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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Keiner hat ein Bild von der Zukunft“

    „Keiner hat ein Bild von der Zukunft“

    Wie sprechen die Menschen in Russland über den Krieg? Was denken sie wirklich? Wie sehen sie ihr Leben, ihre Rolle im militarisierten Getriebe der Putinschen Kreml-Diktatur?  

    Einwandfreie, wissenschaftlich saubere, freie und offene Meinungsstudien sind in einem Land wie dem heutigen Russland schon seit mehr als zehn Jahren unmöglich. Informationskanäle sind beschränkt, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit beschnitten und Regimekritiker werden verfolgt, verhaftet, verurteilt und gefangen gehalten. 

    In den ersten zwei Jahren des vollumfänglichen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gab es Versuche, die Haltung der „normalen“ russischen Bevölkerung zum Krieg zu ergründen: zum Beispiel vom Meinungsforschungszentrum Lewada oder auch von dem russischen Exil-Medium Meduza. Die Frage nach Schuld und Mitverantwortung spaltet selbst oppositionelle Kreise bis heute. 

    Um trotz allem wenigstens einen Eindruck von der Stimmung im Land im vierten Kriegsjahr zu bekommen, hat das Onlinemagazin Ljudi Baikala einen unabhängigen Sozialpsychologen (aus Sicherheitsgründen anonym) mit einer Umfrage beauftragt. Der Wissenschaftler sollte herausfinden, was sich die Leute von einem irgendwann vielleicht möglichen Ende der sogenannten „militärischen Spezialoperation“ („SWO“) erwarteten und wünschten.  

    Aufgrund der repressiven Kremlpolitik gestaltete sich die Teilnehmersuche schwierig: Der Autor befragte zehn Personen aus verschiedenen Regionen Russlands sowie eine Fokusgruppe aus acht Personen in der Region Irkutsk. Die Interviewpartner konnte er nur „über Bekannte von Bekannten“ finden. „Man merkt, dass es nicht okay ist, einfach so von einer fremden Nummer anzurufen und dann zu sagen: ‚Wissen Sie, wir machen da so eine Recherche …‘ Die Leute sind sehr angespannt“, so der Forscher gegenüber Ljudi Baikala. Trotzdem konnte er Gesprächspartner:innen für seine Studie gewinnen: „Die Auswahl der Teilnehmer erfolgte nach Alter, sozialem Status und beruflicher Stellung, um Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zu erreichen. Ich habe versucht, die Positionierung einer Person zur ‚SWO‘ zu berücksichtigen. Nicht im Sinne von positiv oder negativ, sondern danach, ob er oder sie Verwandte hat, die vielleicht tot oder verschollen sind.“ 

    Der Wissenschaftler legte den Befragten keine vorgefertigten Antwortmöglichkeiten vor, wie in der quantitativen Forschung üblich. Stattdessen sollten die Teilnehmenden möglichst ausführlich auf offene Fragen antworten. Daher liefert die Studie keine Prozentzahlen zu bestimmten Standpunkten, aber einen Einblick in die Weltsicht der Antwortenden. 

    Ljudi Baikala fasst Antworten einzelner Befragter und Fokusgruppenteilnehmenden zusammen. Deutlich wird: Eine überwiegende Mehrheit verbindet „positive Veränderungen“ mit einem Kriegsende, aber eine konkretere Vorstellung von der Zukunft hat niemand. 

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    Frage: Wie stellen Sie sich Ihr eigenes und das Leben Ihrer Familie in fünf bis sieben Jahren vor? 

    Diese Frage war für die Befragten offensichtlich die schwierigste. Es fiel ihnen schwer, ihr Leben auch nur ein Jahr im Voraus zu planen – selbst denjenigen, deren Arbeit von effektiver Planung abhängig ist, zum Beispiel Unternehmer. 

    Die Hälfte der Befragten antwortete verallgemeinernd: „Ich glaube, alles wird gut“, „Ich hoffe, dass alle gesund und glücklich werden.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Ich denke, es wird besser werden, irgendwann muss der Krieg ja zu Ende gehen und sich alles normalisieren. Also … insgesamt wird es in unserem Land einen positiven Trend geben. Auch in der Familie wird es bergauf gehen.“ 

    Die andere Hälfte hielt Zukunftsplanung für grundsätzlich unmöglich. Die Menschen fühlten sich, so fasst es der Forscher zusammen, „abhängig von äußeren Umständen“. Sie müssten „sich von heute auf morgen überlegen, wie sie unter den sich verändernden Umständen leben sollen, anstatt einem Plan zu folgen“. 

    Mitarbeiter einer NGO, 36, Oblast Irkutsk:  

    „Der Planungshorizont in unserem Land ist generell sehr kurz. Über eine Zeitspanne von fünf bis zehn Jahren zu sprechen, ist reinste Spielerei. Es wäre eine glatte Lüge zu sagen, dass wir für die nächsten zehn Jahre etwas genau vorhersagen könnten. Für das nächste Jahr ist das schon schwierig. Buchstäblich vor drei Wochen lebten wir in der einen Realität, und dann kommen – zackbumm – plötzlich irgendwelche Firmen nach Russland zurück. Was bedeutet das? Dass sich das Schicksal tausender Menschen verändert. Heute arbeiten sie in einer Branche ohne Konkurrenz, morgen haben sie plötzlich Konkurrenz usw. Ich wünsche mir sehr, dass alles gut wird, aber wie es tatsächlich wird, kann ich nicht sagen. Das kann nur die Zeit zeigen.“  

    „ZU VIEL STERBEN“ 

    Frage: Was denken Sie, wie sich ein Ende der „Spezialoperation“ auf Ihr Leben auswirken wird? 

    Die Mehrheit der Befragten erwartet von einem Ende des Krieges, dass ihre Ängste und Sorgen abnehmen. 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Die Nachrichten drücken natürlich auf die Stimmung. Also, der Krieg an sich, meine ich. Wenn das alles vorbei ist, gibt es sicher mehr Positives. Rein emotional wird alles leichter, glaube ich.“ 

    Nachfrage: „Was empfinden Sie gerade als emotional schwierig?“ 

    „Das ständige Sterben in den Nachrichten. Der Tod ist überall … Die Nachrichtenkanäle sind voll von Videos davon, überall Mord und Totschlag. Egal ob es ‚unsere‘ Toten sind oder ‚deren‘ Tote. Es gibt einfach zu viel Sterben.“ 

    Drei der Befragten sagten, dass sich ihr Leben gar nicht verändern würde. Vier glaubten, dass nach dem Krieg eine neue Krise im Land ausbrechen könnte. Sie befürchteten, dass Medikamente knapp werden, die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch die Kriegsrückkehrer zunehmen und der Staatshaushalt nur noch in den Aufbau der zerstörten Regionen fließen könnte. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Mein Leben hängt nicht so sehr von dem Beginn oder Ende der ‘Spezialoperation’ ab. Ich habe zum Beispiel monatsweise auf einer Baustelle gearbeitet. Als das im Februar 2022 losging, saßen wir ganz entspannt irgendwo hinter Magistralny (Dorf in der Oblast Irkutsk – Anm. d. Red.), bauten ein Wohnheim für Gasarbeiter, und da ging’s los. Unsere Arbeit ging weiter und weiter, und wir hatten das Gefühl, in einer Art Kapsel zu sein. Als wir vom Bau wiederkamen, so im Mai, hatte sich in der Stadt nichts verändert.“ 

    „Ich habe davon gehört bzw. eine Sendung im Fernsehen gesehen, dass die Kriminalität explodieren wird, der Alkoholismus, Schlägereien, Morde. ‚Ich war da [an der Front – dek], und du nicht‘ – diese Art von Konflikten. Vor der wachsenden Kriminalität habe ich Angst. Wie gefährlich wird das Leben dann sein? Außerdem macht mir die ganze Atmosphäre Angst. Also, ich meine, die Frauen gehen regelrecht auf die Jagd nach ‚SWO‘-Teilnehmern: Sie bringen ein Kind zur Welt, er stirbt, sie bekommt Geld. Das ist die Tendenz, ich sehe das, weil ich in solchen Chatgruppen sein muss. Das ist keine gesunde Situation, alle sind Konkurrentinnen. Männer gab es sowieso nicht viele, und die, die jetzt da sind, werden Folgen davontragen, Verletzungen, Komplikationen, Behinderungen. Vor den Invaliden habe ich Angst.“ 

     

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    Frage: Was denken Sie, wie sich Ihre Stadt bzw. Ihr Land nach dem Ende der „Spezialoperation“ verändert wird? 

    Der Sozialpsychologe hat während der Gespräche bemerkt: „Es ist einfacher, über die Veränderungen im Land zu sinnieren, weil man darüber was in den Nachrichten gehört hat, oder man schöpft aus seinem Geschichtswissen. Aber wenn es um die eigene Stadt geht, gibt es keine vorgegebenen Antworten, du musst selbst überlegen, was sich hier verändert. Du musst also deine eigene Wahrnehmung einschalten, über den Tellerrand schauen, nicht nur: ‚Was habe ich im Kühlschrank, wie sieht mein Kontostand aus?‘, sondern: ‚Was passiert in meiner Stadt? Ich lebe hier ja nicht alleine.‘ Wenn die Leute über lokale Veränderungen nachdenken, wird es kompliziert, das sieht man auch bei anderen Befragungen.“ 

    Etwa ein Drittel der Befragten äußerte dann auch die Einschätzung, dass sich ein Ende der „Spezialoperation“ gar nicht auf das Leben in ihrer Stadt auswirken würde. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Wenn der Krieg zu Ende geht, fangen sicher irgendwelche Steuerrepressionen an. Unseren Staat kann man nicht verkohlen. Ich glaube, die Wirtschaft ist etwas gereift, gesünder, also wird es die Möglichkeit geben, sich etwas zu entspannen, aber insgesamt die Veränderungen in der Stadt … ehrlich gesagt, haben wir uns abgewöhnt, an die ganzen Versprechungen zu glauben. Sie machen irgendwas zum Schein, aber nicht wirklich.“ 

    Ein Drittel der Befragten erwarteten negative Veränderungen wie sinkende Löhne und einen Anstieg der Kriminalität: „Das Geld wird immer knapper werden“, „Wir werden nachts nicht mehr auf die Straße gehen können, nicht in Clubs oder Restaurants“.  

    Aber ebenso viele hofften auf Besserung: „Es wird mehr Arbeitskräfte geben“, „Das Budget der Stadt wird wachsen“, „Es wird wieder mehr gebaut“. 

    Nach den Veränderungen im ganzen Land gefragt, stellen die Befragten ebenfalls genauso viele positive wie negative Prognosen auf. Zu den positiven zählten sie auch eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und den USA. Außerdem, dass dann mit dem Wiederaufbau der „neuen Gebiete“ begonnen wird, dass das Leben insgesamt positiver und die Menschen ruhiger werden, dass es finanziell leichter werden könnte, eventuell sogar durch Steuererleichterungen durch den Staat. 

    Die Negativprognosen indes lauten: Das Land wird ärmer werden; das Land wird geächtet; der technische Rückstand wird sich drastisch bemerkbar machen; jeder wird in den Staatsapparat streben, um sein Stück vom Kuchen abzukriegen; die Kriminalität wird zunehmen. 

    Dabei lässt sich nicht beziffern, wie viele der Befragten positiv und wie viele negativ gestimmt sind, weil ein und dieselbe Person zuweilen beide Meinungen äußert. So versuchten die Menschen, die Situation objektiv zu bewerten, meint der Forscher. 

    Unternehmerin, 60, Oblast Irkutsk: 

    „Vielleicht werden die Menschen ruhiger, die nicht wollen, dass ihre Angehörigen bei der ‚Spezialoperation‘ landen oder dass die überhaupt stattfindet. Aber sonst, nein, ich denke nicht, dass sich groß was ändert. Vielleicht wird es sogar schwieriger … Schwieriger, weil eine große Masse von Menschen Gewalterfahrungen gemacht hat. Weil man, wenn man jemanden getötet hat, wahrscheinlich nicht mehr so leben und denken kann wie vorher. Wenn da plötzlich so viele solche Menschen sind, ist das nicht gut. Es wird nicht leichter. Irgendwann wird sich natürlich wieder alles zum Besseren wenden, aber das braucht Zeit.“ 

    „WAHRSCHEINLICH KOMMT DAS MILITÄR AN DIE MACHT“ 

    Frage: Welche Schwierigkeiten sehen Sie für eine Zukunft nach der „Spezialoperation“? Was muss der Staat nach deren Ende sicherstellen? 

    Bei diesen Fragen kommen die Teilnehmenden häufig auf die Kriegsrückkehrer zu sprechen, sowohl im positiven als auch im negativen Sinn. 

    Rentnerin, 65, Kaukasus:  

    „Wahrscheinlich wird das Militär an die Macht kommen. Die kehren aus dem Krieg zurück und fangen an, die Korruption zu bekämpfen, aber richtig. Beseitigen alle Diebe, die jetzt die Staatskassen leerräumen. Weil sie als Helden zurückkommen und vor nichts mehr Angst haben … Ich glaube, wenn das Militär an die Macht kommt, werden sie den Präsidenten unterstützen, aber sie werden viel strenger sein. Weil sie jetzt an das Gesetz der Zeit gewöhnt sind – erschießen und fertig. Das wird dem ganzen Land guttun.“ 

    Andererseits werden mit den Veteranen der „Spezialoperation“ auch künftige Probleme verbunden. Etwa ein Drittel der Befragten sehe zwar keine Schwierigkeiten, vor denen sie Angst hätten. Doch der Rest fürchte vor allem einen Zuwachs der Kriminalität, eine mögliche Überlastung des Gesundheitswesens und der sozialen Dienste durch die Kriegsrückkehrer. Manche befürchteten auch, dass es zu einer Ungleichheit zwischen den Teilnehmern der „Spezialoperation“ und dem Rest der Bevölkerung kommen könnte und damit zu einem Wertekonflikt zwischen diesen Gruppen. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Bald wird ein Kind, ein normales, gesundes Kind aus einer vollständigen Familie nicht mehr studieren können, wenn die Männer dieser Familie nicht im Krieg waren. Weil es Quoten geben wird, Vorrang für Kinder von Kriegsversehrten, ‚SWO‘-Teilnehmern, Gefallenen und so weiter. Es wird eine Spaltung geben, ein Kastensystem, Benachteiligungen. Wenn einer studieren will, kann er ja nichts dafür, dass keiner aus seiner Familie an der Front war. Aber wenn einer im Gefängnis war und als Soldat gedient hat – dessen Kind wird aufgenommen, auch wenn es schlechte Noten hat. Ist das etwa gerecht?“ 

    „Vor allem, wenn der im Krieg gefallen ist.“ 

    „Und noch etwas, wissen Sie, plötzlich haben Frauen von Häftlingen einen ganz anderen Status. Früher nannte man sie verächtlich Knastweiber. Heute zieht der Mann in den Krieg, wird getötet, die Frau kriegt eine Rente, extra Kindergeld, einen Haufen Geld. Und schon ist sie eine gute Partie.“ 

    Der Studienautor weist darauf hin, dass die Kriegsheimkehrer generell als neue soziale Schicht gelten. Und das, obwohl keiner der Befragten von persönlichen Erfahrungen im Umgang mit ihnen berichtete, weder positiv noch negativ. Die bestehenden Befürchtungen seien wahrscheinlich auf Nachrichten zurückzuführen, die die Leute in den Medien und sozialen Netzwerken sehen.  

    An den Antworten auf die Frage, was der Staat nach Kriegsende gewährleisten müsse, sehe man außerdem: In erster Linie sollten sich die Behörden sich um die Integration der Kriegsheimkehrer kümmern. Gefragt seien vor allem psychologische Unterstützung für Soldaten und ihre Familienmitglieder, ihre Integration in den Arbeitsmarkt und Rehabilitationsangebote.

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    „DIE MENSCHEN KÖNNEN DIE REALITÄT, IN DER SIE LEBEN, NICHT AKZEPTIEREN“ 

    Frage: Welche Perspektiven eröffnen sich nach Kriegsende für Sie und Ihre Angehörigen? 

    In der Befragung ging es an keiner Stelle darum, ob der Krieg mit einem Sieg oder einer Niederlage für Russland enden würde oder sollte. Dennoch zeichnete sich ab, dass diejenigen Befragten, die dieses Thema überhaupt in ihren Antworten aufgriffen, ausschließlich von einem Sieg Russlands sprachen. Sie gehen aber auch davon aus, dass ein Sieg Russlands den Hass anderer Länder hervorrufen könne.  

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Das war ganz richtig formuliert: Wir sagen ‚nach der SWO‘ und meinen damit, dass wir siegen und das alle akzeptieren. Dass die Sanktionen vorbei sind, zumindest die meisten. Und dass wir wieder reisen können, dazu müssen auch etliche Sanktionen weg, sonst kriegen wir kein Schengenvisum, zumindest nicht als normale Staatsbürger. Wenn es in diese Richtung geht, dann ist hoffentlich Aussicht auf Freiheit. Weiß’ nicht, ob es Instagram wieder geben wird, aber YouTube wäre schon gut. Ich will Freiheit.“  

    „Ideal wäre: Wir siegen, und alle freuen sich darüber. Ich weiß ja, dass sich keiner freuen wird. Weil die besiegte Partei sich nicht freuen kann, und das sind leider alle, mit denen wir so gern wieder Friede-Freude-Eierkuchen machen würden. Sie werden zwar aufhören, diese ganzen Sachen über uns zu schreiben, werden die Sanktionen aufheben und wieder unsere Ressourcen nutzen und Handelsbeziehungen aufnehmen, aber verzeihen werden sie uns nicht.“ 

    Obwohl es vor allem um Persönliches ging, kamen die Befragten in ihren Überlegungen immer wieder auf Perspektiven zu Russland und seiner Gesellschaft im Ganzen zu sprechen. Der Sozialpsychologe vermutet dahinter ein Streben nach Gemeinsamkeit. Und obwohl die Frage auf positive Entwicklungen abzielte, sprach rund ein Viertel der Befragten auch über negative Konsequenzen. Offenbar haben diese Menschen Schwierigkeiten damit, die Realität, in der sie leben, zu akzeptieren.

    „In der Psychologie gibt es den Begriff der Selbstidentifikation“, so der Wissenschaftler.  „Wenn ein Mensch sich nicht mit der Umgebung, mit der Situation um sich herum identifizieren kann, dann sieht er Dinge eher negativ. Das heißt, es geht ihm schlecht, weil er sich in diesem Kontext nicht wiederfindet. Das heißt nicht, dass solche Leute nichts tun oder nicht arbeiten, nein, sie leben ganz normal, haben Arbeit, haben Geld. Das sind keine gescheiterten Existenzen. Aber auf emotionaler Ebene haben sie es schwer.“  

    Unternehmerin, 60, Oblast Irkutsk:  

    „Positive Perspektiven sehe ich überhaupt keine. Na ja, vielleicht lassen die Sanktionen nach. Vielleicht können die Leute doch wieder ein bisschen in die Welt hinaus. Natürlich wünsche ich mir, dass die Grenzen wieder aufgehen, dass man wieder reisen kann, wieder in den Urlaub fahren … einfach in Ruhe leben. Das Leben ist sowieso kurz, und wenn man dann noch lauter Stress hat, bleibt gar nichts mehr davon übrig. Jeder Tag sollte einem Freude machen. Ich weiß ja nicht, meiner Meinung nach ist nichts Gutes in Sicht.“ 

    BACK TO USSR  

    Frage: Was wird es in der Gesellschaft nach Kriegsende Neues geben, was es vorher nicht gab? 

    Etwa ein Drittel der Befragten glaubt, dass es in der Gesellschaft nichts Neues geben wird, rund 20 Prozent befürchten negative Veränderungen. Rund die Hälfte kann sich aber auch positive gesellschaftliche Veränderungen vorstellen. Genannt werden beispielsweise eine neue „patriotische“, „heroische“ Erinnerungskultur, neue Werte abseits von materiellen Zielen und „Raffgier”.  

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Was Neues – das klingt, als ob es was Gutes sein müsste. Na ja, wahrscheinlich ziehen sie irgendwann die Schrauben an. Sagen darf man nichts, Versammlungen und Demonstrationen verboten. Irgendwas werden sie sich bestimmt einfallen lassen und uns allen Zügel anlegen, damit wir nicht Reißaus nehmen, sobald die Grenzen aufgehen.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Ich hoffe, dass die Männer, die von dort [von der Front – dek] zurückkommen, neue Werte mitbringen. Auch was Gutes, nicht nur Negatives. Was hat die heutige Gesellschaft denn für Werte? Immer nur das scheiß Geld. Überall Geld, Geld, Geld. Schön wär’s, wenn es auch andere Werte gäbe, ich weiß nicht … Vielleicht eine Art Gleichheit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit. Wahrheit, endlich mal.“ 

    Rentnerin, 65, Kaukasus:  

    „Was Neues … Ich glaube, in der Kindererziehung wird das Gewissen eine größere Rolle spielen. Unsere Kinder werden mehr auf ihr Gewissen hören. Wir kämpfen ja gegen den Faschismus, nicht? Es wird keine Hakenkreuze mehr geben, auch nicht mehr diese schrecklichen Filme, die müssen einfach aus unserem Leben verschwinden, dann wird alles anders.“ 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Ein Aufschwung des Patriotismus, mehr Zusammenhalt. Weil wir ja wirklich in der Sowjetunion ein Riesenland hatten, wir waren echt tüchtig, die Ersten im Weltall, aber nach dem Zerfall kam erstmal sehr lange nichts. Jetzt kann das, wie es aussieht, wiederkommen, an den Schulen wird schon Patriotismus unterrichtet.“ 

    Bei ihren Überlegungen zu Werten sprechen Teilnehmer verschiedenen Alters über die Sowjetunion wie über ein Land, in dem sie gelebt haben. Sie idealisierten die Sowjetzeit mit ihrer „richtigen Ideologie“ und ihrem „richtigen Umgang mit Menschen“: „Bemerkenswert ist, dass auch Jugendliche so reden“, sagt der Forscher. „Allerdings halte ich das für einen Informationseffekt. Also, das sind Sachen, die viele sagen und die auf Social Media verbreitet werden. Und so hört und liest das alles auch die Jugend und nimmt es auf wie ein Märchen, an das zu glauben schön und beruhigend ist.“ 

    „POTENZIAL FÜR DIE ARBEIT AN DER GESELLSCHAFT“ 

    Frage: Wie müssen sich die Menschen nach dem Krieg verändern? In welche Richtung müssen die Regierung, die Wirtschaft gehen? 

