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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Putin – Geisel der 1990er Jahre?

    Putin – Geisel der 1990er Jahre?

    Winston Churchill wird ein Satz zugeschrieben, den im heutigen Russland wieder viele zitieren: Stalin, so der damalige britische Premierminister, habe das Land mit dem Pflug übernommen und mit der Atombombe hinterlassen. Als Wladimir Putin vor 20 Jahren an die Macht kam, war er ein weitgehend unbeschriebenes Blatt: Kaum jemand in Russland wusste etwas über den neuen Mann im Kreml. Vielerorts herrschte aber gleichzeitig Optimismus: Nach den katastrophalen 1990er Jahren, so der Tenor, könne es nur besser werden. 

    Obwohl der Präsident nach zwei Jahrzehnten weit davon entfernt scheint, von der Macht abzulassen, ziehen nun viele in Russland eine Bilanz seiner Politik. Was hat Putin von seinem Vorgänger Boris Jelzin übernommen? Und wie steht es um das heutige Russland?

    In einem Parforceritt durch die neueste Geschichte Russlands geht auch der Journalist Juri Saprykin diesen Fragen für Vedomosti nach. 

    Die dramatischen Ereignisse im Russland der späten 1990er Jahre – der Krieg zwischen Oligarchen und Regierung, der krisengebeutelte August 1998, das Wechselspiel um die Ministerpräsidenten, der Beginn des Zweiten Tschetschenienkriegs, Jelzins Rücktritt und die Wahl seines Nachfolgers – waren eingerahmt von der Veröffentlichung zweier Filme von Alexej Balabanow um ein und denselben Protagonisten. Der Zweiteiler Brat [dt. Der Bruder] hat, wie es heute scheint, den Nerv der gesellschaftlichen Erwartungen wie nichts anderes getroffen, er formulierte die Forderung an die zukünftige Regierung und sagte in vielem die Logik ihrer Entwicklung voraus. 

    „In der Wahrheit liegt die Kraft“

    Die nationale Idee, an deren Entwicklung in Jelzins Auftrag ganze Intellektuellenstäbe geschuftet hatten, wurde von Danil Bagrow in ein paar wenigen lakonischen Sätzen auf den Punkt gebracht. Brat-1 formulierte die Forderung nach einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit in ihren grundlegendsten Formen: Die Schwachen müssen geschützt und die enthemmten Starken in die Schranken gewiesen werden. Brat-2 fing das Gefühl der nationalen Demütigung ein, die aus der Niederlage im Kalten Krieg und dem Auseinanderbrechen der gewohnten Lebensordnung folgte. Die mittlerweile abgegriffene Phrase „in der Wahrheit liegt die Kraft“ las sich 1999 nicht als Verweis auf eine geheimnisvolle russische Seele, sondern als Appell an einfache ethische Grundregeln, als Hoffnung auf ein Leben, in dem nicht alles von Geld oder roher Gewalt bestimmt wird, in dem es ein Oben und ein Unten gibt, Schwarz und Weiß. Die rasant wachsende Zustimmung für Putin Ende 1999 war die Hoffnung auf einen Leader, der zwischen Gut und Böse unterscheiden und das Böse abwehren kann. Wer die Wahrheit hat, hat die Kraft.

    Notwendiger Preis für die Erlösung aus dem Notstand 

    Das Publikum, dem Charme von Sergej Bodrow jr. gänzlich erlegen, verzeiht seinem Helden die unlauteren Methoden. Genau so verschloss die Gesellschaft Anfang der 2000er Jahre die Augen vor der Tatsache, dass die Wiederherstellung der Spielregeln in Wirtschaft und Medien mit einer gewaltsamen Einverleibung des Privateigentums einherging und die Spezialeinsätze gegen Terroristen mit exorbitanten zivilen Opferzahlen. Das wahllose Geballer im Film und die ausufernden Gewaltmethoden in der russischen Politik lassen sich auf die außergewöhnlichen Umstände schieben: Die Menschen sahen darin den notwendigen Preis für die erhoffte Erlösung aus dem Notstand und die Wiederherstellung der Normalität. 

    Der Staat unter Putins erster Amtszeit zwang niemandem seine Ideologie auf, mischte sich nicht ins Privatleben ein; er schuf die Bedingungen für Wirtschaftswachstum und neue Konsummöglichkeiten, und selbst die Serie von Katastrophen und Tragödien Anfang der 2000er Jahre (Kursk, Nord-Ost, Beslan) vermochte nicht das Vertrauen zu erschüttern, dass das Leben sich in die richtige Richtung bewegt. Wir fliegen nach Hause.

    Putin als Geisel der Weltsicht

    Allmählich entwickelte die Regierung ihren eigenen Stil, ihre eigenen Manieren – und dieser Verhaltenskodex war dem von Danila Bagrow verdächtig ähnlich. Was im Film als groteskes Detail daherkommt, ein Produkt der Ironie des Regisseurs, ließ sich am einfachsten umsetzen: der Antiamerikanismus, der Gossenslang, die Sowjetnostalgie, die vetternwirtschaftliche Solidarität – das alles ging in die Alltagspraxis der Staatsmacht über, während die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und die endgültige Rückkehr zum normalen Leben in noch weitere Ferne rückten. Das politische Regime, das sich unter Putin formierte und seine Legitimität weitgehend aus dem Versprechen zog, es werde „keine Rückkehr in die wilden 1990er“ geben, wurde de facto zur Geisel der Weltsicht und der Methoden jener 90er Jahre, wo Wohlstand von der Nähe zum Thron abhing, Gesetze per Handsteuerung umgesetzt wurden und die Kraft letzten Endes immer in Geld bemessen wurde. 

    Der gegen Banditen kämpfende Danila schafft es nicht, sich im friedlichen Leben zurechtzufinden – und genauso beginnt auch die neue Staatsmacht, nachdem sie die Krisenzeiten der 2000er Jahre überlebt hat, die Krisen selbst zu generieren. Die Yukos-Affäre, Einschüchterungsaktionen durch kremltreue Halbstarke, der Druck auf die Presse, die Ermordung Anna Politkowskajas – das war sicher nicht das, was die Gesellschaft im Sinn hatte, als sie sich einen starken und gerechten Leader erhoffte, aber die Staatsmacht hatte bereits begonnen, nach ihrer eigenen Logik zu leben, in der sie die zunehmenden Spannungen mit sportlichen Siegeszügen und einer aggressiven außenpolitischen Rhetorik ausbügelt.

    Für die am Westen orientierte Schicht wurde der Staat ein Dienstleister

    Das Bedürfnis nach Stabilität in ihrer zutiefst kleinbürgerlichen Variante – der Regeneration des täglichen Lebens – wurde in den 2000er Jahren von unten erfüllt, durch einen Konsum-, Tourismus- und Gastronomieboom. Die Großstadtbevölkerung gewöhnte sich an den Gedanken, dass „man gut leben muss“, und begegnete auch der Regierung mit derselben Konsumentenhaltung: Für die am westlichsten orientierte Schicht wurde der Staat nur einer von vielen Dienstleistern, und er sollte effektiv arbeiten, zusätzliche Annehmlichkeiten schaffen und für die öffentliche Kontrolle transparent sein. 

    Die Modernisierungsrhetorik der Medwedew-Epoche stützte diese Erwartungen, während sie ihre Erfüllung weiter auf eine undefinierte Zukunft verschob. In der Praxis sahen sich die Bürger zunehmend mit korrumpierten Beamten, polizeilicher Willkür und Gerichten konfrontiert, die manuell gesteuert werden. Die per Handsteuerung entschiedene Machtfrage signalisiert deutlich, dass dieses Lebenskonstrukt unverändert bleiben und die in die Zukunft verschobene „Normalisierung“ endgültig von der Tagesordnung gestrichen wird. Über der unter Putin aufgewachsenen Mittelschicht liegt eine Wolke der Hoffnungslosigkeit, im russischen Facebook diskutiert man die Möglichkeiten der äußeren oder inneren Emigration. Der Anfall der kollektiven Depression entlud sich in den aufflammenden Protesten im Winter 2011/12, woraufhin Stabilität und Gerechtigkeit endgültig zu rhetorischen Figuren verkamen, die nur dazu da sind, beim Direkten Draht des Präsidenten mantraartig wiederholt zu werden.

    In den Protesten 2011/12 entlud sich eine kollektive Depression 

    Seit 2012 versucht der Staat nicht mehr, eine in der Luft umherflirrende nationale Idee einzufangen oder einer unausgesprochenen gesellschaftlichen Forderung nachzukommen. Er formuliert erstmals in seiner postsowjetischen Geschichte eine eigene offizielle Quasi-Ideologie, die das Fundament der nationalen Identität bilden soll. Russland sei ein besonderes Land. Seine Basis sei eine starke Führung, der Patriotismus, die Ehrfurcht vor der Religion und traditionellen Familienwerten. Es ist (und war schon immer) umzingelt von Feinden, die ihm seine Naturreichtümer und moralische Erhabenheit neiden. Außerdem habe Russland den Faschismus besiegt und würde das im Notfall wiederholen. Diese Ideologie wird durch eine Reihe von Propagandakampagnen untermauert, die die Gesellschaft gegen eine herbeikonstruierte äußere Gefahr mobilisieren, etwa Aktionskünstler und -künstlerinnen, die den orthodoxen Glauben verhöhnen, homosexuelle Propaganda, die an den Grundfesten der intakten Familie rüttelt, oder Ausländer, die russische Kinder außer Landes bringen

    Dieser Mobilisierungsimpuls kulminiert in einem neuen „Krieg gegen den Faschismus“, der 2014 auf den Fernsehbildschirmen entfacht wurde, wobei seine wichtigste territoriale Eroberung und die begleitende nationale Euphorie nicht das Ergebnis waren, sondern der Geschichte vorausgingen.

    Über den höheren Sinn der Notwendigkeit, mit Schlagstöcken auf Jugendliche einzudreschen

    Die neue Ideologie ist nicht nur eine Quasi-, sie ist eine Soft-Ideologie: Sie erfordert weder aufrichtigen Glauben noch Enthusiasmus, es genügen ritualartige Loyalitätsbekundungen. Auch ihr Anwendungsradius ist begrenzt: Sie kann einem Omon-Mitarbeiter erklären, worin der höhere Sinn der Notwendigkeit besteht, mit einem Schlagstock auf einen Jugendlichen einzudreschen, sie kann als Kompensationsmechanismus für die Bewohner von Mono-Siedlungen fungieren, die ohne jede Perspektive ihr Dasein fristen – und sich vor der Hoffnungslosigkeit in das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem großartigen Land retten. Aber diese Version der nationalen Identität beantwortet in keiner Weise das Bedürfnis, aus dem die heutige Staatsmacht einst geboren wurde – das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, dem Einhalten ethischer Normen, nach verständlichen und allgemeingültigen Spielregeln. 

    Die nationale Idee findet sich heute in populären YouTube-Serien

    Die Konfrontation zwischen gesellschaftlichen Kräften einerseits – die von der Staatsmacht fordern, sie solle sich ändern (oder veränderbar werden) – und der Staatsmacht andererseits – die weder das eine noch das andere zu tun gedenkt – könnte sich noch lange hinziehen und selbst zu einer nationalen Besonderheit Russlands werden. Es ist jedoch interessanter, sich etwas anderes anzuschauen: nämlich jene Formen von Patriotismus und nationaler Identität, die heute von unten entstehen, unabhängig vom Staat, und die die Gesellschaft in Zukunft einen könnten.

    Die Neuformulierung der nationalen Idee, die sich in den 1990ern in Brat konzentrierte, findet sich heute verstreut in populären YouTube-Serien und -Shows, in den Aufnahmen der neuen Generation von Hip-Hop-Musikern und in den Arbeiten von Street Art-Künstlern. Da ist ein lokaler Patriotismus – ein Gefühl der Zugehörigkeit nicht zu einer staatlichen Abstraktion, sondern zu einem konkreten Ort, den man mit Sorgfalt, Respekt und Aufmerksamkeit behandeln muss. Das macht sich im Erstarken der Heimatkunde und der Neubewertung des regionalen historischen Erbes bemerkbar, aber auch im boomenden Inlandstourismus, dem Trend zur Landwirtschaft und regionalen Produkten und so weiter.

    Das Leben in Russland rockt

    Da ist die Ästhetisierung des Alltags in der russischen Provinz, eine Aufwertung ihrer noch so unansehnlichen Erscheinungsformen, seien es Plattenbauten oder Trainingsanzüge als die Uniform der Außenbezirke. Da ist eine völlig andere Sicht auf die 1990er Jahre – nicht als das „wilde“ Jahrzehnt oder die „Zeit der Freiheit“, sondern als die tragische und heldenhafte Epoche, der wir alle entstammen. Da ist die allmählich erworbene Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zum gemeinsamen gesellschaftsrelevanten Handeln, dem Zusammenschluss mit Nachbarn, Arbeitskollegen und Gleichgesinnten für ein gemeinsames Ziel, sei es, um gegen die Abholzung des Parks vor der Haustür zu kämpfen oder um einem Waisenhaus in der Nachbarschaft oder einem unschuldig verhafteten Kommilitonen zu helfen. Da ist der neue Umgang mit den Tragödien der Vergangenheit, eine neue Art der Erinnerungskultur, in der nicht nur Kriegshelden der kollektiven Erinnerung und Ehre würdig sind, sondern auch die Opfer eines verbrecherischen Regimes oder einfache Bürger, die dessen Inkompetenz mit ihrem Leben bezahlen mussten. Da ist nicht zuletzt die Überwindung des nationalen Minderwertigkeitskomplexes, der der älteren Generationen eigen ist, hin zu einem nüchtern-gelassenen Gefühl, dass die „Russen schon okay“ sind (wie es im Videoprojekt von Jelisaweta Ossetinskaja heißt) und das Leben in Russland trotz allem „rockt“ (wie es [Juri] Dud auf seinem Instagram-Account formuliert).


    Und da ist dieser Graben zwischen Staatsmacht und Gesellschaft – einer Gesellschaft, die bereit ist, ihre Geschichte und Identität anzunehmen und zu reflektieren, ohne darauf zu warten, dass diese Prinzipien oktroyiert werden, die bereit ist, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, ohne darauf zu warten, dass der Staat ihre Probleme löst – das ist möglicherweise die am meisten hoffnungsspendende Nachricht des ausklingenden Jahrzehnts.

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  • „Je weiter weg von Russland, desto besser“

    „Je weiter weg von Russland, desto besser“

    Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow war fünf Jahre in russischer Haft. Im September 2019 kam er frei durch einen Gefangenenaustausch. In einem der wenigen Interviews bisher spricht der ukrainische Filmemacher mit Dimitri Bykow über die Krim, über Putins Perspektiven und darüber, was Russland und die Ukraine ganz grundlegend unterscheidet. 

    Oleg Senzow kam im September im Rahmen eines Gefangenenaustauschs der Haft frei / Foto © president.gov.ua unter CC BY-SA 4.0
    Oleg Senzow kam im September im Rahmen eines Gefangenenaustauschs der Haft frei / Foto © president.gov.ua unter CC BY-SA 4.0

    Dimitri Bykow: Oleg, was hat Putin gegen Sie persönlich?

    Oleg Senzow: Ich halte mich nicht für so wichtig. Er hat ja nicht nur mich festgehalten, viele andere hält er bis heute fest. Ich glaube nicht, dass persönliche Abneigung eine Rolle spielt. Vielleicht, wenn er alle freigelassen hätte außer mir …

    Aber er kann Sie trotzdem überhaupt nicht leiden.

    Das beruht auf Gegenseitigkeit.

    Aber Sie würden ihn leben lassen?

    Er hat mich ja nicht umgebracht. Aber ich träume davon, ihn in Den Haag zu sehen, hinter so einer, wie sagt man … 

    Hinter Gittern?

    Nein, hinter der Glasscheibe. Das würde ich gerne sehen.

    Denken Sie, das wird bei uns [in Russland – dek] noch lange so weitergehen? Hat er noch viel Zeit?

