. Lenins Tod lässt Tränenströme losbrechen, die Ermordung Kirows löst eine Schockstarre aus. Warum? Waren sie so unglaublich emotional?

    Ich denke, das hat mit ihren Vorstellungen zu tun, mit der Prophetie, an die sie glaubten, mit der Intensität der Erwartungen, der Opferbereitschaft, die ursprünglich zum Bolschewismus gehörte. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass es am Anfang des Buches um sehr junge Menschen geht. Um emotionale, ehrfürchtige junge Männer und Frauen, die von fieberhaften apokalyptischen Stimmungen beseelt sind. 
    Sie lebten in konspirativen Wohnungen, in Gefängnissen, in der Verbannung. In ihrem Weltgefühl waren Sehnsucht, Verzweiflung und die inbrünstige Hoffnung auf das Kommen des „rechten Tages“ vereint. Und dann geschah etwas, das in der Geschichte solcher Bewegungen unglaublich selten ist: Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch. Genau, wie es einmal ein anderer Millenarist prophezeit hatte: „Es wird aber ein Bruder den andern zum Tod überantworten und der Vater das Kind, und die Kinder werden sich empören gegen ihre Eltern und werden sie zu Tode bringen“ (Matthäus 10,21).

    Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch

    Die Briefe aus den Tagen des Bürgerkrieges zeugen von einem beeindruckend intensiven Erleben. Extreme Erfahrungen bringen extreme Emotionen. Alle Millenaristen ereilt früher oder später das, was die amerikanische Geschichte als die „große Enttäuschung“ kennt: Die Zeit vergeht, aber die Prophezeiung tritt nicht ein. 
    Für die Bolschewiki war diese Erfahrung besonders schmerzhaft, weil sie die „Schlacht von Armageddon“ bereits gewonnen hatten. Aber kaum war sie gewonnen, da wurden die Positionen auf dem X. Parteitag auch schon aufgegeben, der charismatische Anführer starb, und in den Häusern der Sowjets wurde nur irgendwelches Zeug gemacht. Die Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) war ihre große Enttäuschung. Das wird deutlich, wenn man die Parteiliteratur der 1920er Jahre liest oder sich ansieht, wie diese Menschen lebten, wie sie weinten, wie sie sich in Sanatorien behandeln ließen.

    Kommt das Gefühl der „belagerten Festung“ erst in den 1920er, 1930er Jahren auf? Oder war das ein allgemeiner Wesenszug?

    Es war ein Wesenszug. Es ist nicht so, dass ich – nur weil ich einmal beschlossen habe, dass die Bolschewiki eine Sekte sind – ihnen alles zuschreibe, was ich über Sekten weiß. Es zeigte sich einfach, dass vieles von dem, was ich über sie herausfand, mit dem übereinstimmt, was wir über Sekten wissen. 

    Die Absonderung von der Außenwelt ist eines der Merkmale des frühen Bolschewismus. Und eine Sekte ist, in welcher Definition auch immer, eine Gruppe von Gleichgesinnten, die sich von der feindlichen, sündigen, dem Untergang geweihten Welt lossagt. Die Bolschewiki haben viel darüber geschrieben, was es für sie bedeutete, ein Teil dieser heiligen Bruderschaft zu sein und welch ein Abgrund sie von dem kleinbürgerlichen „Sumpf“ trennt. Das Haus der Regierung war ihre belagerte Festung.

    Das heißt, sie fühlten sich auch innerhalb des Landes umzingelt?

    Das Haus an der Uferstraße war eine riesige Festung. Bei seiner Eröffnung war im Land gerade die Kollektivierung im Gange. Die Bewohner wussten und wussten gleichzeitig nicht, wie sie genau abläuft. Sie erließen Dekrete und stellten Pläne auf, aber sie diskutierten nicht, welchen Preis sie dafür zahlten. Sie sprachen nicht mit ihren Haushälterinnen darüber, was mit deren Familien passiert war. 
    Es war in dem Sinne eine belagerte Festung, als sie von sowjetischen Menschen umgeben waren, die gar keine waren. Die Sowjetunion war eine belagerte Festung innerhalb einer bourgeoisen Welt, das Haus der Regierung war eine belagerte Festung innerhalb der Sowjetunion, und jede einzelne Wohnung eine innerhalb des Hauses. Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert. 

    Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert

    Wir sehen, wie sehr sie darunter litten, dass das Leben von allen Seiten an sie herandrängte. Die Kinder wuchsen heran, auf den Tischen breiteten sich Tischdeckchen aus, an den Fenstern Vorhänge; Eltern, Verwandte kamen zu Besuch. Kleine Familien gab es da kaum, die allermeisten hatten eine Großfamilie. Der Schwiegervater – ein ehemaliger Rabbi – kam, die Schwiegermutter betete flüsternd, die Haushälterin vom Land taufte heimlich die Kinder. 
    Der rechtgläubige Bolschewik wurde überwuchert von Sachen und armen Verwandten. Denen, die Zeit zum Nachdenken hatten, war bewusst, dass sie Tag für Tag und Stunde für Stunde ihren Glauben verrieten. Und wenn man sie holen kam, wussten sie deshalb auch, dass sie in gewisser Weise schuldig waren.

    Stalin bleibt in Ihrem Buch fast außen vor. War er für [die Bolschewiki] der „Großinquisitor“, eine Dostojewski-Figur, die verstanden hat, dass man nicht auf die „Wiederkunft“ warten darf, sondern ein System errichten muss?

    Über Stalin habe ich nichts Neues zu sagen. Und er lebte ja auch nicht im Haus an der Uferstraße. Das ist gut, weil man in historischen Romanen den König normalerweise nicht zur Hauptfigur macht. Im Unterschied zu jemandem, der einen historischen Roman schreibt, konnte ich nichts erfinden, es kam mir also sehr gelegen, dass Stalin auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Und es ist auch nicht so wichtig, was er dachte. Ich glaube, dass er ein wahrer Bolschewik war, ein gläubiger Mann. Aber gleichzeitig ein pragmatisches Staatsoberhaupt. Sie waren alle zugleich Gläubige und Staatsbeamte.

    Welches Erbe hinterließ die erste Generation von Bauherren der UdSSR? Ist es der nachfolgenden Generation gelungen, dem System Routine zu verleihen?

    Der Bau war nicht besonders solide. Wir wissen, wie die Sowjetunion zu Ende ging. Sie ist nie wirklich zur Routine geworden. Das Christentum existiert als Zivilisation schon seit 2000 Jahren. Die Kommunisten sind ausgestorben. Die Entwicklungskader meiner Figuren sind gestorben, und mit ihnen auch der Staat, den sie aufgebaut haben. Das heißt, etwas ist ihnen schon gelungen, und das ist nicht wenig. Sie sind die einzige millenaristische Sekte, die es geschafft hat, die Herrschaft in Babylon an sich zu reißen. 

    Das Christentum wurde erst vier Jahrhunderte nach dem Tod seines Propheten die offizielle Religion des Römischen Reiches, als kaum noch jemand den baldigen Weltuntergang herbeigesehnt hat. Die Bolschewiki blieben auch nach ihrer Machtergreifung inbrünstig gläubige Millenaristen. So etwas hat es noch nie gegeben. Aber es währte eben nicht lange.

    Weitere Themen

    Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

    Lenin-Mausoleum

    „Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

    Stalins Tod

    Entstalinisierung unter Chruschtschow

    Stalins Henker

  • Absage an die Moderne

    Absage an die Moderne

    „Archaisierung“ – so nennen viele russische Liberale die Epoche Putins, vor allem die Zeit nach der Krim-Angliederung. Der Begriff geht auf den russischen Philosophen Alexander Achijeser zurück – einer der Begründer der Kulturwissenschaft in Russland, der 2007 ruhmlos und weitgehend vergessen verstarb. In den 1970er Jahren verfasste er sein (erst in den 1990er Jahren erschienenes) Hauptwerk: Russland: Kritik der historischen Erfahrung. Darin sagte er sowohl die Perestroika voraus als auch deren Scheitern. Dieses Scheitern, so Achijeser, würde auch eine „Archaisierung“ nach sich ziehen – eine Abkehr von den Werten der Moderne.
    Heute begründet die russische Propaganda diese Abkehr auch mit einem Scheitern der Moderne überhaupt. So sieht Wladislaw Surkow, angeblicher Chefideologe des Kreml, das liberal-demokratische Modell quasi am Ende. Dabei erklärt er das mutmaßliche Interesse am „russischen politischen Algorithmus“ damit, dass es im Westen keine „Propheten“ gebe.
    Warum geben sich Millionen von Menschen im Russland des 21. Jahrhunderts freiwillig mit einem einseitigen und aufgezwungenen Weltbild zufrieden, fragt Andrej Archangelski auf Republic. Und versucht eine Antwort.

    Die russische Propaganda, wie wir sie kennen, hat vor fünf Jahren begonnen und sie verfolgte ein praktisches Ziel: dem Einfluss des ukrainischen Maidan etwas entgegenzusetzen. Die Rhetorik bediente sich zunächst propagandistischer Elemente aus den Zeiten des Zweiten Weltkriegs (karateli und so weiter) und ging dann zur Sprache des Kalten Krieges über (die Trennung in „wir“ und „sie“, der „Westen“ als pauschalisierte Gefahr). 

    Zwei Dinge verblüffen dabei immer noch: 
    Erstens, dass dieses Schema akzeptiert wurde von einem Großteil der russischen Gesellschaft (der die Propaganda in ihrer sowjetischen Variante vor nicht allzu langer Zeit noch abzulehnen schien). 
    Und zweitens: die Ausführenden. Wir können annehmen, dass ein Teil der Propagandisten „einfach seine Arbeit tut“, dass er „Familien ernähren und Kredite abstottern“ muss. Aber wir müssen auch berücksichtigen, dass die Hauptakteure – Experten, Politologen, Fernsehmoderatoren – im vorgegebenen ideologischen Rahmen etwas finden, das ihnen nahe ist und sie inspiriert, etwas, worin sie sogar eine eigentümliche „Freiheit“ sehen.

    Propaganda – das ist in erster Linie eine Vereinfachung des Weltbildes

    Propaganda – das ist in erster Linie eine Vereinfachung des Weltbildes, sie nimmt den Menschen die Last einer existenziellen Verantwortung ab. 
    Das Wort Geopolitik bedeutet, den Menschen von der Pflicht zu befreien, eigene Entscheidungen, eine ethische Wahl zu treffen. Die Geopolitik sagt dem Menschen, dass alle grundlegenden Entscheidungen bereits für ihn gefällt wurden – automatisch und ein für allemal – und zwar von der Geschichte, der Geographie und dem Schicksal.