    Auch auf diese Frage hin sprachen die Teilnehmenden von „Wertewandel“, darüber, dass die Menschen kollektive Verbesserungen anstreben müssten und nicht nur persönlichen Reichtum. Sie sollten warmherziger und mitfühlender sein. Laut dem Autor der Studie sei diese Sehnsucht nach Miteinander in der russischen Gesellschaft bereits vor rund zehn Jahren aufgekommen: „Das war natürlich noch ein schwaches Stimmchen, wenn man so will, aber es war schon vor der ‚SWO‘ da. Es kann eben sein, dass die ‚SWO‘ diesem Kollektivdenken, der Zusammengehörigkeit mehr Schwung verliehen hat.“ 

    Unternehmerin, 61, Sankt Petersburg:  

    „Die Menschen müssen zu 100 Prozent freundlicher werden. Humaner, auch zu den besiegten Feinden. Ich finde diesen Tanz auf den Knochen widerlich, dieses ‚Ätsch-bätsch, sie haben verloren!‘, verstehst du? Man kann ja trotzdem nett sein.“ 

    Außerdem sind in den Antworten auf diese Frage zum ersten Mal auch jene Russen erwähnt worden, die das Land verlassen haben.  

    NGO-Mitarbeiter, 36, Oblast Irkutsk:  

    „Ich finde, es gibt in der Gesellschaft widersprüchliche Signale. Einerseits hält ein Teil der Bevölkerung angesichts des gemeinsamen Problems umso besser zusammen. Da steckt Potenzial für die Arbeit an der Gesellschaft. Andererseits sehen wir eine Tendenz zur Spaltung, da manche das Land verlassen haben. Superbrutale, drakonische Maßnahmen vonseiten des Staates gab es nicht gegen sie. Ich glaube, wir müssen als Gesellschaft einfach einsehen, dass die Menschen eine Wahl haben, für die sie dann auch die Verantwortung tragen.“   

    Um einiges vielfältiger waren die Antworten auf den zweiten Teil der Frage – wie sich die Regierung ändern müsse. Zwei der Befragten sagten, sie könne bleiben wie sie ist, zwei andere bezweifelten das. 

    Hausfrau, 47, Krym:  

    „Oj, ich weiß gar nicht, wie sich die Regierung ändern sollte und ob überhaupt. Ich hab in meinem Leben so viele Machtwechsel erlebt, dass ich heute finde – besser bleibt alles beim Alten.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Die Regierung muss sich grundlegend ändern, weil sie es war, die diese ‚SWO‘ zugelassen hat. Auf Kosten von Menschenleben wird der Krieg zu Ende gehen, und die Überlebenden müssen Entschädigung fordern. Damit so was nicht wieder passiert.“ 

    Alle anderen Befragten nannten außerdem Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen: Ausbau von psychosozialen Diensten und Landwirtschaft, Aneignung von Territorien, Bekämpfung der Korruption, Milderung von Verboten und Beschränkungen, Verringerung von Kreditzinsen und so weiter.  

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    „EINE INNERE KAMPFBEREITSCHAFT HABEN DIE LEUTE DEFINITIV NICHT“ 

    Ziel der Befragung war es auch, Ressourcen und Motivation der Teilnehmenden zur Beteiligung am Wiederaufbau eines Lebens nach Kriegsende zu ermitteln. In Summe ergeben aber die erhaltenen Antworten, dass vor allem staatliche Ressourcen gefordert würden. „Damit sind nicht nur materielle Ressourcen gemeint, sondern auch organisatorische Ressourcen und Informationsstrukturen, auch moralische und emotionale Unterstützung“, sagt der Sozialpsychologe und Leiter der Befragungen. Die Teilnehmenden erwähnen oft psychologische Hilfe, die zur Stabilisierung der Gesellschaft, zur Versöhnung verschiedener Bevölkerungsgruppen und für die Arbeit mit Kriegsrückkehrern und ihren Angehörigen notwendig sei.   

    Rund 70 Prozent der Befragten rechnen mit positiven Veränderungen nach Kriegsende: „Sie sagten nicht direkt: ‚Wir haben diesen Krieg satt, wann ist er endlich vorbei‘, aber es war klar, dass alle schon auf den Frieden warten. Eine innere Kampfbereitschaft haben die Leute definitiv nicht.“  

    Oft erwähnten die Befragten gewünschten Werte wie Zusammenhalt, Kollektivdenken, Patriotismus. Die vorherrschende Stimmung sei allerdings ängstliche Besorgnis, weil keiner so recht wisse, wie das Leben nach dem Krieg wirklich aussehen könnte.  

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  • „Wir haben hier große Angst vor einer Wiederholung von Mariupol“

    „Wir haben hier große Angst vor einer Wiederholung von Mariupol“

    Bis zur russischen Vollinvasion im Februar 2022 war die ukrainische Hafenstadt Mariupol ein bedeutendes Wirtschaftszentrum. Bei der Belagerung wurden Schätzungen zufolge Zehntausende Menschen getötet, fast alle Wohngebäude wurden zerstört, alle 19 Krankenhäuser der Stadt lagen in Trümmern. Das dokumentierte Ausmaß an Zerstörung und gezielten Angriffen auf Zivilisten ist beispiellos. 

    Die Liste russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ist lang, neben dem Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt es laut einigen Völkerrechtlern auch belastbare Hinweise auf Völkermord. Weniger dokumentiert sind die Verbrechen gegen die etwa drei bis fünf Millionen Ukrainer in den besetzten Gebieten

    Um diesem Schicksal zu entgehen, sind rund 3,8 Millionen Millionen Menschen als Binnenflüchtlinge in sicherere Regionen der Ukraine geflohen. Mehr als sechs Millionen Ukrainer:innen, meist Frauen und Kinder, haben das Land ganz verlassen.

    Dmitri Durnjew von der Novaya Gazeta Europe hat im lettischen Exil mit ukrainischen Ärztinnen gesprochen, die noch 2022 im Südosten der Ukraine Leben retteten – und nun in Angst leben, dass ihnen der Krieg nach Lettland folgt. Der Journalist Durnjew war in seinem früheren Leben selbst Notarzt. Auf einer Baltikumreise traf er sich mit einstigen Kommilitonen von der Donezker Hochschule für Medizin. Einige von ihnen waren während der brutalen russischen Belagerung in Mariupol im Dienst. Manche von ihnen sind auch in dem Oscar-prämierten Dokumentarfilm 20 Tage in Mariupol zu sehen.

    Während die russische Armee die ukrainische Hafen- und Industriestadt Mariupol im Frühjahr 2022 unter Dauerbeschuss und Belagerung nimmt, ist das örtliche medizinische Personal, wie hier ein Arzt am 15. April 2022 in einem Intensivkrankenhaus der Großstadt, rund um die Uhr im Dienst.  © Sergei Bobylev/ Itar-Tass/ Imago

    Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 arbeiten viele ukrainische Spezialisten im medizinischen Bereich in Lettland: 107 Ärzte verschiedener Fachrichtungen, 52 Zahnärzte und 61 Krankenschwestern. Die medizinische Diaspora erhielt gleich nach der Ankunft ohne große Fragen oder Kontrollen eine Arbeitserlaubnis, um in den hiesigen Krankenhäusern tätig zu sein. Die Krankenakten konnten sie gleich auf Lettisch bearbeiten, noch bevor sie irgendeinen Sprachkurs besucht hatten – mit Hilfe von Google Translate und dem verwegenen Wissen, das man als Kriegsflüchtling mitbringt: In dieser Welt geht alles. 

    In Liepāja, einer Hafenstadt an der Ostsee, treffen wir sechs ÄrztInnen, die mittlerweile hier praktizieren. Es handelt sich um Olena Jakunina aus Krasny Lutsch [seit 2016 Chrustalny, Oblast Luhansk, seit 2014 besetzt – dek], Natalija Schtscherbak aus Kramatorsk und ihre vier KollegInnen aus Mariupol: die Zahnärztin Ljudmyla, die Internistin Walentyna und ihr Mann, der Unfallchirurg Wjatscheslaw sowie die Anästhesistin Jewhenija wollten nicht mit Nachnamen genannt werden. In Liepāja kennt man sie gut: Wjatscheslaw beispielsweise ist der einzige Unfallarzt in der hiesigen Rettungsstelle.

    Doch es ist nicht die Aufmerksamkeit in Liepāja, die sie scheuen – sie fürchten, dass sich das Schicksal Mariupols in Lettland wiederholen könnte. Sie wollen keine Spuren für russische Checkpoints und Filtrationslager hinterlassen – für den Fall, dass die russische Armee bis hierhin vordringen sollte. Sie wissen, wie Filtration nach russischer Art aussieht und dass man in den ersten Tagen der Okkupation noch fliehen kann, wenn man keine Anhaltspunkte für die russischen Silowiki hinterlassen hat. 

    „Wir haben hier große Angst vor einer Wiederholung von Mariupol, verstehen Sie?“, sagt eine der Ärztinnen zu mir, und alle nicken zustimmend. Ich verstehe: Nach Mariupol wissen diese Menschen genau, dass in dieser Welt alles möglich ist. 

    „Als die Russen kamen“: Walentyna und Wjatscheslaw in Mariupol 

    Walentyna arbeitet hier als Ärztin in der Aufnahmestation, in Mariupol war sie in der Poliklinik von Asowstahl angestellt und lebte mit ihrem Mann und zwei Kindern im östlichen Bezirk Schidny, der seit Tag eins der Invasion im Februar 2022 unter Beschuss stand. 

    „Wir haben unsere Wohnung am 24. Februar verlassen und sind ins OLIL (Kreiskrankenhaus für Intensivmedizin, ehemals Städtisches Krankenhaus Nr. 2 in Mariupol) gewechselt, wo mein Mann als Rettungsarzt arbeitete“, erzählt Walentyna. „Sie haben die Frauen aus dem Kreißsaal zu uns gebracht [nach dem Bombenangriff auf die Geburtsstation des Stadtkrankenhauses Nr. 3]. Erinnern Sie sich an die Hochschwangere auf der Trage? Sie hatte eine furchtbare Wunde an der Hüfte und brauchte einen Kaiserschnitt. Eine junge Krankenschwester kümmerte sich um sie, sie war selbst schwanger, kam ganz bleich von dort, wiederholte nur immerzu: ‚Es ist schrecklich!‘“

    Die Geburtsstation des Stadtkrankenhauses Nr. 3 in Mariupol nach der russischen Bombardierung am 9. März 2022 / Foto © armyinform.com.ua/Wikipedia (gemeinfrei)
    Die Geburtsstation des Stadtkrankenhauses Nr. 3 in Mariupol nach der russischen Bombardierung am 9. März 2022 / Foto © armyinform.com.ua/Wikipedia (gemeinfrei)

    „Babys wurden geboren, überall eingeschlagene Fenster, Kälte, eine Frau schleppt selbst den Säugling, das Köpfchen war zu sehen. Sie müsste liegen, nach der Geburt darf sie überhaupt nicht aufstehen. Aber sie muss in den Keller rennen: Beschuss! Sie wollten meinen Mann, der ja Unfallchirurg ist, zu einem Kaiserschnitt schicken. Zu dem Zeitpunkt gab es bei uns keinen einzigen Geburtshelfer mehr.“ 

    „Die Krankenschwester sagte, ich solle einfach schneiden und nähen, den Rest würde sie mir schon erklären!“, lächelt Wjatscheslaw, der jetzt Unfallchirurg im Stadtkrankenhaus von Liepāja ist. Er redet nicht viel, isst kaum, trinkt nur Kaffee und geht oft zum Rauchen raus. 

    „Nach Mariupol hat er fast ein Jahr lang geschwiegen“, sagt einer der anderen Anwesenden. 

    Walentynas Familie zog also im Februar 2022 in den Krankenhauskeller: Wjatscheslaw war rund um die Uhr im Einsatz, Walentyna kümmerte sich um die Kinder, die damals 16-jährige Tochter und den zehnjährigen Sohn. Erst fanden sie in einem Zimmer neben dem kleineren OP-Raum Unterschlupf, doch als die Toten die Leichenhalle überfüllten, brachte man Getötete und an ihren Verletzungen Erlegene in jenen OP-Raum.

    „Es roch dann plötzlich so süßlich, und da wusste ich, dass wir eine andere Fluchtunterkunft brauchten. Hunger und Hundekälte, es gab nichts zu essen – ich weiß nicht, wie sie überhaupt gearbeitet haben“, sagt Walentyna über die Arbeit ihres Mannes und seiner Kolleginnen. „Am schlimmsten waren die Schnittverletzungen – überall sind Fenster, die Glassplitter fliegen, die Augenverletzungen sind so schlimm, dass man das Glas nicht mehr aus den Augen bekommt. Mein Mann war in dem Dokumentarfilm zu sehen, der den Oscar bekommen hat [20 Tage in Mariupol von Mstyslav Tschernow – dek].“ 

    Am 11. März 2022 nahmen die [article-null]Asow-Kämpfer[/article] ihre Gefallenen mit und verließen das Krankenhaus. Am Folgetag zogen die Russen ein. Walentyna erinnert sich an die Veränderungen:

    „Als die Russen kamen, machten wir uns auf die Suche nach Essen, egal was, der Hunger war schrecklich, es gab absolut nichts. Und die operierten immer weiter! Wenn wir an den Russen vorbeiliefen, wendeten wir uns ab, aber die wollten, dass wir uns bei ihnen bedanken für die ‚Befreiung‘. Einer klackte mit seinem Gewehr und sagte zu mir: ‚Freust du dich etwa nicht, mich zu sehen? Ich erschieß dich gleich, du Missgeburt!‘ 

    Wir liefen in die Personalabteilung und fanden in einem Raum bei der Aufnahme Schüsseln mit etwas Essbarem, Sahne oder Schmand, keine Ahnung. Dann fanden wir eingepackte, schon angetaute Teigtaschen. Ich schäme mich nicht, dass wir die Räume der Krankenhausverwaltung geplündert haben … 

    Wenn du lange nichts gegessen hast, langst du einfach zu. Und da sagt der Röntgenarzt plötzlich zu mir: ‚Hör mal, Walentyna, die Ärzte sitzen mit den Kindern im Keller. Willst du ihnen nicht was runterbringen?‘ In dem Raum mit den Dekompressionskammern? Da lagen die jüngsten Patienten, Babies. Ich rannte hin und sagte: ‚Gebt mir eine Schüssel, ich bringe euch zu essen.‘“ 

    „Da waren drei Monate alte Säuglinge, manche einen Monat“, fügt die Anästhesistin Jewhenija wie ein Echo hinzu. 

    „Als erstes starben Diabetiker und die Dialyse-Patienten“ 

    „Am wichtigsten waren Wasser, Nahrung und Medikamente“, erzählt Walentyna weiter. „Die Menschen kletterten durch die Fenster und flehten  um Tabletten. Ich durchwühlte meine Tasche, fand noch drei Schmerztabletten. Außerdem lagerten im Krankenhaus noch Medikamente, die man bei einer Nierentransplantation verabreicht. Die Beschriftungen waren auf Französisch, ich las und verstand nicht, wofür das alles gut ist – gebraucht wurden vor allem Schmerzmittel und Antibiotika. Es kamen Menschen aus den Nachbarhäusern mit Verletzungen, Bluthochdruck, das Insulin ging aus – es war beängstigend. Als erstes starben die Diabetiker und die Dialyse-Patienten, Menschen, die auf Maschinen und Spezialpräparate angewiesen sind.“ 

    Immerhin: Die weißen Kittel schützten sie vor den Russen, berichten die Ärztinnen, man ließ sie in Frieden, ansonsten wurde jeder kontrolliert. Manchmal hätten sich die ukrainischen Soldaten verkleidet, um der Umzingelung zu entkommen. 

    Am vierten Tag hörte der Chefarzt der Urologie, dass man vielleicht Autos mit Zivilisten aus der Stadt lassen würde. Er organisierte eine Evakuierungskolonne. 

    „Er setzte zwei ältere Angehörige zu uns ins Auto, erst unterwegs stellte sich heraus, dass einer von ihnen in Iwano-Frankiwsk gemeldet war. Wir hatten Angst, aber am ersten Evakuierungstag überprüfte niemand so recht die Ausweise. Und als sie unsere Sachen durchsuchten und mein Mann auf die Frage, was das sei, antwortete: ‚Ein Zystoskop‘, ließen sie uns in Ruhe“, erinnert sich Walentyna. 

    Olena, die letzte hochqualifizierte Ärztin in einer besetzten Stadt

    „Oh, wie schreibt man noch mal diesen Buchstaben …“ Meine Freundin Olena Jakunina, kurz Lena, ist Internistin. Sie stockt beim Schreiben einer Grußkarte an meine Kinder. „Irgendwie vergesse ich immer das D – du schreibst hier den ganzen Tag von 8 bis 17 Uhr dieses Sūdzības par … [„Beschwerden aufgrund von …“ – mit diesen Worten beginnt jede Arztdokumentation], danach besuchst du meistens den ganzen Abend Lettisch-Kurse, dann noch Hausaufgaben …“ 

    Am 1. Juli 2025 stehen für die ukrainischen Ärztinnen in Lettland die B1-Prüfungen an. Lena hat sie längst bestanden, beim dritten Versuch. Ein ehrenwertes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass manche ihrer Kolleginnen es erst beim fünften Anlauf schaffen, manche auch beim ersten, aber andere sind nicht einmal annähernd so weit, weil die Sprache so schwierig ist. 

    Lena ist die einzige Ärztin in der internistischen Abteilung des Krankenhauses von Bulduri im Gebiet Jūrmala. Sie ist alleine zuständig für 22 Betten. Eine Zeitlang hatte sie eine junge Assistenzärztin, aber die ist gegangen: zu viel Arbeit bei – nach EU-Maßstäben – zu niedrigem Lohn. Die junge Generation entscheidet sich meist für eine Karriere in Deutschland. 

    Ich kenne Lena, seit wir 1985 im ersten Semester an der medizinischen Fakultät der Gorki-Universität in Donezk [seit 2017 nur noch Donezker Nationale Medizinische Universität –  dek] studiert haben. 2015 habe ich sie zwei Mal interviewt, anonym, versteht sich. Damals arbeitete Lena in der internistischen Abteilung des Krankenhauses in Krasny Lutsch, das liegt im besetzten Teil der Oblast Luhansk. 2015 sahen wir uns zufällig in der mehrstündigen Schlange am Checkpoint Wolnowacha wieder, Lena war mit ihrer Tochter Dascha auf dem Weg zurück aus Mariupol. Dascha hatte dort die Abschlussprüfung in einer ukrainischen Schule abgelegt, ein Spezialprogramm für Jugendliche aus den besetzten Gebieten. Zum Studieren ging sie an die beste geisteswissenschaftliche Hochschule der Ukraine, die Nationale Mohyla-Akademie in Kyjiw. 

    Dort sahen wir uns später wieder. Lena erklärte, als hochqualifizierte Ärztin in einer besetzten Stadt sei man in der Regel die Einzige und entsprechend gefragt; sie würde dort arbeiten, um ihre Tochter beim Studium zu unterstützen. Einmal im Jahr fahre sie weg, um durchzuatmen – auf eine wissenschaftliche Konferenz irgendwo in der Ukraine, dann einmal zu ihrer Tochter nach Kyjiw und noch einmal in den Urlaub. 

    Den 24. Februar 2022 erlebte sie auf einer dieser Reisen bei ihrer Tochter in Kyjiw. 

    „Gibt es dieses Land denn noch?“ 

    Für Lettland hat sie sich bewusst entschieden: Ihre Schwester lebt schon lange hier. „Als ich kam, herrschte hier Ärztemangel. Man empfing mich mit offenen Armen, schüttete mich gleich in den ersten Tagen mit Arbeit zu.“ Man nennt sie hier „Doktor Olena“, den Patienten wird vorher gesagt, dass sie von einer ukrainischen Ärztin behandelt werden. Es sind meist ältere Menschen, und in Jūrmala leben viele Russischsprachige. Das führt manchmal zu seltsamen Situationen. 