    Es gibt eine einfache Zahl: 2024. Sie schien mal sehr weit weg, aber mit jedem Jahr rückt sie näher. Das ist praktisch übermorgen.

    Ich träume davon, Putin in Den Haag zu sehen

    Wann genau war die Krim verloren? Das Militär sagt, hätte es einen Befehl gegeben, dann hätte es Widerstand geleistet.

    Das hätte gar nichts gebracht. Selbst wenn es einen Befehl gegeben hätte – hätte das Militär denn Widerstand leisten können? Hätte ich die militärischen Einheiten dort nicht gesehen, hätte ich mir vielleicht Illusionen gemacht. Aber da konnte von Kampfbereitschaft keine Rede sein. Und das war allen wohl bewusst.
    Kein Kommando, kein noch so fester Wille, keine politische Entscheidung hätte bei diesem Zustand der Armee was ausrichten können. Also war das [der ausbleibende militärische Widerstand – dek] keine Absage ans Blutvergießen. Vielmehr hatte Janukowitsch die Armee schon vorher ruiniert … Schon da war alles verloren. Dass man etwas hätte tun können – dieses Gefühl gab es höchstens in den ersten paar Tagen.

    Gut, aber wenn die neue Regierung sofort Abgesandte auf die Krim geschickt, das zur obersten Priorität erhoben und sich darauf konzentriert hätte …

    Nein. Die Annexion der Krim war keine spontane Entscheidung von Putin. In den Stabsquartieren liegen immer Pläne bereit für den Fall einer solchen politischen Entscheidung: Putin schnippt mit den Fingern, und man bringt ihm eine Karte. Nichts Besonderes – Kriegsspiele sind das tägliche Brot der Stabsoffiziere des Generalstabs und des FSB … Ich bin sicher, dass da auch Pläne für Charkiw liegen … ach was, für die ganze Ukraine.

    Die Annexion der Krim war keine spontane Entscheidung von Putin. Es liegen immer Pläne bereit für den Fall einer solchen politischen Entscheidung

    Die Krim gehörte zu den Zielen, aber die politische Entscheidung ist gefallen, als Janukowitsch geflohen war. Putin war überzeugt, dass hinter allem die Amerikaner stecken. Das ist sein verzerrtes Weltbild: Alles geschieht nur, um ihm persönlich zu schaden. In diesem Fall – um die Olympischen Spiele zu ruinieren. Also hat er sich gesagt: Wenn ihr mir so kommt, dann komm ich euch so.

    Warum wurden Sie überhaupt verhaftet? War das möglicherweise auch von langer Hand geplant?

    Das war reiner Zufall. Die Jungs, die sie da gefasst hatten, haben einfach alle Namen genannt, die sie kannten; und ich war immerhin erwachsen, ein Regisseur, ich war auf dem Maidan …
    Zuerst hat die Polizei wegen Rowdytums gegen mich ermittelt, dann hat sich der FSB eingeschaltet und sich diese bescheuerte Formulierung ausgedacht: „ … mit dem Ziel, Druck auf die Machtorgane auszuüben und den Austritt der Krim aus der Russischen Föderation zu organisieren“.

    Fangen die sofort an zu foltern?

    Man nennt das „heißes Verhör“. Ein Standardverfahren, damit der Gefangene keine Chance hat, den Schock zu überwinden. Keinerlei Anwälte, versteht sich.

    Wurden damals auf der Krim die [russischen] Pässe zwangsweise ausgestellt?

    Es hieß: Wer nicht innerhalb eines Monats schriftlich Einspruch erhebt, wird automatisch russischer Staatsbürger. Ich bin nicht hingegangen und hatte es auch nicht vor, weil das für mich eine Okkupation war: Was soll ich mit einem Dokument des Besatzungsregimes? Warum soll ich in meinem Land, der Ukraine, gegen irgendwas Einspruch erheben? Ich brauche keine Abmachungen mit Okkupanten.

    Haben Sie immer noch den ukrainischen Pass?

    Ja, klar, wo soll er denn hingekommen sein? Sie haben versucht, mir den russischen anzudrehen. Selbst im Gefängnis haben sie versucht, dass ich quasi zufällig eine Bestätigung unterschreibe. Aber ohne Erfolg.

    Mein Eindruck war, dass Sie sich irgendwann aufs Sterben vorbereitet haben. Vielleicht am zwanzigsten oder dreißigsten Tag des Hungerstreiks

    Das war Ihr Eindruck. Ich bin kein Selbstmörder. Ich hatte nicht vor zu sterben. Das war eine Art Berufsrisiko: Wenn man zum Angriff übergeht, rechnet man mit der Möglichkeit, getötet zu werden. Aber man will zum Ziel kommen. Das war eine kalkulierte, in gewissem Sinn sogar eine künstlerische Aktion: Ich habe das [den Beginn des Hungerstreiks – dek] bewusst mit dem Beginn der Fußball-WM abgestimmt, damit es wahrgenommen wird. 

    Ich bin kein Selbstmörder. Ich hatte nicht vor zu sterben

    Ich wusste, dass ich mindestens einen Monat durchhalten würde und der Höhepunkt auf das Finalspiel fallen muss. Etwa 20 Tage vorher habe ich angefangen, meine Nahrungsaufnahme zu reduzieren.

    Ich habe mir gerade Losnitzas Spielfilm Donbass noch einmal angeschaut, der auf dokumentarischem Material basiert, Sie haben ihn bestimmt gesehen …

    Nein, noch nicht, aber ich habe viel gehört.

    Hier [in der Ukraine – dek] wirkt er ganz anders als in Russland. Ich verstehe nicht, wie jemand, der diesen Film gesehen hat oder einfach mit der Realität im Donbass einigermaßen vertraut ist, nicht mit Fäusten auf die Moskauer losgeht. Auf mich, zum Beispiel.

    Die Menschen hier sind eben anders, das ist unsere Schwäche und unsere Stärke. Manche würden sicher gern auf Sie losgehen. Andere empfangen Sie mit offenen Armen, als Freund, der dort drüben auch kämpft … Die Ukraine ist keine homogene Gesellschaft. Das ist gut, weil uns niemals ein Diktator unterwerfen wird, ein Putin ist bei uns undenkbar. Aber es ist auch schlecht, weil wir uns ständig untereinander bekriegen. Das spielt Putin in die Hände.

    Sie denken also, es kann keinen ukrainischen Putin geben? Einen stillen Silowik

    Nein, unmöglich. Die Menschen hier sind ganz anders. So etwas wird es hier nicht geben, nicht annähernd.

    Das haben wir auch gedacht, bis ungefähr 1996

    Ihr habt die Befreiung 1991 erlebt, so wie wir 2004. 1993 habt ihr eure internen Auseinandersetzungen gehabt, einen Putsch, danach ging es bergab: Tschetschenien, das hätte die Gesellschaft wachrütteln sollen, aber stattdessen hat es sie nur tiefer reingeritten. Das, was euch hätte verändern sollen, hat euch auf einen schlechten Weg geführt. Der Putsch von 1993 und zwei Tschetschenien-Kriege – daraus ist Putin entstanden. Bei uns war alles anders.

    Könnte Putin einen großen Krieg beginnen, wenn es ganz schlecht für ihn läuft?

    Es läuft doch gut für ihn. Zum Glück ist er kein Irrer und auch kein Führer, der Millionen im Namen einer Idee vernichten will. Er will einfach mit möglichst geringen Verlusten alles rausholen, was geht. Aber für diese Ambitionen bezahlen wir mit Tausenden von ukrainischen Leben. Das ist die Tragödie.

    Das Problem ist nicht nur Putin, sondern das Problem sind die Russen selbst

    Ihr habt einfach ein völlig anderes Verhältnis zu diesem Krieg. Ich war fünf Jahre lang in Russland: Man hat dort nicht das Gefühl, dass Putin diesen Krieg entfacht und bis heute 13.000 Ukrainer umgebracht hat. Und das geht jeden Tag so weiter. Dabei mimt er noch den Friedensstifter – das ist das Zynische. Und viele Russen glauben ihm, das macht mich fertig. Das Problem ist nicht nur Putin, sondern das Problem sind die Russen selbst.

    Ich habe das Gefühl, viele hier haben Russland schon abgeschrieben. Sie denken, dass sich bei uns nie etwas ändern könnte.

    Das heutige Russland ist sicher nicht zu ändern. Über das Russland von morgen vermag ich nicht zu urteilen. Es müsste dort eine rational denkende Minderheit siegen. Die heutige Mehrheit ist völlig passiv: Man sagt ihnen „Demokratie“ – dann gibt es Demokratie. Man sagt ihnen „Monokratie“ – dann gibt es eben Monokratie.

    Aber es gibt auch Stimmen, die sagen, genau das sei das wahre Russland. Das Russland unter Putin.

    Das wäre sehr traurig. Ich kann bloß eine Parallele ziehen, auch wenn die nicht ganz sauber ist, weil sich in der Geschichte nie etwas eins zu eins wiederholt: Das Dritte Reich. Der Zweite Weltkrieg war eine Fortsetzung des Ersten, der Samen des Faschismus fiel auf fruchtbaren Boden, ein blutrünstiger Führer kam an die Macht. Die Nation muss verstehen, wie weit sie von ihrem Weg abgekommen ist. Sie hat den Verstand verloren. Wenn sie sich besinnt, die fremden Gebiete zurückgibt, die Zerstörungen wiedergutmacht – dann können wir über zukünftige Beziehungen nachdenken. Wenn nicht – dann eben nicht.

    Es gibt Erkrankungen des nationalen Geistes, die man nicht überlebt. Die deutsche Nation war an Krebs erkrankt und hat ihn überlebt. Das Deutschland, das wir heute sehen, ist ein anderes Land.

    Russland leidet auch an Krebs. Aber das Dritte Reich ist das vierte Stadium, und ihr seid im dritten. Macht euch nichts vor – vielleicht ist es viel schlimmer. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es das auch. Ich glaube nicht daran, dass eine Nation aus dem Nichts heraus wiedergeboren wird. Es braucht einen Bruch, eine Zäsur. Wie die aussehen wird, weiß ich nicht, ich bin kein Hellseher.

    Und was Sie selbst angeht – wussten Sie, dass Sie vorzeitig entlassen werden, dass Sie nicht 20 Jahre sitzen würden?

    Eindeutig.

    Aus irgendeinem Grund wusste ich das auch.

    Russland könnte auch vorzeitig freikommen, aber ich sage ganz ehrlich – damit bin ich hier in der Minderheit, die Mehrheit sieht das anders. Dass Putin nicht freiwillig geht, weiß ich auch. Die Möglichkeit „Ich bin müde, ich trete ab“ gibt es nicht.

    Lebenslänglich also?

    Die Deutschen haben eine nationale Katastrophe gebraucht.

    Vielleicht wird er irgendwann auch zum Teufel gejagt …

    Ich würde laut applaudieren! Aber das wird kein Maidan. Der Maidan ist nicht euer Genre. Der russische Aufstand, schrieb Puschkin einmal, ist sinnlos und erbarmungslos.

    Denken Sie, die Krim wird irgendwann wieder ukrainisch sein?

    Ganz sicher.

    Welchen Eindruck haben Sie bislang von Selensky?

    Schwer zu sagen. Innen drin ist er aufrichtig. Er möchte die nationale Einheit und das Ende des Kriegs. Dass ihm Fehler unterlaufen – ich habe ihn ja kritisiert für den Ton im Gespräch mit den Freiwilligen, das war meines Erachtens kein Ton eines Oberbefehlshabers – aber das sind Einzelheiten. Dass was er zur Beendigung des Kriegs unternimmt, unterstütze ich im Großen und Ganzen, aber hier ist die Hauptsache, nicht die rote Linien zu übertreten. Nicht zu verraten, wofür unsere Leute gestorben sind.

    Innen drin ist Selensky aufrichtig. Er möchte die nationale Einheit und das Ende des Kriegs

    Selensky hat es sehr schwer. Er bekommt viel Druck von seinen Leuten, von Deutschland und Frankreich, Putin ködert ihn, an Putins gütige Absichten glaube ich nicht. Die Leute um Selensky sind teilweise gut, teilweise undurchsichtig. Dass er Gefangene zurückholt, ist gut. Den Donbass zurückzuholen ist bislang nicht möglich. 

    Wäre die Unabhängigkeit nicht vielleicht besser?

    Auf keinen Fall. Die Krim ist ukrainisch – Punkt. Die Ukraine hat seit der Unabhängigkeit wenig gemacht, um sie zu integrieren, das sehen wir ein. Das Problem ist, dass man erst jetzt darüber nachdenkt. Das hätte man früher tun sollen. Aber sie muss zurück.

    Die Brücke steht schon …

    Gut so! Dann geht’s schneller runter, wenn die Zeit gekommen ist, für die Tränen der ukrainischen Mütter zu bezahlen.

    Was halten Sie von Nawalny? Hat er Perspektiven, und was denken Sie von ihm als Mensch?

    Mein Kriterium, um Leute zu beurteilen, ist die Krim. Nawalny hat nicht vor, sie zurückzugeben, für ihn ist sie so was wie ein Butterbrot. Nicht, dass euch das Butterbrot im Hals stecken bleibt.

    Das ist leicht gesagt.

    Nehmen war einfach, zurückgeben dagegen ist schwer? Ihr habt euch lange vorbereitet und schnell zugegriffen. 

    Mein Kriterium ist die Krim. Nawalny hat nicht vor, sie zurückzugeben

    Umgekehrt geht das genauso – lange vorbereiten und schnell zurückgeben.

    Sie glauben also nicht an eine Union mit Russland?

    Niemals. Und die große Mehrheit der Ukrainer glaubt auch nicht daran, will keine. Die Zeiten der Union mit Moskau sind vorbei! Je weiter weg von Russland desto besser. Mag sein, dass Russland einmal anders war und irgendwann anders sein wird, aber in seinem Inneren hat sich der Eiter angestaut, und der ist jetzt ausgetreten. Putin ist das wahre Gesicht des heutigen Russland. Heute trägt Russland das Gesicht Putins. So gesehen ist die Unterstützung für ihn echt und die Popularität verdient.

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  • Bullshitting Russia

    Bullshitting Russia

    Fast die Hälfte der Artikel in der ausländischen Presse berichteten „negativ“ über Russland – zu diesem Schluss kommt Oktopus-1, eine Studie von Rossija Sewodnja. Darin wurden knapp 80.000 Artikel von Medien aus G7-Ländern untersucht, die von Januar bis Ende Juni 2019 erschienen sind. Das Ergebnis der Studie schlägt in die Kerbe, das Ausland würde schlecht über Russland reden, und hat somit auch eine politische Dimension: So ließen offizielle Reaktionen nicht lang auf sich warten. Die russische Gesellschaftskammer jedenfalls nahm die Studie zum Anlass, um eine öffentliche Diskussion über die Rechte ausländischer Medien und Journalisten in Russland anzuregen. Bereits Ende 2017 wurden einzelne Auslandssender wie Golos Ameriki (Voice of America) und Radio Swoboda (Radio Liberty) in Russland zu „ausländischen Agenten“ erklärt. 

    Die Mitarbeiter des Exilmediums Meduza machte all das hellhörig. Alexej Kowaljow, Leiter des dortigen Investigativressorts, war einst Chefredakteur von InoSMI – InoSMI gehört zu Rossija Sewodnja und übersetzt westliche Presse ins Russische. Kowaljow sah sich die Studie genauer an und fand heraus: Die Untersuchung von Rossija Sewodnja stützt sich vor allem auf britische Medien (die mehr als ein Drittel der gesamten Studie ausmachen). Auffällig viele der untersuchten Artikel in diesen wiederum haben laut Meduza denselben Autor. 

    Er heißt Will Stewart. Unter seinem Namen, so Meduza, werden allerdings vor allem Geschichten veröffentlicht, die Themen aus russischen Boulevardzeitungen aufgreifen. Allein im ersten Halbjahr 2019 hat Meduza auf den Seiten der Daily Mail knapp 220 Artikel gezählt, die unter dem Namen Will Stewart veröffentlicht wurden. 