    Aber auch das liefert noch keine Antwort auf die Frage, warum sich Millionen von Menschen im Russland des 21. Jahrhunderts freiwillig mit einem einseitigen und aufgezwungenen Weltbild zufriedengeben („wir sind die Guten, alle anderen die Bösen“). Vielleicht besteht die Wirkmacht der Propaganda ja darin, dass sie eine viel fundamentalere, nicht ausgesprochene, aber implizite „tiefere“ Idee enthält, die obendrein mit globalen Prozessen zusammenfällt.

    Diese Idee lässt sich kurz als eine Absage an die Moderne, den Fortschritt, an die moderne Gesellschaft an sich beschreiben.

    Magische Praktiken

    Während man den endlosen propagandistischen Gesprächen lauscht, fragt man sich unwillkürlich: Welchem mündlichen Genre kommen sie am nächsten? Sie erinnern an magische Praktiken: Beschwörungen, Zauberformeln, Versuche, das Gewünschte mithilfe von Worten Wirklichkeit werden zu lassen. 
    Dutzende von Menschen wiederholen tagein tagaus, Jahr für Jahr ein und dieselben Verwünschungen, in der Hoffnung, dass sie wahr werden mögen. In erster Linie betreffen sie nach wie vor die Ukraine: „Kiewer Sackgasse“, gescheiterter Staat, die Parodie eines Landes und so weiter.

    Wladimir Paperny beschreibt in seinem bekannten Buch [Kultura Dwa (Kultur-2), dek] ein wichtiges Merkmal dieser „Kultur-2“, indem er sie als mythologisches Denken bezeichnet: als „das Zusammenfallen von Bezeichnung und Bezeichnetem, von Bild und Abgebildetem, von Wort und Bedeutung. Kultur-2 glaubt gleichsam, dass etwas, wenn man es laut ausspricht, wahr wird“.

    Ablehnung des Fortschritts

    Heute sind im Propaganda-Äther alle Verschwörungen und Phobien der Welt vereint; alles unter der Erde, in den Katakomben, in Dostojewski’schen Kellerlöchern der Menschheit scheint sich an einem Ort versammelt zu haben und krakeelt jetzt um die Wette. All das trifft sich nur in einem Punkt – in der Ablehnung der Idee der Moderne, des menschlichen Fortschritts. Sogar die Verherrlichung der sowjetischen Vergangenheit ist in Wirklichkeit ihre verkappte Bekämpfung. 

    Natürlich war die sowjetische Gesellschaft totalitär, doch formal war sie modernistisch. Sie bestand auf dem universellen und globalen Charakter ihrer Ideologie, und sie war in die Zukunft gerichtet („unser Ziel ist der Kommunismus“). Die Grundzüge der sowjetischen Ethik überschnitten sich mit universalistischen Werten. Heute betreibt die Propaganda einen konsequenten Exorzismus gegen jene modernistischen Pfeiler der sowjetischen Ideologie: Wörter wie „Internationalismus“, „Humanismus“, „Kampf für den Frieden“ oder „Völkerfreundschaft“  werden sie heute von keinem Sowjet-Liebhaber mehr hören – derlei Postulate werden als Schwäche der Sowjetmacht verlacht. Selbst der Feminismus bleibt nicht verschont (auch wenn vorher definitiv der Zusatz kommt, dass die UdSSR seine Heimat gewesen sei).

    Ein gewaltiges, allumfassendes Kippen der Gesellschaft zurück in archaische Zeiten – genau das ist die generelle Stoßrichtung der heutigen Propaganda.

    Lustpunkt getroffen

    Anfangs gab es für dieses „Einfrieren“ übrigens rein praktische Beweggründe. Wie wir uns alle erinnern, hießen die Reformen unter Medwedew Modernisierung und endeten 2012 mit Massenprotesten, die die Mächtigen in Angst und Schrecken versetzten. Ihr wichtigstes Symbol war weniger die Masse oder die Aktivität der Menschen, als vielmehr die „Sprache der Bolotnaja“, die Sprache auf jenen funkensprühenden und unzähligen selbstgebastelten Plakaten. In der Sprache dieser Plakate begann die gerade geborene russische Gesellschaft der Moderne zu sprechen. Genau darin erkannten die Machthaber die Hauptgefahr: Die neue Sprache bedeutete die Entstehung eines neuen Bewusstseins – eines säkularen, universellen – die Renaissance von sozialer Verantwortung und Teilnahme. 
    Als Gegengewicht zur Sprache der Bolotnaja war bald die Sprache der Antimoderne à la UralWagonSawod gefunden, bei der es sich natürlich großenteils um ein künstliches Konstrukt handelt. Doch die Erfindung funktionierte. Die Sprache der Propaganda erwuchs im Grunde aus dieser Verdichtung, nur der Stil wurde 2014 perfektioniert.

    Sprache der symbolischen Gewalt

    Das zentrale Moment der Propaganda ist bis heute die Sprache der symbolischen Gewalt – das Phänomen der schmutzigen Hasssprache. Ein weiteres wichtiges Element der Propaganda ist das höhnische Lachen, das Lachen von Dostojewskis Menschen aus dem Kellerloch.

    Dabei wird der Gegner, meist ein westlicher Politiker, auf jede erdenkliche Art erniedrigt. „Blogger verhöhnen“ Poroschenko, Merkel, Macron: Innerhalb von fünf Jahren ist in Russland ein völlig neues Genre entstanden. Aber sowohl die Sprache der Gewalt als auch die des Hohns haben etwas noch viel Größeres hervorgebracht: ein Weltbild, eine Kommunikationsweise, ja sogar eine Art Philosophie der Abkehr von der Welt.

    Das Geheimnis der Propaganda ist, dass sie einen Lustpunkt getroffen hat: Es verschafft dem Menschen Erleichterung, sich von den hemmenden Mechanismen der Kultur zu befreien, das steht schon bei Freud. Darum wiederholen Propagandisten auch so gern immer wieder ein und dasselbe, stunden-, tage-, jahrelang. Übrigens spricht die Propaganda das Wichtigste nicht direkt aus, sondern nur in Andeutungen. 

    Das Ende der Welt

    Das Konzept vom „Scheitern der westlichen Welt“ – noch so ein Imperativ der Propaganda – ist etwas komplizierter: Es ist eine bemerkenswerte Verschmelzung von Marxismus und Eschatologie. Die sowjetische Ideologie postulierte, unter Berufung auf die „eisernen Gesetze der historischen Entwicklung“, das unweigerliche Scheitern des Kapitalismus. Doch stattdessen scheiterte das sowjetische Projekt. Das von der heutigen Propaganda versprochene „Scheitern des Westens“  erinnert formal an sowjetische Dogmen, die nun eschatologisch untermauert werden (den „Gesetzen der Geschichte“ zufolge werden Zivilisationen, die vorangeprescht sind, „bestraft“ und bei der Gelegenheit wird auch gleich der „Zerfall der UdSSR“ gerächt). 
    Ab einem gewissen Punkt dominierten die archaischen Motive der Propaganda. Sie sind anscheinend außer Kontrolle geraten und haben eine Eigendynamik entwickelt. Die Absage an die Moderne zog auch in allen anderen Bereichen eine Archaisierung nach sich. So klingt die These vom „Scheitern der Aufklärung“ gar nicht mehr so abwegig und ist immer öfter in den Reden der Ideologen zu hören. 
    Die Propaganda ist zu einer globalen Predigt über den verlorenen Glauben an den Menschen und die Enttäuschung über die Menschheit geworden, sie wurde zu einem Geschäker mit den niederen Instinkten des Menschen. 
    „Die Menschen leben kein echtes Leben mehr“, behaupten diejenigen, die Tag für Tag ein falsches Leben auf Bildschirmen kreieren. Als Beispiele für echtes Sein werden dann Kriege oder anderes menschliches Leid angeführt. 

    Der Masochismus der Propaganda offenbart sich auch in ihrem penetranten Streben nach Selbstauslöschung – jedes Mal redet sie davon, wenn sie auf die „radioaktive Asche“ zu sprechen kommt.
    Schnell hat die Absage an die Zivilisation auch im Alltag Einzug gehalten. Es ist keine Seltenheit, dass ein propagandistischer Radiosender verkündet, technischer Fortschritt sei nicht notwendig und gar schädlich (die größte Sorge wecken dabei Gadgets aller Art: sie „stehlen“ unsere Lebenszeit). 
    Die panische Angst vor dem Internet, das den „Menschen verdorben hat“, und das Verlachen wissenschaftlicher Erkenntnisse (die berühmten „britischen Forscher“) münden in eine Verhöhnung der Wissenschaft an sich. 

    Natürlich hat die Propaganda auch den wirtschaftlichen Geschmack der Massen geprägt: Unter „Realwirtschaft“ versteht man bei uns „Werke und Fabriken“ und nicht die „virtuelle Ökonomie“ des Westens.  

    Die letztgültige Wahrheit

    Es fällt auf, dass all diese Postulate gleichzeitig mit einem weltweiten Trend zum Konservativismus aufkommen. Allerdings gilt dieser im Westen als eine von vielen Möglichkeiten, keineswegs als „unausweichlich“. Selbst wenn wir annehmen, Russland hätte das Zeug zum Anführer der konservativen Wende, macht der Stil der Propaganda das unmöglich: jenes schroffe und alternativlose Aufdrängen der eigenen „letztgültigen“ Wahrheit. Deswegen betrachtet man Propaganda im Westen heute nicht nur als einen Angriff auf liberale Ideen, sondern auf die universale Ethik. Ihr Hauptziel ist es, „die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen“. Damit wären wir beim erstaunlichsten Widerspruch der Propaganda: Sie erklärt sich selbst für das absolut Gute und beharrt gleichzeitig auf der Relativität der Begriffe von Gut und Böse (post-truth). Wie sich das dialektisch vereinbaren lässt, ist ein Rätsel. Mit Paperny gesprochen vielleicht so: In der Welt des absolut Guten, wo die Kultur-2 herrscht, existiert kein Böses. Es wurde ausgelagert in eine eigene, andere Welt, die sich „der Westen“ nennt – dort, im Revier des Bösen, ist „alles erlaubt“, denn dort ist sowieso von vornherein alles falsch (und sündig). 