    „Ich komme ins Zimmer, sage, dass ich aus der Ukraine bin, und höre diese russische Standardphrase: ‚Wie, gibt es dieses Land denn noch?‘ Die alten Leute nehmen kein Blatt vor den Mund. In ein und demselben Zimmer kann neben jemandem, der noch in den 1950er Jahren mit seinen Eltern nach Lettland gekommen ist, einer liegen, der in Sibirien als Kind deportierter Letten geboren wurde.“ 

    Lenas Tochter lebt als Journalistin in Kyjiw, die Mutter bekommt die Luftalarme in Echtzeit aufs Handy, kann Raketen- von Shahed-Angriffen unterscheiden, verfolgt die Einschläge auf der Karte und weiß, wann ihre Tochter nachts in die Metrostation muss. 

    „Wie haben alle Schlafstörungen“, sagt Lena. 

    Mit „alle“ meint sie ihre befreundeten Ärztinnen aus der Ukraine. Eine weitere Kommilitonin von uns, Alina Tschera, war Chefärztin an einer großen Privatklinik in Mariupol. Sie entkam aus der zerstörten Stadt am 16. März 2022 mit dem Auto, zusammen mit ihrem Vater, ihrer Katze und ihrem Hund. Sie fuhren in Richtung Lettland, zu Lena Jakunina. 

    Alina Tschera wurde zu einem Magneten, der in jenem Frühjahr die Ärztinnen aus der Oblast Donezk anzog – um sie herum bildete sich die medizinische Diaspora in Liepāja. 

    „Ärzte mit 20 und mehr Arbeitsjahren sind ein wahrer Schatz, verstehen Sie?“, sagt Natalija Schtscherbak, die Internistin aus Kramatorsk. Dort leitete sie zunächst eine Anlaufstelle für HIV-Infizierte, danach war sie als Hausärztin tätig. In Liepāja arbeitet sie nun auf der Palliativstation. 

    „Frau Doktor, daran ist doch Amerika schuld!“ 

    Der erste, der eine Antwort vom Krankenhaus in Liepāja erhielt, war Wjatscheslaw: Ja, Unfallchirurgen würden gebraucht. Dann machten sich auch die anderen auf den Weg. „In der Personalabteilung hieß es, wir würden gleich eine Arbeitserlaubnis bekommen, aber nach einem Jahr müssten wir die B1-Prüfung ablegen. Und ich sage noch so leichthin: ‚Das wird schon!‘“, erzählt Walentyna. 

    Im Gegensatz zu ihrem schweigsamen Mann hat sie insgesamt eine offene, schlagfertige Art und erzählt ihre schaurigen Geschichten oft mit einem Lächeln. Ihre älteste Tochter, die mit ihnen die Belagerung Mariupols überlebt hat, ist nun erwachsen und studiert Medizin in Lwiw. Aus der Ukraine wollte sie auf keinen Fall weg. 

    „Weißt du, das erste Jahr hier in Lettland war hart, wir konnten alle kaum schlafen. Lauter neue Wörter, die Sprache war sperrig. Dann fingen wir langsam an, ein bisschen was zu verstehen, fanden einen tollen Lehrer“, sagt Lena. Bei Lena stünden die Dinge etwas anders, erklären mir meine Gesprächspartnerinnen aus Liepāja: In Jūrmala würden mehr Russen leben, wohingegen ihre Stadt mehr „wie die West-Ukraine“ sei. 

    Wieder meldet sich Walentyna ungehalten zu Wort:

    „Manchmal sagen die Sachen wie: ‚Frau Doktor, daran ist doch Amerika schuld!‘ Oder ein Patient, ein Lette: ‚Ich habe Verwandte in Taganrog, die sagen, euer Mariupol ist wieder wie neu, so schön!‘ Aber ich habe in der Poliklinik von Asowstahl gearbeitet, man hat mir Fotos geschickt, wie mein Büro ausgesehen hat, völlig verwüstet, das ganze Werk haben sie dem Erdboden gleichgemacht. Wenn ich sie so über Mariupol reden höre, entgleist mir wahrscheinlich alles, ich verliere die Fassung – jedenfalls werden sie plötzlich ganz leise.“ 

    „Schneiden wir ihn auf oder lassen wir ihn leben?“ 

    Wir sitzen in einer Shopping-Mall, meine Gesprächspartner haben vorab ein Café mit großen Tischen ausgewählt, bestellen mit Appetit. 

    „In Mariupol bin ich nie ins Restaurant gegangen, aber hier kann ich mir das leisten“, sagt Jewhenija mit leisem Stolz. „Ich verdiene elf Euro die Stunde, manchmal arbeite ich im Monat 160, mal 200, mal 120 Stunden … Das macht im Schnitt 1500 Euro. In der Ukraine kam ich mit zwei Jobs gerade mal auf 800 Euro, nicht mehr. Ein Unterschied wie Tag und Nacht.“ 

    Sie sind alle um die 50, haben viele Arbeitsjahre in diversen Krankenhäusern hinter sich und strahlen alle die gleiche ruhige Selbstsicherheit aus. 

    „Ich habe keine Probleme mit den Patienten, sie sitzen ja mit offenem Mund da, reden nicht“, sagt Zahnärztin Ljudmyla. „Ich bin nicht so sehr auf die Sprache angewiesen wie auf die Anerkennung meiner Abschlüsse, meiner Diplome. Mir geht es gut hier.“ 

    Ich rücke langsam um den Tisch zu Wjatscheslaw herüber, der nach drei Stunden plötzlich zu reden beginnt. Er erzählt von seiner Arbeit hier, in Lettland, im noch friedlichen Europa. 

    „Die Rettungsstelle ist so ein Ort, wo niemand arbeiten will, und da kam ich. Die ersten sechs Monate haben die Letten mich beobachtet, sie lassen sich gern Zeit, aber sobald sie sich von dir und deinen Fähigkeiten überzeugt haben, gehen sie, lassen dich arbeiten. Und jetzt bin ich alleine für die Station zuständig. Die fachliche Ausrichtung ist hier natürlich eine andere: Bei uns waren das nur Unfälle, aber hier kommen Neurochirurgie und Kinderneurologie dazu … Unser Mariupoler Humor, so was wie: ‚Schneiden wir ihn auf oder lassen wir ihn leben?‘ – solche Späße versteht hier natürlich niemand.“

    Anfangs habe er A2-Kurse besucht, erinnert er sich: „Die machen ganz schön Tempo. Ich habe erst nach drei Jahren angefangen, das Gehörte zu verstehen. Meine Frau macht jetzt schon B2, bei der Prüfung hat sie zwei von vier Tests bestanden, bei den anderen haben ihr nur zwei Prozent gefehlt – da hieß es trotzdem Nein. Das ist doch doof! Seitdem ist mir die Sprache irgendwie schnuppe …“ 

    Wjatscheslaw ist der einzige meiner Gesprächspartner, dem aufgrund der „Sprachfrage“ theoretisch die Entlassung droht. Aber auch das scheint ihm schnuppe. Er ist Unfallchirurg aus Mariupol, er macht hier seinen Job, seine ganze Familie ist am Leben – was soll einen da noch kümmern? 

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  • Helden einer anderen Zeit

    Helden einer anderen Zeit

    Vor 30 Jahren, am 7. Juni 1995, kam es zu einer Sensation: Belarus, das in den postsowjetischen Umbruchsjahren auch mit der neu erlangten fußballerischen Unabhängigkeit zu kämpfen hatte, schlug die Niederlande mit 1:0. Der überraschende Sieg fiel in eine Zeit der massiven politischen Krise in Belarus, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind: Der junge Lukaschenko machte sich daran, das politische und letztlich auch das fußballerische System an sich zu reißen.  

    Für das Online-Portal Pozirk gelingt es dem Journalisten Wjatscheslaw Korosten, die Geschichte des Fußballwunders mit der des belarussischen Fußballs und den politischen Umwälzungen in einem packenden Text zu verbinden. 

    Ein für Belarus bis heute unerreichtes Fußballwunder: 1995 gelang ein Sieg über die Nationalmannschaft der Niederlande. / YouTube-Screenshot 

    Mitte der 1990er Jahre war eine Zeit globaler struktureller Umwälzungen für den europäischen Fußball. Die UdSSR und das sozialistische Jugoslawien zerfielen, die kommunistische Tschechoslowakei wurde zweigeteilt. Eine ganze Reihe neuer Staaten stand bei der UEFA Schlange. Sie wollten so schnell wie möglich ihre Mitgliedschaft in trockene Tücher bringen und ihre Nationalmannschaften und Vereine auf internationaler Ebene legalisieren – um dann uneingeschränkt an offiziellen Turnieren teilzunehmen und damit ihre nationale Souveränität zu untermauern. 

    Dies gelang dem belarussischen Fußballverband (ABFF) genau Mitte der 1990er Jahre, und so ging die Nationalmannschaft erstmals unter der Schirmherrschaft der UEFA bei der Qualifikation zur Europameisterschaft 1996 an den Start. Wie erwartet waren die Debütanten aus Belarus nicht herausragend erfolgreich und belegten in ihrer Gruppe nur den vierten Platz. Die ersten Plätze in der Tabelle belegten die Tschechen, die Niederländer und die Norweger, während die Kleinstaaten Luxemburg und Malta auf den untersten Rängen landeten. Dennoch gelang es der belarussischen Mannschaft, in ganz Europa für Aufsehen zu sorgen – mit ihrem Sieg über die Niederlande. 

    In dem Spiel fiel nur ein einziges Tor. Eingefleischte Fans erinnern sich noch deutlich: Pjotr Katschuro passt den Ball zu Sergej Gerasimets, der schiebt ihn am geistesabwesenden Edwin van der Sar vorbei und schießt ihn im spitzen Winkel ins leere Tor. Es war die 27. Minute, die Gastmannschaft hatte über eine Stunde Zeit, um mit den Gastgebern gleichzuziehen. Doch dank der effektiven Taktik von Trainer Sergej Borowski konnten die Belarussen den Vorsprung halten – zur Freude der 37.000 Zuschauer, die sich an diesem Abend im Dynamo-Stadion in Minsk versammelt hatten. 

     
    Die 1:0-Führung für Belarus in der 27. Minute durch Gerasimets (der Moderator flippt auf Belarussisch völlig aus). 

    Sieg am Tag, an dem die weiß-rot-weiße Staatsflagge abgeschafft wurde 

    Als Gerasimets’ Tor fiel, war Belarus noch ein Staat mit Überresten von Demokratie. Ein Jahr zuvor hatte Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen gewonnen, aber er hatte noch nicht die gesamte Macht in seinen Händen konzentriert. Im Grunde wurden damals zwei Schritte in Richtung Absolutismus unternommen: eine Prügelattacke auf die hungerstreikenden oppositionellen Abgeordneten des Obersten Sowjets, die sich gegen das Referendum zur Staatssymbolik, gegen die Einführung der Zweisprachigkeit und die Ausweitung der Befugnisse des Präsidenten ausgesprochen hatten, und natürlich gegen das Referendum selbst. Bis zur Ein-Mann-Herrschaft war es noch ein weiter Weg. 

     

    Die Abgeordneten der BNF traten 1995 aus Protest gegen das von Lukaschenko geplante Referendum in einen Hungerstreik. / Foto © Archiv Tut.by 

    In dieser Volksabstimmung vor 30 Jahren wurden unter anderem die neuen alten Staatssymbole gebilligt – Flagge und Wappen in sowjetischer Tradition. Das Pahonja sowie die weiß-rot-weiße Fahne verloren ihren offiziellen Status – und das just vor dem Spiel gegen die Niederländer. Das Referendum wurde am 14. Mai 1995 abgehalten. Zwei Tage später vollzog Iwan Titenkow, Lukaschenkos Wirtschaftschef, seinen berühmten Loyalitätsakt: Er kletterte persönlich auf das Dach des Regierungsgebäudes, riss die weiß-rot-weiße Flagge herunter, die dort gehisst war, und schnitt sie in Stücke. 

    Am 7. Juni – genau am Tag des Spiels zwischen Belarus und den Niederlanden – unterzeichnete Lukaschenko schließlich ein Dekret über die neue Staatssymbolik. Doch von der Theorie zur Praxis ist es ein weiter Weg, und das Weiß-Rot-Weiß verschwand nicht sofort aus dem offiziellen Gebrauch. So war auch die TV-Übertragung des Fußballspiels an diesem Tag von den weiß-rot-weißen Nationalfarben geprägt. Das ABFF-Emblem auf den Trikots der Spieler war ebenfalls in diesen Farben gehalten, und natürlich fanden sich auf den Tribünen genügend Fans mit der Flagge, die von den Behörden de jure bereits abgeschafft war. 

    Damals war das noch möglich. Zu Repressionen gegen die historischen Symbole ging Lukaschenko erst später über, und ein Vierteljahrhundert später wandert man dafür ins Gefängnis. Heute gilt die rot-weiß-rote Flagge tatsächlich als „extremistisches“ Symbol, was einer der Gründe dafür ist, warum das Staatsfernsehen im Voraus dafür sorgen wird, dass die dem Regime verhassten Farben dem Zuschauer nicht ins Auge fallen. 

    Verfall des belarussischen Fußballs 

    Der Weg, den der belarussische Fußball seither zurückgelegt hat, ist erstaunlich. Die Nationalmannschaft hat es zwar noch nie in die Endrunde einer Welt- oder Europameisterschaft geschafft. Im postsowjetischen Raum ist das aber bisher nicht nur Russland und der Ukraine gelungen, sondern auch Lettland, Georgien und Usbekistan, das sich gerade erst ein Ticket zur Weltmeisterschaft 2026 erspielt hat. 

    Erfolge feierte dafür die Jugendmannschaft. Drei Generationen (2004, 2009 und 2011) stürmten die EM, die Jüngsten gewannen sogar die europäische Bronzemedaille. Das ermöglichte ihnen etwas noch nie Dagewesenes: die Teilnahme an den Olympischen Spielen, die 2012 in London ausgetragen wurden. Auch belarussische Vereine hatten ihre Glanzmomente, allen voran der BATE Baryssau. Zwischen 2008 und 2016 nahm die Mannschaft regelmäßig an den Gruppenrunden in der Champions und Europa League teil. In dieser Zeit wurde in Baryssau ein modernes Stadion gebaut; Real Madrid und FC Barcelona, Chelsea und Arsenal, Juventus und AC Milan, Paris Saint-Germain und LOSC Lille reisten nach Belarus. Bayern München und AS Rom konnte BATE Baryssau auf dem heimischen Platz sogar schlagen. 

    Manche Spieler machten im europäischen Fußball von sich reden. Witali Kutusow wurde mit viel Pomp von BATE Baryssau verabschiedet zum bereits erwähnten AC Mailand eskortiert, Sergej Gurenko ging zu AS Rom, Alexander Gleb spielte für Arsenal und Barcelona. 

    Doch all das ist vorbei. Ganz langsam wurde der belarussische Fußball schlechter und schlechter, es kam zum Verfall. Und heute muss man feststellen: Die Nationalmannschaft ist in der Weltrangliste auf das Ende der ersten Hundert abgerutscht und hegt längst keine Ansprüche mehr weder auf EM noch auf WM; die Vereine träumen nicht mehr von der Champions und Europa League und freuen sich höchstens über einen seltenen Einzug in die Gruppenphase der drittklassigen Conference League; die Spieler werden nicht mehr von den besten westlichen Teams umworben, ein Vertrag irgendwo in Griechenland, Ungarn oder in der zweiten russischen Liga gilt als Erfolg. 

    Auch der Fußball zahlt die politischen Rechnungen 

    Auch der Fußballverband hat in dieser Zeit eine Negativentwicklung durchlaufen, die – wenig überraschend – parallel zur staatlichen verlief. 

    Bis 1999 wurde die Belaruskaja Federazija Futbola (ABFF) von dem demokratisch gewählten Fußballfunktionär Jewgeni Schuntow geleitet. Doch je mehr Lukaschenko seine persönliche Macht ausweitete, desto größer wurde sein Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche der Belarussen, und es ist wenig überraschend, dass es eines Tages auch den Fußball traf. Seit über 25 Jahren werden die Chefs des Verbandes de facto auf Geheiß des Herrschers ernannt. Auf den Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Luftfahrt Grigori Fedorow folgte der Staatssekretär des Sicherheitsrates, General Gennadi Newyglas, dann der stellvertretende Ministerpräsident und künftige Leiter der Entwicklungsbank Sergej Rumas, daraufhin der Parlamentsabgeordnete und Artillerieoberst Wladimir Basanow und schließlich der ehemalige Leiter des regionalen Exekutivkomitees von Witebsk Nikolai Scherstnew. 

    Weil die UEFA-Statuten es einem Staat untersagen, sich in die Angelegenheiten der jeweiligen nationalen Verbände einzumischen, stand der belarussische Fußball Ende der 1990er Jahre am Rande der internationalen Isolation. Lukaschenkos Druck auf Schuntow mit dem Ziel seines Rücktritts war so offensichtlich, dass man ein unzweideutiges Signal aus dem Westen sandte: So kann man seine Mitgliedschaft in der UEFA verlieren. Die Situation wurde irgendwie gelöst, man zog die entsprechenden Schlüsse, und nun erfolgt die Entlassung der ABFF-Chefs stets nach demselben unfehlbaren Schema: „auf eigenen Wunsch“. In der Regel beschließen die Wahlgremien des ABFF eine solche von oben verordnete Rotation einstimmig. 

    Genau so wurde just Scherstnew nach nur zwei Jahren im Amt von seinem Posten entfernt – das ist grade mal die Hälfte der offiziell vierjährigen Amtszeit. Unabhängigen Medien zufolge hatte ein verlorener Machtkampf im Apparat gegen den Sportminister Sergej Kowaltschuk zu dem „eigenen Wunsch“ geführt, der am 1. Juni „in Erfüllung“ ging. Gleichzeitig wollte man den regimetreuen Scherstnew nicht vor den Kopf stoßen und versetzte ihn auf den gut bezahlten Posten des stellvertretenden Leiters der Präsidialverwaltung. Medienberichten zufolge soll der Schützling des Ministers Jewgeni Bulaitschik, der Leiter der Abteilung für Sport und Tourismus des Minsker Regionalexekutivkomitees, nun den Vorsitz des ABFF übernehmen. 

    Staatsbeamte, Banker, Luftfahrtexperten, Generäle und Oberstleutnants – das sind die Leute, die seit vielen Jahren für den Fußball zuständig sind. Aus diesem Grund wurde das Haus des Fußballs, in dem der Verband seinen Sitz hat, eine Zeitlang ironisch als „Haus der Offiziere“ bezeichnet. Man kommt kaum umhin, diese Personalpolitik mit den miserablen Ergebnissen der belarussischen Mannschaften in Verbindung zu bringen. 

    Ein vergessener Held 

    Der Sieg der Belarussen über Holland ist so lange her, dass sich vieles radikal verändert hat. So darf Holland beispielsweise offiziell nur noch Niederlande genannt werden. Das Dynamo-Stadion wurde mehrfach umgebaut. Die jüngsten Baumaßnahmen 2018 kosteten umgerechnet fast 200 Millionen Dollar. Doch selbst das reichte offenbar nicht aus, um das Bedürfnis des Landes nach einem angemessenen Stadion für die Nationalmannschaft zu befriedigen, und so bat Lukaschenko niemand geringeres als Xi Jinping um weitere Millionen – für den Bau einer entsprechenden Arena. 

    Der Vorsitzende der Volksrepublik China rückte das Geld heraus. Das Nationalstadion in der Nähe des Wanejew-Platzes in Minsk wurde sechs Jahre lang gebaut und erst kürzlich fertiggestellt. Lukaschenko bezeichnete den Bau als ein „Geschenk aus China“. Am 10. Juni [2025] spielte die belarussische Nationalmannschaft dort zum ersten Mal, und zwar gegen die russische Mannschaft, die für alle Wettbewerbe gesperrt ist [das Spiel ging 4:1 an Russland – dek]. Auch das ist sehr symbolträchtig. 

    In 30 Jahren hat der Dauerherrscher den belarussischen Sport in den Status eines internationalen Parias geführt. Der Fußball bleibt zwar die seltene Ausnahme, die nicht von der Isolation betroffen ist, aber auch er muss die politischen Rechnungen bezahlen. Nach der skandalösen Zwangslandung eines Ryanair-Flugzeugs mit dem Blogger Roman Protassewitsch in Minsk sprach die UEFA ein Verbot aus, offizielle Spiele unter ihrer Schirmherrschaft in Belarus durchzuführen. Und so sind die belarussischen Mannschaften seit nunmehr vier Jahren gezwungen, für ihre Heimspiele Stadien im Ausland anzumieten, beispielsweise in Ungarn, Serbien oder Aserbaidschan. Wie lange das Nationalstadion deshalb faktisch leerstehen wird, kann heute niemand sagen. 

    In den vergangenen Jahren haben die Teilnehmer des Spiels gegen die Niederlande ihre aktive Karriere beendet und sind merklich gealtert. Einige von ihnen ereilte ein tragisches Schicksal, so auch den Helden des legendären Spiels Sergej Gerasimets. Nach dem Ende seiner Spielerkarriere lebte der Ex-Fußballer in St. Petersburg, wo er als Trainer arbeitete. Der gebürtige Kyjiwer mit belarussischem Pass unterstützte während der Ereignisse 2020 offen die Proteste in seiner zweiten Heimat. Er nannte die Ergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen eine „Farce“ und empörte sich über die Polizeigewalt auf den Straßen. Am 26. September 2021 starb er überraschend im Alter von 56 Jahren. Die Gründe wurden nie offiziell bekannt gegeben, aber es gab Vermutungen, dass sein Tod mit dem Fußball in Verbindung stehen könnte. An jenem Abend stand Gerasimets’ Mannschaft in St. Petersburg vor einem entscheidenden Spiel, was für den Trainer eine große nervliche Belastung darstellte. 