    Das bedeutet nicht nur, dass die „negative“ Berichterstattung, die die Studie beklagt, in Teilen sogar aus russischen Medien übernommen wurde. Es wirft auch die Frage auf: Wer ist Will Stewart und wenn ja, wie viele? Meduza hat sich auf Spurensuche begeben.

    William Stewarts Identität ist selbst für die Veteranen unter den Auslandskorrespondenten in den Moskauer Büros ein Rätsel. Nicht ein einziger der von Meduza befragten, zum Teil seit Jahrzehnten in Russland tätigen Journalisten hat ihn je persönlich getroffen oder weiß, wer er ist.

    Nicht einmal im Außenministerium der Russischen Föderation scheint man das genau zu wissen – obwohl Stewart offiziell in Russland akkreditiert ist und auf den Seiten des Außenministeriums als Chef des Moskauer Büros der britischen Zeitung Daily Express genannt wird.

    Dabei ist William Stewart eine ganz reale – wenn auch ziemlich verschlossene – Person. Er taucht nicht in den sozialen Netzwerken auf; in keiner einzigen Zeitung, für die er arbeitet, ist ein Foto von ihm zu finden. Dafür gelang es Meduza, im britischen Handelsregister eine Firma zu entdecken, als deren Geschäftsführer Stewart fungiert: East2West Limited, eingetragen im Januar 1996. Zur selben Zeit taucht sein Name erstmals in den Akkreditierungslisten der in Moskau tätigen Auslandskorrespondenten auf.

    Stewart selbst, den Meduza nach mehreren Anfragen per E-Mail erreicht hat, gab an, seit 1992 in Moskau zu arbeiten. Viele seiner Beiträge, die von ausländischen Medien übernommen werden, nennen die Agentur als Quelle.

    Anfang 2019 tauchte auf der Internetplattform Reddit die Frage auf: „Kennt hier jemand die russische Nachrichtenagentur East2West? Falls ja, wie vertrauenswürdig ist sie? Ich bin auf einen Bericht über einen grausamen Mordfall gestoßen, aber alle Versuche, die Originalquelle zu finden, führen auf Seiten aus Russland, die auf East2West verweisen. Merkwürdig, dass gleich mehrere Internetseiten auf eine völlig unbekannte Agentur verweisen.“

    Ein anderer Nutzer antwortete: „Ich war auch sehr enttäuscht, als mehrere vermeintlich vertrauenswürdige Nachrichtenseiten in Brasilien, wo ich lebe, einen Bericht über ein Mädchen übernommen haben, das angeblich bei der Explosion eines Mobiltelefons gestorben war. Alle berufen sich auf russische Quellen, die ebenfalls auf diese merkwürdige Phantom-Agentur verwiesen. Ich finde das beängstigend.“

    Killermäuse in den Kremltürmen

    Will Stewarts beeindruckende Produktivität lässt sich damit erklären, dass die unter seinem Namen veröffentlichten Artikel das Produkt eines ganzen Kollektivs von russischen Journalisten sind, die für seine Agentur East2West News arbeiten. Unter ehemaligen Mitarbeitern hat Meduza endlich Menschen gefunden, die Stewart persönlich kennen. Stewart selbst hat nicht beantwortet, wie viele russische Mitarbeiter für seine Agentur tätig sind, er sagte nur, er arbeite ausschließlich mit „erstklassigen Freelancern aus Russland, den Ländern der ehemaligen UdSSR und Osteuropa zusammen“.

    Eine ehemalige Mitarbeiterin, die bis 2011 für die Agentur tätig war, hat Meduza erzählt, wie die Vorbereitungen zu einer Nachrichten-Ausgabe abliefen: „Wir waren mehrere freie Mitarbeiter, am Morgen ging es los mit dem Monitoring: das Wichtigste aus der Welt der Politik, amüsante Ereignisse, Persönlichkeiten, die in Großbritannien von Interesse sind – wie Arschawin, Abramowitsch, der damalige [Premierminister] Tony Blair, Nasarbajew. Und Trash à la Killermäuse in den Kremltürmen. Will wählte die interessantesten Themen aus, ging ihnen nach. Sehr sorgfältig, mit Liebe zum Detail. Mehrere Tage lang, manchmal sogar Wochen, bis sich die Fakten zu einer Geschichte fügten.“

    Die ehemaligen Mitarbeiter von East2West News, mit denen Meduza gesprochen hat, lobten Stewarts Professionalität, journalistische Sorgfalt und seine tiefe Russland-Kenntnis. Dabei unterscheiden sich die ersten Reportagen, die Stewart in den 1990ern in Moskau veröffentlichte, deutlich von seinen heutigen Arbeiten: Im Oktober 1992 brachte der Daily Express eine Analyse zum Konflikt zwischen Boris Jelzin und Ruslan Chasbulatow, 1996 folgte ein großes Porträt über Alexander Lebed, der damals als möglicher Jelzin-Nachfolger gehandelt wurde.

    Andere Journalisten, die mit seiner Arbeit vertraut sind, bewerten sein Verhältnis zu den Fakten kritischer. Oliver Carroll, der für die britische Zeitung The Independent in Moskau schreibt, machte auf einen Artikel aufmerksam, der am 26. Juni 2019 in der Daily Mail erschien: „Ich war sein Futtervorrat – Russe gleicht Mumie nach einem MONAT in Bärenhöhle. Das Raubtier hatte ihm die Wirbelsäule gebrochen und als Futter in seine Höhle verschleppt.“ Unter Berufung auf eine Meldung des Nachrichtenportals EADaily berichtete Stewart von dem in der Überschrift genannten Schicksal eines Mannes aus Tuwa namens „Alexander“. Die ursprüngliche Nachricht versah er mit neuen schockierenden Details: Demnach musste der Held den eigenen Urin trinken, um zu überleben.

    Der Daily Mail-Artikel war ein Hit in den sozialen Medien: Der Zähler auf dem Internetauftritt der Daily Mail zeigt 72.000 Reposts an. Daraufhin drehte die Geschichte eine zweite Runde durch die russischen Medien, diesmal unter Berufung auf die Daily Mail und Will Stewart. Oliver Carroll veröffentlichte im Independent einen Gegenbericht: Er entlarvte die Story mit der Bärenhöhle als Fake und den ausgemergelten Mann im Video als einen Patienten aus Kasachstan, der an einer schweren Form von Schuppenflechte leidet. Daraufhin änderte die Daily Mail den Inhalt und die Überschrift des Artikels. In der neuen Version beruft sich Stewart auf die Agentur East2West News, die mit dem Gesundheitsministerium in Tuwa gesprochen und herausgefunden habe, der Mann sei in Wirklichkeit Psoriasis-Patient. Dass die Agentur ihm selbst gehört, wird dabei nicht erwähnt.

    Westliche Medien berichten

    Stewarts Artikel, die auf russischen Quellen basieren, werden oft von genau diesen Quellen wieder aufgegriffen und neu belebt – dann mit dem respekteinflößenden Verweis auf „westliche Medien“. So brachte beispielsweise [die russische Nachrichtenagentur] Regnum 2016 eine Meldung unter folgender Überschrift heraus: „Mirror: Putin will Sibirien per Zeppelin erschließen“. Darin heißt es, unter Berufung auf einen Artikel von Will Stewart in der Daily Mail: „‚Putin setzt wieder auf den Zeppelin, so die britische Zeitung The Daily Mirror.“ (In Wirklichkeit ist in Stewarts Artikel keine Rede davon, dass Putin „auf den Zeppelin setzt“.) 

    Weiter berichtet Regnum: „Der russische Sicherheitsrat unter dem Vorsitz von Wladimir Putin hat ein Projekt zum Bau eines Luftschiffs bewilligt, das der Erschließung Sibiriens dienen soll. Die Kosten für einen dieser futuristisch anmutenden Zeppeline (Arbeitsname: East2West) belaufen sich auf rund 23 Millionen Pfund.“

    Natürlich existiert überhaupt kein futuristischer Zeppelin, der East2West heißen und den Hohen Norden mit der Transsibirischen Magistrale verbinden soll. Der Autor des Regnum-Artikels hat die Bildunterschrift im Daily Mirror, wo der Urheber genannt wird, fälschlicherweise für den Namen des Luftschiffs gehalten: East2West – William Stewarts Agentur.

    Dabei stammen die Bilder im Daily Mirror gar nicht von ihm. Die umgekehrte Bildersuche bei Google führt auf die Internetseite Siberian Times, die – am selben Tag wie der Daily Mirror – einen fast identischen Bericht über gemeinsame Pläne des Sicherheitsrates und der Russischen Akademie der Wissenschaften herausbrachte, abgelegene Gebiete mithilfe von Heißluftballons zu erkunden. Die Illustrationen auf der Seite der Siberian Times sind mit RosAeroSystems unterschrieben.

    Das Phänomen Siberian Times

    Das Internetportal Siberian Times sitzt in Nowosibirsk und veröffentlicht Artikel in englischer Sprache, die Will Stewart in seinen Beiträgen häufig zitiert. Obwohl auf der Seite das Impressum fehlt, ist die Chefredakteurin der Siberian Times bekannt: eine gewisse Swetlana Skarbo, Absolventin der Londoner City University und ehemalige Mitarbeiterin des Daily Express.

    Im britischen Handelsregister taucht Swetlana Skarbo als ehemalige Geschäftsführerin der Agentur East2West auf (im Juli 2018 übergab sie die Geschäfte offiziell an William Stewart). Verschiedene Quellen behaupten, Siberian Times sei ein Projekt von Stewart persönlich, der es mit den Honoraren für seine Artikel bei den führenden britischen Zeitungen betreibt – in denen er wiederum auf seine eigene Webseite als Quelle verweist. Stewart selbst wollte sich zu seiner Verbindung zu Siberian Times oder Swetlana Skarbo nicht äußern und riet, sich mit allen Fragen direkt an sie zu wenden. Eine Antwort liegt der Redaktion bislang nicht vor. 

    Von der Politik zum Boulevard

    Der britische Journalist und Propagandaforscher Peter Pomeranzew ist einer der wenigen, die Stewart persönlich kennen. 2008, als Pomeranzew ebenfalls in Moskau arbeitete, half Stewart bei den Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm von Channel 4 über den „dicksten Jungen der Welt“ – Dshambulat Chachotow aus Kabardino-Balkarien. Pomeranzew erklärt Stewarts Werdegang – weg von ernsthaften gesellschaftspolitischen Themen hin zur Regenbogenpresse – mit dem Wandel in der Redaktionspolitik des Daily Express selbst: „Er [William Stewart] war damals so etwas wie der politische Redakteur des Daily Express. Aber da war das Blatt auch noch eine halbwegs ernstzunehmende Zeitung für die Mittelschicht, sie gehörte nicht zur Kategorie der Red Tops wie The Sun oder der Daily Mirror.“ Aber irgendwann sei auch der Daily Express zu diesem Format übergegangen, meint Pomeranzew, wobei der reißerische Charakter der Schlagzeilen vergleichbare Blätter bald noch übertrumpfte.

    Stewart selbst äußerte gegenüber Meduza, er beziehe das Ergebnis der Studie von Rossija Sewodnja nicht auf sich. Die darin erwähnten Artikel hätten es wegen ihrer „exotischen“ Überschriften hineingeschafft, für die aber nicht er verantwortlich sei, sondern seine Redakteure. Außerdem sagte Stewart: „Überall auf der Welt wird Auslandskorrespondenten negative Berichterstattung und Voreingenommenheit vorgeworfen. Wie Sie wissen, passiert das russischen Journalisten, die in Großbritannien arbeiten, genau so.“

    Auf die Frage, warum es in seinen Beiträgen von blutigen Details und entstellten Kindern wimmelt, reagierte Stewart mit Unverständnis: „Wenn Sie den Artikel über das Mädchen meinen, das ohne Gesicht geboren wurde, dann bin ich froh, dass ich mit Hilfe der Leser wenigstens einen kleinen Teil der Summe sammeln konnte, die für die Behandlung in Russland und Großbritannien nötig war.“

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    „Niemand sollte dem System alleine ausgeliefert sein“

    Geht es um Proteste in Russland, so fällt in deutschen wie internationalen Artikeln immer wieder ein Name: OWD-Info. Die in Moskau ansässige Menschenrechtsorganisation gilt vielen Journalisten als verlässliche Quelle, etwa wenn es um die Zahl der Festgenommenen bei Protesten in Russland geht. 

    OWD-Info ist benannt nach dem russischen OWD, dem otdel wnutrennich del (dt. Abteilung für innere Angelegenheiten), im Grunde ein lokales Polizeirevier. Wer dorthin kommt, etwa nach Protesten, dem steht OWD-Info zur Seite: Die Bürgerrechtsorganisation bietet von der Hotline bis hin zur konkreten juristischen Beratung durch Anwälte zahlreiche praktische Hilfen für festgenommene Demonstranten. In einem Nachrichtenticker etwa berichtet ovdinfo.org außerdem über Demonstrationen, Verhaftungen und Gerichtsentscheide. 

    Den Kontakt zwischen Bürgern und den Rechtsanwälten der Organisation stellt Alla Frolowa her. Im Interview erzählt die Menschenrechtsaktivistin des „aktuellsten Projekts Russlands“, wie das Stadtmagazin Afisha daily teasert, von ihrer Arbeit.

    Alla Frolowa stellt den Kontakt zwischen Bürgern und Rechtsanwälten von OWD-Info her / Foto © Darja Globina/Afisha
    Alla Frolowa stellt den Kontakt zwischen Bürgern und Rechtsanwälten von OWD-Info her / Foto © Darja Globina/Afisha

    Jelena Wereschtschagina: Wie lange haben Sie in den letzten 24 Stunden geschlafen?

    Alla Frolowa: Drei Stunden.

    Was genau tun sie derzeit, seit Beginn der Protestaktionen? 

    Wir helfen den Verhafteten. Am 27. Juli etwa kamen den ganzen Tag immer wieder neue Meldungen rein: Besucher werden nicht zu den Verhafteten gelassen, Paket- oder Briefsendungen werden nicht angenommen, es herrscht völlige Willkür. Um zu verstehen, was genau vor sich geht, muss sich ein Anwalt vor Ort ein Bild machen. Und solange nicht der Letzte das Revier verlassen hat, kann ich mir nicht erlauben zu schlafen.  
    Am Tag darauf haben wir dann Anwälte auf die Gerichte verteilt. Den nächsten Tag waren wir mit den Gerichten beschäftigt. Schließlich haben wir die Vermissten gesucht. Wir erhalten die Information, dass Verhaftete in Gefängnisse gebracht wurden, aber niemand weiß, in welche. Wir finden sie.

    Waren Sie darauf vorbereitet, dass die Festgenommenen nach Nowaja Moskwa gebracht und von dort aus auf die Haftanstalten von Luchowizy und Mytischtschi verteilt werden? Inwiefern hat das Ihre Arbeit erschwert?

    Das einzige, was meine Arbeit erschwert, ist die fehlende Transparenz des Polizeisystems. Sie handeln nicht im Interesse der Bürger, sondern führen Befehle aus. Dass man die Leute ins Moskauer Umland bringen würde, war schon klar, nachdem [die Bürgerrechtsaktivisten] Artschagow, Kotow und Galperin verhaftet und nach Luchowizy, Tschechow und Sergijew Posad verbracht wurden. Darauf waren wir gefasst.

    Das einzige, was meine Arbeit erschwert, ist die fehlende Transparenz des Polizeisystems

    Der Grund dafür ist offensichtlich: Sie spekulieren darauf, dass nicht alle Anwälte es dorthin schaffen. Das ist eine Kette von Schikanen. Wir mussten erst herausfinden, wie wir in dieser Situation den Menschen helfen können.

    Wie sieht Ihre Arbeit bei Großereignissen aus, wenn Hunderte oder gar Tausende auf Ihre Hilfe angewiesen sind – im Gegensatz zum Normalbetrieb?