    Die Propaganda gab der Welt einen Anstoß zur Diskussion ethischer Fragen

    Der Versuch, die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen, hatte allerdings paradoxe Konsequenzen: Er brachte Europa und Amerika dazu, sich an die Ethik zu erinnern und sie wieder ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Jeder zweite Hollywoodfilm – egal ob Thriller oder Komödie – verhandelt heute eine ethische Frage. #MeToo ist eine eindeutige Debatte über Ethik. Die Wertedebatte wurde zum wesentlichen Bestandteil des westlichen Diskurses. Hier zeigt sich eine verblüffende Parallele: So wie das sowjetische Projekt den Arbeitnehmerschutz im Westen befeuert hatte, gab die Propaganda der Welt einen Anstoß zur Diskussion ethischer Fragen. Heutzutage wird die Propaganda vor allem als eine ethische Herausforderung erforscht, womit sie letztlich die Suche nach einer neuen Ethik initiiert. Diese wird natürlich komplexer sein, aber es lässt sich erahnen, dass Gut und Böse darin ihren Platz haben werden. 

    Die Propaganda, die nach außen gerichtet war, traf vor allem Russland selbst. Indem sie dem Schlechteren nacheiferte, hat sie eine Millionen-Gesellschaft in eine vormoderne, archaische Welt zurückgeworfen und damit abermals ein „tiefes“ Volk konstruiert. Letzten Endes bedeutet das: Wir treten auf der Stelle und erteilen der Moderne, dem Fortschritt, der Welt eine Absage – wohlbemerkt nicht zum ersten Mal. Für Jahre, oder gar Jahrzehnte? So oder so wird es tiefgreifende und traurige Konsequenzen haben, die eine Gesellschaft nicht so schnell überwindet. 

    Weitere Themen

    Dimitri Kisseljow

    Die Geburt des Politischen aus dem Geist der Propaganda

    Die antiwestliche Propaganda ist gescheitert

    Moskau. Kreml. Putin.

    Video #28: Kein Kant in Kaliningrad

    Surkow: „Der langwährende Staat Putins“

  • Rhetorische Wende

    Rhetorische Wende

    Vergangenen Mittwoch hat Präsident Putin die sogenannte Rede zur Lage der Nation, die Botschaft an die Föderationsversammlung, gehalten. Über den plötzlich anberaumten Termin der Rede – die Vorsitzende der Föderationsversammlung hatte ihre Südostasien-Reise abbrechen müssen – war viel spekuliert worden. Putin habe schnell auf sinkende Zustimmungswerte reagieren wollen, lautet einer der Erklärungsversuche. 
    Auf Carnegie.ru schreibt Tatjana Stanowaja, die Tatsache, dass die Rede nicht erst Mitte März, am Jahrestag der Angliederung der Krim gehalten worden sei, zeige „dass man im Kreml verstanden hat, dass die Bevölkerung der hurra-patriotischen Rhetorik müde geworden ist – angesichts stetig sinkender Löhne“. 
    Diese Erkenntnis werde in der Rede vor allem auch an anderer Stelle deutlich, kommentiert sie:

    Die wichtigste politische Schlussfolgerung aus der Rede [Putins an die Föderationsversammlung – dek] ist die, dass es der Präsidialverwaltung gelungen ist, den Präsidenten von einer Korrektur der Rhetorik zu überzeugen. Sonst könnte angesichts der sinkenden Zustimmungswerte die Kluft zwischen der Regierungs-Agenda und den Belangen der Gesellschaft zum Verlust der politischen Kontrolle führen.
    Als der Präsident sich im vergangenen Jahr sowohl in seiner Rede als auch im Wahlkampf auf die geopolitische Agenda konzentrierte, hatte das Unverständnis und Missmut in der Gesellschaft hervorgerufen. Das Fehlen einer Zukunftsvision, die übermäßige Militarisierung und die aggressive Rhetorik – später multipliziert mit der Rentenreform – ließen die Zustimmungswerte um rund zwanzig Prozent einbrechen. Die darauffolgenden Verluste bei den Regionalwahlen bestätigten den Ernst der Lage.
    Die Präsidialverwaltung musste Putin davon überzeugen, sich der innenpolitischen Agenda und den sozialen und wirtschaftlichen Problemen zuzuwenden. Der Rede nach zu urteilen ist ihr das auch gelungen.

    Der Wendepunkt

    Der Wendepunkt war vermutlich Andrej Tarassenkos Niederlage im zweiten Wahlgang der Gouverneurswahlen in der Region Primorje, nur wenige Tage nachdem der Präsident dessen Kandidatur öffentlich unterstützt hatte. Das Problem waren nicht nur die Polittechnologie oder regionale Besonderheiten. Es war eine persönliche Niederlage für Putin, und der Präsident bekam durchaus zu spüren, dass sich etwas verändert hatte. Die Präsidialverwaltung machte sich also an die Entwicklung einer positiven Agenda – und eines der Ergebnisse ist die Rede.

    Der Auftritt ist die Antwort des Kreml auf die sinkenden Zustimmungswerte. Es ist der Versuch, den sinkenden Löhnen mit dem einfachsten Mittel zu begegnen: dem Verteilen von Geld. Eine solche  Botschaft wird wohl bei niemandem für Missmut sorgen, und selbst wenn sie die Ratings nicht in die Höhe treibt, könnte sie zumindest deren Sinkflug verlangsamen.

    Allerdings zeichnet sie weder eine Zukunftsvision noch mildert sie die Folgen der Rentenreform oder berührt die Probleme der sozialen Gerechtigkeit. Dabei wächst in der russischen Gesellschaft die Nachfrage nach einer entschieden anti-oligarchischen und anti-bürokratischen Politik. 

    Die Ansprache hat auch nicht das für Putin traditionelle Image des starken Leaders wiederhergestellt, der fähig ist, alle Widerstände zu überwinden. Der Präsident versucht, vom bösen Buchhalter, der die Notwendigkeit der Rentenreform dargelegt hat, zum guten zu werden, der bereit ist, sein Geld mit dem unzufriedenen Kollektiv zu teilen. Doch er kann vor der Öffentlichkeit seine wachsende Abhängigkeit vom System und seiner Umgebung nicht verbergen. In den Augen der Bevölkerung wird er immer mehr zu einem schwachen Führer, der sich nicht traut, wichtige personelle Entscheidungen zu treffen oder seine außer Rand und Band geratenen Freunde zu bremsen.

    Oberflächliche Antwort

    In diesem Sinne war die Ansprache nur eine oberflächliche Antwort auf die Forderungen der Gesellschaft nach einer Erhöhung des Lebensstandards. Die angekündigten Maßnahmen bedeuten weder eine Rückkehr zum Sozialismus noch einen Übergang zu einem neuen sozialwirtschaftlichen Modell. Es handelt sich um einen Versuch, die soziale Unzufriedenheit mit Haushaltsüberschüssen zu löschen, was jedoch kein Ersatz sein kann für eine komplexe Adaption der Sozialpolitik an die Bedürfnisse der Bevölkerung.

    Die Botschaft war die entpolitisierteste der vergangenen Jahre. Ging es in den letzten Ansprachen noch übermäßig um die Außenpolitik, die Putin leidenschaftlich und in allen Details thematisierte, so kam in der heutigen Rede so gut wie gar keine Politik vor, weder Außen- noch Innenpolitik.

    Die Innenpolitik ist schon lange kein beliebtes Thema für die Ansprachen mehr, was im Grunde verständlich ist: Aus Sicht des Präsidenten ist alles gut eingerichtet und funktioniert prima. Es gibt eine Partei der Macht, es gibt eine systemische Opposition, die die „gemeinsamen Werte“ teilt, es gibt politischen Wettbewerb und manchmal gewinnt sogar ein Opponent der Kreml-Schützlinge – es ist klüger, daran nicht zu rütteln.

    Was eine heranreifende Parteien- oder Verfassungsreform angeht, so hält man die Frage nach einem Wechsel im Kreml offensichtlich für verfrüht. Insgesamt hatte Putin demnach zur Innenpolitik nichts zu sagen, trotz der unerwarteten Verluste bei den Gouverneurswahlen im vergangenen Jahr.

    Pazifistische Rhetorik

    Dafür tauschte der Präsident den aggressiven Ton und das Säbelrasseln der Außenpolitik gegen eine pazifistische Rhetorik ein und minimierte gleichzeitig den Umfang des außenpolitischen Themenblocks. Damit reagierte er auf die wachsende Unzufriedenheit der Gesellschaft über die unverhältnismäßige Begeisterung der Regierung für Geopolitik und ihre Fixierung auf die USA, die Ukraine, Syrien und das „verfaulende Europa“. Das Volk will Putin zu Hause – und Putin hat das anscheinend verstanden, indem er ungewöhnliche Rechtfertigungen für seine Kommentare zum Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag lieferte.

    Korrigierte Positionen hatte die Rede nicht zu bieten. Putin wiederholte längst bekannte Leitsätze, schlug dabei jedoch friedlichere Töne an, womit er auf die Militärverdrossenheit der Gesellschaft reagierte. Das ist eine wichtige Neuerung, die dem Präsidenten, der zu Härte im Dialog mit dem Westen neigt, als sozialpolitische Leitplanke dienen könnte.

    Ohne jeden Realitätssinn

    Während die Ansprache im vergangenen Jahr unangenehm aufstieß, weil sie die soziale Agenda fast vollständig ignorierte, entbehrte die diesjährige jeglichen Realitätssinn, was den Druck der Machtorgane auf die Wirtschaft betrifft.

    Die diesbezügliche Hauptnachricht im Vorfeld der Ansprache war die Festnahme [des US-Investors – dek] Michael Calveys sowie weiterer Top-Manager der Investmentgesellschaft Baring Vostok wegen eines unternehmensinternen Konflikts um die Wostotschny-Bank. Wäre es Putin an Realitätsnähe gelegen gewesen, hätte er entweder den Wirtschaftsteil komplett streichen oder etwas zum Fall Baring Vostok sagen müssen. Aber er zog es vor, so zu tun, als sei nichts geschehen.