    Das runde Jubiläum des Sieges über die Niederländer in Belarus könnte aus noch einem anderen Grund von offizieller Seite übergangen werden: aufgrund der unliebsamen staatsbürgerlichen Haltung des Schützen des einzigen, siegreichen Treffers. Wenn dem so wäre, würde es wohl niemanden wundern. 

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  • Flucht de force mit Tscheburaschka

    Flucht de force mit Tscheburaschka

    Fünf Jahre nach Beginn der Massenproteste sind immer noch fast 1200 politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen und Lagern interniert. Die Haftbedingungen werden von ehemaligen Häftlingen und NGOs als unmenschlich bezeichnet. Mindestens sieben politische Gefangene sind seit 2020 verstorben. 

    Um diesem Schicksal zu entgehen, hat sich der Regimekritiker Alexander (Sascha) mit Ehefrau und Tochter zur Flucht entschieden. Diese geriet zu einem lebensgefährlichen Abenteuer, das die Familie durch mehrere Länder führte. Jewgeni Kornejewez hat ihre Geschichte für das Online-Portal Mediazona Belarus aufgeschrieben. 

    Tscheburaschka ist auf der ganzen Flucht mit dabei. / Foto © privat
    Tscheburaschka ist auf der ganzen Flucht mit dabei. / Foto © privat

    „Sie können unsere echten Namen benutzen. Von unserer Familie lebt nur noch Saschas Mutter. Meine Mutter haben sie bis zum Infarkt getrieben. Als wir weg sind, kamen ständig die Silowiki: ‚Wir schnappen sie uns [deine Kinder] und sperren sie ein, sie werden eh zurück nach Belarus abgeschoben, sie sind erledigt.‘ Die haben lauter schlimme Sachen über uns gesagt, ihr Angst gemacht, und nochmal Angst. Das hat ihr Herz nicht mitgemacht. Drei Tage Koma und … ich konnte nicht einmal zur Beerdigung fahren. Zwei Jahre ist sie jetzt schon tot. Und wir haben nur noch eine Mutter für uns beide. Und zu ihr kommen sie auch“, erzählt Natalja. 

    Als einziges Erinnerungsstück an ihre Mutter ist Natalja eine Tscheburaschka-Puppe geblieben. Die Belarussin hatte gerne gestrickt, und Nataljas Mann Alexander hatte seit seiner Kindheit von einem Tscheburaschka-Kuscheltier geträumt. „Er hatte diese fixe Idee: Ich will Tscheburaschka“, erinnert sich Natalja. Da strickte ihre Mutter ihm ein Kuscheltier zum Geburtstag. „Er kommt zu ihr, und sie sagt zu ihm: ‚Hier, Sascha, für dich.‘ Er hatte sogar Tränen in den Augen. ‚Meine Schwiegermutter hat mir Tscheburaschka geschenkt, die immer bei mir bleiben wird.‘“ 

    Im November 2022 musste Sascha mitten in der Nacht aus Belarus fliehen, indem er den Njoman überquerte. Er packte seine Sachen in einen Rucksack, Tscheburaschka steckte er in einen Plastikbeutel und befestigte ihn an einer Schnur. Als Alexander am litauischen Ufer ankam, bemerkte er, dass das Stofftier weg war. „Ich zog an der Schnur, und die Plastiktüte schwamm in Richtung Belarus davon. Ich dachte nur: ‚Tscheburaschka. Den hat meine Schwiegermutter doch für mich gestrickt.‘ Ich schwamm zurück. November. Ohne Tscheburaschka geh ich nicht ins Exil!“ 

    Sascha kehrte um, fand das Kuscheltier und schwamm wieder nach Litauen. Danach irrte er zwei Stunden lang nass durch den Wald und suchte die Grenzbeamten. Jetzt begleitet Tscheburaschka das Ehepaar quer durch Europa. 

    Festnahme in Belarus 

    Früher lebte Natalja mit ihrem Mann Sascha in Hrodna. Sie hatten ein großes Grundstück inmitten von Seen gepachtet, bauten eine Ferienanlage auf, züchteten Fische und veranstalteten regelmäßig Angelwettbewerbe. Vor seiner Verhaftung, erinnert sich Sascha, hatten oft Beamte aus Hrodna bei ihnen Urlaub gemacht. „Ich konnte den Verwaltungsleiter der Oblast persönlich anrufen, wenn es ein Problem gab. Wir hatten fangfrischen Fisch, Grillplätze, auf denen die Abgeordneten sich ganz umsonst besaufen konnten. Deshalb war ich praktisch ‚unantastbar‘. So läuft das in diesem Business.“ 

    Im Pandemiejahr 2020 organisierte das Ehepaar eine Spendenaktion und stattete das Stadtkrankenhaus Nr. 2 in Hrodna mit Schutzausrüstungen aus. Als im selben Jahr die Wahlkampagne begann, trat Alexander dem Stab von Viktor Babariko bei und sammelte Unterschriften. Dann unterstützten sie Swetlana Tichanowskaja. Bei Videoaufnahmen von ihren Auftritten in Hrodna kann man Alexandra und Natalja in der ersten Reihe sehen.  

    Zwei Jahre später, 2022, holten Alexander die Silowiki.  

    „Er fuhr auf den Markt, um Fisch zu verkaufen. Da holten sie ihn. Ich habe ihn mehrmals angerufen, er drückte mich immer weg – geht nicht dran, ruft nicht zurück. Das kannte ich nicht von ihm. Ich habe einen Freund angerufen: ‚Juri, kannst du mal auf dem Markt vorbeischauen, mit Sascha stimmt was nicht.‘ Und er: ‚Vielleicht ist sein Telefon nass geworden oder so.‘ Aber ich war mir sicher, dass etwas passiert sein musste.“ 

    Alexanders Auto mit dem Fisch blieb auf dem Markt stehen, später holten es Bekannte ab. Alexander war von sechs bewaffneten Silowiki festgenommen worden, die aus einem Polizeibus gesprungen und über ihn hergefallen waren. Sie brachten ihn ins Revier, wo er die Nacht verbringen musste, und nach drei Tagen Gewahrsam kam er in U-Haft. 

    „Sie bedrohten mich nicht, aber die Demütigungen nahmen kein Ende. In U-Haft saß ich mit einem Straftäter, für den es sein viertes Mal war. Ein ganz normaler, ruhiger Typ um die 40. Er sagt zu mir: ‚Ich war sechs Jahre draußen, jetzt habe ich was geklaut, und es fühlt sich an wie nach Hause kommen.‘ Er schlief, rauchte, aß. Und ich durfte nur am Tisch sitzen und die Pritsche nicht mal angucken. Aufs Klo mit Handschellen. Die Hände auf dem Rücken. Wie soll man das machen? Und die sitzen da, glotzen und lachen: ‚Dir fällt schon was ein! Auf die Demos hast du‘s ja auch irgendwie geschafft!‘“

    Die Flucht nach Georgien über Russland 

    Währenddessen wurde ihre Wohnung durchsucht: Alles auf den Kopf gestellt, die elektronischen Geräte konfisziert. In der U-Haft überreichte die Ermittlerin Alexander eine Anklageschrift wegen Beleidigung Lukaschenkos. „‚Hier‘“, sagte sie. ‚Gegen dich liegen ein Haufen Beweise vor. Entweder du spuckst ein Scheißgeständnis aus, oder ich brumm dir das alles auf und hol deine Alte ab.‘ So reden die mit einem. Eigentlich eine attraktive Frau. Aber die Art zu reden – einfach nur abstoßend.“ 

    Natalja musste mit ihrer Tochter, einer Studentin, mehrfach zu Verhören. Die Ermittler gaben ihnen zu verstehen, dass sie das Land nicht verlassen durften und erreichbar bleiben mussten. Auch die Ferienanlage bekam Besuch von der Staatsanwaltschaft, vom Umweltministerium und der staatlichen Fischereiaufsicht Rybnadsor. „Während ich einsaß, haben sie sich mein Business unter den Nagel gerissen. Jedes Mal wieder: Anzeige – Bußgeld, Anzeige – Bußgeld, Anzeige – mit denen zu reden war sinnlos.“ 

    Zwei Monate nach seiner Verhaftung kam Alexander vors Gericht. Am 19. Mai 2022 wurde er zu zwei Jahren chimija (dt. Chemie) verurteilt – einer Haftstrafe im offenen Vollzug. Er durfte das Gericht auf freiem Fuß verlassen. Am nächsten Tag bekam das Ehepaar einen Anruf von jemandem, der sich als Anwalt vorstellte. Er wollte kein Geld und schlug ein Treffen vor, bei dem er sagte, er würde ihnen dabei helfen, Berufung einzulegen. Während der Bearbeitungszeit hätten sie die Möglichkeit, das Land zu verlassen. 

    Am 1. Juli machte sich die ganze Familie über Russland nach Georgien auf. 

    Der nächste Plan: Richtung Ukraine 

    Ihre Tochter Diana fuhr mit dem Bus, die Eltern mit dem Auto. Diana kam über die Grenze, aber Alexander und Natalja wurden nicht rausgelassen – sie fanden sich in einem russischen Lager für Personen mit Ausreiseverbot wieder. 

    „Zum Glück hatten wir das Geld für den Weg aufgeteilt. Insgesamt hatten wir 2000 US-Dollar. Unsere Tochter hatte 1000 dabei, die andere Hälfte hatten wir. Das Auto war auch noch ein bisschen was wert. „Wir beschlossen spontan, über Abchasien zu fahren. Panik. Wir fuhren über die Berge nach Tuapse am Schwarzen Meer. Dort redete ich mit den Taxi-Fahrern, die sagten: ‚Vergiss es. Wenn die Georgier ein Auto aus Abchasien sehen, schießen die sofort, und fragen erst dann nach dem Namen.“ Also beschloss das Paar, von Russland über die Ukraine nach Europa zu fahren, wo sie ihre Tochter treffen wollten. Sie entschieden sich für den Grenzübergang bei Belgorod. 

    „Ich bin quasi selbst Grenzer. War 16 Jahre in der Armee. An der Frontlinie kommt man nicht durch, da wird geschossen, alles ist vermint und so. In der Oblast Sumy ist es ruhig, kein Krieg – also wird die Grenze bewacht. Aber dazwischen, in der Grauzone, kann man durchschlüpfen. Also versuchten wir es bei Belgorod, 30 Kilometer von Charkiw entfernt. 200 Meter fehlten uns noch bis zur Grenze“, erzählt Alexander. „Und ich hab geweint: ‚Lass uns einfach hierbleiben! Nicht nach Hause fahren und auch nicht dahin‘“, ergänzt Natalja. 

    Diana schaffte es nach Tbilissi. Sie wollte sich ein Zimmer mieten, doch der Vermieter fing an, sie zu belästigen. Also zog sie weiter. Ziellos schlenderte sie durch die Straßen, bis sie mit einer Frau ins Gespräch kam, die ihr eine Unterkunft anbot. Nach dem ersten Monat durfte sie sogar gratis bei ihr wohnen, seitdem nennt Diana sie ihre „georgische Mama“.     

    In „Kriegsgefangenschaft“ 

    Bevor sie die russische Grenze überquerten, inspizierte Alexander drei Tage lang die Umgebung, suchte auf Google Maps, sah sich alles ganz genau an. Der erste Versuch misslang – Natalja blieb im Sumpf stecken, und sie mussten umkehren. In der nächsten Nacht versuchten sie es noch mal, wurden aber von russischen Soldaten aufgegriffen.  

    „Sie blendeten uns, brüllten: ‚Fresse auf den Boden!‘, schossen mit MGs. Natalja wollte wegrennen, ich konnte sie gerade noch aufhalten. Wären wir geflohen, wäre das hundertpro das Ende gewesen.“ Mit einem Sack über dem Kopf wurden die Belarussen zu einem Stützpunkt geführt, jeder in einen anderen Raum. Dort mussten sie sich nackt ausziehen und wurden befragt, wie sie an die Grenze gelangt waren. Natalja erzählt, sie sind von den Soldaten schikaniert worden.   

    „Sie wickelten sich meine Haare um die Faust und zerrten mich daran durchs ganze Zimmer. Dann fixierten sie mich mit Handschellen an ein Bett, brachten eine Flasche, stellten sie auf den Boden und sagten: ‚Weißt du, was wir gleich mit dir machen? Wir binden dir die Beine ans Bett, holen alle unsere Kameraden und lassen sie der Reihe nach ran.‘“ 

    „Als ich sie schreien hörte, sagte ich: ‚Ihr Schweine, ich werde euch alle finden und euch den Hals umdrehen!‘ Zwei Minuten später spuckte ich meine Zähne aus. Die haben richtig zugeschlagen. Natascha haben sie nicht verprügelt, nur an den Haaren durchs Zimmer gezerrt. Mir fehlen seitdem die unteren Zähne.“ Die Soldaten hielten das Paar bis zum nächsten Morgen fest. „Einer kommt rein und sagt: ‚Wieso liebt so ein junges Mädel einen alten Sack wie dich? Willst du zugucken, wie wir sie alle der Reihe nach rannehmen?‘“  

    Ausgeraubt wurden Alexander und Natalja auch. Alles Geld, das Gold – die Russen hatten ihr Auto gefunden und alles mitgenommen, was irgendwie Wert hatte. Am Morgen wurden sie gezwungen zu unterschreiben, dass sie keinerlei Beschwerden gegen die Grenzbeamten hätten. Sie bekamen von ihrem eigenen Geld 2000 Rubel [damals etwa 35 US-Dollar – dek], damit sie gleich ihre Strafe zahlen konnten, und wurden, wieder mit einem Sack über dem Kopf, zu ihrem Auto gebracht und sich selbst überlassen.    

    Zurück nach Moskau und nach Tscheljabinsk  

    Nach der „Kriegsgefangenschaft“ fuhren die beiden zu Nataljas Onkel in die Oblast Moskau. Sie erzählten ihm ihre Geschichte und begriffen, dass er sich über solche Gäste gar nicht freute. „Er war beruflich beim Militär gewesen. Den beiden Rentnern sah man an, dass sie Angst hatten. Wir blieben noch über Nacht, dann sagten wir, wir hätten Arbeit in Moskau gefunden, und reisten wieder ab.“ 

    Alexander fielen seine Verwandten im Ural ein, zu denen er seit 30 Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Er bat Diana, auf Odnoklassniki ihre Telefonnummer herauszufinden, rief an, stellte sich vor, erklärte seine Situation, dass er momentan keine Bleibe habe, und war sehr erstaunt, als sie ihn freudig einluden. Bis Tscheljabinsk waren es zwei Tage Fahrt. Tante Alexandra überließ den Belarussen ihre Wohnung und fuhr selbst auf ihre Datscha. Alexander und Natalja wandten sich an Bysol, wo ihnen empfohlen wurde, nach Wladikawkas zu fahren und von dort aus die Einreise nach Georgien zu versuchen.  

    „Im September rief Russland die Mobilmachung aus. Was da in Werchni Lars los war! Die von Bysol riefen uns an und sagten: ‚Das wird nichts, Leute, vergesst es.‘ Uns ging die Kraft aus, wir hatten kein Geld mehr, nichts.“ Sie verkauften ihr Auto, um in einem Hostel zu wohnen. Mit Flyer-Verteilen verdienten sie sich das Geld für Essen: Jeden Tag 20 Kilometer zu Fuß. 

    „Wir ernährten uns von drei Backkartoffeln aus der Mikrowelle. Geschirr hatten wir keines, nur die Mikrowelle. Brot nur scheibchenweise. Und ein Kilo 100-Rubel-Wurst. Das ist eine Wurst, die kannst du auf den Löffel nehmen, und sie bleibt dran kleben und fällt nicht runter. Zweimal die Woche kauften wir eine Tomate, so als Leckerbissen. Und Äpfel. Wenn ich irgendwo einen Apfel pflücken konnte und wir Zucker zu Hause hatten, schnitten wir das Kerngehäuse aus, füllten Zucker ein und ab in die Mikrowelle. Das war unser Nachtisch.“    

    Trennung und zurück nach Belarus 

    So lebte das Paar bis Oktober. Im Oktober bot ihnen Bysol eine Evakuierung an, für die sie sich allerdings trennen mussten. Sie fuhren nach Moskau. Natalja bekam schnell ein Visum. Dann kam die Anweisung, nach Kaliningrad zu fliegen und dort in den Zug Richtung Minsk zu steigen. Zwei Tage später war Natalja in Kaunas, Litauen. 

    „Ich hatte überhaupt kein Geld mehr. Keine Kopeke, keinen Cent. Ich kam in Kaunas am Bahnhof an und konnte nicht mal auf die Toilette, weil das was kostet. Ich stand da und heulte. Ein junger Ukrainer und seine Mutter wurden auf mich aufmerksam: ‚Wieso weinen Sie denn?‘ Sie halfen mir mit dem Internet, gaben mir ein bisschen Geld und kauften mir eine Fahrkarte nach Danzig, wo meine Tochter auf mich wartete.“ 

    Alexander bekam Instruktionen: „Bestell dir ein BlaBlaCar und fahr nach Orscha“. Die Fahrt bezahlte ihm Bysol. Eine Weile später kam eine Nachricht, er solle nach 15 Kilometern an einer Kreuzung aussteigen und sich im Wald verstecken. Das machte er. Später kam noch ein weiteres Auto. Der Fahrer fragte Alexander nach seinem Namen, ließ ihn einsteigen und fuhr mit ihm durch die Dörfer. Irgendwann erreichten sie den Stadtrand von Wizebsk, und Alexander wurde gebeten auszusteigen.  

    „Ich sagte: ‚Wie geht’s jetzt weiter, Alter?‘ Und er: ‚Keine Ahnung. Tschüss.‘ Und fuhr weg. Russische SIM-Karte, kein Empfang, kein Geld, dafür umso mehr Hunger. Ich traf ein paar Teenager, fragte sie nach einem Hotspot, sagte, ich sei Russe und hätte vergessen, meine SIM-Karte zu aktivieren.“ Gegen Abend meldeten sich die Fluchthelfer: Sie schickten ihm ein Taxi, das ihn zu einer Mietwohnung brachte, ließen ihm ein wenig Geld zukommen. „Ich stellte mein Zeug ab, kaufte zwei Packungen Pelmeni und Schmand und dachte: Scheiße nochmal, endlich mal sattessen!“ 

    Nach Wizebsk erwarteten Alexander noch ein paar Stationen, etliche Wohnungen, Häuser, Datschen, bis er Mitte November eines Nachts an den Njoman gebracht wurde und hörte: „Schwimm“. 

    Alexander (links) und Natalja bei einer Kundgebung in Polen. / Foto © privat
    Alexander (links) und Natalja bei einer Kundgebung in Polen. / Foto © privat

    Hiobsbotschaft in der Freiheit 

    In Litauen wurde Alexander in einem Flüchtlingslager untergebracht, bekam jedoch bald die Genehmigung, in die Stadt zu fahren. Dann wurde er nach Polen überstellt, weil er ein polnisches Visum hatte, und traf dort seine Frau wieder. Während das Ehepaar auf seinen Aufenthaltstitel wartete, machten die beiden hohe Schulden, weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt war. Als er seine Dokumente hatte, fing Alexander an, als Fernfahrer zu arbeiten. Er nahm seine Frau mit und seinen Tscheburaschka. „Mein Tscheburaschka hat ganz Europa gesehen“, scherzt er. Jetzt sind alle Schulden abbezahlt.  

    2024 wurde bei Alexander Krebs diagnostiziert.  

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  • „Studiert in Belarus!”

    „Studiert in Belarus!”

    Diese Woche finden in Belarus die Abschlussfeiern der wypuskniki, der Schulabgänger, statt. Dann geht es ins Arbeitsleben oder an die Universität. Der Wunsch, einen Studienplatz in der EU zu ergattern, ist groß. Allein an polnischen Universitäten studieren etwa 12.000 junge Belarussen. Die Behörden in Belarus setzen vieles daran, den Aufbruch der Absolventen in Richtung Westen zu verhindern. Gleichzeitig ist auch die russische Regierung bemüht, die jungen Leute für ein Studium in Russland zu gewinnen.  

    Das belarussische Online-Portal Pozirk hat mit Lehrern und Eltern in Belarus gesprochen und zeigt, wie der belarussische Staat mit Propaganda und Druck versucht, die jungen Leute im Land zu halten.  

    Studierende in Belarus sichten ihre Prüfungsergebnisse. / Foto © Tut.by 

    Alexandra (*alle Namen aus Sicherheitsgründen geändert) arbeitet seit 20 Jahren als Lehrerin. Was sie in ihrer Schule erlebt, beschreibt sie als absurd. Ihr zufolge könne man aus dem Nichts Kritik ernten – seitens der Schulverwaltung, der Bildungsabteilung, der Ideologen. So habe eine Ideologie-Beauftragte auf einer Veranstaltung für die Kinder eine Tasse mit einer englischen Aufschrift entdeckt und nach der Veranstaltung eine Szene gemacht. „Warum wir den Kindern ‚fremdsprachige Aufdrucke‘ präsentieren würden, hat sie gezetert“, erzählt Alexandra. Sie erinnert sich, wie vor zwei Jahren das Anschauungsmaterial aus dem Englischraum entfernt wurde, zum Beispiel Ansichtsplakate von London. 