    Den ganzen Ablauf werde ich hier nicht darstellen. Das hat seine Gründe. Sie müssen sich vor Augen führen, dass das System – die Moskauer Polizei, die Stadtverwaltung und die Sicherheitskräfte – riesige Ressourcen hat. Im Vergleich zu denen haben wir gar keine. Alles was wir haben, sind unsere Mitarbeiter von OWD-Info und freiwillige Helfer. 
    Bei uns gibt es normale Arbeitstage und die Stabsarbeit (so nennt OWD-Info die Einsätze während großer Protestaktionen, Anm. d. Red.). Wir haben eine Monitoring-Gruppe, die [während der Stabseinsätze] rund um die Uhr arbeitet, wobei jeder Mitarbeiter seinen persönlichen Dienstplan hat. Sie nehmen Anrufe entgegen und verarbeiten die Meldungen aus unserem Telegram-Bot. Dort kommen die Hilfsanfragen als erstes an. Manchmal stehen sie nicht im Zusammenhang mit politischer Verfolgung, in dem Fall leiten wir sie weiter.

    Wir haben eine Monitoring-Gruppe, die rund um die Uhr arbeitet

    Wenn zum Beispiel jemand anruft, der gerade festgenommen wurde, muss man ihn beruhigen und herausfinden, womit wir helfen können, gleichzeitig muss diese Informationen veröffentlicht werden. Das alles macht die Monitoring-Gruppe. Bei dieser Tätigkeit brennt man schnell aus. Es ist sehr schwer, in der ersten Reihe zu stehen.

    Die Stabsarbeit läuft anders ab. Jedes Mal versuchen wir zunächst das „Ausmaß der Zerstörung“ abzuschätzen. Das gelingt nicht immer, weil die Vertreter der Staatsmacht ziemlich unberechenbar sind: Mal werden dutzende Einzel-Protestierende eingesackt, mal keiner. Bei der Kundgebung am 1. Mai in Sankt Petersburg konnte auch niemand ahnen, dass es zu Festnahmen kommen würde – die Demo war ja genehmigt.     
    Wir rechnen, schätzen ab, besprechen mit den Leuten, wie wir helfen können. Und danach läuft unsere kleine Menschenrechtsmaschine an.
     
    Wie viele feste Mitarbeiter hat OWD-Info und wie viele Freiwillige?

    27 feste Mitarbeiter und bis zu 100 Freiwillige, gerade sind es mehr.

    Wie finanziert sich OWD-Info? 

    Wir finanzieren uns durch Crowdfunding. Von diesem Geld bezahlen wir Gehälter und Löhne, organisieren Rechtsbeistand, stellen Verteidiger, Rechtsberater und Anwälte.

    Steigen die Spendeneinnahmen während solcher Ereignisse wie den derzeitigen Massenprotesten stark an?

    Während großer Protestaktionen schießen die Einnahmen natürlich in die Höhe. Man zählt auf unsere Hilfe.

    Haben sich ihre Annahmen bezüglich der Zahl an Festnahmen Ende Juli bewahrheitet? Waren Sie darauf vorbereitet?

    Dass es viele Festnahmen geben würde, wusste ich schon morgens. Ich bin durch die Moskauer Straßen gefahren und habe die zusammengezogenen Streitkräfte gesehen. Aber ein solches Ausmaß hätte ich mir nicht einmal vorzustellen gewagt (laut Schätzungen von OWD-Info kam es am 27. Juli zu 1373 Festnahmen, laut Ministerium für innere Angelegenheiten zu 1074, Anm. d. Red.). 

    Diesmal war es auch deswegen schwierig, weil es drei große Verhaftungswellen gab. 

    Es kommt auch vor, dass wir uns mit den Einschätzungen irren: Wir sitzen da und warten, aber keiner wird festgenommen. Dann trinken wir Tee mit den Freiwilligen und haben gute Laune.

    Wir sitzen da und warten, aber keiner wird festgenommen. Dann trinken wir Tee und haben gute Laune

    Egal, wie gut man sich auf eine Demo vorbereitet, bei einer Festnahme steht jeder erst einmal unter Schock. Wenn du in den Händen der Polizei landest und nicht weißt, was in der nächsten Stunde passiert, ist das immer äußerst unangenehm. Leider fehlt es uns immer noch an Mitarbeitern, Rechtsberatern und Anwälten. Deshalb bin ich unseren Partnern von Apologija Protesta, der Moskauer Helsinki-Gruppe, Open Russia, Gesellschaftliches Verdikt und Einsitzende Rus für ihre Hilfe sehr dankbar.

    Drei Verhaftungswellen – ist das Hysterie der Silowiki oder deren neue Methode?

    Das ist keine Hysterie, die verstehen einfach das Verhalten der Leute nicht, die auf eine friedliche Demo gehen. Sie denken, die Menschen kommen raus, skandieren ihre Losungen, lassen Dampf ab und gehen nach Hause. Aber die Leute sind nicht weggegangen, die wollten nun mal spazieren gehen. Selbst wenn sie etwas skandiert haben – was für ein Strafbestand soll das sein, wenn man ruft: „Lasst sie zu“? Die Staatsmacht hat sich selbst in Zugzwang gebracht, indem sie alle Wege versperrt hat. Man hat den Menschen nicht nur die Entscheidung abgenommen, wen sie wählen sollen, sondern auch noch, wo sie hinzugehen haben.
     
    Vor unseren Augen flammt ein Kampf zwischen staatlichen Sicherheitskräften und Rechtsanwälten auf. Sehen Sie eine Chance, diesen Kampf zu gewinnen?

    Ich bin weder Juristin noch Anwältin. Ich bin Verfahrenstechnikerin. Aber mein Grundprinzip lautet: Niemand sollte dem System alleine ausgeliefert sein. Die Anwälte, die mit uns zusammenarbeiten, halten sich strikt an ihre Regeln, aber sie stehen hinter unseren Prinzipien.

    Ich betone das immer wieder: Wir arbeiten mit den besten Anwälten der Welt zusammen. Wir kämpfen für eine einzige Sache: Die absolute Gültigkeit des Gesetzes. Wir wollen den Menschen helfen – unter den Bedingungen, die hier und jetzt bestehen.

    Wir kämpfen für eine einzige Sache: Die absolute Gültigkeit des Gesetzes

    Wie man das System bekämpft, weiß ich nicht. Natürlich erschwert es die Arbeit der Anwälte. Wenn ein Bürgerrechtler um 20 Uhr abends auf ein Polizeirevier kommt, sitzen da 20 Leute, die seine Hilfe brauchen. Er muss sie beruhigen, erklären, was sie unterschreiben sollen und was nicht. Und er wird nicht gehen, bis man den letzten freigelassen hat oder schlafen lässt. 
    Nach fünf Stunden kommen die Anwälte dann wieder raus und können sich kaum auf den Beinen halten, aber am nächsten Tag fahren sie in die Gerichte, wo man versucht, die Fälle nach dem Fließbandverfahren abzuwickeln. Die Anwälte sehen aber einen verängstigten Jungen vor sich, ein Mädchen, eine junge Frau oder einen jungen Mann, und arbeiten weiter. Sie lassen nicht zu, dass die Gerichte sie im Schnelldurchlauf abhaken.

    Wie stehen Sie dazu, wenn die Verhafteten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) klagen?

    Leider ist der EGMR aktuell die einzige Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen. Besonders dann, wenn es um die Versammlungsfreiheit geht. Ich finde, wir müssen der ganzen Welt zeigen, was bei uns los ist.

    Wie sieht Ihre Idealvorstellung von Russland aus?

    Ich will, dass wir faire Wahlen haben und die Polizei im Rahmen des Gesetzes agiert. Es werden genug Schwerverbrechen begangen, und ich will, dass diese gesunden jungen Kerle nicht friedliche Demonstranten durch die Stadt jagen, sondern ihre Arbeit tun. Ich will, dass Ermittler nicht Computer für das Zentrum E beschlagnahmen, sondern Verbrecher jagen. Dass Staatsbeamte mit dem Trolleybus fahren und nicht in einer Eskorte. Ich will, dass der russische Staat für die Menschen da ist, und nicht für die Machtelite.

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  • Moskowskoje Delo – Prozesse nach Protesten

    Moskowskoje Delo – Prozesse nach Protesten

    Neun Teilnehmer der Massenproteste Ende Juli sind inzwischen in Haft. Anfang August entschieden die Gerichte, dass sie bis 27. September im Gefängnis bleiben müssen, vorgeworfen werden ihnen „Teilnahme an Massenunruhen“ (nach Artikel 212) und „Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter“ (nach Artikel 318). Gegen einen zehnten Protestteilnehmer, Sergej Fomin, wurde ebenfalls Anklage erhoben. Vier Menschen, die ihre Solidarität für den verhafteten Studenten Jegor Shukow in Einzel-Pikets bekundet hatten, wurden festgenommen.


    Kommt nun der Moskowskoje delo (Moskauer-Prozess) – analog zum Bolotnoje delo (Bolotnaja-Prozess) nach 2011–13? Die Novaya Gazeta rekonstruiert das Vorgehen der Behörden und stellt fünf der inhaftierten Protestteilnehmer vor.

    Erstmals seit dem 6. Mai 2012 hat das Ermittlungskomitee angesichts der politischen Protest in Moskau eine Strafsache wegen Massenunruhen eingeleitet. Die Demonstranten hatten gefordert, unabhängige Kandidaten zu den Wahlen zum Stadtparlament zuzulassen.

    Einleitung des Verfahrens

    Am 30. Juli wurde nun das Verfahren eingeleitet. Also just an dem Tag, an dem Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin die Proteste vom 27. Juli im TV-Sender TWZ verurteilt hatte, indem er sie als „von vornherein geplante und gründlich vorbereitete Massenunruhen“ bezeichnete. Im Falle der Bolotnaja-Proteste wurde das Strafverfahren unmittelbar am 6. Mai eröffnet, der Ermittler war damals am Ort des Geschehens live dabei. Die jetzige dreitägige Verzögerung könnte auf eine lange politische Entscheidungsfindung hinweisen.

    Just eine Stunde nach Sobjanins TV-Auftritt gaben die Behörden dann auch die Einleitung des Strafverfahrens bekannt. Dabei wiederholte die amtliche Verlautbarung eins zu eins die Worte des Bürgermeisters: Den Ermittlungen zufolge haben die Protestteilnehmer „Gewalt gegen die staatlichen Sicherheitskräfte angewandt, Absperrungen durchbrochen und den Verkehr auf dem Gartenring (Sadowoje Kolzo) im Stadtzentrum von Moskau lahmgelegt“. Eine gewisse  „Gruppierung“ habe kurz vor den Protesten die Bürger im Internet dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen.

    In der Nacht zum 31. Juli gab es erste Hausdurchsuchungen bei den Protestteilnehmern. Durchgeführt wurden sie von Mitarbeitern des Dienstes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung beim FSB sowie dem Zentrum für Extremismusbekämpfung beim Innenministerium.

    Der Fall wurde der Hauptstelle des Ermittlungskomitees in Moskau übergeben. Das Untersuchungsteam besteht aus sage und schreibe 84 (!) Ermittlern und wird angeführt von Dimitri Jeremin, einem Sonderermittler für besonders wichtige Angelegenheiten. Er war es auch, der die beiden Tatbestände – Massenunruhen (Art. 212) und Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter (Art. 318) – in einem großen Prozess zusammenführte.

    Kritik an Wahl-Prozedere nur „ein Vorwand“

    Trotz der fast 100 Ermittler ist die Beweislage, den Akten zufolge, ziemlich dünn. Noch dünner als bei den Bolotnaja-Prozessen vor sieben Jahren. 
    So geht aus den Unterlagen hervor, dass „nicht identifizierte Personen“ die Nicht-Zulassung von unabhängigen Kandidaten zur Wahl  „als Vorwand“ benutzt hätten, um „Massenunruhen zu organisieren“. Dabei sollen einige der Demonstrierenden vom 27. Juli „mit ihrem Beispiel“ andere Protestteilnehmer zu „Massenunruhen“ angestiftet haben.

    Am 27. Juli hätten „nicht identifizierte Personen“ die Zusammenkunft von „mindestens 3500 Protestteilnehmern“ vor dem Moskauer Rathaus „organisiert“, diese seien dann ihren „gesetzeswidrigen Aufrufen gefolgt“ und hätten unter Anwendung körperlicher Gewalt „die Absperrungen durchbrochen, sich gesetzeswidrig verhalten und den Straßenverkehr auf dem Gartenring lahmgelegt, indem sie auf die Fahrbahn gegangen“ seien.
    Aktuell hat das Ermittlungskomitee gegen zehn Verdächtige Anklage erhoben [9 sind bereits in Untersuchungshaft, gegen einen weiteren Protestteilnehmer liegt ein Haftbefehl vor – dek]. Genau wie bei den Bolotnaja-Protesten wurden sie willkürlich herausgepickt. Keiner von ihnen legte ein Geständnis ab.

    Fünf der Inhaftierten, gegen die am 2. August Haftbefehl erlassen wurde, stellt die Novaya Gazeta vor:  

    Samariddin Radshabow

    Samariddin Radshabow hatte vor Gericht stets ein Lächeln im Gesicht / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Samariddin Radshabow hatte vor Gericht stets ein Lächeln im Gesicht / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Der 21-jährige usbekisch-stämmige russische Staatsbürger Samariddin Radshabow kam für zwei Monate in Untersuchungshaft. Der junge Mann mit abgebrochenem Realschulabschluss hatte in seinem Gerichtskäfig stets ein Lächeln im Gesicht.

    Die Richterin Katerina Kiritschenko hatte sich dadurch so vor den Kopf gestoßen gefühlt, dass  sie  ihn in strengem Ton zu etwas mehr Ernsthaftigkeit ermahnte: „Hier gibt es nichts zu lachen!“

    Eine Vertreterin des Ermittlungskomitees erklärte, Radshabow habe am 27. Juli eine Plastikflasche in Richtung der Polizeibeamten geworfen (die – das nur mal kurz am Rande – in voller Montur unterwegs waren), einen von ihnen am Hals getroffen und ihm damit „körperliche Schmerzen“ zugefügt. Um die Untersuchungshaft zu rechtfertigen, sagte sie unter anderem, der Verdächtige habe sich „vom Tatort entfernt“. Radshabow war überrascht: „Entfernt“ habe er sich doch höchstens aufs Polizeirevier, wohin man ihn direkt vom Trubnaja Platz (Trubnaja Ploschtschad) aus gebracht habe. Ein Schuldgeständnis legte der junge Mann, der nach eigener Aussage als Vorarbeiter arbeitet, nicht ab, obwohl er von einem Pflichtverteidiger vertreten wurde.

    Das Gericht hat nun beschlossen, dass der freundlich lächelnde usbekische junge Mann die nächsten zwei Monate seines Lebens in Untersuchungshaft verbringen wird.

    Iwan Podkopajew

    Iwan Podkopajew bleibt bis zum 27. September in Untersuchungshaft / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Iwan Podkopajew bleibt bis zum 27. September in Untersuchungshaft / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Der 25-jährige Iwan Podkopajew wurde ebenfalls am Trubnaja Platz festgenommen. In seinem Rucksack fanden die Ordnungshüter unter anderem einen Hammer und ein Teppichmesser. Vor Gericht wies Podkopajew die Anschuldigungen zurück und erklärte unmissverständlich, dass er die außerdem gefundene Gasmaske für seine tägliche Arbeit brauche,  er sei von Beruf Techniker, das Pfefferspray diene zum Schutz vor gefährlichen Hunden.

    Der Sitzungsleiter Sergej Artjomow hielt sich an unnötige Formalitäten und bat den Ermittler die Beweise für die Schuld des jungen Mannes aufzuzählen. Dazu war der Vertreter des Ermittlungskomitees nicht in der Lage, er zögerte und entschied sich dann einfach, die üblichen allgemeinen Formulierungen aus den Prozessakten vorzulesen. Den Richter stellte diese Antwort zufrieden – Podkopajew muss bis zum 27. September in Untersuchungshaft.