    Man kann nicht überzeugend sein, wenn man versucht einem Querschnittsgelähmten Fitnessgeräte zu verkaufen. Genauso wenig kann man von Investitionsklima und dem Schutz von Unternehmern reden und gleichzeitig Festnahmen beim größten ausländischen Investmentfonds ignorieren, die offensichtlich im Interesse einer der beiden Seiten im Unternehmensstreit erfolgten. Diese Diskrepanz wurde zum wunden Punkt der Ansprache, die bei aller Ausrichtung auf soziale Fragen, jegliches Niveau eingebüßt hat, was die Beziehungen zwischen Staatsgewalt und Wirtschaft angeht. 

    Die überstürzte Rede, das Setzen auf einfache Lösungen und das Verteilen von Geld, die Weigerung, die aufsehenerregende Verhaftung Michael Calveys zu kommentieren – das alles zeigt deutlich, dass es um einen Wechsel der Rhetorik und nicht um einen Kurswechsel geht. 

    Die Staatsgewalt hat den Versuch unternommen, Putins Agenda der Agenda der russischen Gesellschaft anzunähern, doch das ist ein rein taktischer Zug, der kaum Einfluss auf die tatsächlichen Inhalte der Tagespolitik haben dürfte. Die einzige Ausnahme könnte die angekündigte Reform der Rechtsgrundlagen für die staatliche Aufsichtstätigkeit sein, aber das ist in der heutigen Situation wohl kaum genug. 

    Geld ist da – das war Putins frohe Botschaft. Ob das die Pille für die Gesellschaft weniger bitter gemacht hat, werden wir in den nächsten Monaten an den neuen Umfragewerten zur Unterstützung des Präsidenten sehen.
     

    Weitere Themen

    Business-Krimi in drei Akten

    Presseschau № 39: Säbelrasseln auf der Krim

    100 Jahre geopolitische Einsamkeit

    Debattenschau № 70: Eskalation im Asowschen Meer

    Maximal abenteuerlich

    Steuern den Hütten, Geld den Palästen

  • „Es herrscht ein aggressiver Individualismus“

    „Es herrscht ein aggressiver Individualismus“

    Um das gegenwärtige Russland zu erklären, bemühen viele russische Sozialwissenschaftler Weimar-Vergleichе: Nach dem Systemzusammenbruch kam es in beiden Ländern zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen oft über Identitätskrisen und über Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Schließlich gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert. 

    Einige Sozialwissenschaftler sehen auch zwischen der Wilhelminischen und der Gesellschaft des Homo Sovieticus Parallelen. Diese seien von Untertanen durchsetzt gewesen, wie sie zum Beispiel Heinrich Mann beschrieb: obrigkeitshörig, kollektivistisch und konformistisch. Und diese Eigenschaften, so die Behauptung der Wissenschaftler, würden sowohl die politische Kultur der Weimarer Republik als auch die des gegenwärtigen Russland prägen. 

    Die Beweisdecke für solche Thesen ist sehr dünn, meint dagegen Grigori Judin. In einem Interview mit der Novaya Gazeta räumt der Soziologe mit gängigen Klischees auf. 

    „Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Wlad Dokschin
    „Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Wlad Dokschin

    Novaya Gazeta: In einem Vortrag sprachen Sie kürzlich über das Modell des Homo Sovieticus, das von vielen russischen Soziologen aufgegriffen und von prominenten Persönlichkeiten unterstützt wird: Wladimir Putin etwa spricht von einem „Element des Kollektivismus“ in den Herzen der Russen. Ist da etwas dran?

    Grigori Judin: Es gibt die Sichtweise, die UdSSR habe eine neue anthropologische Art hervorgebracht, die zudem noch schrecklich resistent ist: Nichts kann ihr etwas anhaben. Dieser Typus vernichtet sämtliche Institutionen, die auf seine Transformation abzielen. Zu seinen typischen Eigenschaften gehören Konformität, Paternalismus; er liebt jede Form von Gleichmacherei. Insgesamt also ein höchst unangenehmer Typ, der bei jedem normalen Menschen Abscheu hervorrufen muss. All dem liegen zwei Dinge zugrunde, die man mit dem sowjetischen Menschen assoziiert: der Kollektivismus und der Hass auf den Individualismus.

    Das bringt uns in eine recht merkwürdige Situation. Denn sämtliche Studien zeigen, dass es überhaupt keinen Grund gibt, weder über den sowjetischen noch den heutigen russischen Menschen so zu denken. Überhaupt ist die Gegenüberstellung von Individualismus und Kollektivismus aus Sicht der Sozialwissenschaften ein fragwürdiges Unterfangen: Ihre Gründerväter waren eher um eine Synthese bemüht. 

    Russland ist eines der individualistischsten Länder überhaupt

    Und selbst wenn wir diese Dichotomie bemühen, stellen wir fest, dass im heutigen Russland die individualistische Denkweise viel stärker ausgeprägt ist. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die internationale Werte-Forschung, die es uns erlaubt, Russland mit anderen Ländern zu vergleichen. Wie sich herausstellt, ist Russland eines der individualistischsten Länder überhaupt.

    Womit hängt das zusammen?

    Das ist nicht weiter überraschend, denn die Institutionen des Kollektiv- oder gemeinschaftlichen Lebens, die den Individualismus ausgleichen würden, sind bei uns nicht entwickelt. Sie wurden in einem hohen Maß bereits in der späten Sowjetunion unterdrückt, und danach hat sich überhaupt niemand mehr darum gekümmert. Seit den 1990er Jahren versuchen wir, eine liberal-demokratische Gesellschaft aufzubauen, aber von den zwei Komponenten haben wir nur an eine gedacht. Wir haben eine gestutzte Version des liberal-demokratischen Systems importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie.

    Wir haben eine gestutzte Version importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie

    Damals bestand die Hauptaufgabe darin, eine Marktwirtschaft aufzubauen, wirtschaftliches Wachstum zu sichern, Konkurrenz zu schaffen. Unter Existenzangst verlangte man den Menschen Unternehmersinn ab und lehrte sie, dass niemand für sie sorgen wird, wenn sie es nicht selbst tun. Heute ist die Gewissheit, dass du keine Hilfe zu erwarten hast und jeder sich selbst retten muss, zum Grundprinzip des russischen Lebens geworden. 

    Das Ergebnis ist eine zunehmend radikale Entfremdung der Menschen voneinander und der fehlende Glaube an das gemeinschaftliche Handeln.
    Für den demokratischen Aspekt interessierte sich so gut wie keiner. Doch genau das, was wir also links liegen ließen, weil es uns unwichtig erschien, ist das Allerwichtigste: Institutionen der regionalen Selbstverwaltung, regionale Vereinigungen, Berufsverbände. Um den Ausbau der regionalen Selbstverwaltung hat sich in den 1990er Jahren niemand  gekümmert, und später wurde sie ganz bewusst unterdrückt. Niemand hat für Initiativen von unten und Berufsverbände gesorgt, ganz im Gegenteil, in allen Bereichen, die traditionell in den Händen von Fachleuten lagen, sehen wir heute die uneingeschränkte Macht von Managern.

    Aber dieser Individualismus ist keiner, den man als positiv bezeichnen kann. 

    Kürzlich wurde ich bei einem Vortrag gefragt: Welcher Schlüsselbegriff beschreibt die russische Gesellschaft, wenn es weder der Kollektivismus noch der Individualismus tun? Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.

    Aus soziologischer Sicht geht es nicht um einen Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus. Moderne Gesellschaften können nur bestehen, wenn ein gesundes Gleichgewicht zwischen den beiden existiert. Unser Problem ist, dass in Russland ein aggressiver Individualismus vorherrscht, der von Angst genährt wird und deshalb in brutale Konkurrenz, totales gegenseitiges Misstrauen und Feindschaft umschlägt.

    Verstehe ich richtig, dass ein gesunder Kollektivismus nicht das Primat der Gruppe über das Individuum meint, sondern die Idee eines Gemeinwohls? In Russland steht man dieser Sicht ja eher zynisch gegenüber.

    Genau das ist das Schlüsselwort, das die Alltagsmoral in Russland beschreibt: Zynismus. Wenn du dich lächerlich machen willst, musst du nur das Wort „Gemeinwohl“ in den Mund nehmen: Wo hast du denn so was je gesehen? Weißt du denn nicht, wie es auf der Welt zugeht? Genau diese ethische Grundeinstellung resultiert aus einem mangelnden Gleichgewicht, einem unterentwickelten Gemeinschaftsleben.

    Das Interessanteste ist, dass wir die Propaganda der Sowjetzeit gemeinhin belächeln, aber sobald es um den sowjetischen Kollektivismus geht, schenken wir ihr aus irgendeinem Grund weiterhin Glauben. Die UdSSR existiert seit 30 Jahren nicht mehr, aber wir glauben immer noch, dass die Sowjetmenschen echte Kollektivisten waren. Was an der spätsowjetischen Zeit so kollektiv gewesen sein soll, ist dabei völlig unklar. Es ist jedoch bequem, an die Mär vom schrecklichen sowjetischen Kollektivisten zu glauben – so können wir skeptisch herabschauen, anstatt zu handeln, und dabei auch noch das eigene Ego streicheln (ich bin ja ganz anders, weil ich Wert auf Persönlichkeit und Individualität lege).

    Richtet sich die heutige TV-Propaganda nicht in genau diesen Begriffen an das kollektive Unterbewusstsein der Russen? „Wir sitzen alle in einem Boot“, „wir müssen uns verbünden“ und so weiter.

    Natürlich, diejenigen, die diese Botschaften aussenden, wollen, dass wir uns mit ihnen verbünden. Gleichzeitig sagt man uns: Verbündet euch ja nicht untereinander. Das ist furchtbar gefährlich und kann nur in einer Revolution enden, diese Botschaft „Verlasst euch auf die Führung, unterstützt sie, und sie wird euch voreinander und vor heimtückischen Feinden beschützen“.

    Die Propaganda verbreitet also eine verzerrte Botschaft über die Notwendigkeit des Zusammenhalts, der Geschlossenheit. Aber funktioniert sie auch, oder macht das alles keinen Sinn?

    Sie funktioniert, man muss nur richtig verstehen, worauf sie abzielt. Das Ziel ist, die Atomisierung als eine unvermeidbare Tatsache hinzustellen. Die Botschaft der offiziellen Propaganda ist nicht, dass wir in einem perfekten Land mit tadelloser Regierung leben. Ganz und gar nicht – vielmehr sagt uns die Obrigkeit: „Ja, ich bin schlecht, aber wenn ich nicht da bin, wird es euch noch schlechter gehen, so ist das Leben. Jeder Mensch und jeder Politiker kümmert sich nur um sich selbst, das ist die menschliche Natur. Kollektives Handeln ist unmöglich. Und ganz egal, wer nach mir kommt, er wird kein bisschen besser sein, aber er wird euch nicht vor der Außenwelt beschützen können oder wollen. Es wird Chaos und Anarchie geben.“
    Die Hauptemotion, mit der die Propaganda arbeitet, ist die Angst, und das Hauptmotiv, dessen sie sich bedient, ist die Suche nach Schutz.