    Unter besonderer Beobachtung stehen Abschlussfeiern. Die Liste der Lieder musste schon früher mit der Zensurbehörde abgestimmt werden, aber „dieses Jahr sind sie noch weiter gegangen und haben beschlossen, dass es bei der Abschlussfeier keinerlei fremdsprachige Lieder mehr geben und dass nur noch Lieder auf Russisch und Belarussisch gesungen werden dürfen. Ist das nicht absurd?“, empört sich die Pädagogin. 

    Marija, die Mutter eines Absolventen, sagte in einem Gespräch mit Pozirk, die Klassenlehrerin fordere die Eltern seit Februar beharrlich auf, ihr zu schreiben, wo die Kinder studieren wollen. „Das macht mich wütend, ich habe beschlossen, aus Prinzip nichts zu sagen. Ja, mein Sohn geht studieren, und zwar nicht im Ausland, sondern in Belarus, aber wieso sollte ich der Schule Rechenschaft ablegen? Er wird sein Zeugnis abholen, und damit ist seine Beziehung mit der Schule beendet. Warum müssen sie wissen, wo er studieren wird? Außerdem bin ich abergläubisch und erzähle nicht gerne von meinen Plänen, sonst werden sie vielleicht nicht wahr“, erzählt Marija. 

    Die Lehrerin Alexandra bestätigt, dass die Schulen für hiesige Universitäten werben, aber „nicht mit Drohungen oder Zwang, sie versuchen es auf die sanfte Tour, indem sie von den Vorteilen eines Studiums in Belarus erzählen“. Die Gymnasiasten aus der Oberstufe müssen sich ihr zufolge aktuelle belarussische Propaganda-Filme ansehen: Tschushoje nebo (dt. Fremder Himmel) und Trudnosti perewoda (dt. Übersetzungsschwierigkeiten). Der erste Film, den die Propaganda-Beauftragten als „investigative Reportage“ präsentieren, soll das harte Los der belarussischen Emigranten zeigen, unter anderem der Studierenden in Polen und Litauen. Der zweite bietet eine Bühne für junge Belarussen, die angeblich aus Unzufriedenheit mit ihrem Studium in Polen, Tschechien und Litauen nach Belarus zurückgekehrt sind. 

    Dieselben Filme werden auch an Universitäten gezeigt, mit anschließenden Treffen zwischen den Studierenden und den Filmemachern. So geschehen im April an der Janka-Kupala-Universität in Hrodna. Die Ankündigung auf der Internetseite des regionalen Fernsehsenders lautet: „Der Film zeigt das wirkliche Leben der Belarussen, die nach den Ereignissen 2020 emigriert sind. In Monologform erzählen sie, mit welchen Schwierigkeiten sie im Ausland konfrontiert wurden und warum sie nach Hause zurückgekehrt sind bzw. zurückkehren wollen. Der Dokumentarfilm soll Jugendlichen dabei helfen, sich eine dezidierte Meinung über die Situation zu bilden.“ 

    Eine Studentin, die an dem Treffen teilnahm, erklärte, der Film sei „ziemlich komplex“, es sei „hart gewesen, ihn zu sehen“. „Zu sehen, wie Gleichaltrige sich für die komplett andere Seite entschieden haben und weggegangen sind. Es war wirklich hart, den Film zu schauen. Er lässt einen mit vielen Einsichten und Emotionen zurück, mit der Erkenntnis, dass jeder seinen eigenen Weg hat. Der Dokumentarfilm Tschushoje nebo zeigt, welche Folgen eine falsche Entscheidung nach sich ziehen kann“, resümiert diese disziplinierte Zuschauerin ideologisch korrekt. Ein Link zu den Filmen findet sich auf vielen Internetseiten belarussischer Schulen. 

    Wer sich im Ausland einschreibt, ruiniert das Rating seiner Schule 

    Pozirk hat mit Shanna gesprochen, deren Sohn gerade die elfte Klasse am Gymnasium abschließt. Auch hier fragt man die Kinder, wo sie studieren wollen. „Außerdem müssen die Eltern der Schule einen merkwürdigen Bericht vorlegen, in dem sie erklären, wo ihr Kind die Sommermonate bis zum Beginn des Schuljahres im September verbringen wird“, erzählt die Mutter des Elftklässlers. Schüler, die sich im Ausland bewerben wollen, verheimlichen das ihr zufolge vor der Schulleitung, aus Angst, man könnte ihnen die Ausreise verweigern. „Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, behaupten sie also, sie würden an die BGU [Staatliche Universität Belarus in Minsk – dek] gehen. In der Klasse meines Sohnes wollen die Kinder in Russland, Japan und Polen studieren, oder an russischen Hochschulen, die Ableger in Belarus haben“, erklärt unsere Gesprächspartnerin. 

    Die Lehrkräfte und die Leitung der Gymnasien raten nicht direkt davon ab, ausländische Universitäten zu besuchen, sondern werben stattdessen dafür, dass Belarus die beste Hochschulbildung und das Niveau anderer Länder ein- und überholt hätte. „Dazu muss man sagen, dass die Schulleitung Mitglied der Belaja Rus ist“, erzählt Shanna. Das ist eigentlich nicht weiter verwunderlich: Im Bildungswesen, und erst recht in Führungspositionen, gibt es nur noch ausgesiebte Kader. „Ein weiteres Totschlagargument der Lehrer und der Schulleitung: Man soll sich nicht im Ausland bewerben, um der Einrichtung und sich selbst nicht zu schaden. Man würde damit das Ansehen des Gymnasiums ruinieren!“, beschwert sich die Mutter des Gymnasiasten. 

    Wie man in das „Russische Haus“ gelockt wird 

    Lehrerin Natalja beobachtet eine Abwanderung der Jugend weniger nach Europa als vielmehr nach Russland. Sie meint, die Programme der Rossotrudnitschestwo arbeiteten aktiv und mit „sanftem Nachdruck“ daran, talentierte junge Belarussen zum Arbeiten in Russland zu bewegen. So sei Natalja zufolge das Russische Haus Homel aktiv dabei, belarussische Schulabgänger abzuwerben. „Rossotrudnitschestwo führt sehr viele Olympiaden, Wettbewerbe und Exkursionen für belarussische Schüler durch. Die Fahrt nach Russland ist kostenlos, die Belohnung der Gewinner der Olympiaden und Wettbewerbe sind Reisen auf die [im Jahr 2014 annektierte] Krym. Die Kinder fahren auch heute noch dahin, trotz des Kriegs in der Ukraine“, berichtet die Pädagogin. 

    Auf der Seite des Russischen Hauses Homel sind in der Tat lauter Bildungsprojekte und Veranstaltungen zu finden. Zum Beispiel Ein Schritt in die Zukunft mit dem Russischen Haus – eine Reihe offener Kurse mit interaktiven Spielen, Tests und Workshops nach dem Atlas der neuen Berufe, der vom Innovationszentrum Skolkowo entwickelt wurde. Das Projekt richtet sich an Schüler der achten und neunten Klassen. Des Weiteren wenden sich die Programme Hallo Russland! und Neue Generation an junge Belarussen. In deren Rahmen sollen sie „russische Großstädte besuchen, die Kultur und Geschichte des Landes kennenlernen, mit Menschen ins Gespräch kommen, an internationalen Foren, Konferenzen, Festivals und Bildungsprojekten teilnehmen“. 

    „Bevorzugt werden engagierte junge Leute ausgewählt, die sich bereits in Studium oder Beruf, bei verschiedenen bedeutenden Veranstaltungen, Olympiaden oder Wettbewerben hervorgetan haben. Alle Reisen sind all-inclusive“, versprechen die Organisatoren. Als Bonus gibt es Exkursionen, Seminare, Konzerte und Festivals. Die Vorteile für belarussische Absolventen: Für ein Studium in Russland benötigen sie kein Visum (in Belarus ist es im Moment sehr schwierig, an europäische Visa zu kommen, selbst studentische); es gibt keine Sprachbarriere. Dafür gibt es eine Quote, nach der belarussische Staatsbürger Anspruch auf ein staatlich gefördertes Studium haben. 2024 waren es 1300 Studierende (genauso viele wie im Vorjahr), die Anspruch auf ein Stipendium und einen Platz im Wohnheim hatten. Zudem gibt es an den russischen Universitäten keine obligatorische Zurteilung der Absolventen. 

    Einfache Rezepte vom Minister 

    Am 17. April äußerte sich Bildungsminister Andrej Iwanez in einem Kommentar gegenüber dem Staatssender Belarus 1 zur Abwanderung junger Menschen ins Ausland. Seiner Meinung nach ist das Rezept dagegen einfach: „Selbstverständlich sollten wir unseren Kindern, unseren Schulkindern und den Eltern unserer Schulkinder von den Errungenschaften unserer Bildung erzählen, denn oft sind wir bescheiden, wir sprechen nicht darüber, wir scheuen uns, sie zu zeigen.“ 

    Der Minister ist außerdem der Meinung, dass die Belarussen in Europa eine minderwertige Ausbildung erhalten würden. So würden Absolventen polnischer Universitäten bei ihrer Rückkehr nach Belarus auf Probleme bei der Anerkennung ihrer Abschlüsse stoßen: Manchmal wären die Curricula oder die Anzahl der Unterrichtsstunden unzureichend. „Eine Überprüfung endete damit, dass nach dem Abschluss an einer polnischen Universität der prozentuale Anteil des absolvierten Programms nur knapp über 50 Prozent unseres Programms betrug. Das können wir schlecht als Hochschulabschluss anerkennen“, sagte Iwanez. Er fügt hinzu, die jungen Leute und deren Eltern würden das Bildungssystem in Belarus mit anderen Augen sehen, sobald ihnen die Fachleute erklären, dass es sich nicht um Voreingenommenheit handelt, sondern schlicht um einen Vergleich der Datenmengen miteinander. 

    „Ständige Kontrollen durchführen …“ 

    Der Werbeslogan „Studiert in Belarus“ hat jedoch einen wesentlichen Haken, der sich mit dieser Regierung nicht beheben lässt: die totale, unbedingte Ideologisierung des Bildungssystems, die der Hauptgrund dafür ist, dass junge Menschen aus dem Land fliehen. „Wenn Sie immer noch Leute beschäftigen, die unsere Vorgehensweisen und unsere Politik, die Staatsideologie, nicht teilen; wenn Sie die Regimeverweigerer von gestern beschäftigen, was sagt das dann über Sie aus? Eine Frage zum Nachdenken und zur dann Entscheiden“, sagte Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Mitgliedern der Hochschulrektorenkonferenz im Februar 2024. 

    „Es sind Ihre Studenten, die wir benebelt von westlichen Werten 2020 auf den Plätzen gesehen haben. Und der Grundstein für viele der Inhalte, die sie auf die Straßen getrieben haben, wurde leider in unseren Hörsälen gelegt“, wandte er sich an die Rektoren. Lukaschenko beklagte, dass die Jugendorganisationen und Ideologen an den Universitäten schlecht arbeiten würden: „Was ein überbordender Bürokratismus! Das gehört alles verschlankt: die Jugendorganisationen, die Gewerkschaften, die Studentenräte usw.!“ Er rief die BRSM auf, „normale, informelle“ Veranstaltungen durchzuführen. 

    Ein halbes Jahr später unterzeichnete Bildungsminister Iwanez den 40-seitigen didaktisch-methodologischen Brief Merkmale der Organisation der ideologischen und pädagogischen Arbeit in Einrichtungen der allgemeinen Sekundarbildung für das Schuljahr 2024/2025. Vielleicht wurde Lukaschenkos Kritik ja dort berücksichtigt und der „reinste Bürokratismus“ ausgemerzt? Pozirk hat das Dokument analysiert. 

    Eine der ersten Aufgaben lautet, „die bedingungslose Umsetzung des Beschlusses des Vorstands des Bildungsministeriums über die Zusammenarbeit der Bildungseinrichtungen mit den öffentlichen Organisationen der BRSM und der belarussischen Pionierbewegung BRPO zu gewährleisten“, die Qualität der ideologischen und pädagogischen Arbeit mit Studenten und Arbeitskollektiven zu verbessern und dabei besonderes Augenmerk auf die Stärkung der Staatsideologie zu legen. 

    Die Lehrer werden angehalten, die Schüler besser über die Ressourcen eines „konstruktiven Fokus“ zu sensibilisieren und die Lernenden weiter zu einer „respektvollen Haltung gegenüber staatlichen Symbolen“ zu erziehen. Zu diesem Zweck sollen feierliche Veranstaltungen wie das Hissen der Nationalflagge und das Singen der Hymne durchgeführt werden und „eine ständige Kontrolle über den Zustand der staatlichen Symbole in den Bildungseinrichtungen“ erfolgen. Ferner wird vorgeschrieben, die Arbeit an der „Erforschung der Fragen des Genozids am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges“ fortzusetzen. 

    In den Schulen werden „Fahnengruppen“ gebildet, in denen Schüler die Nationalflagge herein- und heraustragen sollen. In dem Methodenbrief werden die Lehrkräfte außerdem aufgefordert, sich intensiver mit diesen Gruppen zu befassen. Weil die Fahnengruppe „anständig“ aussehen soll, müssen die Lehrer „die notwendige Ausrüstung zur Verfügung stellen: Militäruniform (Paradeform), wenn sie das Recht haben, sie zu tragen, oder Businesskleidung in Schwarz und Weiß“. Verboten sind „kurze Hosen, Kniestrümpfe, Sneakers und andere Sportschuhe“. Alles ganz „normal und informell“, so wie Lukaschenko verlangt hat. 

    Große und kleine Sticheleien 

    2020 hatten sich Studenten vor allem großstädtischer Universitäten dem Protest gegen Wahlfälschungen zugunsten Lukaschenkos und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung angeschlossen. Als die Repressionen Massencharakter annahmen, waren viele junge Menschen gezwungen, ins Ausland zu gehen. Als 2022 Russlands umfassende Aggression gegen die Ukraine begann, lösten Gerüchte über eine mögliche Mobilmachung der belarussischen Bevölkerung eine weitere Auswanderungswelle aus. 

    Lukaschenko behauptete mehrfach, die jungen Protestierenden seien „mit westlichen Werten gehirngewaschen“. „Wir werden Maßnahmen gegen diejenigen ergreifen, die dorthin [ins Ausland – dek] gegangen sind, um sich ausbilden zu lassen und einer Gehirnwäsche unterziehen. Ich habe dem Bildungsminister aufgetragen, mit aller Härte vorzugehen. Wenn wir schon säubern, dann richtig. Hast du deinen Abschluss an der EHU [Europäische Geisteswissenschaftliche Universität in Vilnius – dek] gemacht? Dann arbeite halt in Litauen. Mach ruhig, wir kommen schon ohne dich aus“, drohte er im August 2021. 

    Das Thema griff er später mehrmals auf. Seinen Worten folgten Taten: Im ganzen Land waren Polnischkurse, Fremdsprachenschulen und der private Sektor der Vorschul- und weiterführenden Bildung insgesamt von massiven Kontrollen und Schließungen betroffen. Als Reaktion darauf wurden belarussische Universitäten aus dem Bologna-Prozess ausgeschlossen, europäische Universitäten stellten ihre Austauschprogramme ein. 

    2022 sind die Behörden aus dem bilateralen Abkommen mit Polen über die gegenseitige Anerkennung von Hochschulabschlüssen und -graden in Wissenschaft und Kunst ausgestiegen. Damit nicht genug: 2023 wurde die Zurückstellung von der Armee für Männer, die im Ausland studiert haben, aufgehoben. Man fing an, Schulabgänger zu erfassen, die eine Apostille für die Zulassung an ausländischen Universitäten beantragten, und „Präventivmaßnahmen“ mit ihren Eltern durchzuführen. Doch weder die Schreckensfilme über das ärmliche Dasein im Westen noch die „ideologischen Aktionspläne“ mit dem Herumtragen der rot-grünen Fahne haben sich bisher auf die Statistik der Studienanfänger an ausländischen Hochschulen ausgewirkt. 

    Wie drüben 

    Nicht nur in Belarus versucht man, Abiturienten an sich zu binden. In der Republik Moldau hat das Bildungsministerium in diesem Frühjahr die Kampagne In Moldawien studieren gestartet. Doch die Methoden sind alles andere als autoritär. Man setzt auf positive Anreize: Dort wurden 350 Millionen Lei [ca. 17,6 Millionen Euro – dek] in die Infrastruktur der Universitäten investiert, es wurden 93 Millionen Lei [ca. 4,7 Millionen Euro – dek] für die Renovierung von Studierendenwohnheimen ausgegeben; es wurden Bildungsprogramme entwickelt, die an die Berufe der Zukunft angepasst sind, einschließlich künstlicher Intelligenz, Animation, Game Design, Ökonometrie, Phytobiotechnologie. 

    Ziel der Kampagne ist es, dass sich in der Republik Moldau im Jahr 2025 sechs von zehn Absolventen für eine Universität im Inland entscheiden. Die moldauischen Behörden haben offenbar verstanden, dass die Politik der Peitsche junge Menschen nicht aufhalten wird, aber sie vielleicht auf Zuckerbrot reagieren. Genau so schafft man Voraussetzungen für eine bewusste (anstatt die „richtige“) Wahl, die sich der Staat für seine Absolventen wünschen sollte. 

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  • „Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal.“

    „Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal.“

    Vor fünf Jahren, im Mai 2020, begann in Belarus eine Geschichte, die das Leben von Swetlana Tichanowskaja für immer veränderte – genauso wie das Leben von zigtausenden Belarussen. Ihr Mann Sergej Tichanowski, der damals einen populären, regimekritischen YouTube-Kanal betrieb, war bei einer Kundgebung am 7. Mai zum ersten Mal festgenommen worden. Er hatte beschlossen, bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidat anzutreten. Dazu kam es allerdings nicht mehr: Tichanowski wurde erneut verhaftet und durfte nicht kandidieren. Stattdessen übernahm seine Frau, in der Folge entwickelte sich eine historische Massenbewegung

    Das belarussische Online-Portal GazetaBY startet aus Anlass jener Ereignisse das Projekt Transit. Der Beginn. Im ersten Teil der Publikationsreihe spricht Swetlana Tichanowskaja in einem Interview über ihre Wandlung von einer Hausfrau zur Politikerin und Anführerin einer Protestbewegung.

    Swetlana Tichanowskaja zeigt im Juli 2020 ihre Registrierung zur Präsidentschaftskandidatin. / Foto © GazetaBY.com
    Swetlana Tichanowskaja zeigt im Juli 2020 ihre Registrierung zur Präsidentschaftskandidatin. / Foto © GazetaBY.com

    GazetaBY: Wann haben Sie gespürt, dass sich Ihr friedliches, geregeltes Leben verändert? 

    Swetlana Tichanowskaja: Als Sergej zum ersten Mal verhaftet wurde. Das war wie eine kalte Dusche. Ich habe sofort die Gefahr gespürt. Es war das erste Mal in unserem Eheleben, dass wir Neujahr nicht zusammen verbrachten. Ein eigenartiges Gefühl: Sergej ist im Gefängnis, die Kinder und ich unterstützen seine Mutter in Homel. 

    Und was haben Sie zu Ihrem Mann gesagt, als er nach der Nacht im Gefängnis wieder rauskam?  

    Ob ich ihm gesagt habe: „Hör auf damit?“ Nein. Dafür kenne ich meinen Mann zu gut. Eheleute sollten einander unterstützen, nicht einander etwas ausreden. Wie so viele andere verfolgte ich Sergejs Livestreams und sah, dass er sehr populär wird. Charismatisch, auffällig – für die Menschen ist das anziehend. Sie kamen in Strömen, wenn Sergej in diese oder jene Stadt reiste, um „Tauben zu füttern“. 

    Ich half meinem Mann, wo ich konnte. Bestellte Sticker und so weiter. Aber ich war nicht besonders stark involviert. In jenem Frühling hatte ich gerade wieder angefangen zu arbeiten: Nachdem ich mich zehn Jahre um unseren Sohn gekümmert hatte, unterrichtete ich an einer Online-Schule. 

    Und da kommt Sergej eines Tages nach Hause und sagt: „Die Leute wollen, dass ich als Präsident kandidiere.“ – „Du weißt aber schon, welche Konsequenzen das haben kann?“ – „Ja, ich weiß.“ Aber sein Entschluss stand bereits fest. 

    Diese Frage müsste ich natürlich eigentlich Sergej stellen, aber diese Möglichkeit gibt es leider gerade nicht. Vielleicht können Sie etwas Licht ins Dunkel bringen: Warum engagiert sich jemand, der so lange erfolgreicher Unternehmer war, plötzlich für gesellschaftliche Anliegen und geht dann auch noch in die Politik? 

    Ich glaube nicht, dass Sergej von Anfang an vorhatte, in die Politik zu gehen. Er hatte ein verlassenes Anwesen gekauft und wollte es zu einer Herberge für Pilger ausbauen. Da fingen die Scherereien an. Um Strom zu verlegen, das Dach neu zu decken – für alles brauchte man einen Haufen Genehmigungen. Nach und nach fragt man sich dann, warum einem so viele Steine in den Weg gelegt werden, anstatt dass die Menschen einfach Geld verdienen zu lassen? Warum wirft der Staat ihnen immer Knüppel zwischen die Beine? 