    Kirill Shukow

    Kirill Shukow war in der Vergangenheit selbst Angehöriger der russischen Nationalgarde, er wies alle Anschuldigungen zurück / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Kirill Shukow war in der Vergangenheit selbst Angehöriger der russischen Nationalgarde, er wies alle Anschuldigungen zurück / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Der 28-jährige Kirill Shukow wird sitzen, weil er in der Nähe des Twerskaja Platzes den Helm eines Angehörigen der Nationalgarde aufgehoben und mitgenommen hat. Shukows Schuld wird nach Angaben des Ermittlers durch die zusammengetragenen Materialien und die Protokolle der Wohnungsdurchsuchung bei ihm bekräftigt. „Der junge Mann hat keine regelmäßigen Einkünfte und ist vom Tatort geflüchtet“, erklärte der Ermittler vor Gericht. Richterin Alexandra Awdotjina war der gleichen Ansicht.

    Shukow war in der Vergangenheit selbst Angehöriger der Nationalgarde. Er wies die Anschuldigung zurück und trat nach der Verhaftung als Zeichen des Protests in den Hungerstreik.

    Alexej Minjailo

    Alexej Minjailo wurde auf dem Weg zum Trubnaja Platz festgenommen / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Alexej Minjailo wurde auf dem Weg zum Trubnaja Platz festgenommen / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Die Verhaftung von Alexej Minjailo, eines freiwilligen Mitarbeiters im Stab von Ljubow Sobol, verlief anders als die der anderen. Minjailo hatte bereits Unterschriftensammler für Sobols Kandidatur geschult und war gemeinsam mit ihr 20 Tage im Hungerstreik. Seinen Worten zufolge war er am Tag der Protestaktion im Moskauer Chamowniki Gericht. Als er am Abend versuchte zum Trubnaja Platz zu gelangen, wurde er unterwegs festgenommen. Somit hat er an der Protestaktion gar nicht teilgenommen, dennoch wird er der „Teilnahme an Massenunruhen“ beschuldigt. In dieser Verhandlung traten Freunde und der Vater des Beschuldigten als Zeugen der Verteidigung auf.

    Nach ihren Aussagen ist Minjailo ein ehrlicher und gläubiger Mensch und ein Patriot, der nicht vorhat unterzutauchen. Die Verteidigung erklärte sich bereit, eine Kaution von einer Million Rubel [circa 13.700 Euro] zu zahlen. Minjailo selbst gab an, dass keine Beweise für seine Schuld vorlägen, weder Fotos noch Aussagen, wonach er irgendetwas Ungesetzliches während der Protestaktion getan hätte – zumal er es noch nicht einmal geschafft habe, daran teilzunehmen. Für Minjailo bürgten Ekaterina Schulmann, Mitglied im Menschenrechtsrat des Präsidenten, und die Fernsehmoderatorin Tatjana Lasarewa. Ohne Erfolg – Minjailo wurde ebenfalls hinter Gitter geschickt.

    Jegor Shukow

    Für Jegor Shukow bürgte vergeblich die Vizedirektorin der renommierten Higher School of Economics / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Für Jegor Shukow bürgte vergeblich die Vizedirektorin der renommierten Higher School of Economics / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Jegor Shukow, Student an der Higher School of Economics in Moskau und Videoblogger, wurde einen Tag nach seiner Festnahme bei der Protestaktion 21 Jahre alt. Zu seiner Unterstützung erschienen im Gericht Freunde und Studienkollegen. Shukows Anwalt Daniil Berman bat darum, seinem Mandanten eine Flasche Wasser zu geben, da dieser „seit zwei Stunden nichts getrunken und seit dem gestrigen Tag nicht geschlafen hat“.

    Richterin Alexandra Awdotjina lehnte die Bitte jedoch ab und erklärte, die Übergabe einer Flasche mit Wasser sei nicht gestattet.

    „Ist das hier die Gestapo?!“, empörte sich die Mutter Shukows.

    Shukows Schuld wird nach Angaben der Ermittler durch die zusammengetragenen Materialien und die Untersuchungssergebnisse bekräftigt. „Shukow könnte Beweise vernichten und Informationen aus den Ermittlungen an andere Beteiligte weitergeben“, so der Vertreter des Komitees.

    Der Beschuldigte selbst wies die Anschuldigung zurück und bat darum, ihn nicht in Haft zu nehmen. Zu einer Bürgschaft für Shukow erklärte sich die Vizerektorin der Higher School of Economics, Valeria Kassamara, bereit, deren Registrierung für die Wahl zur Moskauer Stadtduma erfolgreich war. Doch auch diese Bürgschaft half nichts – der Student Shukow wurde von der Gesellschaft und der Universität isoliert.

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  • Sibirien brennt – warum?

    Sibirien brennt – warum?

    Seit Jahresbeginn waren in Russland rund elf Millionen Hektar Wald von Feuer betroffen – eine Fläche, die dem Gebiet aller ostdeutschen Bundesländer entspricht. Aktuell wüten Brände auf einer Fläche von rund zweieinhalb Millionen Hektar, das ist etwas größer als Mecklenburg-Vorpommern. 
    Wegen des Rauchs klagen tausende Anwohner über Atemnot und andere Gesundheitsbeschwerden. Die verheerenden Waldbrände erreichen ein gigantisches Ausmaß: Der Rauch aus Sibirien hat mittlerweile Alaska und Kanada erreicht, manche Umweltexperten glauben, dass die Brände nachhaltig dem Weltklima schaden können.  

    Wald- und Steppenbrände gibt es in Sibirien jedes Jahr; ob die diesjährigen Feuer tatsächlich flächenmäßig größer sind als in vorherigen Jahren ist noch unklar. Doch offensichtlich sind diesmal mehr Menschen betroffen, vermutlich auch deshalb ist die Diskussion darüber in Russland nun viel heftiger. Vor allem ein Vorwurf an die Behörden ist dabei ganz lautstark: dass sie die Feuer zu lange sich selbst überlassen hätten. 

    Auch Umweltschützer beklagen das verspätete Eingreifen, laut Greenpeace werden immer noch über 90 Prozent der Brände nicht gelöscht. Nun sind zwar schon seit rund einer Woche größere Löschtrupps im Einsatz, doch sei ihr Eingreifen immer noch buchstäblich ein Tropfen auf den heißen Stein, so die Umweltschützer.

    Warum haben die Behörden so lange gezögert? Weshalb kam es wieder zu einer explosionsartigen Ausbreitung des Feuers? Und wie reagieren die Anwohner auf die Untätigkeit der Behörden? Diese Fragen stellt Jekaterina Timofejewa für Takie Dela

    #Сибирьгорит, Sibirien brennt – die Behörden blieben lange untätig / Foto © Greenpeace Rossija

    1. Warum waren die Behörden angesichts der aktuellen Waldbrände in Sibirien [lange] so untätig? 

    Offizieller Grund dafür ist eine Änderung der Vorschriften zur Bekämpfung von Waldbränden aus dem Jahr 2015 – unterzeichnet vom Ministerium für natürliche Ressourcen und Umweltschutz. Die Änderung erlaubte es, Feuer in sogenannten Kontrollzonen – weit entfernt von bewohnten Gebieten und Industrieanlagen – dann nicht mehr zu löschen, wenn „die voraussichtlichen Löschkosten den voraussichtlichen Schaden übersteigen“. 

    Laut Michail Kreindlin, dem Leiter des Schutzgebietprogramms von Greenpeace Russland, seien in diese Kontrollzonen allerdings „eine große Anzahl von Ortschaften“ gefallen, was der Verordnung widerspreche.

    Am 29. Juli wurde in der Region Krasnodar, in der Oblast Irkutsk sowie in zwei Verwaltungskreisen der Republik Burjatien der Ausnahmezustand ausgerufen. Am 30. Juli kam Jakutien hinzu. Grigori Kuksin, Leiter des Brandschutzprogramms von Greenpeace Russland, meint, diese Entscheidung sei viel zu spät gekommen.

    „Der Ausnahmezustand erlaubt es, zusätzliche Kräfte und finanzielle Mittel bereitzustellen, aber in diesem Stadium ist es dafür viel zu spät. Wenn der Notstand schon vor zwei oder drei Wochen erklärt worden wäre, sähe die Situation heute vielleicht ganz anders aus“, sagte Kuksin Takie Dela.
    „Jetzt fängt man an, ausreichend Kräfte bereitzustellen und zum Schutz von Ortschaften einzelne Feuer zu löschen. Aber selbst wenn man alle Kräfte zusammennehmen würde, die es in Russland gibt, wäre das noch nicht annähernd genug, um mit den Waldbränden fertigzuwerden. Die Lage ist in dem Moment aus dem Ruder gelaufen, als man sich gegen das Löschen entschieden hatte. Und das hat zur Katastrophe geführt“, kommentiert Kuksin.

    „Selbst wenn man alle Kräfte zusammennehmen würde, die es in Russland gibt, wäre das noch nicht annähernd genug, um mit den Waldbränden fertigzuwerden“ / Foto © Greenpeace Rossija

    2. Wie konnte es zu den Bränden kommen?

    Umweltminister Dimitri Kobylkin hat erklärt, die Waldbrände seien durch trockene Gewitter ausgelöst worden. Diese Einschätzung teilen auch der Gouverneur der Oblast Irkutsk Sergej Lewtschenko und das Oberhaupt der Region Krasnojarsk Alexander Uss. Von Letzterem stammt die Aussage: „Es handelt sich dabei um ein gewöhnliches Naturphänomen, das zu bekämpfen sinnlos und vielleicht sogar schädlich ist.“ Auch in Burjatien und Jakutien argumentiert man ähnlich.

    Kuksin macht allerdings nicht nur Naturphänomene für die Feuer verantwortlich, sondern auch menschliche Faktoren. „Wir wissen, dass der Großteil der Waldbrände von Menschen verursacht wurde, auch in den sogenannten Kontrollzonen“, erklärte er gegenüber dem Nachrichtensender Nastojaschtscheje Wremja. So würden beispielsweise in der Region Krasnojarsk die Zonen, in denen auf das Löschen verzichtet werden dürfe, auch Ortschaften, Infrastruktur und Waldgebiete umfassen, in denen Holz gewonnen wird.

    Die Regionalkommission in Krasnojarsk erklärte gegenüber dem Portal Tayga.info, die Entscheidung [doch zu löschen – dek] sei getroffen worden, als die Gesamtfläche der Waldbrände einige Dutzend Hektar umfasste. Als man sich im Juli gegen das Löschen von 33 Feuern in den Verwaltungsbezirken Sewero-Jenisseisk und Ewenkien entschied, loderten die Flammen dort allerdings bereits auf einer Gesamtfläche von 891 Hektar. 
    Die Kommission schätzte den Schaden durch die zerstörten Wälder auf rund 4,8 Millionen Rubel [rund 66.000 Euro] – die Gesamtkosten für die Bekämpfung der Feuer demgegenüber auf 139,1 Millionen [knapp 2 Millionen Euro].

    Der Gouverneur der Region Krasnojarsk sagte damals, er sehe keine Notwendigkeit, Feuerspringer über der Kontrollzone abzusetzen, denn das sei wenig effektiv und riskant. „Wie viel Wasser und Treibstoff würden wir wohl brauchen, um die Waldbrände in der Taiga zu löschen?“, sagte Alexander Agafonow, Sprecher des Vorsitzenden der Forstbehörde Rosleschos. „Wenn wir die Luftfahrt für solche Zwecke einsetzen, werden wir bald Pleite gehen.“

    Doch nicht alle befürworteten die Taktik des Nichthandelns. Tatjana Dawydenko etwa, die Ex-Vorsitzende der Wirtschaftsprüfungskammer Krasnojarsk, veröffentlichte eine Videobotschaft, in der sie die Untätigkeit der Behörden mit Privatinteressen von Staatsbeamten verbindet: 
    „Die Wälder brennen aus zwei Gründen: Der eine ist die Laxheit des Gouverneurs, des Premierministers und des Umweltministers im Umgang mit ihren Befugnissen und Pflichten. Zum zweiten, und hier wiederhole ich mich gerne: Wenn Brände nicht gelöscht werden, dann deshalb, weil jemand auf diese Weise illegale Abholzung oder andere kriminelle Machenschaften zu vertuschen versucht.“ Dawydenko hatte ihr Amt niederlegen müssen, nachdem sie öffentlich über Raubrodung in der Region gesprochen hatte.

    Die Entscheidung, doch zu löschen, wurde getroffen, als die Gesamtfläche der Waldbrände einige Dutzend Hektar umfasste / Foto © Greenpeace Rossija

    3. Wie reagierten die betroffenen Bewohner?

    Die Bewohner Sibiriens gingen auf die Straße und veranstalteten Einzelpikets, forderten die Verhängung des Ausnahmezustands und die Wetter-Alarmstufe „schwarzer Himmel“. Im Zentrum von Nowosibirsk hielt ein Aktivist ein Plakat mit dem Slogan „Sibirien brennt, Moskau pennt“ hoch, berichtet Tayga.info
    In Barnaul gingen Mitglieder der LDPR mit Einzelaktionen auf die Straße. Auf den Plakaten war zu lesen: „Rette die Taiga, deine Mutter!“, „Notstand statt Rauchvergiftung!“, „Ihr Mächtigen, lohnt es sich, uns zu vergiften?“, „Russland brennt, die Machthaber spucken drauf!“. Die Aktivisten hatten eine Beamten-Strohpuppe dabei, neben die sie einen Benzinkanister und ein Schild gestellt hatten: „Lass brennen, löschen lohnt sich nicht?“

    Auch in den sozialen Netzwerken wird von prominenter Seite auf das Thema aufmerksam gemacht: unter anderem von Tina Kandelaki, Rapper Basta, Sergej Lasarew [und dem US-amerikanischen Schauspieler Leonardo DiCaprio – dek].


     

    Die Ökobloggerin Anna Tjatte veröffentlichte [am 28. Juli] auf ihrer Internetseite Kommentare ihrer Instagram-Follower:

    „Ich komme aus Nowosibirsk. Die Woche war schlimm. Ein grauer Schleier über grauem Himmel, die Sonne rot, es wurde viel zu früh dunkel. Gestern hat es geregnet, jetzt kann man wenigstens etwas atmen.“ 

    „Der Chefarzt für Lungenkrankheiten hat allen Einwohnern des Kusbass empfohlen, für eine Weile irgendwohin zu fahren, wo es keinen Smog gibt. Das ist kein Scherz. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.“ 

    „Wir haben hier im Südural die Sonne seit einer Woche nicht mehr gesehen. Die Leute in Sibirien tun mir leid.“

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  • „Die Menschen erheben Ansprüche auf ein besseres Leben“

    „Die Menschen erheben Ansprüche auf ein besseres Leben“

    In den vergangenen acht Jahren haben sich die Ausgaben des Moskauer Kommunalhaushalts mehr als verdoppelt. Heute gibt die russische Hauptstadt pro Kopf ungefähr das Dreifache des Landesdurchschnitts aus. 

    Da die Ausgabenerhöhung zum Teil durch regionale Umverteilung finanziert wird, glauben viele Beobachter, dass die Protestbereitschaft in den Regionen weiter steigen werde. Schließlich, so die Argumentation, seien hier sowohl die Folgen des seit fünf Jahren sinkenden Realeinkommens stärker spürbar als auch die der Steuer-  und Rentenreform.

    Vor dem Hintergrund des landesweit sinkenden Lebensstandards hat eine soziologische Forschungsgruppe die Frage nach der Entwicklung des gesellschaftlichen Bewusstseins in Russland gestellt. Zu diesem Zweck führten die Wissenschaftler qualitative Interviews durch mit Menschen aus Moskau und sechs weiteren Städten des Landes. Über die Ergebnisse dieser Studie spricht die RANCHiGS-Soziologin Anastassija Nikolskaja mit Znak

    Jewgeni Senschin: [Ihre Studie untersucht das gesellschaftliche Bewusstsein. – dek] Was hat Sie zu dieser Untersuchung bewogen?

    Anastassija Nikolskaja: Unser soziologisches Forschungsteam hatte den starken Eindruck, dass sich das Bewusstsein der Menschen gerade gravierend verändert. Vor einem Jahr, im Rahmen einer anderen Untersuchung, sagten uns die Leute, dass wir unsere Sklavenmentalität ablegen müssten. Solange das nicht passiere, würde sich nichts ändern. 