    Ein Thema, das aus den Nachrichten nicht mehr wegzudenken ist, sind die Beziehungen zur Ukraine. Das ist eine ziemlich schmerzhafte Geschichte: Ganze Familien sind wegen der Krim, dem Maidan und so weiter zerbrochen. Wie passt das zusammen mit dem ungesunden Individualismus der russischen Gesellschaft? Hat dieser Konflikt Konsequenzen, die nicht einkalkuliert waren?

    Wenn man sagt, dass es in Russland an kollektivem Leben mangelt, heißt das auch, dass das Bedürfnis danach immer da ist. Es gibt eine ganze Reihe von Anzeichen, dass die Menschen insgesamt nur schwer mit diesem Mangel umgehen können. Dieses Problem haben nicht nur wir: Immer häufiger hört man von der Rückkehr der Identität als einer der Haupttendenzen der liberalen und postliberalen Welt.

    Eine ganze Weile schien es, als würde unsere Welt flexibler werden, zu einem Ort, an dem sich jeder nach Belieben seine eigene Identität wählen und gestalten kann. Jetzt aber sehen wir, dass die Menschen überall auf der Welt versuchen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch der Rechtsruck und das Erstarken der konservativen Kräfte, die keine klaren Programme anbieten, sondern an die erwachenden Emotionen appellieren.

    Überall auf der Welt versuchen die Menschen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch das Erstarken der konservativen Kräfte

    Die Menschen streben stets nach einem kollektiven Leben, und in Russland sehen wir dafür viele Beweise. Die Geschichte mit der Krim kam 2014 – ein oder zwei Jahre, nachdem unterschiedliche  Teile der russischen Gesellschaft begonnen hatten, ihr Bedürfnis nach kollektivem Handeln zum Ausdruck zu bringen und sich Bewegungen und Demonstrationen anzuschließen.

    Sie meinen die Bolotnaja?

    Nicht nur, das ist ein Beispiel von vielen. Parallel dazu konnte man einen Boom beim ehrenamtlichen Engagement beobachten, der sich nur teilweise mit den Protestbewegungen überschnitt. Es gab ein allgemeines Bedürfnis, das auch heute noch spürbar ist. Der Mensch ist so geschaffen, dass er kollektive Ziele braucht, eine Identität.

    Die Mobilisierung von 2014 war ein Mittel der Machthaber, auf dieses Bedürfnis zu reagieren – teils unbewusst, teils aber auch mit Kalkül.

    Wir haben gesehen, wie dieselben Leute, die zwei Jahre zuvor bei diversen Bewegungen mitgelaufen waren, nun zum Gewehr griffen und in den Donbass fuhren. Und alles nur, weil sie, grob gesprochen, einen Sinn im Leben brauchten. Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn, sie sehen keine Ziele, die gesellschaftlich akzeptiert wären. Initiativen von unten werden im Keim erstickt; das einzige Lebensmodell, das angeboten wird, ist die Erhöhung des Konsumstandards. Aber Konsum kann keinen Sinn liefern, für den man lebt. 

    Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn

    Die Mobilisierung von 2014 hat gezeigt, dass die „konservativen Werte“, die dieses Vakuum vielleicht hätten ausfüllen können, gar nicht existieren. Viele Familien wurden entlang der Linie Russland/Ukraine gespalten. Jetzt beobachten wir die Spaltung der orthodoxen Kirche. Genau das meine ich mit Atomisierung – wenn die Institutionen des kollektiven Lebens schwach sind, ist es sehr einfach, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.

    Bis vor Kurzem schien es, als würde die Ukraine in den Hintergrund rücken. Jetzt ist sie wieder in den Nachrichten. Werden die Aufrufe der Propaganda wieder Gehör finden?

    Diesen Bonbon kann man nicht ewig lutschen. Ein paar Mobilisierungs-Reserven stecken vielleicht noch in diesem Thema, vor allem, wenn etwas Unerwartetes geschieht: Eine Verschärfung der Situation mit der Ukraine oder einem beliebigen anderen angrenzenden Gebiet – das könnte noch einmal denselben Effekt haben. Aber es ist klar – dies ist eine hohle Identität: Ja, es gibt Menschen, die zum Kämpfen in den Donbass gegangen sind, aber alle anderen sitzen weiterhin vor dem Fernseher. TV-Solidarität ist ein Surrogat, und Mal um Mal schwindet dessen Wirkung dahin.

    Die Fake-Mobilisierung übers Fernsehen findet ihr Ende. Auch wenn man die Dosis der Verstrahlung durch Propaganda noch erhöhen kann – eine solche Geschlossenheit wie früher wird es nicht mehr geben, denn die Propaganda ist zur Gewohnheit geworden. Die Nachfrage nach einer kollektiven Identität ist jetzt außer Kontrolle des Präsidenten und seiner Administration geraten. Deren Repertoire ist ausgeschöpft. Deswegen fangen die Menschen an, selbst etwas zu suchen, von unten.

    Weitere Themen

    Business-Krimi in drei Akten

    Wandel und Handel

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    Besondere russische Werte?!

    Panel #1: Gelten in Russland andere Werte als im Westen?

    Moskau. Kreml. Putin.

  • Knast mit Kaviar – wie geht das?

    Knast mit Kaviar – wie geht das?

    Sona, Zone, das ist ein russisches Synonym für Gefängnis, Lager. Der Jargon-Begriff geht zurück bis in die Zeit der Stalinschen Gulags, er beinhaltet die Abgeschlossenheit dieser Gefängniswelt, die eine Welt für sich ist, abgekoppelt vom restlichen Leben der Gesellschaft und mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Rund jeder vierte Mann aus Russland hatte oder hat derzeit Gefängniserfahrung.
    Kaum jemand außerhalb der Sona kennt diese Welt so gut wie Olga Romanowa. Die ehemalige, renommierte Journalistin ist Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja. Die Organisation unterstützt auch den Regisseur Kirill Serebrennikow. Als sie 2017 befürchtete, selbst unter falschen Vorwänden belangt zu werden, so erzählt sie in einem Interview mit Zeit-Online, verließ sie Russland und ging nach Berlin. Derzeit hält sie sich in Russland auf. Dort wird am 25. Januar ein Prozess wegen „Verleumdung“ gegen sie fortgesetzt: Romanowa weist die Anschuldigungen als fingiert zurück.

    Auf Carnegie.ru schreibt sie über die besonderen Gesetzmäßgkeiten in der Sona

    Wer ist wohl auf die Idee gekommen, dass ein Mensch, der in Schmutz, Kälte, Hunger und Erniedrigung versinkt, zu einem verantwortungsvollen Bürger und einer ausgeglichenen Persönlichkeit wird? Der populäre Spruch „das Gefängnis ist kein Sanatorium“ indes legt genau das nahe.
    Man reißt einen Durchschnittsbürger (der sich vielleicht einen Fehltritt geleistet, eine Straftat begangen hat, vielleicht aber auch unschuldig ist – bei dem aktuellen Zustand des russischen Gerichtssystems ist alles denkbar) aus den Durchschnittsbedingungen des russischen Lebens und Alltags heraus und steckt ihn in die Hölle. Einen Ort, an dem er nie für sich sein kann, an dem nie das Licht ausgeht, an dem es keinen Kontakt zu seinen Angehörigen gibt, an dem man ihn permanent erniedrigt und er schnell versteht, dass er keine Zukunft mehr hat.

    Man reißt einen Durchschnittsbürger aus dem Alltag und steckt ihn in die Hölle

    Dabei sehen die strafrechtlichen Maßnahmen im Prinzip die Einschränkung von nur einigen Rechten und Freiheiten des Bürgers vor, zum Beispiel dem Recht zu wählen und gewählt zu werden. Das Recht auf Leben, Arbeit, Erholung und sogar auf freie Meinungsäußerung ist ihm durch niemanden genommen. Aber nur in der Theorie. In der Praxis gerät er in eine höchst geschlossene Gesellschaft, in der man ihn seiner Individualität beraubt und ihm maximal eine Funktion zuweist: als Aktivist, Blatnoi, Gefallener. Oder als Milchkuh – ein Objekt, das man melken kann, eine zuverlässige Quelle der Schattenfinanzierung.
    Alle versuchen, unter den Bedingungen der hausgemachten Hölle zu überleben, die erschaffen wird, damit du dich wie ein Wurm fühlst. Jeder kann dich zerquetschen. Oder dich den Fischen zum Fraß vorwerfen. Oder mit dem Spatenende zweiteilen und beobachten, wie du dich windest.
    Aber man kann sich auch einigen. Auf erträgliche und besondere Haftbedingungen, auf VIP-Behandlung und überhaupt auf alles. Natürlich spielt Geld dabei eine wichtige Rolle, aber bei weitem nicht die wichtigste. 

    Die wichtigste Rolle spielen die Beziehungen zur organisierten Kriminalität, zur Wirtschaft und in die Politik.

    Die kriminelle Welt

    Zunächst einmal: Wer kann sich überhaupt einigen? Einigen können sich nur ernstzunehmende Leute über ernsthafte Dinge. Ein hochrangiger Dieb kann sich mit Hilfe von Mittelsmännern von draußen mit dem Leiter der Strafkolonie über fast alles einig werden.
    Er kann sich in einem stillen Winkel der Kolonie eine freistehende Datscha mit Garten bauen und dort leben, samt Gärtner, Koch und Bediensteten, die er aus den Mitgefangenen rekrutiert (das habe ich mit eigenen Augen gesehen in der Besserungskolonie (IK) in Talizy, Gebiet Iwanowo). Er kann sich einen Krankenausweis ausstellen lassen und in einer Sanitätsstelle eine Kur machen (so wird es in den meisten Gefangenenlagern praktiziert). Er kann sich in einem Zimmer für Langzeitbesuche einquartieren und seine Hetären empfangen (auch das ist bei Weitem kein Einzelfall).
    Im Laufe der Verhandlungen (bei schwieriger Verhandlungslage) demonstrieren sich die hochrangigen Parteien gegenseitig ihre Möglichkeiten: Zum Beispiel kann der Kolonieleiter beschließen, seinen Kontrahenten in die Einheit mit verschärften Haftbedingungen stecken (SUS, ein Gefängnis im Gefängnis); doch da geht das SUS plötzlich in Flammen auf. Für einen Sonderstatus braucht es nämlich andere schwerwiegende Argumente – Geld allein genügt nicht. Der Leiter demonstriert also, auf welche Art und Weise er einer Autorität das Leben vermiesen kann (ihn ins SUS stecken), die Autorität demonstriert ihrerseits, wie sie damit umgeht (Brand im SUS).