    So kam Sergej allmählich zu dem Schluss, dass es in unserem Land vieles gibt, was sich ändern muss. Seine Anhängerschaft wuchs rasant, wobei sich viele einfache Menschen anschlossen, die sich früher überhaupt nicht gesellschaftlich engagiert hatten. Sergej schaffte es, ihre Herzen zu berühren. 

    Sergei Tichanowski beim Interview im Jahr 2020. / Foto © Tut.by
    Sergei Tichanowski beim Interview im Jahr 2020. / Foto © Tut.by

    Da beschlossen die Behörden, Tichanowski von der Registrierung abzuhalten, indem sie ihn genau an dem Tag, als die Frist für die Einreichung der Unterlagen bei der Zentralen Wahlkommission verstrich, einsperrten. Aber dann folgte eine Überraschung …     

    Selbst da hat meine Transformation noch nicht eingesetzt. Ich bin nicht in die Politik gegangen – ich bin für meinen Mann hingegangen, um ihn zu unterstützen. In einer Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden habe ich die Unterlagen mit seiner Vollmacht eingereicht. Doch sie haben Sergejs Registrierung als Präsidentschaftskandidat abgelehnt. Ich hatte nicht viel Zeit zum Überlegen. Und da habe ich, ohne mit jemandem darüber zu sprechen, beschlossen, den Antrag auf meinen Namen zu stellen. In dem Moment war die Entscheidung für mich absolut klar. Ich habe nicht in die Zukunft gedacht, nicht die Folgen einkalkuliert. Ich dachte, man würde mich abweisen, so wie meinen Mann. Aber ich musste es für ihn tun. 

    Später gab es Gerüchte, wir hätten uns abgesprochen. Aber in Wahrheit war es ein Schock für Sergej. Er ruft mich an: „Sweta, ich bin draußen!“ Und ich antworte: „Das freut mich, aber ich kann nicht sprechen – ich fahre gerade zum Wahlamt.“ Sergej war sicher, dass es um seine Registrierung geht. Als wir später wieder telefonierten, wusste er gar nicht, was los ist: „Wie, du? Wie kann das sein? Warum haben sie mich nicht registriert?“ 

    Er kommt also aus dem Gefängnis nach Hause, und seine Frau ist Präsidentschaftskandidatin. (lächelt) Wir hatten nicht einmal Zeit, alles zu besprechen. Sergej hat sich gleich in die Arbeit gestürzt. In einem Interview sagte er mal, er sei mir sehr dankbar und stolz auf mich. 

    In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst. 

    Als mein Mann neun Tage später eine längere Haftstrafe bekam, war ich wie gelähmt. Ich habe mich kaum an der Unterschriftensammlung beteiligt. Aber Sergejs Mitstreiter haben sich organisiert und alles selbst in die Hand genommen. Ich bin an diesem Punkt nur nach Komarowka gefahren, um für Viktor Babariko und Valeri Zepkalo zu unterschreiben, und zu meiner eigenen Kundgebung, um Unterschriften zu sammeln. 

    Auf wen hätten Sie bei den Wahlen gesetzt, wenn man Sie nicht registriert hätte? 

    Wahrscheinlich hätte ich mich einfach zurückgezogen. Hätte versucht, Geld für Sergejs Anwälte aufzutreiben. Vielleicht auch nicht. Weil die Bewegung bereits sehr groß war. Später hörte ich, wie Leute auf einen Witz reagierten, den ich bei der Wahlkommission gemacht hatte: „Mein Gott! Sie hat gesagt, dass sie ihr ganzes Leben lang davon geträumt hat, Präsidentin zu werden! Eine von uns!“ Das heißt, manche nahmen mich als glühende Oppositionelle wahr. 

    In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst. Du kommst aus dem Wahlamtsgebäude, und auf der Straße wartet schon eine Traube von Leuten mit Kameras. Du denkst: „Meine Güte, was mache ich mit denen? Worüber soll ich mit ihnen reden? Ich bin nicht hergekommen, um eine Revolution zu machen oder die Wahlen zu gewinnen. Ich bin wegen meinem Mann hier.“ 

    Dann siehst du die riesigen Schlangen von Menschen, die unterschreiben wollen. Massenhaft Menschen, die dich unterstützen – weil du eine von ihnen bist und nicht irgendein Beamter. Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal. 

    Und dann klingelt das Telefon … 

    Ich hatte Pech, dass damals niemand mit politischer Erfahrung auf mich zugekommen ist und mir erklärt hat, wie man sich bei Drohungen und in kritischen Situationen im Allgemeinen verhält. Ich war überhaupt nicht vorbereitet. 

    Ein Anrufer sagte: „Hören Sie auf damit. Sonst wandern Sie ins Gefängnis, und Ihre Tochter und Ihr Sohn kommen ins Waisenhaus.“ Ich bin nach Hause und habe eine Videobotschaft aufgenommen, dass ich die Kampagne abbreche. Aber dann … dann dachte ich daran, wie viele Menschen sich eingebracht hatten. Und ich beschloss weiterzumachen, trotz meiner Angst. Vor allem um die Kinder … 

    Zum Glück schlossen sich unserem Team nach und nach erfahrene Politiker an: Alexander Dobrowolski, Anna Krassulina … Das war Mascha Moros zu verdanken, unserer Stabsleiterin, die Kontakt zur Vereinigten Bürgerpartei (OGP) aufgenommen hatte, damit sie uns ihr Programm schickten, das ich gar nicht hatte. [Diese Leute] nahmen eine Riesenlast von mir. Es gab ja eine Menge Fragen. Wir mussten eine Stiftung gründen, damit uns die Menschen Geld für die Vorwahlkampagne überweisen konnten. Reisen organisieren, Kundgebungen. 

    Haben Sie damals zu Hause übernachtet? 

    Ich habe versucht, nicht alleine zu sein. Deshalb war ich viel bei der Familie Moros. Und wenn ich in meiner Wohnung schlief, war Mascha bei mir. Ich habe damals eine Kamera installiert, damit man mir nichts Verbotenes unterjubelt. Wie die 900.000 Dollar, die erst bei der dritten Durchsuchung unter Sergejs Couch „gefunden“ wurden. 

    Unsere Kampagne war von den Möglichkeiten her die bescheidenste. Babariko hatte ein cooles Team und genügend Ressourcen, um seine Ideen in die Tat umzusetzen. Bei uns arbeiteten einfache Menschen, getrieben von nacktem Enthusiasmus. Ich bezweifle sogar sehr, dass die Leute sich von Anfang an bewusst waren, welche Veränderungen wir wollten. Das kam erst später. Zunächst gingen alle gegen Ungerechtigkeit und Willkür auf die Straßen. Danach machte jeder seine eigene Entwicklung durch. Auch ich. 

    Ich erinnere mich an meine allererste Fahrt zu einer Kundgebung – in Dserschinsk. Ich weiß noch: Du musst dahin und auf diese Bühne. Aber meine Güte, wo bin ich, wo ist die Bühne? (lächelt) In der ersten Zeit bekam ich meine Reden geschrieben. Aber dann wurde mir klar: Etwas stimmt nicht, das ist nicht meine Art. Und ich fing an, einfach mit den Menschen zu reden. 

    Welche Städte sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?  

    Gomel – das ist meine Stadt. Und Mogiljow – dort machten wir uns Sorgen, ob überhaupt jemand kommen würde, weil das traditionell Lukaschenkos Domäne ist. Aber überall kamen die Menschen in Massen. Ich erinnere mich noch daran, wie man mich begrüßt und verabschiedet, und dass ich, ohne vollends zu verstehen, was da überhaupt passiert, einfach den Vibe der Menschen spüre und mit ihnen auf einer Welle schwimme. 

    Von wem stammt die Idee zu dem Trio: Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa, Veronika Zepkalo

    Nach eigener Aussage stammt sie von Valeri Zepkalo, aber wie es in Wirklichkeit war, kann ich nicht genau sagen. Wir drei (Veronika, Maria, Swetlana – Anm. d. Red.) haben uns getroffen und über ein ganz simples Konzept gesprochen: den Weg von jetzt an nicht mehr jede für sich zu gehen, sondern gemeinsam, und zwar unter dem Motto: „Für faire und ehrliche Wahlen“. Ich war sofort dafür. Sieben Minuten – und der Plan stand. Ich glaube, wenn ich aus irgendwelchen Gründen abgelehnt hätte, wären sie bereit gewesen, sich mit Sergej Tscheretschen zu verbünden. 

    Sind Sie jemals mit einer Achterbahn gefahren? 

    Natürlich. 

    Erinnert Sie dieser Abschnitt Ihres Lebens nicht an eine Achterbahnfahrt? 

    Nein, weil es dort unterschiedliche Abschnitte gibt: Du kriechst langsam nach oben, und dann rast du in die Tiefe. Aber 2020 hatte ich keine Möglichkeit, Luft zu holen. Alles passierte in rasender Geschwindigkeit. 

    Und dann kam der 9. August. Was hatten Sie erwartet? 

    Je näher der Wahltag kam, desto angespannter wurde die Atmosphäre im Stab. Nicht wenige unserer Anhänger waren bereits hinter Gittern. Ich hatte den Eindruck, dass das Team von Babariko keine sichtbaren Formen des Protests wollte. Sie versuchten, alles „im Rahmen des Gesetzes“ zu machen. Aber man kann die Leute ja nicht aufhalten. 

    Ich weiß noch, wie die Auszählung der Stimmen begann, und plötzlich ruft jemand im Stab, dass die erste echte Hochrechnung veröffentlicht wurde. Dann die zweite, dritte … Alle: „Wow! Unglaublich!“ Auf der einen Seite bricht Euphorie aus, und auf der anderen hörst du Schüsse. 

    Was dachten Sie persönlich, wie schätzten Sie Ihre Chancen ein? 

    In dem Moment existierte ich nicht als Person, wir waren alle wie ein Organismus. Wir gewinnen! Wir Belarussen! Als eine Nation! 

    So war die Stimmung damals … 

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  • Belarus und Russland: Propaganda aus einem Guss

    Belarus und Russland: Propaganda aus einem Guss

    Das Lukaschenko-Regime konnte sich im Jahr 2020 gegenüber den Massenprotesten im eigenen Land nur durchsetzen und den westlichen Sanktionen standhalten, weil es von Russland unterstützt wurde. Der Kreml nutzte diese rasant an Fahrt gewinnende Abhängigkeit, um das Nachbarland noch enger an sich zu binden. Dies passiert nicht nur auf wirtschaftlicher, politischer oder ideologischer Ebene. Auch in Bezug auf die Propagandaarbeit beider Regime ist eine Integration zu beobachten, vor allem wenn es darum geht, die Ukraine als Feind darzustellen.  

    Katerina Truchan vom belarussischen Online-Portal Pozirk hat diese Integration der Propaganda-Narrative analysiert.

    Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin bei einem Treffen im Kreml am 13. März 2025. / Foto © president.gov.by
    Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin bei einem Treffen im Kreml am 13. März 2025. / Foto © president.gov.by

    Seit Beginn der vollumfänglichen militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine kopiert die belarussische Propaganda bereitwillig die Manipulationsmethoden der russischen „Journalisten“. Seit nun gut drei Jahren berichtet die Staatspropaganda über den Krieg in der Ukraine durch die russische Brille, reproduziert die Narrative des Kreml und diskreditiert die Ukraine sowie den Westen. Auch der demokratisch eingestellte Teil der belarussischen Bevölkerung wird zur Zielscheibe. 

    So verwenden die Propagandisten den Kreml-Euphemismus „militärische Spezialoperation“ anstelle von „Krieg“, bestehen darauf, dass Russland sich „gegen die Nato verteidigen“ müsse und wiederholen das Mantra von den „Neonazis“. Die Ukraine wird meist als „Marionette des Westens“ dargestellt und ihre Handlungen als „Provokation gegen Russland und Belarus“. 

    Die Propaganda spielt mit den Emotionen, indem sie die Ukrainer grundlos, aber lautstark beschuldigt, der Nazi-Ideologie ergeben zu sein und die grausamsten Verbrechen zu begehen, oder indem sie Angst vor einem drohenden Krieg schürt („Entweder wir sie oder sie uns“). Die Diffamierungen finden Gehör, brennen sich über kurz oder lang ins Unterbewusstsein der Belarussen ein und zeichnen, ungeachtet aller logischen Anfechtungen, ein negatives Bild von den Nachbarn. 

    Die belarussischen Behörden berichten mit unverhohlener Freude über die Einführung neuer Waffentypen in der Armee und befeuern das Thema der Stationierung russischer Atomwaffen im Land.  

    Die Ukraine wird dämonisiert, indem man ihr den „Beschuss der friedlichen Bevölkerung im Donbass“ und den „Genozid der russischsprachigen Bevölkerung“ vorwirft. Die legitim gewählte ukrainische Regierung wird hartnäckig als „Kiewer Regime“ bezeichnet und Präsident Wolodymyr Selensky als illegitim bezeichnet, weil die ukrainischen Behörden keine Wahlen durchführen wollen, solange der Krieg andauert. Die russischen Machthaber, und in der Folge auch die Medien, nahmen dies zum Anlass zu behaupten, Selensky könne nicht länger die Befugnisse eines Staatoberhauptes haben. Dieses Narrativ wurde auch von den belarussischen Propagandisten aufgegriffen. Dass das derzeitige Verschieben der Wahlen im Einklang mit der ukrainischen Verfassung steht, verschweigen sie dabei. 

    Vermeintliche Gefahr und echte Einschüchterung 

    Gleichzeitig bedient sich die belarussische Propaganda eines eigenen Narrativs von der Gefahr eines Angriffs von ukrainischem Staatsgebiet aus, wofür sie das Kalinouski-Regiment verantwortlich zeichnen will. Die Propaganda brandmarkt nicht nur die, die in seinen Reihen die Ukraine verteidigen, sondern suggeriert auch, sie würden einen Angriff auf Belarus vorbereiten. Der Einmarsch des ukrainischen Militärs in die russische Oblast Kursk, um die Truppen des Aggressors zu binden, spielte dieser These in die Hände. In dem Propagandafilm Bessy: kak chotjat sachwatit Belarus (dt. Dämonen: Wie Belarus besetzt werden soll), der 2024 an den Start ging, verbreiten die Propagandisten das Narrativ, die „Söldner“ hätten angeblich vor, Belarus vom Staatsgebiet der Ukraine sowie der europäischen Nachbarländer anzugreifen. 

    Der Streifen besteht aus einer Aneinanderreihung von bedrohlichen blutigen Landkarten, auf denen okkupierte belarussische Territorien dargestellt werden, und aus Bildern vom friedlichen belarussischen Leben, sauberen Städten, ordentlichen Straßen und Auftritten von Alexander Lukaschenko, dem es, wenn man den Propagandisten glauben darf, allein zu verdanken ist, dass im Land noch Frieden herrscht. Die Tatsache, dass derselbe Lukaschenko 2022 Russland sein Territorium für den Angriff auf die Ukraine zur Verfügung gestellt hat und die militärische Aggression des „großen Bruders“ gegen einen souveränen Staat bis heute unterstützt, wird natürlich gekonnt umschifft. 

    Um die Kämpfer des Kalinouski-Regiments zu dämonisieren, benutzt die Propaganda sowohl Kämpfer der Einheit als auch ukrainische Militärangehörige. So zum Beispiel den ehemaligen Soldaten des Regiments Wassil Werameitschik, der aus Vietnam ausgeliefert wurde, oder Maksim Ralko, der bei seiner Rückkehr nach Belarus an der polnischen Grenze festgenommen wurde. Letzterer wurde von den Propagandisten mehrfach vor laufender Kamera gezwungen, die angeblichen Pläne des Kalinouski-Regiments „offenzulegen“, dass sie vorhaben ins belarussische Hoheitsgebiet einzudringen (TV-Sender ONT, 20. November 2024); ein anderes Mal musste er sagen, die Belarussen, die aufseiten der Ukraine kämpfen, seien allesamt Drogenabhängige und Kriminelle (ONT-Sendung vom 6. April 2025). 

    Werameitschik, der auf Ersuchen des belarussischen KGB ausgeliefert wurde, wiederholt in einem Beitrag (25. Januar 2025, Belarus 1) die Thesen der Propaganda über die „Strategie zur Befreiung von Belarus‘“, die angeblich mit Unterstützung der Geheimdienste Litauens, Polens und der Ukraine entwickelt wurde: Dabei soll nach einem Einmarsch vom Gebiet der Ukraine aus die bewaffnete Okkupation eines Teils von Belarus bei Brest und Malorita (Oblast Brest) stattfinden. 

    Derartige Aussagen, die vor den laufenden Kameras der Propagandisten gemacht werden, dürfen weder ernst genommen noch als Tatsachenberichte angesehen werden. Sie werden erzwungen; die Gefangenen befinden sich in einer ausweglosen Lage und sind in der Gefangenschaft nicht nur Druck, sondern auch Folter ausgesetzt. 

    Beispiele von Manipulation und offenkundigen Fakes 

    Bei der Auswahl der Themen für die Manipulation fällt eine gewisse Wahllosigkeit der belarussischen Propaganda auf. Wenn sie die Beiträge ihrer russischen Kollegen reproduziert, gibt sie oft nicht nur zweifelhafte Daten, sondern regelrechte Lügen wieder. 

    Pozirk hat zahlreiche Fakten gesammelt, wie das Ukraine-Thema eingesetzt wird, bei der die belarussische Propaganda zum Sprachrohr für die Verbreitung unverhohlener Lügen der russischen Medien wurde. Oft dienen die Themen dazu, die Ukraine lächerlich zu machen oder in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. 

    Im November 2024 berichtete die lokale Propaganda, dass Donald Trump aus der ukrainischen Datenbank Myrotworez (dt. Friedensstifter) entfernt worden sei. Die Nachricht, die zunächst von der offiziellen Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa verbreitet wurde, gelangte schließlich auch in die belarussischen Staatsmedien. 

    „Trump hatte versprochen, das Ukraine-Problem innerhalb von 24 Stunden zu lösen: ‚Ich werde anrufen und einen Deal aushandeln.‘ Etwas zu versprechen ist natürlich das Eine. Man kann es Kyjiw befehlen, zumal sie dort Trump bereits eilig von der Liste der Friedensstifter gestrichen haben, auf der die Feinde der Ukraine geführt werden“, sagte Anatoli Sankowitsch von ONT in der Sendung Kontury. Allerdings wurde die Nachricht über Trumps Aufnahme in die Datenbank bereits 2018 von denselben russischen Propagandamedien verbreitet. Das Projekt Myrotworez selbst dementierte das damals, und es konnten keine Spuren eines Eintrags zum amerikanischen Politiker gefunden werden. 

    Die Propaganda versucht, aus der Ukraine einen aggressiven und prinzipienlosen Feind zu machen. 

    Im Dezember letzten Jahres erklärte die belarussische Propaganda, die Ukraine plane eine Ausweitung der Mobilmachung. Zuvor hatten die russischen Propagandamedien darüber berichtet. „Es ist bereits bekannt, dass die Ukraine einen neuen, ausgeweiteten Mobilisierungsplan für 2025 verabschiedet hat. Offenbar will Selensky den Krieg unter Trump fortsetzen, solange genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Wahlen möglichst lange hinauszuzögern. Oder er will Trump dazu bringen, ihn in die NATO aufzunehmen, um den Krieg schnell zu beenden und als ‚Sieger über Russland‘ in die Wahlen zu gehen“, sagte die Moderatorin der Sendung Nedelja (dt. Woche) Olga Korschun auf CTV

    Dabei wurde die Mobilmachung und das Kriegsrecht in der Ukraine bereits am 10. November 2024 routinemäßig um weitere 90 Tage bis zum 7. Februar 2025 verlängert. Gleichzeitig wurde im Land über die Möglichkeit einer Herabsetzung des Wehrpflichtalters diskutiert. 

    Die Verunglimpfung der Ukraine, aus der die Propaganda einen aggressiven und prinzipienlosen Feind zu machen versucht, äußerte sich auch darin, dass die belarussischen Staatsmedien, den russischen auf dem Fuße folgend, eine ukrainische Spur beim Absturz des aserbaidschanischen Flugzeugs am 25. Dezember 2024 in der Nähe der kasachischen Stadt Aktau ausmachten (an Bord der Passagiermaschine Embraer-190 der Azerbaijan Airlines, die von Baku nach Grosny unterwegs war, befanden sich 67 Menschen, 38 von ihnen starben). 

    „Der Rumpf der Embraer-190-Maschine von Azerbaijan Airlines weist Einschlagspuren auf. Diese Tatsache macht die Version eines Angriffs durch ukrainische Drohnen wahrscheinlich. Laut Medienberichten war Grosny am selben Morgen von mehreren Drohnen angegriffen worden“, sagte Igor Posnjak, Moderator der Sendung Nowosti. 24 Tschasa (dt. Nachrichten. 24 Stunden) auf CTV

    Wladimir Putin entschuldigte sich zwar bei der aserbaidschanischen Seite, ohne allerdings einzuräumen, dass das Flugzeug von der russischen Luftabwehr getroffen wurde. Unabhängige Experten, deren Stellungnahmen von liberalen russischen Medien veröffentlicht werden, sind sich einig, dass das Flugzeug wahrscheinlich von einer Flugabwehrrakete getroffen wurde und eine Schuld der Ukraine somit praktisch ausgeschlossen ist. 