    Wir beobachten tiefgreifende Veränderungen im Denken der Menschen

    Seit diesem Zeitpunkt beobachten wir tiefgreifende Veränderungen im Denken der Menschen. Sie sagen plötzlich, dass sie verantwortlich sind für das, was passiert. Und wir stellen fest: Die Menschen wollen Autonomie für ihre Regionen.

    Was verstehen Sie unter dem Begriff „Autonomie der Regionen“? Wie wir wissen, reagiert das föderale Zentrum empfindlich auf jede Form der Autonomie. Wo liegt die Grenze zwischen Autonomiebestreben und separatistischen Tendenzen?

    Die Menschen in Magadan, Wladiwostok und Jakutsk sagen praktisch alle das Gleiche: Moskau frisst unser Geld, während wir gerade so überleben. Sie wollen nicht Syrien helfen oder Kuba Schulden erlassen. Sie sagen, es sind unsere Steuern, wir haben das Recht zu wissen, wie sie ausgegeben werden. Und dass es besser gewesen wäre, sich gar nicht erst mit anderen Ländern zu zerstreiten, damit man sich später keine Freundschaften erkaufen muss.

    Die Menschen in Magadan, Wladiwostok und Jakutsk sagen praktisch alle das Gleiche: Moskau frisst unser Geld, während wir gerade so überleben

    Daraus resultiert für sie der Gedanke, dass ihre Regionen autonom verwaltet werden sollten. Diese Einschätzung formulieren die Menschen übrigens selbst, von uns gab es da keine Vorgaben. Sie finden, die Regionen sollten die gleichen Rechte haben wie die nordamerikanischen Bundesstaaten. Dort gibt es zwar eine gemeinsame Armee, föderale Steuern und so weiter, aber grundsätzlich liegen viele Vollmachten bei den einzelnen Gliedstaaten.

    Die Bezeichnung „Russische Föderation“ impliziert ja bereits Autonomie. Und es gibt auch Regionen die das Wort „autonom“ in ihrem Namen tragen. Welche Autonomie wollen die Menschen noch?

    Wir haben eine Pseudo-Föderation, eine Pseudo-Demokratie, die Verfassung wird komplett missachtet. Das ist keine Neuigkeit. Der Staat als Ganzes hat versagt. So sehen es zumindest unsere Probanden. 

    Wir haben eine Pseudo-Föderation, eine Pseudo-Demokratie, die Verfassung wird komplett missachtet

    88 Prozent der Befragten sind der Meinung, die wirtschaftliche und politische Situation im Land habe sich drastisch verschlechtert.

    Vor fünf Jahren, als die Popularität der Regierung zu sinken begann, beschloss der Kreml, sie auf Kosten der Krim und der Ereignisse im Donbass anzukurbeln. Es ist ihm zunächst auch gelungen, die Menschen zu begeistern und die Gesellschaft hinter sich zu versammeln. Ist dieser Effekt noch spürbar?

    Auf die Frage nach Putins Errungenschaften nannten in Jakutsk nur zwei Prozent der Befragten die Krim. Die Olympiade in Sotschi erwähnte nicht ein einziger. Und an die Fußball-WM erinnert man sich auch nur im Zusammenhang mit der Rentenreform, die klammheimlich in ihrem Schatten durchgeführt wurde. Sobald den Menschen klar wurde, welchen Preis sie für die Krim zahlen, war die Begeisterung schnell verflogen.

    Sobald den Menschen klar wurde, welchen Preis sie für die Krim zahlen, war die Begeisterung schnell verflogen

    Wie schätzen die Leute das erste Jahr von Putins aktueller Amtszeit insgesamt ein?

    72 Prozent finden, es sei schlechter geworden, 26 Prozent sagen, es habe sich nichts verändert, und zwei Prozent, dass es besser geworden sei.

    Abgesehen von der Außenpolitik – welche Entscheidungen des Zentrums führen denn dazu, dass sich die Regionen immer weiter von ihm entfernen?

    Sprechen wir lieber nicht von Regionen, sondern von konkreten Menschen, die in dieser oder jener Region leben. 

    Hier beispielsweise Aussagen aus Jekaterinburg:

    „Die medizinische Versorgung hat sich verschlechtert, das Rentenalter und die Mehrwertsteuer wurden angehoben, das Gesetz zum ‚souveränen Runet‘, die Kleinunternehmern werden durch große Konzerne verdrängt; Folter durch Polizei und FSB; die Medien, die immer mehr und immer unbeholfener die öffentliche Aufmerksamkeit von den eigentlichen Problem ablenken wollen. An die Macht kommt, wer loyal ist, und nicht, wer professionell überzeugt. Wir haben die ewigen Lügen einfach satt und dass man uns als Menschen zweiter Klasse behandelt.“

    Und hier aus Magadan:

    „Putin nimmt das Volk nicht für voll, er hofft, weil wir ihn damals unterstützt haben, würde das ewig so weitergehen, aber das stimmt nicht. Der Lebensstandard ist dramatisch gesunken. Russland hat es sich mit der ganzen Welt verscherzt; überall nur Lügen und Aggression. Die Medien versuchen uns mit Nachrichten aus Paris, Venezuela und der Ukraine abzulenken, als ob wir nicht selbst sehen würden, was hier bei uns los ist. Die totale Stagnation.“

    Was die Menschen in den Regionen vom Zentrum nicht wollen, ist klar. Aber geht aus Ihrer Untersuchung auch hervor, was sie wollen?

    Die Menschen wollen dieses System zerstören, sie wollen einen demokratischen Staat aufbauen, in dem die Regierenden das Volk respektvoll wahrnehmen und ihre Entscheidungen transparent und nachvollziehbar gestalten. 

    Außerdem wollen die Leute, dass die Ressourcen des Landes dazu verwendet werden, aus Russland eine prosperierende Wirtschaftsmacht zu machen.

    Können sich die Stimmungen, die Sie in den Regionen vorgefunden haben, noch zerstreuen, wenn sich das Leben zum Besseren ändert? Oder ist der Point of no Return bereits überschritten?

    Ja, das ist er. Noch vor einem Jahr konnte das Zentrum diese Stimmungen durch Almosen zerstreuen. Jetzt sind die Menschen entschlossener, all diese grandiosen Ereignisse und Großveranstaltungen, angefangen bei der Krim und endend mit der WM, haben ihre Wirkung verloren. 

    All diese grandiosen Ereignisse und Großveranstaltungen, angefangen bei der Krim und endend mit der WM, haben ihre Wirkung verloren

    Die Menschen fürchten um ihre Existenz, und sie verbinden den sinkenden Lebensstandard eindeutig mit der Politik in Moskau.

    Wohin wird das Erstarken dieser Stimmungen führen? Zu einem Aufstand, zum Maidan, zur Revolution? Massenproteste beobachten wir ja schon heute: Inguschetien, Archangelsk, Jekaterinburg.

    Eine Revolution braucht Anführer. Bisher gibt es in den Regionen keine Führungspersönlichkeiten, die eine Revolution organisieren und anführen könnten.

    In vielen Regionen stehen Wahlen an. Bei den letzten Wahlen waren in mehreren Regionen oppositionelle und sogenannte „technische Kandidaten“ sehr erfolgreich. Angenommen, Sie wären politischer Berater bei den kommenden Wahlen – wozu würden Sie Ihrem Kandidaten in Anbetracht Ihrer Forschungsergebnisse raten?

    Ich würde ihm raten, sich möglichst stark von der jetzigen Regierung zu distanzieren und zu zeigen, dass man sich nicht durch Interaktion mit ihr die Finger schmutzig gemacht hat. Alle, die mit der Regierung zusammenarbeiten, sind aus Sicht der von uns Befragten korrupt.

    Als Schlussfolgerung: Würden Sie sagen, die Leute sind unzufrieden, aber sie werden es weiter hinnehmen? Wie immer?

    Sie werden es nicht mehr hinnehmen. Sie werden sich auflehnen. Das tun sie jetzt schon. Was wir im letzten Jahr gesehen haben, waren klare Protestwahlen, in diesem Jahr gehen die Menschen massenweise auf die Straße. Aber sie wollen nicht zum Spaß protestieren oder nur Randale machen, niemand will Autos umwerfen und Schaufenster einschlagen. Die Menschen sind bereit, auf die Straße zu gehen, und auch, einen Schlagstock auf den Kopf zu bekommen. Aber sie wollen wissen, wie das ihr Leben verbessern soll. Die Menschen erheben handfeste Ansprüche auf ein besseres Leben und auf die Durchsetzung ihrer Rechte. Das heißt, es entsteht eine neue Zivilkultur. Aber noch gibt es weder eine gemeinsame Idee noch eine gemeinsame Bewegung.                   

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  • Urlaub bei den Sibirjaken?

    Urlaub bei den Sibirjaken?

    35 Mal größer als Deutschland und nicht einmal die Hälfte an Bevölkerung – in Sibirien gibt es wohl viele Ecken, die noch nie jemand betreten hat. 

    Lange Zeit war die Region ein Ort der Verbannung und Zwangsarbeit. Damit rief sie bei nicht wenigen Menschen in Russland unangenehme Assoziationen hervor. Die Neu-Sibirjaken stellten allerdings bald fest, dass auch hier unsere Sonne scheint (nasche solnze swetit) und entwickelten mit der Zeit ein eigenes regionales Selbstverständnis, teils zurückgehend auf das der Ureinwohner, teils in Abgrenzung zu Moskau.

    Doch was macht dieses Selbstverständnis konkret aus? Warum definierten sich beim Zensus von 2010 rund ein Viertel aller Menschen in Sibirien als Sibirjaken, obwohl es eine solche Nationalität in Russland gar nicht gibt? Diese Frage stellten die Soziologinnen Alla Anissimowa und Olga Jetschewskaja. Sie haben sich aufgemacht nach Irkutsk, Omsk und Nowosibirsk und dort mit den Menschen geredet, einfach „über das Leben“. Auf Zapovednik  haben sie einige dieser Interviews und die Ergebnisse ihrer Studie veröffentlicht.

    Viele Sibirjaken verbringen ihren Urlaub lieber in heimischer Schönheit, als in warme Länder zu reisen / Foto © distantranges/flickr

    Weite und Raum

    „Ich glaube, wir Sibirjaken haben einen stärkeren Willen … Wir können gut arbeiten, haben Ausdauer. Vielleicht härten uns die Umweltbedingungen ab, wir werden hier nicht gerade verwöhnt … Der Geist ist stärker, ausdauernder, moralisch und physisch.“ 
    (N., 32, w, Omsk)

    „Ein Sibirjake mummelt sich nicht ein, er lässt den Hals frei. Zieht sich nicht dick an, er ist die Kälte gewöhnt.“ 
    (W., 45, m, Omsk)

    In fast jedem Interview thematisieren die Einwohner Sibiriens ihre Beziehung zur Natur und deren Bedeutung für sie. Viele verbringen ihren Urlaub lieber in der hiesigen Region – „in heimischer Schönheit“ , als in warme Länder zu reisen.

    „Ich finde es verrückt, in den Urlaub nach Thailand zu fliegen. Wieso fährt man in ein anderes Land, um sich zu erholen? An den Baikal oder mit dem Sohn auf die Datscha – das ist für mich Urlaub.“ 
    (I., 32, w, Irkutsk)

    „Die Sibirjaken haben einen ganzen Erklärungskomplex dafür, was den sibirischen Charakter abhärtet: das Zusammenspiel von Mensch und Natur, das Gefühl von Weite und Freiheit, das Überwinden von Hindernissen und Überleben unter schwierigen klimatischen Bedingungen“, heißt es in der Untersuchung der beiden Soziologinnen.

    „Sibirien unterscheidet sich nicht mal so sehr in der Entfernung. Es ist vielmehr die Abgetrenntheit.“ / Foto © Roland Munz/flickr
    „Sibirien unterscheidet sich nicht mal so sehr in der Entfernung. Es ist vielmehr die Abgetrenntheit.“ / Foto © Roland Munz/flickr

    Abgetrenntheit

    Die Sibirjaken stellen in den Interviews auch Vergleiche zu Ländern an, die komplett erforscht und erschlossen sind. Sie erzählen von der dunklen Taiga, die man bei den Flügen jenseits des Ural zweieinhalb Stunden lang aus dem Flugzeugfenster sieht, und von der unterschiedlichen Wahrnehmung von physischem Raum und realer Entfernung.

    „Meine Schwester kam aus dem Gebiet Archangelsk hierher nach Nowosibirsk und sagte, das sei eine andere Welt. Aus dem westlichen Teil Russlands fährt hier überhaupt niemand her, sie war ganz alleine im Coupé. Erst ab Nowosibirsk wurde der Zug voller, von hier aus fahren die Menschen weiter in den Osten …“ 
    (L., 60, w, Nowosibirsk)

    „Sibirien unterscheidet sich in … es ist nicht mal so sehr die Entfernung, als vielmehr die Abgetrenntheit. Als ich zum ersten Mal nach Moskau geflogen bin … es war merkwürdig, dass man nach so vielen Flugstunden frühstücken geht und immer noch Russisch hört. Ich hatte bei der Entfernung gedacht, es müsste dort komplett anders sein … Irgendwie fühlt sich Sibirien wie ein ganz eigenes Land an.“ 
    (T., 39, w, Nowosibirsk)

    Die Abgetrenntheit von der Hauptstadt, die schlecht entwickelte Infrastruktur zwischen den großen und kleineren sibirischen Städten sowie die ungleichen Fortbewegungsmöglichkeiten der Bewohner Sibiriens und der Menschen „hinter dem Ural“ erzeugen bei den Sibirjaken offenbar ein Gefühl der Benachteiligung und Chancenungleichheit im Vergleich zu den Bewohnern Zentralrusslands.

    „Die komplette Rohstoffbasis liegt hier in Sibirien, aber wir leben viel ärmer … Hier war schon immer alles teurer, deshalb waren wir schon immer sparsamer. Eine Reise in den Süden – für die ist das  das eine, für uns ist es etwas ganz anderes, genug Geld zusammenzusparen.“ 
    (G., 59, w, Omsk)

    Die Abgetrenntheit von der Hauptstadt und die schlecht entwickelte Infrastruktur erzeugen ein Gefühl der Chancenungleichheit im Vergleich zu den Bewohnern Zentralrusslands / Foto © Ninara/flickr
    Die Abgetrenntheit von der Hauptstadt und die schlecht entwickelte Infrastruktur erzeugen ein Gefühl der Chancenungleichheit im Vergleich zu den Bewohnern Zentralrusslands / Foto © Ninara/flickr

    Multiethnizität

    „Ich glaube die echten, guten Sibirjaken, gibt es nur in der Gegend um den Baikalsee. In Nowosibirsk, Krasnojarsk – das sind irgendwie keine richtigen Sibirjaken, die sind zu schwach. Der Baikal ist wie ein wildes Tier, da gibt es manchmal Wellen, dass man richtig Angst kriegt. Aber bei denen, da gibt’s so was nicht.“ 
    (Je., 48, w, Irkutsk)

    Die beiden Soziologinnen bezeichnen Sibirien als einen Schmelztiegel der Völker: Im Gegensatz zu traditionellen Clans seien sibirische Familien oft multiethnisch. „Unter den harten sibirischen Überlebensbedingungen und bei der Erschließung neuer Gebiete spielten ethnische und manchmal auch religiöse Prinzipien bei der Familiengründung keine entscheidende Rolle“, stellen sie fest.

    „Muslime, Russen und Burjaten lebten in einem Dorf zusammen, es gab mehrsprachige Schulen und Koranschulen, die Kinder lernten verschiedene Sprachen, auch die arabische Schrift, man lebte friedlich zusammen. Alle Feste wurden mit dem ganzen Dorf gefeiert. Ostern und so weiter – alle zusammen, auch die Muslime.“ 
    (Ch., 58, w, Irkutsk)

    Weil Menschen verschiedener Religionen und Kulturen in Familien zusammenleben, hat sich in Sibirien eine besondere ethnische Toleranz entwickelt. Viele der Interviewpartner aus gemischten Familien tun sich schwer, ihre Nationalität und manchmal auch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder Religion anzugeben. Der Begriff Sibirjake erlaubt es ihnen, Kultur und Herkunft aller Vorfahren zu vereinen, ohne eine der Seiten zu vernachlässigen.