    Besondere Bedingungen dank besonderer Dienste

    Man kann sich besondere Haftbedingungen auch durch besondere Dienste verdienen. Was will der Leiter einer Strafkolonie? Er will Ruhe und Frieden. Er will keine Beschwerden, keine Briefe an die Staatsanwaltschaft, keine herumschnüffelnden Kommissionen.
    Wie lässt sich das bewerkstelligen? Man muss sich mit dem Blat-Komitee einigen, das mit der Aufsicht über die Zone betraut ist und die höchste Autorität mit stabilen Verbindungen zur organisierten Kriminalität darstellt. Das Blat-Komitee ist in der Lage, für die Abwesenheit von Beschwerden zu sorgen: Wer sich beschwert, wird so hart bestraft, dass er im Leben keinen Stift mehr in die Hand nehmen will, er wird bei jeder Überprüfung auf seine Mutter schwören, dass ihn der Teufel höchstpersönlich geritten hat, als er diese ehrlichen Menschen und die fürsorgliche Führung durch den Dreck ziehen wollte.
    Aber das erfordert natürlich Gegenseitigkeit. Die Leitung wird dem Blat-Komitee uneingeschränkten Zugang zu Mobilfunk, Drogen, Alkohol und Kartenspielen gewährleisten. Mit wem es diese Freuden teilen will, entscheidet das Blat-Komitee selbst. Wenn es das Blat-Komitee nach schwarzem Kaviar, Hummer und Mädchen gelüstet, ist das nur eine Frage der Kosten. Wenn die Partnerschaft verlässlich und effektiv ist – warum nicht.

    Die Verflechtung von Interessen von Menschen mit Abzeichen und dem Blat-Komitee ist überhaupt ein typischer Wesenszug unserer Zeit. Wenn man sich einige der Leute so ansieht, die seinerzeit den amtierenden Präsidenten umgaben (den Geschäftsmann Roman Zepow zum Beispiel), oder das, was man über den Freund des Präsidenten Jewgeni Prigoshin schreibt, wird schnell klar, warum viele diese Situation nicht weiter verwundert.
    Es liegt auf der Hand, dass die Affäre um Wjatscheslaw Zepowjas, der in einer Kolonie im Amur-Gebiet bei einem Festmahl mit Kaviar und Hummer abgelichtet wurde, ein spezieller Fall von genau dieser Art von Partnerschaft ist.

    Die Wirtschaft

    Verurteilte, die zwar über nennenswerte finanzielle Ressourcen verfügen, nicht aber über Beziehungen und Unterstützung in der kriminellen Welt, verstehen schon bei Inkrafttreten der Haftstrafe sehr gut, in welcher Situation sie sich befinden.
    Sie haben höchstwahrscheinlich schon unter unhaltbaren Bedingungen, die man künstlich erzeugt hat, in U-Haft gesessen. Meistens bitten die Ermittler um solche Haftbedingungen, ohne dass es laut ausgesprochen wird (oft müssen sie das auch gar nicht, es ist sowieso allen alles klar), damit der Inhaftierte die nötigen Aussagen schneller liefert – im Tausch gegen das Versprechen, ihm das Gefängnisleben erträglicher zu machen. Oder aber es ist die Leitung der Haftanstalt, die die Situation unerträglich macht und damit Verhandlungen über die Erleichterung der Haftbedingungen einleitet. Die Verhandlungsführung wird meist den Staatsanwälten überlassen. In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel [etwa 13.000 Euro – dek] im Monat aufwärts, pro Kopf.

    In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel im Monat aufwärts, pro Kopf

    Was ist eine VIP-Zelle in einer Moskauer U-Haft? Nichts Besonderes: Es wird nicht geraucht, man hat oft Hofgang, es gibt einen guten Fernseher und einen Kühlschrank, frische Bettwäsche und eine saubere Toilette mit Tür. Man darf warmes Essen aus dem Restaurant bestellen (das ist übrigens laut den U-Haft-Richtlinien erlaubt, doch nicht jedem gelingt es), fast unbegrenzt Pakete erhalten, und die Anwälte haben erleichterten Zutritt. Und natürlich gibt es Mobilfunk (aber damit kann man im Gefängnis kaum jemanden beeindrucken: Der Telefonzugang ist die billigste der verbotenen Dienstleistungen).
    Nach Erhalt des Geldes werden die Abmachungen erfüllt oder nicht – der Kunde kommt sowieso nicht wieder, da kann man ihn getrost vergessen. Dafür behält so ein Kunde auf ewig (das heißt für die Zeit in Haft) den Status einer Milchkuh.

    Häftling mit Status einer Milchkuh

    Gewöhnlich finden sich in dieser (relativ zahlreichen) Kategorie wohlhabende Leute wieder, die vielleicht sogar Beziehungen im Zivilleben haben, aber keinen Stand im kriminellen Milieu: verurteilte Bänker und Unternehmer. Meistens sind sie es, die folgenden Status bekommen: Sie wandern vom Untersuchungsgefängnis ins Haftlager, als Freundschaftsgeschenk des einen Gefängnisleiters für den anderen; dann werden sie den professionellen Geld-Abpressern aus dem Blat-Komitee zum Fraß vorgeworfen; sie werden gezwungen, neue Baracken zu errichten, die Verlegung von Straßen oder Glasfaserkabel zu bezahlen, der Führung eine Datscha zu bauen und Aufträge aus ihrem Unternehmen in die Zone umzuleiten.
    Unabhängig davon, ob die verurteilte Milchkuh noch Geld hat oder nicht, ist es für diese Kategorie extrem schwer, vorzeitig auf Bewährung freizukommen. Man wird es ihnen natürlich versprechen, wird Belohnungen liefern (nicht umsonst), aber im letzten Moment kommt jemand und macht mit einer negativen Beurteilung oder einer Strafe alles zunichte. Wozu auch jemanden vorzeitig entlassen, der dir Baracken baut, die Renovierung bezahlt, der Kolonie Aufträge verschafft und mit seinem Geld für Wärme sorgt.

    Die Politik

    Wenn die Politik involviert ist, helfen weder Beziehungen noch Geld. Vor allem, wenn es um einen aufsehenerregenden Fall geht, auf dem die öffentliche Aufmerksamkeit ruht. Weder Nikita Belych noch Alexej Uljukajew werden je besondere Haftbedingungen haben. Aber auch besondere Torturen drohen ihnen nicht. Das Wissen darum, dass diese Verurteilten immer unter verschärfter Beobachtung stehen werden, dass sie Besuch von Anwälten und Familienangehörigen bekommen werden, bewahrt sie vor den sadistischen Anwandlungen der Mitarbeiter und Mitinsassen.
    Dasselbe gilt für Verurteile, die offiziell als politische Gefangene gelten (zum Beispiel, wenn Memorial sie als solche anerkennt).

    Verschwiegenheit und ein garantiertes informationelles Vakuum sind die Bedingung dafür, dass die Mitarbeiter des FSIN für einen Verurteilen mit Geld und Beziehungen besondere Haftbedingungen einrichten. Deshalb ist die Reaktion der FSIN-Leitung auf den Skandal um Zepowjas charakteristisch: Zusätzliches Essen ist bei uns erlaubt, heißt es dann, zu fotografieren und die Bilder zu veröffentlichen aber nicht. 
    Das ist auch der Grund, warum der russische Strafvollzugsdienst einen so erbitterten Kampf gegen die öffentliche Kontrolle führt: Für das System ist nicht der Fakt der Korruption entscheidend, sondern dessen Bekanntwerden. Übrigens haben sie das Gleiche auch im Falle der Folterungen gesagt.

    Es fällt auf, dass sich in den jüngsten Skandalen um den FSIN nie auch nur jemand daran erinnert hat, dass dieses System dazu da ist, auf die menschliche Natur einzuwirken und sie zu verbessern. Und dafür gibt es eine Erklärung: Besserung war nie vorgesehen. Das System heißt ja auch „Föderaler Strafvollzugsdienst“. Von „Besserung“ ist da nirgendwo die Rede.

    Weitere Themen

    „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    Presseschau № 45: Fall Uljukajew

    Unter die Haut

    Der Fall Uljukajew – und seine Vorbilder

    Debattenschau № 57: Regisseur Kirill Serebrennikow unter Hausarrest

    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

  • Loblied auf die Korruption

    Loblied auf die Korruption

    Ja, klar, sie klauen, aber wenigstens bringen sie keinen um, beziehungsweise manchmal schon, aber das ist nicht ihr Ziel. Und auch uns bleiben ja wiederum ein paar winzige Annehmlichkeiten … 
    Iwan Dawydow auf Republic mit einem (zwiespältigen) Loblied auf die Korruption.

    Einen meiner Bekannten hat das Leben nach England verschlagen. Dass die Russen eine Vorliebe für spitze Türme haben, ist ja allgemein bekannt. Doch sobald sie sich sattgesehen haben, bekommen sie Heimweh – der eine nach Buchweizen, der andere nach Roggenbrot. Auch meinem Bekannten erging es so. Jedes Mal, wenn er in Moskau ist, wird getrunken, klar, und wenn er getrunken hat, fängt er an zu erzählen, wie viel Glück wir doch haben. Und wie wenig wir doch unser Glück zu schätzen wüssten. Wir würden gar nicht begreifen, wie viele Vorteile uns die Korruption beschere. „Hier“, sagt er und kämpft mit den Tränen, „hier fahre ich betrunken über eine durchgezogene Linie, und was passiert? Nichts passiert. Ich zahle und fahre weiter. Aber dort …“ Und in die Tränen mischt sich offener Hass gegenüber diesem „dort“.

    Mit der Rückkehr nach Hause hat er es aber nicht besonders eilig. Er leidet und hält durch. Die Russen leiden gerne, auch das ist allgemein bekannt.