    Im Januar sagte die belarussische Propaganda ernste Probleme für Europa voraus, wenn der russische Gastransit durch die Ukraine gestoppt würde. Diese Botschaft wird häufig auch von den russischen Medien verbreitet, die davon überzeugt sind, dass ganz Europa ohne russisches Gas einfrieren wird. „Bald wird sich nicht nur das nicht anerkannte Transnistrien, sondern auch die hochentwickelten europäischen Wirtschaften entscheiden müssen, ob sie zu viel bezahlen, mit Holz heizen oder frieren wollen“, behauptete Swetlana Karulskaja, eine russische Mitarbeiterin von ONT

    Es sei angemerkt, dass die Gaspreise wirklich über denen der Vorkriegszeiten liegen, was Europas Wirtschaft belastet, während die Einnahmen der Ukraine geschrumpft sind. Kein einziges Land in Europa ist jedoch ohne Gas geblieben, nachdem der Transit eingestellt worden ist. Die EU hat sich faktisch vom russischen Gas verabschiedet: Während der Anteil 2021 noch bei 40 Prozent gelegen hatte, betrug er 2023 nur noch acht Prozent und 2025 noch fünf. Das russische Unternehmen Gazprom leidet unter dem Verlust des hochprofitablen europäischen Marktes; 2024 schrieb es rote Zahlen, es sind Entlassungen im Gange. 

    Am 19. Februar verbreitete die Staatspropaganda Falschnachrichten über den Ausverkauf von ukrainischen Ländereien weiter. „Rund 30 Prozent des ukrainischen Territoriums gehört nicht mehr Kiew. Es wurde verkauft“, erklärte Olga Dawydowitsch von Perwy informazionny (dt. Erster Informationskanal). Damit reproduzierte sie ein Fake, das 2024 in Russland erfunden wurde: Demnach würden Ausländer massenweise Land in der Ukraine aufkaufen. In Wirklichkeit ist in der Ukraine der Verkauf von Landwirtschaftsflächen an ausländische Investoren per Gesetz verboten. Zu den zehn größten Eigentümern gehören ausschließlich ukrainische Unternehmen. Später im selben Monat beschloss die belarussische Propaganda, über etwaige „kommerzielle Interessen“ der EU in der Ukraine zu berichten und nannte als Quelle für diese Erkenntnisse „ukrainische Telegram-Kanäle“. Doch auch das erwies sich als Fake. 

    Kreml-Drahtzieher hinter „ukrainischen“ Kanälen 

    „Europa, das gerade darüber diskutiert, ob es 30.000 Friedensstifter in die Ukraine schicken soll, verteidigt nicht die Ukraine, sondern seine eigenen kommerziellen Interessen. Als Bezahlung für seine Dienste wird es einen Anteil an ukrainischen Aktiva fordern, wie ukrainische Telegram-Kanäle berichten“, meldete Jekaterina Tichomirowa von Perwy informazionny

    Als Quelle führte sie einen Screenshot aus dem Telegram-Kanal Legitimny (dt. Legitim) an. Noch 2021 hatte der ukrainische Sicherheitsdienst SBU allerdings ein Netz von Kanälen aufgedeckt, hinter denen der russische Geheimdienst steckt. Darunter war auch der besagte Kanal Legitimny, dessen Administratoren zu diesem Zeitpunkt in der selbsternannten Republik Transnistrien saßen. 

    Ende Februar warf die Staatspropaganda Wolodymyr Selensky vor, die Verhandlungen zwischen den USA und Russland mithilfe der „belarussischen Bedrohung“ zu unterminieren. „Die dritte und bizarrste Möglichkeit, die Gespräche scheitern zu lassen, ist der Versuch, Trump davon zu überzeugen, dass Belarus eine potenzielle Bedrohung darstellt“, sagte CTV-Mitarbeiter Andrej Lasutkin. Er argumentierte unter anderem, dass die Ukrainer nach einem Drohnenangriff auf den Sarkophag von Tschernobyl Russland und Belarus beschuldigt, dann ein Fake-News-Video dreht und Selensky ausgerechnet mit dieser Nachricht seine Rede in München beginnen lässt. 

    Es stellte sich allerdings heraus, dass Lasutkin die Version der russischen Propaganda wiederholte, die gleich nach dem Angriff auf das Kernkraftwerk kursiert hatte. Mit einer Nuance: Nicht einmal in den russischen Quellen wird Belarus als verantwortliche oder irgendwie betroffene Partei genannt. Nach Angaben der Ukraine, die sie mit Bildmaterial bestätigt, wurde der Angriff von einer russischen Drohne ausgeführt. Die Löscharbeiten im Kernkraftwerk von Tschernobyl dauerten drei Wochen lang. So verbreiteten belarussische Propagandisten anschließend in wöchentlichen Nachrichtensendungen im ganzen Land glatte Lügen, die in Russland erfunden wurden, um die Wahrnehmung der Menschen von der Ukraine zu manipulieren. 

    Die Ukraine in Dauerschleife 

    In einem Ende 2024 veröffentlichten Bericht (Mapping Belarusian Propaganda, erstellt mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung) konnten die Autoren Marat Lesnov und Lesya Rudnik zeigen, dass fast die Hälfte des Contents staatsnaher Informationsquellen der Ukraine gewidmet ist. 

    Wie eine Analyse von Pozirk zeigt, wurde die Ukraine auf dem Telegram-Kanal des größten regierungsloyalen Mediums, der Zeitung SB. Belarus Today 10.300 Mal, das „brüderliche“ – so die offizielle Rhetorik in Minsk – Russland etwas mehr als 11.000 Mal, Lukaschenko nur knapp häufiger, nämlich 12.200 Mal, und Belarus 33.200 Mal erwähnt. Für ein Medium, das, wie man meinen würde, vor allem die Innenpolitik im Blick haben sollte, ist die „ukrainische Frage“ ziemlich beliebt. Allein zwischen dem 1. und dem 10. April kam das Thema Ukraine im besagten Telegram-Kanal mehr als 40 Mal auf. 

    Selbst bei Wirtschaftsthemen bleiben Verdrehungen und glatte Lügen nicht aus. So berichtete die SB am 9. April: „Die Ukraine stiehlt belarussisches Eigentum. Aber eines Tages wird sie dafür bezahlen müssen … An fremden Früchten kann man auch ersticken … Erst neulich hat die Ukraine wieder einmal ihr wahres Gesicht gezeigt: Eine Partie beschlagnahmter Düngemittel von Belaruskali wurde im Wert von etwa einer Million Dollar verkauft.“ 

    Dabei war bereits am 6. Februar 2023 bekannt geworden, dass die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft 170 Eisenbahnwaggons mit Mineraldünger im Wert von rund 100 Millionen Hrywnja (zu diesem Zeitpunkt über 2,7 Millionen US-Dollar) beschlagnahmt hatte. Es wurde gesagt, dass die Ladung von Belaruskali und dem russischen Unternehmen Uralkali stammte. Weiterhin hieß es, dass die belarussischen und russischen Kalisalze „in Drittländer transportiert werden sollten, um mit dem Verkauf Millionengewinne zu erzielen“, wobei ein Teil des Erlöses „in Form von Steuern zur Finanzierung des russischen Kriegs gegen die Ukraine“ fließen sollte. Später wurde erklärt, dass die Düngemittel verkauft und das Geld zur Stärkung der ukrainischen Wirtschaft und Verteidigung verwendet werden würde. 

    Von ukrainischer Seite war wiederholt festgestellt worden, dass das belarussische Unternehmen mit seinen Aktivitäten „den Krieg gegen die Ukraine durch finanzielle und wirtschaftliche Beziehungen zu Rüstungsunternehmen der Russischen Föderation und den Besatzungsverwaltungen der selbsternannten DNR und LNR befördern“ würde. Diese Tatsachen verschweigt die belarussische Propaganda, wenn sie über das „wahre Gesicht“ der Ukraine schreibt. 

    Für Lukaschenkos Medien ist die Ukraine insgesamt zu einem der wichtigsten Nachrichtenanlässe geworden. Die Themen Krieg, Korruption, Waffenlieferungen, der Wahlsieg Trumps und seine Äußerungen zur Ukraine helfen der Propaganda, Content zu erzeugen, der Zwietracht, Feindseligkeit und Hass gegenüber dem Nachbarland und seiner Bevölkerung schürt. Das geschieht in Analogie zu den russischen Medien, die schon viel früher mit „Entmenschlichung“ der Ukrainer begonnen haben – noch vor der Krim-Annexion 2014. 

    Um das gewünschte Feindbild einer schwachen, vom Westen abhängigen Ukraine zu schaffen, bedient sich die Propaganda auch der Hilfe von „Experten“, die entweder die Thesen ihrer russischen „Kollegen“ wiederholen oder einfach schlicht russische „Analytiker“ sind. Ihre Arbeit besteht dabei darin, die Situation einseitig zu „analysieren“ und Fakes zu reproduzieren. Auf diese Weise wird das Thema Ukraine in Belarus, in dem es keine unabhängigen Medien mehr gibt und man für „unbequeme“ Themen ins Gefängnis wandern kann, extrem einseitig beleuchtet. Gleichzeitig ist es für Belarussen buchstäblich physisch gefährlich, die Ukraine zu unterstützen. 

    Laut einer Erhebung der Menschenrechtsorganisation Wjasna, die nicht als erschöpfend gelten kann, wurden in Belarus bis zum 24. Februar 2025, also in den drei Jahren der anhaltenden Aggression, insgesamt mindestens 209 Personen, darunter 38 Frauen, wegen Unterstützung der Ukraine verurteilt: 41 Personen aufgrund von Spenden, mindestens 30 – weil sie auf Seiten der Ukraine kämpfen wollten. 

    Media IQ über die Verschmelzung von belarussischer und russischer Propaganda 

    Pawljuk Bykowski, leitender Wissenschaftler des Projekts Media IQ, bezieht sich bei seinem Kommentar gegenüber Pozirk auf die Monitoring-Berichte von Media IQ und seinen Beitrag „A Loss of Media Sovereignty: Synchronisation of Belarusian and Russian Propaganda after 2020“ zur Monographie Russian Policy towards Belarus after 2020: At a Turning Point? 

    „Die Beobachtungen, die Pozirk in seiner Analyse macht, bestätigen weitgehend unsere eigenen“, sagt Bykowski. „2022 verzeichneten wir bei Media IQ eine stetige Synchronisierung der belarussischen und russischen Propagandamaschinen. Wir können aber nicht sagen, dass sich die eine der anderen direkt unterordnet. Es ist eher wie bei einem Trittbrettfahrer: Wenn die Interessen übereinstimmen oder zumindest nicht im Widerspruch zueinander stehen, springt das belarussische Regime bereitwillig auf die Narrative des Kreml auf und verbreitet sie weiter, vor allem im Hinblick auf die ideologische Rechtfertigung des Krieges gegen die Ukraine.“ 

    „Nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2020 und den anschließenden Massenprotesten hat sich das offizielle Minsk von dem früher deklarierten Kurs auf Informationsneutralität verabschiedet und ist dazu übergegangen, sich verstärkt in das russische Informationsfeld zu integrieren. Besonders deutlich zeigte sich das in der Berichterstattung zu der vollumfänglichen russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022. Die belarussischen Staatsmedien haben faktisch der Neutralität den Rücken gekehrt und angefangen, sich der Rhetorik und den Methoden der russischen Propaganda zu bedienen, was aus unserer Sicht eines der Kriterien für Informationssouveränität ist“, betont der Experte. 

    „Nichtsdestotrotz demonstrierte die belarussische Propaganda in einer Reihe von Fällen eine vorsichtige Distanz zum militärischen Bereich, indem sie die Akzente zum Beispiel auf humanitäre Themen setzte oder der Tatsache, dass sich die belarussische Armee nicht an den Kriegshandlungen beteiligt“, merkt er zugleich an. „Das zeigt, dass die belarussische Seite selbst im Rahmen der Synchronisation einzelne eigene Linien verfolgt, die ihren eigenen taktischen Interessen entsprechen.“ 

    „Äußerst wichtig bleibt dabei, wer die Wahrnehmung des Krieges in der Öffentlichkeit prägt. Nach Angaben von Chatham House und iSANS lehnen 94 Prozent der Konsumenten unabhängiger Medien den Krieg ab, während 61 Prozent der Konsumenten staatlicher Medien die russische Aggression unterstützen. Dieser Kontrast zeigt, wie sehr die Informationsquellen zum entscheidenden Faktor für die Einstellung zu Fragen von Frieden und Sicherheit werden“, betont Bykowski.    

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  • Der Zielaufklärer

    Der Zielaufklärer

    Die russische Oblast Belgorod ist ein zentraler Umschlagplatz für Waffen und Truppen auf ihrem Weg in den Angriffskrieg gegen die benachbarte Ukraine. Die Region ist gut an Rest-Russland angebunden und hat sich schon im Vorfeld des russischen Überfalls zu einem logistischen Knotenpunkt und einer wichtigen Nachschubbasis für die Invasion entwickelt.  

    Die Zerstörung der russischen Nachschub- und Logistikinfrastruktur gehört zu den verteidigungsstrategischen Prioritäten der ukrainischen Streitkräfte: Der Gegner ist zahlen- und waffenmäßig überlegen und scheut keine Verluste, Angriffe auf Nachschubstrukturen helfen der Ukraine, sich dieser Übermacht zu erwehren. Hinzu kommt, dass die russischen Truppen in der Region systematisch ukrainische Städte beschießen, vorwiegend in der Oblast Charkiw. Vor allem aus diesen Gründen ist die Region Belgorod zu einer wichtigen Zielscheibe ukrainischer Gegenangriffe geworden. Satelliten und Drohnen können dabei die Koordinaten liefern, aber auch (pro-)ukrainische Partisanen vor Ort betreiben Zielaufklärung.

    Einen solchen Zielaufklärer hat Viktoria Litwin zufällig kennengelernt. Für die Novaya Gazeta Europe hat sie mit ihm darüber gesprochen, wie er den Krieg dorthin zurückbringt, wo er herkommt – und wie er mit zivilen Opfern auf dem Gewissen umgeht. 

    Die Folgen des Beschusses eines Öldepots in Belgorod, 1. April 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Die Folgen des Beschusses eines Öldepots in Belgorod, 1. April 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Nahe der russischen Botschaft in Warschau ist ein Nawalny-Denkmal errichtet. Ich gehe mit einer Freundin hin, von dem Foto schaut uns ein lachender Alexej an. Das Wetter ist feucht, manchmal fällt Schnee und taut gleich wieder. Ich bin aus Belgorod, meine Freundin aus Moskau, sie ist Aktivistin. 

    „Weißt du, bei uns in Belgorod hat der Bürgermeister nach Nawalnys Verhaftung mal zu einem Journalisten gesagt, es sei nichts gegen oppositionelle Demos einzuwenden. Das kann man sich jetzt kaum noch vorstellen.“ 

    Etwas abseits bemerke ich einen großgewachsenen Typen in Springerstiefeln und khakifarbenen Hosen. Er scheint schon eine Weile hier zu stehen und als er mich hört, dreht er sich erstaunt um. 

    „Du bist auch aus Belgorod?“, fragt er mich. Ich nicke. 

    „Hier, schau mal“, sagt er und holt etwas aus seiner Hosentasche. Es entpuppt sich als eine Flagge der „Volksrepublik Belgorod“ – so wird die Oblast Belgorod scherzhaft von Aktivisten genannt, in Anlehnung an die „Volksrepublik Donezk“. Viele meiner Bekannten in Belgorod machen Witze über die BNR, obwohl natürlich niemand von ihnen von einer „Dekolonisierung“ träumt oder Flaggen druckt. 

    Wir stellen uns vor. Finden schnell heraus, dass wir gemeinsame Bekannte haben. Auf einmal verkündet er: „Weißt du, fast alles, was jetzt in der Oblast Belgorod einschlägt, geht auf meine Kappe.“ Ich war bei vielen Einschlägen, von denen er erzählt, vor Ort und habe fast über alle geschrieben. Und jetzt steht ein Typ vor mir, der mir ohne Umschweife erklärt, dass das sein Verdienst ist – Brände, eingeschlagene Fenster, niedergebrannte Häuser und ihre toten Bewohner. 

    Ich vereinbare einen Interviewtermin. 

    Als wir uns treffen, bestellt er im nahegelegenen Café einen Cappuccino und ein süßes  Brötchen. 

    „Wie bist du dazu gekommen?“ 

    Er nippt an seinem Kaffee, beißt vom Brötchen ab und setzt zu seinem vierstündigen Bericht an. 

    Aktivist 

    „Als ich in die Politik gegangen bin – das war 2011 – war ich noch in der Schule. Ich habe einen Auftritt von Udalzow gesehen. Damals hat er auf der Bühne ein Porträt von Putin zerrissen. Ich wusste, dass Putin ein Arsch ist, weil er an der Militäroperation in Georgien beteiligt war. Ich kannte ein paar Georgier, und mir war schon damals klar, dass Russland der Besatzer ist. Und hier steht einer, der das Porträt von diesem allgegenwärtigen, allmächtigen Putin zerreißt. Das hat mich sehr beeindruckt. 

    Dann begann der Maidan. Ich schrieb im Gruppenchat an meine Freunde, die politisch ähnlich tickten: ‚Seht euch mal den ukrainischen Maidan an, das ist auch für Russland eine Chance.‘ Und die schrieben zurück: ‚Das sind doch alles Banderowzy, Nazis, die hassen uns Russen.‘ 

    Einer meiner Bekannten ist sogar in den Donbas kämpfen gegangen, noch 2014. Ich war schockiert, ich dachte bis dahin, er wäre vernünftig. 

    Ich habe mich von diesen Leuten distanziert, bin fast ganz raus aus dem politischen Aktivismus in Russland. 

    Ich habe die Ukraine immer geliebt, war oft in Charkiw. Das war wie eine zweite Heimat für mich. Aber die meisten meiner Bekannten erzählten, dass die Ukraine Gas stehlen würde, dass sie kein richtiger Staat sei, sondern ein erfundenes Konstrukt, und die ukrainische Sprache nur ein verunstaltetes Russisch. So was sagten sie …“ 

    Allmählich nähert sich seine Erzählung dem Jahr 2022 – und da bekomme ich eine filmreife Geschichte darüber zu hören, wie er anfing, mit den ukrainischen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten. 

    Mein Gesprächspartner hatte unmittelbar vor dem Krieg als Taxifahrer und Verkaufsvertreter gearbeitet. Als 2022 in den Grenzgebieten Truppen zusammengezogen wurden, beschloss er, Informationen darüber zu sammeln und sie den ukrainischen Geheimdiensten zuzuspielen. Dann brauchte ein russischer Hauptmann ein Taxi nach Belgorod, der fragte wiederum, ob er mal „ein paar Jungs anrufen könne“, und so ging es los. 

    Mein Gesprächspartner erzählt detailliert, wie er betrunkene Militärs in die Sauna fuhr, wie er ihre Gespräche heimlich mitschrieb und einen Haufen Geheiminformationen bekam. 

    „Es war vor allem dieser Hauptmann, der mir diese ganzen Jungs vermittelt hat: Wenn der bei mir im Auto saß, faselte er über Gott und die Welt! Ich schaltete manchmal sogar das Diktiergerät ein, und er merkte es gar nicht …“ 

    Für die beschafften Informationen wurde mein Gesprächspartner nach eigener Aussage von den Ukrainern bezahlt. Sein „Honorar“ – tausend Dollar – hätten sie auf russischer Seite nahe der Grenze vergraben und ihm dann die Koordinaten mitgeteilt. 

    „Dann habe ich alles stehen und liegen gelassen und bin weg“, setzt er seinen Bericht fort. „Ich hatte eine Abmachung mit den ukrainischen Jungs, denen ich half. Am 18. Februar hörte ich, dass in der DNR und LNR eine Massenevakuierung und Mobilmachung ausgerufen wurde. Da beschloss ich zu fliehen.“ 

    Die Redaktion konnte die Aussagen nicht überprüfen. Unser Gesprächspartner erklärte, er habe beim Grenzübertritt fast alle Daten von seinem Handy gelöscht und könne uns deshalb weder die Chats noch die Diktieraufnahmen zeigen. Das erscheint durchaus plausibel. 

    Uns wurde allerdings bestätigt, dass er wirklich in Belgorod als Taxifahrer gearbeitet und in jenen Tagen mindestens ein Video aus einer Grenzsiedlung in den sozialen Netzwerken gepostet hat. Er konnte uns auch den Nachnamen eines der Militärs nennen, der damals nach Belgorod versetzt wurde – und wir haben dessen Account in den sozialen Netzwerken gefunden. Außerdem kannte er Koordinaten von Militärstützpunkten. 

    Rauch nach dem Beschuss des Umspannwerks „Lutsch“ 14. Oktober 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Rauch nach dem Beschuss des Umspannwerks „Lutsch“ 14. Oktober 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Wahr ist sicher auch, dass er nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion die Koordinaten der russischen Objekte den Ukrainern zuspielte. 

    Und da ist noch eine Tatsache, die ich nicht anzweifle: Mein Gesprächspartner hat ein enormes Bedürfnis, Aufmerksamkeit zu bekommen. Und ich möchte meinerseits verstehen, wie und warum man bei Beschüssen von Zivilisten mitmachen will. 