    „Ich finde es verrückt, in den Urlaub nach Thailand zu fliegen. An den Baikal oder mit dem Sohn auf die Datscha – das ist für mich Urlaub.“ / Foto © William Veerbeek/flickr
    „Ich finde es verrückt, in den Urlaub nach Thailand zu fliegen. An den Baikal oder mit dem Sohn auf die Datscha – das ist für mich Urlaub.“ / Foto © William Veerbeek/flickr

    Der Baikal

    Die Einwohner der Oblast Irkutsk schöpfen ihre sibirische Identität außerdem aus der Umweltbewegung der 1990er Jahre, die für den Schutz des Baikalsees kämpfte. „Der Baikal schweißt Menschen zusammen, die sich unter anderen Umständen nicht einmal Guten Tag sagen würden, wie es ein Historiker einmal ausdrückte. Der See gilt als heilige Stätte. Durch diesen regionalpolitischen Aktivismus werden die Menschen zu Sibirjaken“, sagt Alla Anissimowa.

    „2006 gab es hier Massendemonstrationen für den Schutz des Baikalsees, viele sagen, das sei für sie der Wendepunkt gewesen … Das war eine großangelegte Kampagne, bei der es nicht nur um die Umweltprobleme, sondern auch um die Bürgerrechte der hiesigen Bevölkerung ging … Seither steht das Wort Sibirjake auch für Solidarität. Wir leben am Baikal, und deswegen sind wir Sibirjaken.“ 
    (I.,32, w, Irkutsk)


    Epilog

    Sowohl in beruflicher als auch in kultureller Hinsicht und im Hinblick auf die Umweltbedingungen – die sibirische Identität ist so eng an das Überwinden von Schwierigkeiten geknüpft, dass die Forscherinnen zu dem Schluss gelangen, sie habe Handlungscharakter: Als Sibirjake wird man nicht geboren – man wird es.

    Die sibirische Identität habe die Form einer politischen Äußerung, eines Protests. Aus den drei verschiedenen Städten berichten die Menschen von fehlenden Perspektiven, einer industriellen Krise und niedrigen Löhnen. „Wenn sie nach den Ursachen für diese Probleme gefragt werden, dann äußern viele, dass sie vor allem den asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem föderalen Zentrum und der sibirischen Region sowie der Erobererhaltung des Zentrums gegenüber Sibirien geschuldet sind“, so die Forscherinnen. Der Wunsch nach einer sibirischen Identität habe insofern nichts mit einem Kampf um nationale Unabhängigkeit zu tun, sondern sei ein Appell der einfachen Menschen an das Zentrum, ihre Probleme endlich zu sehen und zu berücksichtigen.

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  • „Anonymität ist eine Möglichkeit, zu sagen, was man denkt“

    „Anonymität ist eine Möglichkeit, zu sagen, was man denkt“

    „Ich heiße Alexander Gorbunow, und ich bin der Autor des Telegram-Kanals Stalingulag.“ Mit diesen Worten outete sich Anfang Mai der Betreiber des populärsten Kreml-kritischen Telegram-Kanals Russlands in einem Interview mit BBC Russian Service. Schon 2017 meinte der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, dass der Autor von Stalingulag der wichtigste politische Kommentator des Landes sei, derzeit hat der Kanal auf Twitter über eine Million Follower, auf Telegram über 377.000 Abonnenten.

    Lange rätselte man in Russland über die Identität des anonymen Autors. Im Sommer 2018 lieferte das Investigativmedium RBC Hinweise darauf, dass der 26-jährige Alexander Gorbunow aus Machatschkala derjenige sein muss: Der 2013 gegründete Twitter-Account @StalinGulag hieß nämlich zuvor @algorbunov. 

    Vermutlich aufgrund dieses Anhaltspunktes bekamen die Eltern des Bloggers Ende April Besuch von der Polizei. Sie gaben vor, wegen „Telefonterrors“ zu fahnden: Irgendjemand soll aus der Wohnung der Eltern eine telefonische Bombendrohung abgesetzt haben. 

    „Wie erfinderisch, früher konnten die einem einfach Drogen unterjubeln“, witzelte Stalingulag einen Tag später, noch anonym. Doch kurze Zeit später entschied sich Gorbunow, seine Identität zu lüften und die Öffentlichkeit zu suchen: Er outete sich zunächst auf BBC und später auf The Bell – auch, um seine Familie zu schützen. 

    Seine Aktivität auf Social Media, so erzählte er der BBC, habe er eher aus Langeweile begonnen, und Politik habe ihn schon immer interessiert. Russland sei für ein Leben im Rollstuhl überhaupt nicht geeignet, so der Blogger, der spinale Muskelatrophie hat. Computer und Internet seien die einzige Möglichkeit mitzubekommen, was in der Welt passiert.

    Gorbunows Heraustreten aus der Anonymität erregte große Aufmerksamkeit, auch im Ausland. Gorbunow hat inzwischen einen neuen Telegram-Kanal gegründet. @Stalin_gulag_narodny versteht sich als Aggregator unterschiedlicher Meinungsposts.

    Die Biografie des in Moskau lebenden Bloggers hat etwas Inspirierendes, meint das Onlinemedium The Bell. Das Medien-Start-up hat entschieden, das Interview mit Gorbunow in Form eines Monologs zu veröffentlichen – in dem er auch erklärt, warum Anonymität in Russland überlebensnotwendig ist und weshalb er seine dennoch aufgab.

    Stalingulag war nur ein Twitter-Blog, um meine Gedanken zu äußern. Ich wollte nicht, dass er groß und viel gelesen wird. Ich habe nie Werbung geschaltet oder mit irgendwem kooperiert. Die erste gegenseitige PR habe ich gemacht, als ich auf Telegram 200.000 Follower hatte. Inzwischen kostet ein Post ab 150.000 [Rubel – ca. 2100 Euro, dek], je nach Format und Anzahl der Links.

    Dabei war die Werbung immer kommerziell, nicht politisch. Telegram-Kanäle verdienen sonst vor allem mit bezahlten Polit-Posts. Aber solche Anfragen blocke ich ab. Fast täglich bekomme ich Angebote, meinen Kanal zu verkaufen. Aber ich werde nicht verkaufen. Ich habe nie auch nur ansatzweise mit irgendjemandem darüber gesprochen.

    Meine Posts entstehen spontan. Ich blättere in Newstickern und sozialen Netzwerken und schreibe, wenn mich etwas bewegt. Jetzt wirft man mir fünf Jahre alte Tweets vor, die angeblich regierungsfreundlich waren. Aber das stimmt so nicht. 

    Ich könnte alles löschen. Sagen, dass es Fake ist. Aber das werde ich nicht machen. Stalingulag ist ein Teil von mir, warum sollte ich den löschen? Irgendwo habe ich vielleicht jemanden getrollt, falsche Schlüsse gezogen, war zu emotional – aber das war alles ich.

    Irgendwo habe ich vielleicht jemanden getrollt, falsche Schlüsse gezogen, war zu emotional – aber das war alles ich

    Ich bin in Machatschkala aufgewachsen und erhielt Hausunterricht, von einer ganz normalen Schule. Ich weiß nicht, wie es heute mit dem Hausunterricht läuft, aber damals lief alles so schlecht, dass die Lehrer manchmal nur fünf oder sechs Mal im Schuljahr bei mir waren. Sie kamen und sagten: „Hier hast du fünf Absätze zum Lesen, wenn ich wiederkomme, machst du mir eine Nacherzählung.“ Lernen und Unterricht oblag meinen Eltern, und im Grunde mir selbst.

    Meine Mutter war ständig mit mir beim Arzt, bei Spezialisten in verschiedenen Städten und konnte nicht arbeiten, mein Vater war Bauleiter und Alleinverdiener in der Familie. Sie bauten eine Start- und Landebahn in Kaspijsk, einen Flughafen in Dagestan, Krankenhäuser.

    Nachdem vor einer Woche die Polizei bei meinen Eltern aufgetaucht war, bekamen auch meine Cousins jeweils gegen ein Uhr nachts Besuch. Sie fragten sie ausschließlich nach mir: Wo ich sei, was ich tun und in welcher Beziehung ich zu ihnen stehen würde. Sie stellten ihre Fragen und gingen wieder. Meine Cousins sagten, sie wüssten von nichts.

    Ungefähr in der siebten Klasse wurde mir klar, dass ich selbst Geld verdienen muss

    Ungefähr in der siebten Klasse wurde mir klar, dass ich selbst Geld verdienen muss, weil es hinten und vorne nicht reichte. Eines Tages kam eine Bekannte vorbei und bot meinen Eltern einen Vitaminkomplex für mich an. Meine Eltern waren nicht sehr begeistert, aber ich begann sie nach ihrem Job auszufragen. Sie sagte, ich würde das auch können, da begann ich Handel zu treiben. Ausschließlich über Bekannte. 
    Ich versuchte es auch mit Kaltakquise, aber ohne Erfolg. Wenn ich jemanden auf der Straße ansprach, kramte der in der Hosentasche und hielt mir Kleingeld hin. Ich verdiente im Schnitt 100 bis 200 Dollar im Monat. Für Machatschkala war das richtig viel Geld. Staatsbeamte verdienten weniger. Bald konnte ich mir sogar Spontankäufe leisten – angesagte Klamotten, Café-Besuche.

    In der achten Klasse ließ ich das langsam bleiben und konzentrierte mich auf Zielgruppenwerbung, begann Websites zu erstellen. Mit ungefähr fünfzehn sah ich eine Online-Werbung für einen Poker Room, so wurde das Pokern zu meiner neuen Einnahmequelle. 

    Studieren wollte ich nicht unbedingt

    Studieren wollte ich nicht unbedingt. Um ehrlich zu sein, habe ich nie gerne gelernt und nie verstanden, was es mir nützen soll, wenn ich stattdessen auch im Internet surfen oder Counter-Strike spielen kann. Das Interesse an Büchern, an Geschichte und so weiter kam erst viel später. Damals hatte ich genug Geld, ich war selbständig und zufrieden mit der Situation. Aber meine Eltern mit ihrer alten sowjetischen Denke sagten: „Wie willst du denn leben ohne Hochschulabschluss? Das ist doch peinlich, alle haben einen, und du nicht?“ oder „Du machst da unseriöses Zeug, und morgen verlässt dich Fortuna, und dann stehst du mit leeren Händen da.“

    Also schrieb ich mich an der Uni in Machatschkala ein, am Institut für Wirtschaft und Recht und habe Jura studiert. Das ist eine kleine Uni, vor allem dafür bekannt, dass Ramsan Kadyrow dort studiert hat. Es war nicht schwer, dort angenommen zu werden. Ich hätte eigentlich auch überall anders studieren können, meine Noten waren ganz gut. 

    Ich dachte sogar daran, nach Moskau zu gehen. Ich rief an der Higher School of Economics an, aber man sagte mir, dass die Einrichtung nicht für Menschen mit Behinderung geeignet sei und ich nur einzelne Vorlesungen besuchen könne. Ich telefonierte dann noch ein Dutzend weiterer Hochschulen ab und merkte, dass es für mich nirgendwo möglich wäre, regelmäßig Seminare zu besuchen. 

    Was macht es dann für einen Unterschied, wo man studiert? In Machatschkala fuhr ich nur zu den Prüfungen zur Uni. Damit ich sie ablegen konnte, kamen die Dozenten extra ins Dekanat im Erdgeschoss.

    Nach meinem Abschluss begann ich, nach Moskau zu fahren, erst für drei, dann für sechs Monate. Das war ein schleichender Umzug. 

    Ich beschäftige zwei Fahrer. Das ist eine Notwendigkeit

    Am ersten jeden Monats bezahle ich 400.000 Rubel [ca. 5500 Euro – dek] – die Miete, zwei Fahrer und eine Haushaltshilfe. Ich habe zwei Fahrer, weil es ziemlich schwer ist, eine Anzeige für eine Personalagentur zu formulieren: „Ich suche jemanden, der mir beim Treppensteigen und Überwinden von Türschwellen hilft.“ So einen Beruf gibt es nicht. Also beschäftige ich zwei Fahrer. Das ist eine Notwendigkeit. Plus die Ausgaben für Essen, Freizeit, Benzin und so weiter.

    Heute besteht mein Arbeitsplatz aus Notebook und Smartphone – Steve Jobs sei Dank. Es gab Zeiten, da arbeitete ich am Computer mit mehreren großen Bildschirmen. Aber mit der Zeit kam ich hinter die Erfolgsformel: „Weniger ist mehr.“

    Ende der elften Klasse habe ich damit angefangen, mich mit dem Wertpapierhandel zu beschäftigen. Im Prinzip haben Poker und die Börse viel gemeinsam, weil man in beiden Fällen mit Wahrscheinlichkeiten arbeitet. Das Einzige, was du kontrollieren kannst, ist dein Risiko. Das ist die einzige Konstante.

    Das Einzige, was du kontrollieren kannst, ist dein Risiko. Das ist die einzige Konstante

    Zunächst habe ich auf dem US-Markt mit Aktien gehandelt. Beim ersten Mal habe ich 1000 Dollar investiert. Und sie glorreich in den Sand gesetzt. Beim zweiten Mal verlor ich nicht mehr, aber bis ich dort war, wo ich heute stehe, war es ein langer Weg. Eine schmerzhafte Suche nach der eigenen Strategie.

    Ich hatte die Idee, einen Fonds zu gründen – eine Infrastruktur, um nicht mit Privatvermögen zu handeln, sondern Handelskapital anzuhäufen und Investoren anzulocken. Ich beriet mich mit Fachleuten auf dem Gebiet, aber dann erschien der Artikel bei RBC, und man sagte mir, ich bräuchte es gar nicht erst zu versuchen.

    Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet jetzt bei meinen Eltern aufgetaucht sind

    Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet jetzt bei meinen Eltern aufgetaucht sind. Ich habe nichts Außergewöhnliches geschrieben, Verkaufsanfragen gab es vorher auch keine. Vielleicht ist der Kanal zu groß geworden und die Zeit einfach reif. Vielleicht hat es mit den neuen Gesetzen zu tun, die die Redefreiheit im Internet einschränken.

    Ich vermute, es ist zwecklos, das Vorgehen dieser Leute rational erklären zu wollen. Wenn man lange in seiner Blase lebt und nur die Informationen bekommt, die man hören will, entsteht ein verzerrtes Bild von der Realität. Wer weiß, was sie da durch ihre Lupe auf dem Bildschirm gesehen haben. Vielleicht ist irgendein Beamter oder General zufällig auf einen Screenshot mit dem Wort „Dachschaden“ gestoßen, das ich öfter mal benutze, und hat sich empört: „Wer ist das? Spinnt der? Sofort finden!“ Ich habe jedenfalls keine Ahnung, was passiert ist und warum.

    Die Leute laden mich nach Berlin, Paris, Kasachstan, in die Ukraine ein

    Aber mein plötzlicher Ruhm hat mir wieder einmal gezeigt, dass da draußen viel mehr gute als schlechte Menschen sind. Ich bekomme täglich Hunderte von Nachrichten aus dem ganzen Land. Ich versuche, jedem zu antworten. Die Leute bieten mir an, bei Ihnen auf der Datscha zu wohnen oder mir 300 Rubel [etwa 4 Euro – dek] zu überweisen, laden mich nach Berlin, Paris, Kasachstan, in die Ukraine ein und so weiter. Das ist schön und berührt mich. Der Kanal hat jetzt noch mal 40.000 Follower mehr.

    Andererseits gibt es auf Twitter auch eine Menge Hass und Nachrichten wie: „Du bist geliefert, pass gut auf, Genosse Major hält eine Flasche für dich bereit“ und andere Bullenspäße. Das ist ok. Jeder hat das Recht mich zu hassen und sogar zu beleidigen.