    Im Gefängnis sind noch mehr Russen als in London

    Ein anderer Bekannter von mir, ein erwachsener, gestandener Mann, der schon zu Sowjetzeiten eine Neigung zu dem hatte, was das Strafgesetzbuch als Betrug bezeichnet, kam einmal ins Gefängnis. Daran ist erst einmal nichts Außergewöhnliches. Im Gefängnis sind noch mehr Russen als in London. Er hegte den Wunsch, auf Bewährung rauszukommen, und fand heraus, dass der Leiter der Strafkolonie ein interessantes Hobby hatte. Er züchtete Kaninchen, besaß Käfige (offenbar eine Berufskrankheit; die Neigung dazu, die gewohnten Bedingungen auch auf andere Ebenen zu übertragen). In den Käfigen saßen die Rammler, er fütterte sie mit Kohl und freute sich an ihrer Niedlichkeit.

    Aber er war nicht bloß Kaninchenzüchter. Er war auch Sammler.

    In den Käfigen saßen edle Kaninchen seltener Rassen. Doch er wollte eine noch seltenere Rasse besitzen. Der Mensch braucht ja Träume. Mein Bekannter recherchierte, fand heraus, dass genau solche in einer Tierzucht in der Nähe von Rjasan gezüchtet werden, und beauftragte seine Kumpels auf freiem Fuß damit, das kostbare Geschenk für den Leiter zu besorgen. Darüber, wie ein paar ziemlich harte Typen zwei Kaninchen quer durchs Land fuhren, hätte man einen Film drehen können, doch als sie ankamen, stellte sich heraus, dass ihnen jemand zuvorgekommen war und der Leiter diese Rasse schon in seiner Sammlung hatte. Außerdem stellte sich heraus, dass man diese für die Bewährung notwendigen „Belohnungen“ problemlos kaufen konnte – 10.000 Rubel das Stück. Mein Bekannter machte vor Freude einen Luftsprung und sagte, er nehme gleich hundert. Der bescheidene Leiter der Strafkolonie senkte den Blick und bemerkte, dass ein Dutzend ja auch schon genügen würde.

    Der Bekannte kam frei und sprach von dem Kaninchenzüchter aus dem Strafvollzug seitdem nur ausgesprochen liebevoll.

    Woher diese Korruptionäre kommen, ist ein Rätsel

    Überhaupt sind wir von von Grund auf ehrlichen Menschen umgeben, niemals besticht jemand irgendjemanden, woher diese Korruptionäre kommen, ist ein Rätsel, und doch hat jeder von Grund auf ehrliche Mensch eine eigene Bestechungsgeschichte zu erzählen. Auch ich habe meine. Vor langer Zeit, als noch Freiheit herrschte, lebte ich in einer Mietwohnung. Einmal, nach einer wilden Party, weckte mich ein Polizist und stieß einen Jubelschrei aus, als er hörte, dass ich in der Wohnung nicht gemeldet war. Er lud mich und den Wohnungseigentümer zu sich aufs Revier ein und kam gleich nach den Begrüßungsformalitäten zur Sache. Er zeigte auf eine aufgeschlagene Zeitschrift auf seinem Tisch und sagte: „Ich brauche ein Lesezeichen“ (ich glaube, damals bedeutete das Wort „Lesezeichen“ wirklich nur Lesezeichen). Ich legte einen Schein mit Benjamin Franklins Porträt zwischen die Seiten, der bekanntermaßen nie Präsident der USA war. Der Beamte klappte die Zeitschrift zu und sagte: „Danke schön. Ich komme in einem Jahr wieder.“

    Ich zog aus, an den höflichen Polizisten dachte ich schon gar nicht mehr, bis mich genau ein Jahr später völlig ratlos mein Freund anrief, der nach mir in die Wohnung gezogen war, und erzählte: „Hier ist irgend so ein Polizist. Er sagt, ich schulde ihm 100 Dollar.“ „Stimmt, du schuldest ihm 100 Dollar“, bestätigte ich. „Warum?!“ – „Weil er Polizist ist, und du nicht.“

    Und keiner wundert sich

    Korruption ist das unbedingte Böse. Es kommt vor, dass Korruption tötet: Simnjaja Wischnja, Bulgarija und so weiter, die Liste der Beispiele ist leider lang. Dabei haben wir einfache Russen uns längst mit der Tatsache abgefunden, dass jeder Bürger, der die Macht zu fassen kriegt (jede Macht, von der kleinsten bis zur beinahe unbeschränkten), zu Diebstahl und Erpressung neigt. Man empört sich gewöhnlich, wenn man Ergebnisse immer neuer Untersuchungen liest, den erbärmlichen Prunk der Schlösser bestaunt, mit Häuschen für Bedienstete und Häuschen für Entlein, aber man wundert sich überhaupt nicht. Wundern würde man sich wohl über eine fundierte Untersuchung, die belegt, dass ein Staatsbeamter X ehrlich von einem einzigen Gehalt lebt. Aber eine derartige Untersuchung hat noch nie jemand veröffentlicht und wird vermutlich auch nie jemand veröffentlichen.

    Eine Menge eigentümlicher Annehmlichkeiten

    Der Kampf gegen die Korruption gerät hierzulande ständig ins Stocken. Zum Teil, weil sich die echten Mechanismen der Korruptionsbekämpfung in den Händen eben jener befinden, die sich von dieser Korruption ernähren. Zum Teil liegt es an unserer eigenen Ergebenheit, der Bereitschaft, den unredlichen Reichtum der Mächtigen als unabdingbar ins gewohnte Weltbild zu schreiben. Bis dato ist Ergebenheit ein weiterer Wesenszug der Russen. Zum Teil aber auch, möchte man meinen, weil Korruption sogar dem einfachen Bürger, sogar einem Opfer der Korruption, eine Menge eigentümlicher Annehmlichkeiten sichert. Im Sinn haben wir alle genau das, was mein betrunkener Gast aus London laut ausspricht.

    Ein großer Teil des russischen Lebens besteht aus dem Hindurchlavieren zwischen tödlichen Gefahren, deren Ursache die Korruption ist, und lächerlichen Annehmlichkeiten, für die dasselbe gilt. Es ist ein banges Leben, wenn man sich klarmacht, dass jedes einzelne Gebäude über dir einstürzen könnte, weil der Bauherr die Bauaufsicht geschmiert hat und der Subunternehmer Sand statt Zement verwendet. Aber es ruft auch Panik hervor, sich in die Papierhölle der Bürokratie zu vertiefen. Schwer zu sagen, was bei unseren Gewohnheiten mehr Schrecken erzeugt. Doch die Wahl zwischen den beiden Optionen ist sowieso illusorisch – die Papierhölle ist nämlich nicht dazu gedacht, das Prozedere zu überwachen, sondern sie dient der Erpressung.

    Makabere Lotterie mit hohem Einsatz

    Das Ergebnis ist eine makabere Lotterie mit hohem Einsatz. Wenn du lebst und in Freiheit bist, hast du bisher Glück gehabt, wenn du stirbst, ist alles vorbei, und wenn nur deine Freiheit vorbei ist, beginnt eine neue Lotterie. Vielleicht wird man dich schlagen und foltern, vielleicht auch nicht. Aber sicher ist, dass es immer einen Weg geben wird, sich zu einigen, und sogar an Orten, die eher unangenehm sind, zum Schaschlik einen Cognac hinunterzustürzen. 

    Aber vor allem scheint es, als würden wir den Rest der Welt allmählich auch an diese Lotterie gewöhnen. Unser nationaler Leader schüchtert die Welt eifrig mit dem Endkrieg ein, zeigt Zeichentrickfilme mit Raketen, prophezeit den Feinden den Tod und den Freunden den Weg ins Paradies. Also auch den Tod. Klingt beeindruckend und hebt nicht gerade die Stimmung, doch dann taucht eine neue Untersuchung auf – sogar zwei, von der Novaya Gazeta und von Nawalny – die recht ausführlich darlegen, dass das Geld, welches für die furchteinflößenden Raketen gedacht war, höchstwahrscheinlich einfach geklaut wurde, so wie das hier eben üblich ist. Du liest, empörst dich, wunderst dich nicht – alles in allem das bekannte Gefühlsspektrum – aber vor allem begreifst du, dass es keinen Krieg geben wird. Wie denn, Krieg ohne Raketen?

    Und so wursteln sie herum auf dem geschundenen Leib der armen Heimat, die Satten und Unersättlichen, ziehen, zerren und schleppen das Zusammengeklaute, Häuser für Entlein und Schlösser am Comer See, züchten Kaninchen und nehmen uns aus wie dieselbigen, und du schaust sie dir an und denkst, na ja, vielleicht sollte man sie lassen? Ja, klar, sie klauen, aber wenigstens bringen sie keinen um, beziehungsweise manchmal schon, aber das ist nicht ihr Ziel, und auch nicht alle auf einmal, obwohl sie doch könnten. Und auch uns bleiben ja wiederum ein paar winzige Annehmlichkeiten …

    Die Russen gehen gerne im Kreis, auch das ist, glaube ich, allgemein bekannt.

    Weitere Themen

    Business-Krimi in drei Akten

    Oden an die Hunde von Schuwalow

    Exportgut Angst

    „Es war egal, ob ich was gestehe oder nicht“

    Kafkas Schloss und Medwedews Villen

    Die Honigdachs-Doktrin

    Video #15: Putin: Jetzt hört uns zu

  • Playlist: Best of 2018

    Playlist: Best of 2018

    Die besten russischen Interpreten des Jahres 2018 – ein Ritt durch die Genres. Eine Auswahl der Colta-Redaktion: subjektiv, überraschend, jung.

    LEITMOTIV DES JAHRES

    Verbotene Lieder

    2018 sind in Russland erneut verbotene Musik und schwarze Listen von Musikern aufgetaucht, ganz nach Vorbild der UdSSR 1984. Diverse Machtinstanzen, angefangen bei städtischen Verwaltungen und regionalen Staatsanwaltschaften bis hin zu den Ermittlungsbehörden der Russischen Föderation, haben sich der Analyse populärer Songs auf VKontakte verschrieben, haben nach Propaganda für Suizid, Extremismus, Drogen und sogar Kannibalismus gesucht und als präventive Maßnahme schlicht „per Telefon“ Konzerte abgeblasen.