    Nicht okay sind die Leute, die ein Video mit den persönlichen Daten meiner Cousins und deren minderjährigen Kindern und Privatadressen auf YouTube hochgeladen haben. Das ist niederträchtig.

    Was hat meine Familie damit zu tun? Ich rede mit ihnen nicht mal über Politik. Meine Cousins wussten nix von Stalingulag, bis die Polizei bei ihnen vor der Tür stand (von dem RBC-Artikel haben sie nichts mitbekommen). Sie riefen bei mir an und fragten: „Was hast du denn wirklich gemacht?“, weil ihnen klar war, dass die Geschichte mit dem Telefonterror Schwachsinn ist. Erst da habe ich ihnen von dem Kanal erzählt. Sie lesen ihn seit einer knappen Woche. Sagen, dass er ihnen gefällt. Vielleicht wollen sie mich auch nur unterstützen. Genau deswegen wollte ich anonym bleiben – wegen meiner Familie.

    Die Anonymität ist eine Möglichkeit sich zu verstecken, aber zu sagen, was man denkt

    Anonymität erwächst aus der Ausweglosigkeit. Sie entsteht, wenn es keine andere Wahl gibt. Telegram-Kanäle entwickeln sich nur in Ländern, in denen es keine Meinungsfreiheit gibt. In den USA gibt es keine Kanäle mit hunderttausenden Followern, in Russland schon – weil die Presse sich heute nicht das erlauben kann, was sich anonyme Kanäle erlauben. Die Menschen können ihre Meinung nirgendwo äußern. Die Anonymität ist für sie eine Möglichkeit sich zwar zu verstecken, aber wenigstens zu sagen, was sie denken.

    In einem Land gegen die Anonymität zu sein, in dem es kein faires Gericht gibt und die Menschen wegen Likes, Reposts und Fotos eingesperrt werden, ist absurd. Ich werde mich nie für Entanonymisierung aussprechen, egal, ob ich mit der Position des Autors einverstanden bin oder nicht, ganz besonders, wenn er niemandem schadet.

    Gegen Anonymität zu sein, wenn Menschen wegen Likes, Reposts und Fotos eingesperrt werden, ist absurd 

    Im Moment verstehe ich überhaupt nicht, was passiert oder wie es weitergeht. Anonyme User schreiben mir: „Warte die Feiertage ab, dann wirst du sehen, wer die Befragungen angeordnet hat, wir leben doch im Land der Handsteuerung, irgendwer hatte ein Interesse daran.“

    Naja, wer auch immer dahinter steckt, der kann sich jetzt zurücklehnen. Aber vielleicht hat er auch ganz andere Sorgen. Noch ist nichts vorbei, irgendwas wird kommen.

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    Am 17. Mai 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO beschlossen, Homosexualität von der Liste psychischer Krankheiten zu streichen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada glaubten 2015 jedoch 37 Prozent der Befragten in Russland, dass Homosexualität eine Krankheit sei. 

    Fast 30 Jahre nach dem WHO-Beschluss werden LGBT in Russland noch immer diskriminiert, auch vor dem Gesetz: So wurde 2013 sogenannte „homosexuelle Propaganda“ verboten. Immer wieder gibt es auch Gewalt gegen LGBT, im April 2017 hatte die Novaya Gazeta auf Massenfestnahmen und Folter von Homosexuellen in der Teilrepublik Tschetschenien aufmerksam gemacht.

    Der russische Fotograf Stanislaw Dolshnizki wollte Stereotype und Vorurteile abbauen – und hat von 2015 bis 2018 die Geschlechtsanpassung von Jan begleitet. Auf Meduza erzählt Jan seine Geschichte aus der Zeit der Transition, wie er sie nennt.

    Jan vor der Geschlechtsanpassung im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan vor der Geschlechtsanpassung im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Ich heiße Jan und bin 31 Jahre alt. Geboren bin ich in der Bergbaustadt Beresniki in der Region Perm. Ich arbeite als Regisseur, mache Werbung und Videoclips; im Moment lebe ich im Moskauer Umland. Die letzten vier Jahre meines Lebens habe ich meiner Geschlechtsanpassung gewidmet.

    Ein elastischer Verband hilft Jan, die Brüste unter der Kleidung zu verstecken / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Ein elastischer Verband hilft Jan, die Brüste unter der Kleidung zu verstecken / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Solange ich denken kann, hat sich etwas in mir gesträubt, wenn man mich als Mädchen behandelt hat und nicht als Junge. Ich verstand nicht, warum ich Schleifen und rosa Hosen tragen sollte. Als ich drei war, kam ich mit Gelbsucht ins Krankenhaus. Ich lag in einem großen gemischten Mehrbettzimmer mit Mädchen und Jungs. Dort freundete ich mich mit einem gleichaltrigen Jungen an, wir spielten zusammen mit Autos. Und mir hat zum ersten Mal ein Mädchen gefallen, sie war etwas älter. Ich dachte: „Wenn ich groß bin, werde ich sie heiraten, wenn sie noch nicht zu alt ist.“ Ich glaube, damals fing das an.

    Jan wuchs bei seiner Großmutter auf, seine Mutter verstarb, als er neun war / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan wuchs bei seiner Großmutter auf, seine Mutter verstarb, als er neun war / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Ich hatte kein Problem, mich anzunehmen wie ich bin, wie das sonst bei vielen der Fall ist. Ich musste mich nicht verbiegen. Es ging alles relativ leicht, gerade weil ich es schon seit der Kindheit wusste. Wenn du 12, 13 bist und mit den Jungs rumrennst, bist du einer von ihnen. Du kümmerst dich nicht darum, wer dich wie anspricht, weil du siehst, dass man dich gleich behandelt. Aber sobald die Pubertät losgeht und sich alle äußerlich verändern, fangen die richtigen Probleme an. Es gab Momente, da wurde ich zum Beispiel als Lesbe bezeichnet, ich war tierisch gekränkt, denn ich habe mich nie so gesehen. Manche Transmänner leben tatsächlich zunächst als Lesben, bevor sie sich irgendwann festlegen. So war es bei mir nie – ich war bereit, mich deswegen zu prügeln.

    Zum ersten Mal bewusst darüber gesprochen habe ich mit ungefähr 13. Das war im Sommerferienlager, wo ich nur mit Jungs herumhing und der Anführer war. Da habe ich der Gruppenleiterin gesagt, dass ich als Junge angesprochen werden will. Sie sagte, das sei das Alter und würde wieder vorbeigehen. Als am Besuchstag meine Oma kam, habe ich das Gleiche zu ihr gesagt. Sie fragte: „Was redest du da für ein dummes Zeug?“, und sprach mit der Gruppenleiterin, die ihr dann erzählte: „Das ist bloß die Pubertät, nehmen Sie das nicht so ernst, in dem Alter ging’s mir auch so.“ Damit war das Thema erst mal gegessen.

    Wenn ich heute mit meiner Oma darüber spreche, sage ich zu ihr: „So, dieses Alter ist vorbei, aber bei mir ändert sich irgendwie nichts.“ Ich glaube, viele haben als Kind dieses Problem: Die Erwachsenen hören nicht auf sie, sondern auf irgendwelche Leute, die sie nicht kennen und die noch weniger wissen, was in dir vorgeht.

    „Gegen Ende der Schulzeit habe ich erfahren, dass das, was mit mir ist, Transgender bzw. Transsexualität heißt.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Gegen Ende der Schulzeit habe ich erfahren, dass das, was mit mir ist, Transgender bzw. Transsexualität heißt.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Am Zenit-Stadion im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Am Zenit-Stadion im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Streifzug durch die Stadt im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Streifzug durch die Stadt im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Mir wurde klar, dass es die Möglichkeit gibt, sich operieren zu lassen – und dass ich danach vielleicht normal sein würde.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Mir wurde klar, dass es die Möglichkeit gibt, sich operieren zu lassen – und dass ich danach vielleicht normal sein würde.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Gegen Ende der Schulzeit habe ich dann erfahren, dass das, was mit mir ist, Transgender beziehungsweise Transsexualität heißt. In einer Zeitschrift hatte ich von einem neuen Film gelesen, über eine junge Frau, die sich als Mann fühlt. Der Film hieß Boys Don‘t Cry. Ich wünschte ihn mir von meinem Bruder zum Geburtstag. Dann sah ich ihn mir zusammen mit Freunden an. Die lachten sich kaputt, aber ich verstand, worum es ging. Und da wurde mir auch klar, dass es die Möglichkeit gibt, sich operieren zu lassen – und dass ich danach vielleicht normal sein würde.

    In der Uni hatte ich weder das Geld noch die Info, dass man vor eine Kommission muss. Ich wusste nicht, wo man hingeht, an wen man sich wendet, ob es wirklich stimmt, dass man nicht in die Klapse kommt – dahin wollte ich als Letztes. Nach und nach fand ich alles heraus und sparte etwas Geld an.

    Dann musste ich das Problem in der Familie lösen: Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, meine Mutter ist gestorben, als ich neun war. Ich wusste, dass meine Oma nicht einverstanden wäre – ich hatte mit ihr schon öfter über mich und eine OP gesprochen. Ich hatte Angst, dass sie der Schlag trifft, ich wollte nicht der Grund für ihren Tod sein. Sie hatte früh ihren Mann verloren, dann ihre Tochter, und dann komme auch noch ich. Aber es kam, wie es kam.

    2015 war es dann soweit, ich hatte einen Termin für die Kommission. Das Gespräch in der Fakultät für klinische Psychologie der Hochschule für Kinderheilkunde in Sankt Petersburg führte damals Dimitri Issajew. Er ist einer der wenigen Fachleute für Transgender in Russland, die wirklich helfen können. Ich bestand alle Tests, aber nach der Hetzjagd auf Issajew und seiner Entlassung stellte die Kommission mir das Gutachten nicht aus, auf dessen Grundlage die Hormontherapie und die chirurgischen Eingriffe erst eingeleitet werden.

    Das Gutachten der neuen Untersuchung bekam ich erst ein Jahr später. Das habe ich zu einem großen Teil meiner Freundin Dascha zu verdanken. Sie hat darauf bestanden, dass ich einen zweiten Versuch wage. Im Mai 2016 hatte ich endlich die Bescheinigung und konnte mich auf die OP vorbereiten.

    „Das Gutachten habe ich zum Großteil Dascha zu verdanken. Sie bestand darauf, dass ich einen zweiten Versuch wage.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Das Gutachten habe ich zum Großteil Dascha zu verdanken. Sie bestand darauf, dass ich einen zweiten Versuch wage.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha in Sankt Petersburg, Frühling 2016 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha in Sankt Petersburg, Frühling 2016 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha in einer Bar in Sankt Petersburg, Frühling 2016 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha in einer Bar in Sankt Petersburg, Frühling 2016 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Dascha hat mich während dieser ganzen Zeit sehr unterstützt. Ich habe im Gegenzug so gut es geht versucht, den Haushalt zu schmeißen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Dascha hat mich während dieser ganzen Zeit sehr unterstützt. Ich habe im Gegenzug so gut es geht versucht, den Haushalt zu schmeißen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Die häufigste Operation bei Transmännern ist die Mastektomie, die Entfernung des Milchdrüsengewebes. Nur wenige gehen einen Schritt weiter, denn die Phalloplastik [die plastische Operation zur Anpassung der Geschlechtsorgane] ist erstens sehr teuer und zweitens nicht unbedingt notwendig: eine maskulinisierende Mammaplastik [der plastische Eingriff an der Brust] und eine gut eingestellte Hormontherapie lassen keinen Zweifel an der Geschlechtszugehörigkeit. Der Sinn der Transition besteht darin, Harmonie mit sich selbst und der Sozialisierung in der entsprechenden Genderrolle zu erlangen, nicht in der Imitation der äußeren Geschlechtsmerkmale. Als ich noch im Körper einer Frau war, konnte ich schlicht keinen Haarschnitt in einem anständigen Barbershop bekommen – man wollte mich nicht bedienen, unter Verweis auf die Geschäftspolitik.

    Jan im Herbst 2017, bis zur OP bleiben nur noch wenige Tage / Foto  © Stanislaw Dolshnizki
    Jan im Herbst 2017, bis zur OP bleiben nur noch wenige Tage / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    2017 hatte ich endlich die nötige Summe zusammen. Das war nicht leicht, weil ich meinen Job in Perm wegen des Umzugs nach Moskau und der bevorstehenden Transition aufgeben musste. Es war schwer, eine neue Arbeit zu finden, ich musste ja alle Papiere ändern lassen, und dann standen die ganzen äußeren Veränderungen bevor … Dascha hat mich während dieser ganzen Zeit sehr unterstützt. Ich habe im Gegenzug so gut es geht versucht, den Haushalt zu schmeißen.

    Im Herbst 2017 ließ ich in einer Moskauer Privatklinik die Mastektomie vornehmen. Die OP gilt allgemein als unkompliziert, aber es war nicht so leicht: Im Grunde ist das eine Amputation. Aber nach wenigen Wochen war ich wieder auf den Beinen, nur die Bandage musste ich noch ständig tragen.

    Jan und Dascha im Krankenzimmer / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha im Krankenzimmer / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Vorbereitung auf die OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Vorbereitung auf die OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Auf dem Weg in den OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Auf dem Weg in den OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Die ersten Stunden nach der OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Die ersten Stunden nach der OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Der Sinn der Transition besteht darin, Harmonie mit sich selbst und der Sozialisierung in der entsprechenden Genderrolle zu erlangen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Der Sinn der Transition besteht darin, Harmonie mit sich selbst und der Sozialisierung in der entsprechenden Genderrolle zu erlangen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Nach wenigen Wochen war Jan wieder auf den Beinen, nur die Bandage musste er noch ständig tragen / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Nach wenigen Wochen war Jan wieder auf den Beinen, nur die Bandage musste er noch ständig tragen / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha nach der OP im Herbst 2017 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha nach der OP im Herbst 2017 / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Die Kategorien werden heute immer breiter: Begriffe wie Transgender, Transsexualität, queer sind mittlerweile so weit gefasst, dass auch die Transition bei jedem anders aussieht. Manche wollen einfach nur neue Dokumente und brauchen sonst keine Veränderungen. Aber für mich war die Geschlechtsanpassung erst vollzogen, als ich die Kommission und dann die OP hinter mir hatte, die neuen Papiere bekommen und mit der Hormonersatztherapie (HET) begonnen hatte. Ohne diese Schritte wäre meine Transition, so wie ich sie verstehe, nicht vollständig gewesen. Wenn das jemand für sich anders sieht, ist das seine Sache. Ich werde deswegen niemanden schlechter behandeln oder ihn anders nennen, als er sich vorgestellt hat.

    Letztens habe ich meine Oma besucht und ihr meinen Pass gezeigt. Als sie den sah, fing sie plötzlich an, mich als Mann anzusprechen. Für jemanden, der in der Sowjetunion aufgewachsen ist, ist der Pass immer noch ein schwerwiegendes Argument. Aber sie hat nicht lange durchgehalten: Seit ich zurück in Moskau bin, nennt sie mich am Telefon wieder Janotschka.

    2018 haben Dascha und ich geheiratet.

    „Als meine Oma meinen neuen Pass sah, fing sie plötzlich an, mich als Mann anzusprechen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Als meine Oma meinen neuen Pass sah, fing sie plötzlich an, mich als Mann anzusprechen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Als ich noch im Körper einer Frau war, konnte ich keinen Haarschnitt in einem Barbershop bekommen – man wollte mich nicht bedienen, unter Verweis auf die Geschäftspolitik.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Als ich noch im Körper einer Frau war, konnte ich keinen Haarschnitt in einem Barbershop bekommen – man wollte mich nicht bedienen, unter Verweis auf die Geschäftspolitik.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan zu Besuch bei seiner Großmutter / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan zu Besuch bei seiner Großmutter / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan 2018 in seiner Heimatstadt Beresniki / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan 2018 in seiner Heimatstadt Beresniki / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Fotos und Aufzeichnung: Stanislaw Dolshnizki
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Jennie Seitz
    Veröffentlicht am 16.05.2019

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