    Unter den Opfern fanden sich Poschlaja Molli (dt. „Gemeine Molli“), Friendzona, Monetotschka (dt. „Kleine Münze”), Allj, Gunwest, Jah Khalib, Matrang, Husky und IC3PEAK – diese völlig unterschiedlichen Künstler waren gezwungen, ihre Auftritte abzusagen oder zu unterbrechen und wurden von der Polizei festgehalten und gefilzt.

    Das einzige, was diese Musiker verbindet, ist wohl ihre Beliebtheit bei der Generation VKontakte und die Beunruhigung, die bei der älteren Generation ausgelöst wird durch ihren Einfluss auf die jungen Gemüter; diese ältere Generation fordert nun im Namen aller Eltern in ganz Russland, [die Jugend] „abzuschirmen und zu beschützen“. Dafür bedient sie sich so traditioneller wie ineffektiver Methoden: Denunziation und Druck, die in polizeiliche Willkür münden.

    Der Grad an Besorgnis ist dermaßen ausgeartet, dass man sich angesichts der zersetzenden Kraft der neuen russischen Popmusik, die laut den Beschwerdeführern auf den Säulen „Sex, Drogen und Protest“ ruht, mit dem Präsidenten der Russischen Föderation beriet. Der bemerkte weise, es sei zwecklos, Konzerte zu verbieten – wenn man die Bewegung nicht aufhalten könne, müsse man sie organisieren und lenken. Damit ist der Staatsauftrag für korrekte, ideologisch reine, sterilisierte und fettfreie Popmusik bereits formuliert; warten wir also ab, wie die wachsamen Veteranen des Showbiz und die Funktionäre des Kulturministeriums ihn im neuen Jahr umsetzen werden.


    KONZERT DES JAHRES

    Soli-Konzert für Husky: Ich werde meine Musik singen im GlawClub Green Concert

    Die breiteste Medienresonanz in der Reihe der Konzertabsagen und -verbote hat der Fall Husky ausgelöst. Husky alias Dimitri Kusnezow hatte auf die Provokation durch die Polizei reagiert und sich in Krasnodar zwölf Tage Haft wegen „geringfügigen Rowdytums“ eingehandelt – dadurch konnte er die russische Rap-Szene hinter sich vereinigen. 

    Das Solidaritätskonzert Ich werde meine Musik singen, das [seine Rapper-Kollegen] Oxxxymiron, Noize MC und Basta daraufhin auf die Beine stellten, war schon wenige Stunden nach den ersten Ankündigungen ein historisches Ereignis: Die Tickets waren im Nu ausverkauft, die Kasseneinnahmen in Höhe von sechs Millionen Rubel flossen in die Hilfe für Husky, die Strafe wurde infolge des ganzen Rummels überprüft und der Rapper sogar wieder freigelassen. 

    Das Soli-Konzert hat gezeigt, dass russische Musiker durchaus in der Lage sind, für sich und das Recht auf Meinungsäußerung einzustehen, wenn sie es schaffen, an einem Strang zu ziehen.


    NACHWUCHS DES JAHRES: SONGWRITING

    Monetotschka: Raskraski dlja Wsroslych (dt. „Ausmalbilder für Erwachsene“)

    Die Jugend (und das Äußere) der aktuellen Interpreten und vor allem Interpretinnen – vor allem das hielt die Beobachter der inländischen Popkultur in diesem Jahr beschäftigt. Das zweite Album von Monetotschka alias Lisa Gyrdymowa ist wohl das bestartikulierte Argument dafür, der Jugend so oft wie möglich das Recht auf ihre Stimme zu geben: Das Album ist zeitkritisch, brandaktuell, witzig, weise, sanft, treffsicher und zu hundert Prozent von heute.

     


    NACHWUCHS DES JAHRES: TEXTE


    Lizer: Teenage Love
    GONE.Fludd: Supertschuits

    Auch die hippe russische Rapszene verjüngte sich in diesem Jahr rasant: Die erdrückende Mehrheit der lautesten und herausragendsten Rap-Platten des Jahres kam von Künstlern um die zwanzig. Am liebsten mögen wir diese zwei Jungs, die beide von ihrer eigenen individuellen Seite ins Rap-Spiel eingestiegen sind. Lizer hat der leicht miefigen machohaften Welt des russischen Rap eine jugendlich-anrüchige, geradlinige Aufrichtigkeit eingehaucht, GONE.Fludd hat ihr die verrückten Farben psychedelischer Fantasien verpasst und dabei eine ganz eigene Sprache erfunden.


    COMEBACK DES JAHRES

    Yury Chernavsky: Woswraschtschenije na Bananowyje Ostrowa (dt. „Rückkehr auf die Bananeninseln“)

    Ohne Yury Chernavsky – den ersten Produzenten der UdSSR – wäre die auch so nicht gerade farben- und stilfrohe russische Popszene noch weitaus ärmer. Wie großartig und symbolisch, dass sich der Maestro, der längst in den USA lebt, zum 35. Geburtstag seines Kultalbums Bananowyje Ostrowa erstmals wieder der russischen Öffentlichkeit präsentierte.


    ROOTS DES JAHRES

    Abstraktor: Abstraktor

    Konservatorium umarmt Kornfeld (oder umgekehrt). Im Bandnamen des Woronesher Trios Abstraktor trifft „Abstraktion“ auf „Traktor“, während in ihrer Musik kompositorischer Post-Jazz auf Folk trifft – und was dabei herauskommt, ist unfassbar ansteckend und lebendig. Nein, echt, das ist, als würdest du selbst übers Feld laufen, deine Hände fahren durch die Ähren, und der vom Wald herüberwehende Wind lässt Haar und Hemd aufwirbeln.


    KAMPF DES JAHRES

    Posory: Dewitschje gore (dt. „Schande“: „Das Leid der Mädchen“)

    Die Girls schlagen zurück – zornig, laut, kompromisslos, hinreißend. Das Debüt-Minialbum des Trios aus Tomsk betritt das (leider brandaktuelle) Schlachtfeld der Geschlechter erhobenen Hauptes, mit geballten Fäusten und der Bereitschaft, sofort und mehrfach jedem eine reinzuhauen, der ihnen Steine in den Weg legt – und das klingt so gerecht und hammermäßig, dass man unmöglich nicht aufstehen und mitlaufen kann.


    BEGEGNUNG VON VERSTAND UND TANZ DES JAHRES


    Kate NV: Dlja/For
    GSch: Polsa (dt. „Nutzen“)

    Diese zwei Alben klingen vielleicht nicht unbedingt ähnlich – auf dem einen spielt impressionistischer Ambient mit Klängen, auf dem anderen donnert architektonisch ausgefeilter Indie-Rock mit Gitarren. Und doch haben diese beiden Projekte, vereint in der Person von Katja Schilonossowaja, etwas gemeinsam – allem voran das Vermögen, sich bei aller formellen intellektuellen Strenge der Musik dem Leben und der Freude, der Sonne und dem Tanz zu öffnen. Blendend.

    [video:]

    DIE HOFFNUNGEN DES JAHRES

    Die „Neue russische Welle“ im Ausland

    2018 verlässt uns mit dem Gefühl, dass die russischen Musiker keine Angst vor dem neuen Eisernen Vorhang haben, der zwischen Russland und dem Rest der Welt durch die Außenpolitik des Landes und die Wirtschaftssanktionen errichtet wird.

    Trotz der unvorteilhaften Medienumgebung und den unvermeidbaren Übersetzungsproblemen nimmt der Westen unser Produkt mit großem Interesse auf. Die ausländische Musikpresse schreibt plötzlich begeistert von einer „Neuen russischen Welle“ – zum ersten Mal seit dem Roten Rock der Perestroika-Zeit. Und sie haben allen Anlass dazu: Die internationalen Erfolge von Kate NV, GSch, Shortparis, Kedr Livanskiy und selbst der Meme-Hit Skibidi von Little Big lassen hoffen, dass der Prozess der kulturellen Integration gerade erst an Fahrt aufnimmt.


    RITT DES JAHRES

    Pognali: Ty w porjadke (dt. „Auf gehts!“: „Du bist in Ordnung“)

    Pognali machen Rockmusik, die so erschütternd klar ist, als käme sie geradewegs aus den 1968ern zu uns – noch bevor die Gigantomanie des Progressive Rock mit ihren lauten E-Gitarren die Musik überwuchert hat und wir uns wie mit einer Elektroschockbehandlung mit dem Primitivismus des Punk davon reinwaschen mussten.

    Das ist wahrscheinlich der größte Triumph des Albums – hier erklingt Musik, die man vom Aufbau her instinktiv dem Classic Rock zuschreiben will, doch dabei hat sie nichts von all dem unangenehmen Gepäck, das sich über fünfzig Jahre darin angesammelt hat: dem Konservatismus, dem Macho- und Posergehabe. Nur ausgelassene Virtuosität und reine, glückselige Energie.


    MUSICAL DES JAHRES

    Leto

    Kirill Serebrennikow hat mal wieder ins Schwarze getroffen: Der auf wahren Begebenheiten basierende Musikstreifen Leto hat unglaubliche Resonanz bekommen und das Publikum maximal polarisiert. Dabei ist das Skandalpotential der Geschichte strenggenommen minimal – ein platonisches Techtelmechtel aus einem Sommer im fernen Jahr 1981. Aber weil in das Liebesdreieck zwei Helden des russischen Rock verstrickt sind – der Heilige (Viktor Zoi) und der Kultstar (Mike Naumenko) – hat der Film niemanden kaltgelassen.


    INFERNO DES JAHRES

    Jars: Dshrs II

    „Sabotiert alles!“, schreit sich die Moskauer Band Jars die Lunge aus dem Hals, während dazu der Bass ohrenbetäubend dröhnt, die Gitarre heult und kreischt und das Schlagzeug scheppert wie ein Metro-Waggon, der über deinen Kopf rast. Der blindwütige Noise-Rock von Jars wirkt so ähnlich wie ein Molotowcocktail, der in deinem Gesicht landet – schlag zu, renn, brüll, schüttel dich in Krämpfen, tu, was du willst, aber vergiss keine Sekunde, dass du immer noch kategorisch und voller Wut am Leben bist.


    Übersetzung (gekürzt): Jennie Seitz
    Veröffentlicht am 08.01.2019

    Weitere Themen

    Musyka: „Ich gehe einfach raus und spiele“

    Musyka: Pharaoh – der Zar des russischen Hip-Hop

    Playlist: Best of 2017

    Schanson à la russe

    „Russland ist ein einziges großes Meme“

    „Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“