    Schuss und Treffer 

    „Am 24. Februar erklärte Putin den Krieg, sie gingen auf Charkiw los“, setzt der Spitzel fort. „Eine Flut von Videos, Mitschnitten. Und da begann dann meine Arbeit mit OSINT. Ich ermittelte anhand von Karten, zufälligen Videos und aus dem Gedächtnis, wo die Technik steht. Diese Information übermittelte ich den ukrainischen Geheimdiensten.“ 

    Er zählt eine lange Liste von Attacken auf, an denen er beteiligt gewesen sein will. Zum Beweis zeigt er mir Chats mit seinen ukrainischen Kontaktmännern, in denen er die Koordinaten teilt, die später beschossen werden würden. 

    „Ich glaube, dass genau dadurch [durch den Beschuss eines Erdöllagers, der dazu führte, dass der Armee der Treibstoff ausging – NG] die Offensive auf Charkiw vereitelt wurde“, sagt er. „Dort befanden sich alle Vorräte. Ich habe ihnen [den Ukrainern – NG] alles praktisch bis auf den Meter genau beschrieben: was, wo, wie.“ 

    Besonders ausführlich beschreibt er, wie genau er in der Oblast Belgorod Informationen sammelt, die er an die ukrainischen Sicherheitsdienste weitergibt. Er erinnert sich zum Beispiel an ein TikTok-Video, das Kolonnen von russischer Kriegstechnik an einem gut erkennbaren Ort zeigte. Dieses Video hatte ein Taxifahrer gedreht: „Er wusste nicht, dass es Leute gibt, die alle Punkte in der Region Belgorod zuordnen können.“ 

    „… Auch eine Operation, die unmittelbar auf uns zurückgeht: Als russische Reporter in Schurawlewka-Nechotejewka filmten, konnte man sehen, wo die Russen stationiert waren. Viele russische Stellungen wurden also von russischen Journalisten und Reportern selbst verraten.“ 

    Während er diese endlose Liste von Angriffen auf die Oblast Belgorod aufzählt, sagt er plötzlich: „Wir erstellten eine eigene ‚Schindlers Liste‘. Das war so ein Witz. Schindler hat ja alle gerettet, aber wir knallten alle ab. Das fanden wir lustig. Auf dieser Liste standen alle Erdöllager, sämtliche Umspannwerke, Fernsehmaste. Plus, wir wussten, dass der Gouverneur der Oblast Belgorod im Dorf Nishni Olschanez wohnt. Dieser Gladkow ist der letzte Vollidiot, er postet oft Videos, wie er morgens seine Joggingrunde dreht. Dann haben wir auch noch die Seiten von seiner Frau und seiner Tochter gefunden. Da beschlossen wir also, Gladkow ins Visier zu nehmen, der ist nämlich ein echter Gauleiter, ein Nazi. Und das haben wir gemacht.“ 

    Ich bestätige: Im November 2022 wurde Nishni Olschanez tatsächlich beschossen. Zwei Menschen wurden verletzt. Gladkow war nicht dabei. 

    Oskol 

    „… Ich habe eine Operation entwickelt, um das Stahlwerk in Oskol lahmzulegen. Es ist eines der größten Werke in Russland zur Herstellung von legiertem Stahl – hochwertigem Stahl, der vom Militär verwendet wird. 

    Die Informationen zu diesem Werk stammen aus dem Open Source: Ein Student hat dort ein Praktikum absolviert und eine umfangreiche Hausarbeit über den Aufbau der Anlage geschrieben, das war noch vor dem Krieg. Wie das Werk funktioniert, über alle Systeme, wo sich was befindet. Es gab eine Menge solcher Fakten, die sehr hilfreich waren. 

    Unsere Idee war, den Strom zu kappen, damit der Stahl in den Öfen aushärtet und diese dadurch unbrauchbar werden. Die Wiederherstellung kostet sehr viel Zeit.” 

    Der Zielaufklärer entsperrt wieder sein Handy, das auf dem Tisch liegt, und sucht in seinen „Rapports“ – so nennt er seine Meldungen – nach diesem Plan. Er findet den richtigen Chat und zeigt ihn mir. Der Text ist auf Ukrainisch, ich überfliege ihn und verstehe, dass es wirklich um diesen Angriff geht. Flächenangaben, lauter Koordinaten, ein paar Karten mit bunten Markierungen und das Datum, an dem die Nachricht gesendet wurde: 26. Januar 2024. Der Angriff selbst wird am 23. März 2024 stattfinden. „… Außerdem fand der Militärnachrichtendienst Saboteure, die auf dem Gelände der Nebenstellen Sprengsätze auslegten. Es war ein kombinierter Angriff, sozusagen. Wir haben die Fabrik neutralisiert, aber leider keine Ahnung, für wie lange.“ 

    „Augen“ 

    „Sogenannte Augen werden an Ort und Stelle bezahlt, ja. Obwohl es auch Freiwillige gibt, die sich unentgeltlich engagieren. Die sagen, sie wollen nichts verdienen, sie nehmen nur die Fahrtkosten, also Benzingeld, mehr nicht. Ich bekomme momentan auch nichts bezahlt. 

    Alle unsere Freiwilligen wissen, für wen sie arbeiten. Alle wissen das, es ist kein Geheimnis …“ 

    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Im Laufe unseres Gesprächs bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass die ukrainischen Geheimdienste auf dem Gebiet der Oblast Belgorod sehr breit aufgestellt sind. Das wundert mich, denn seit den ersten Kriegstagen spüren die Bewohner der Grenzregion unter ihren Bekannten und Nachbarn „Verräter“ auf. So war es sogar für Journalisten schwierig, in die grenznahen Dörfer zu gelangen: Die Einheimischen, die „schon immer hier leben und alle persönlich kennen“, melden jeden mit einer Kamera sofort den Behörden oder gleich dem FSB. Auch Flüchtlinge aus der Ukraine haben kein leichtes Spiel. Insofern ist es eigentlich sehr gefährlich, in der Oblast Belgorod als Partisan zu agieren. 

    Doch mein Gegenüber breitet ein ganzes Panorama einer riesigen Partisanenbewegung vor mir aus.  

    „Wir haben auch für Anschläge auf den FSB unterstützt, dabei wurden sogar dessen Mitarbeiter verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs hatten sie gerade eine Lagebesprechung zur Oblast Belgorod: Es war Ende Mai 2023, das Russische Freiwilligenkorps und die Legion stießen in [die russische Grenzstadt – dek] Grajworon vor. Und die FSB-ler, diese Deppen, luden zu einer Besprechung direkt in ihr Büro. Wo sie dann auch ein schöner Gruß aus der Luft erreichte. Unsere Männer behielten damals das Gebäude im Visier und sahen, wie mehrere Krankenwagen von da losfuhren. Ja, und auch wenn das den FSB-lern überhaupt nicht schmeckt, es gibt unter ihnen einfach welche, die uns zuarbeiten. Manche haben eben echt Mitleid mit der Ukraine und wollen helfen.  

    Das mit dem 30. Dezember und dem Beschuss von Belgorod ist sowieso interessant“, setzt er fort. Er meint einen tragischen Vorfall im Jahr 2023 mit 25 Toten und über hundert Verletzten. „Unsere Partisanen hatten herausgefunden, dass über einen lokalen Flughafen S-300-Raketen in die Oblast Belgorod gebracht werden, nämlich mit regulären Flügen aus anderen Regionen. Wir wussten außerdem, dass sich die Abschussrampen direkt neben dem Flugplatz befinden, außerhalb von Belgorod nahe Schopino und Nowosadowo. Dementsprechend wollten wir auf diese Ziele feuern: Die Ukraine versuchte, mit Raketenwerfern den Flughafen und die Abschussrampen zu zerstören. Südlich von Belgorod flogen dann Panzir-Abwehrraketen (der russischen Armee) hoch, um diese Raketen abzufangen. Der Panzir ist so ein System, das nicht die Rakete selbst zerstört, sondern auf ihren Antrieb zielt. Das heißt, die Raketen fliegen über Belgorod, der Panzir zerschießt ihnen den Antrieb, und sie fallen den Belgorodern auf die Köpfe.“  

    Während ich mit ihm spreche, erinnere ich mich, wie ich an jenem schrecklichen 30. Dezember langgezogenes Tuten im Telefon hörte. Auf meinem Display stand „Mama“, außerdem war da ein Foto mit einem Geschoss vor dem Gebäude, in dem sie arbeitete.  

    Meine Mama hob ab, sie hatte an dem Tag frei. Ich kenne aber auch Leute, deren Angehörige nicht mehr abhoben. 

    Der Zielaufklärer spricht weiter: 

    „So hat sich Putins Armee hinter der eigenen Bevölkerung verschanzt. Wenn du mich fragst, ist das ein Verbrechen. Wenn die Ukrainer es auf die Zivilisten abgesehen hätten, dann hätten sie doch flächendeckend Dubowoje beschossen, da wohnen die reichsten Leute der Oblast Belgorod, und die Bevölkerungsdichte ist ziemlich hoch.“  

    Oblast verlassen 

    Am 1. Juni 2023 war ich in Schebekino und schrieb an einer Reportage. Später meldeten die Behörden der Oblast Belgorod, dass an jenem Tag 850 Geschosse auf das Stadtgebiet gefallen seien: Ich erinnere mich, wie mich ein Einheimischer ins Stadtzentrum mitnahm, wo ich zerstörte Häuser fotografierte. Es kamen drei Raketen angeflogen, dann war da ein Sausen und Pfeifen, und ein paar Sekunden später lagen Grad-Geschosse zwanzig Meter von uns entfernt verstreut. Weiter erinnere ich mich nur bruchstückhaft: Ich laufe die Straße entlang, überall Glasscherben und Mauerschutt. Am Horizont steigen Rauchsäulen in die Höhe.  

    Als ich den Zielaufklärer nach Schebekino frage, setzt er genauso sachlich fort: „An Schebekino haben wir lange herumgedacht, weil wir wussten, dass die russische Armee im Maschinenbauwerk ihr Kriegsgerät reparierte. Das Krasseste war aber, wie Schebekino Ende 2022 mit Granaten beschossen wurde und die Schäden eindeutig darauf hinwiesen, dass sich da die russischen Truppen selber beschossen hatten.“ 

    Ich glaube ihm das nicht. Er überschüttet mich mit den technischen Spezifikationen der Geschütze, weiß noch auswendig, wie weit sie flogen und wie viel Zerstörungskraft jede einzelne hatte. Wir scrollen durch Fotos der Ortschaft, ich öffne ein Onlinemedium von Schebekino und folge der Timeline zurück bis zum Juni 2023. 

    Das erste Bild, das uns unterkommt, ist eine Rakete, die vor dem Gerichtsgebäude im Asphalt steckt. Er öffnet eine Karten-App und findet die Stelle sofort. Der Schwanz der Rakete zeigt eindeutig in Richtung Ukraine. Doch der Informant besteht darauf, dass alles auf einen Angriff vonseiten Russlands hinweise – etwa, wie die Erde rund um die Einschlagstelle weggeflogen sei. Er versucht, mich mithilfe eines Zuckerpäckchens zu überzeugen. Er nimmt es und beschreibt damit eine Flugbahn durch die Luft. Als die improvisierte Rakete auf dem Tablett aufschlägt, schleudert es den Zucker über die Tischplatte und das Tablett. Enthusiastisch demonstriert mein Gesprächspartner, wie der Zucker verstreut liegt – genau wie die Erde rund um die Rakete in Schebekino. Seiner Meinung nach ist das ein stichhaltiger Beweis dafür, dass Russland im Sommer 2023 Schebekino selbst beschossen hat: 

    „Wir waren natürlich geschockt, das war regelrechter Terror vonseiten Russlands gegen die Bewohner von Schebekino!“, sagt er. „Soweit ich weiß, ist die ukrainische Armee ganz streng, wenn es um zivile Opfer geht, es gibt einen Befehl, die Bevölkerung in Ruhe zu lassen. 

    Ansonsten glaube ich, Belgorod hat noch so einiges vor sich. Schindlers Liste wird weiter abgearbeitet. Belgorod ist beinahe mehr Ukraine als Russland. Vom Verhalten her, der Mentalität, ich habe ja den direkten Vergleich. Ich kenne die Belgoroder Mentalität und die Mentalität im Norden, in Twer, Orjol, Kaluga – die sind ganz anders als wir. Faule Säcke, rühren freiwillig keinen Finger.“  

    Am Ende unseres Gesprächs scrollt er einfach nur noch durch die Fotos auf seinem Handy und kommentiert immer mal wieder, manchmal lachend. Ich stelle ihm kaum mehr Fragen.  

    „Praktisch bei allem, was auf dem Gebiet der Oblast Belgorod zerstört wird, haben wir irgendwo die Finger drin. Ich würde sowieso allen anständigen Belgorodern empfehlen wegzugehen, auch die Oblast zu verlassen. Sie sollten lieber wegziehen, wenn sie eine Möglichkeit haben. Weil es weiterhin Angriffe geben wird und solange sich die russischen Soldaten hinter den Belgorodern verstecken, kann man nichts machen. Auch wenn wir zu den Beschüssen beitragen, auch wenn es die Gegend trifft, in der wir zu Hause sind, wir behalten trotzdem einen kühlen, klaren Kopf – wir wissen, dass Putin schuld ist. Die russische Gesellschaft, die Putin unterstützt, die russische Armee. Die Ukraine kann nichts dafür. 

    Klar haben viele ihre Häuser und Wohnungen verloren, ihre vertraute Umgebung, und es gibt Todesopfer, Kinder und Erwachsene. Das versteht sich von selbst. Das ist schlimm.“ 

    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Wieder habe ich ein Bild aus einer meiner Reportagen vor Augen. Schebekino, auch wieder 2023. Der kleine Sohn meiner Hauptfigur, der Splitter von Geschossen sammelt, die rund um sein Haus explodiert sind, steigt mit seiner Oma und einer Plastiktasche voller Sachen – alles, was er in der Eile zusammenpacken konnte – in ein Auto. Der Junge reist mit mir ab, während seine Eltern im Bombenhagel in Schebekino bleiben – sie haben einfach kein Geld, um ihr Kind zu begleiten. Zum Abschied sagt die Mutter leise zu mir: „Stell dir vor, du kommst an, und da ist kein Krieg.“ 

    Wieder reißt mich der Zielaufklärer aus meinen Gedanken:  

    „… Mein Haus wurde 2022 zerstört. Ich weiß, wie es passiert ist, aber es bringt nichts, darüber zu reden. Nur eines will ich sagen: Für die Zerstörung der grenznahen Dörfer in der Oblast Belgorod ist vor allem die russische Armee verantwortlich. Sie hat sich immer hinter einem Dorf positioniert und von da aus ukrainisches Territorium beschossen. Die Ukrainer haben zurückgefeuert. Manchmal mit Grad-Raketen. Und so wurden unsere Dörfer zerstört. Na ja, damals hatten die Behörden der RF diese Gegend bereits für unbewohnbar erklärt. Aber die Einheimischen …  

    Widerstand leisten 

    Wie viele von den zivilen Todesopfern in Belgorod ich persönlich gekannt habe? Ungefähr zehn mindestens. Alle waren für diesen Krieg, leider. Nur eine der Getöteten war dagegen. Kürzlich kam bei einem Beschuss das Kind eines Bekannten ums Leben. Dieser Bekannte war für den Krieg. War wohl Karma. 

    Ich weiß, auch wenn ich dieses Interview anonym gebe, können sie mich nach solchen Äußerungen ausfindig machen und umbringen. Aber die Menschen sollen wissen, dass der Kampf lebt, dass das ein heiliger Krieg ist. Natürlich geht es mir nicht darum, berühmt zu sein und angehimmelt zu werden, sondern darum, dass die Menschen begreifen, dass man immer, in jeder Situation Widerstand leisten kann. Und auch muss, weil diese Welt auf unseren Schultern lastet, auf den Schultern jener, die sich wehren und kämpfen.“ 

    Mein Gesprächspartner begleitet mich zum Bahnhof. Auf dem Weg frage ich ihn, ob er keine Angst hat. Russen, die der ukrainischen Armee helfen, werden manchmal sogar in Europa ermordet.  

    „Ich glaub nicht, dass sie mich umlegen, guck mal meine Lebenslinie.“ Er fährt mit einer Fingerspitze quer über seine Handfläche. 

    „Willst du nach dem Krieg zurück nach Russland?“ 

    „Nein.“ 

    „Auch nicht zu Besuch?“ 

    „Nein.“  

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    Die Stirn ist blutverschmiert, Blut läuft aus einer Wunde am Ohr den Hals herab. „Was ist passiert, was mache ich hier“, scheint der Blick der jungen Frau zu sagen. Am ersten Tag der Massenproteste von 2020 wurde die damals 19-jährige Maryja Saizawa durch Splitter einer Blendgranate getroffen, die das belarussische OMON gegen die Demonstranten einsetzte. Das Foto von der verletzten Maryja wurde zum Symbol für die Proteste in Belarus. Dieser Tag veränderte das Leben der jungen Studentin so sehr, dass sie sich schließlich auch dem Kampf der Ukraine anschloss. Anfang 2025 verlor sie ihr Leben. 

    Was bringt eine junge Frau dazu, in den Krieg zu ziehen und letztlich ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Die Redaktion des TV-Senders Nastojaschtscheje Wremja erzählt die Geschichte von Maryja Saizawa, deren Schicksal Belarussen und Ukrainer gleichermaßen bewegt.  

    Am 9. August 2020 wurde die damals 19-jährige Maryja Saizawa durch Gummigeschosse und Splitter einer Blendgranate verletzt. Sie war nach Minsk gekommen, um zu protestieren. Das Foto der jungen Frau ging durch zahlreiche belarussische und internationale Medien. 

    „Ich bereue nicht, dass ich zu den Protesten nach Minsk gefahren bin, wenigstens habe ich versucht, etwas zu tun. Und ich hoffe sehr, dass alle erbrachten Opfer – meine und die der anderen – nicht umsonst waren. Was da auf den Straßen passiert, hilft mir wirklich, nicht den Kampfgeist zu verlieren“, sagte Saizawa in einem Interview, das sie der belarussischen Redaktion von Radio Svaboda noch im Krankenhaus gab. 

    Unter anderem wurde bei ihr ein gerissenes Trommelfell, eine Dislokation des Innenohrs und eine Fraktur des seitlichen Stirnbeins diagnostiziert. Noch in Belarus wurde Maryja mehrfach operiert, bevor sie mithilfe des medizinischen Hilfsprogramms Medevac nach Tschechien überführt werden konnte. 

    Maryja Saizawa, nachdem sie durch eine Blendgranate am 9. August 2020 in Minsk verwundet wurde. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)
    Maryja Saizawa, nachdem sie durch eine Blendgranate am 9. August 2020 in Minsk verwundet wurde. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)

    „Bis zu unserem Treffen in Tschechien wusste ich nicht, dass Maryja das Mädchen auf dem Foto war“, erzählt die Koordinatorin des Programms und Leiterin des Büros der belarussischen demokratischen Kräfte in Tschechien, Kryszina Schyjanok. Im Laufe der Behandlung freundeten sich die beiden Frauen an. „Trotz Maryjas Alter – damals war sie 20 – nahm ich den Altersunterschied kaum wahr. Sie war eine sehr reife Persönlichkeit“, berichtet Schyjanok. 

    In ihrem Antrag auf Hilfe zählte Maryja eine lange Liste von Verletzungen auf und schrieb, dass sie eine weitere Operation am Ohr benötige. Leider konnte ihr Gehör jedoch nicht mehr wiederhergestellt werden. Maryja blieb auf ihrem rechten Ohr fast taub. 

    „Es war frustrierend, dass die Ärzte mein Ohr nicht retten konnten, obwohl sie es versprochen hatten. Ich musste einsehen, dass ich etwas geopfert hatte, das ich nie mehr zurückbekommen würde. Jetzt habe ich gelernt, damit zu leben. Ich habe nie ein Hörgerät bekommen. Ich wollte wissen, wie sich mein Ohr erholt. Sehr tiefe oder sehr hohe Töne kann ich hören“, erzählte Maryja. 

    Ihre Angehörigen erinnern sich, wie schlimm der Verlust des Gehörs für Maryja war: „Musik war ein wichtiger Teil von Maschas Leben“, sagt Lana, eine enge Freundin. „Es ist den Wenigsten aufgefallen, aber auf dem Foto von den Protesten trägt Mascha ein T-Shirt von Guns N’ Roses. Später hat ihr ein junger Mann aus der Slowakei, der die Belarussen 2020 aktiv unterstützte, ein Ticket für ein Konzert von ihnen geschenkt. Er wollte Mascha einfach irgendwie helfen“, erzählt Kryszina. „Leider konnten sie sich nicht mehr kennenlernen.“ 

    Maryja meldete sich beim Kastus-Kalinouski-Regiment 

    Nach der Überführung aus Belarus blieb Maryja Saizawa in Tschechien, wo sie Sprachkurse besuchte und sich auf die Aufnahmeprüfungen an der Universität vorbereitete. Parallel gab sie Interviews und erzählte Journalisten ihre Geschichte. „Das Thema Belarus war in aller Munde, und sie wollte der Sache dienen, so gut sie konnte“, erinnert sich Lana. „Aber irgendwann war sie es leid, alles zum millionsten Mal zu erzählen. Zumal sie kein Ergebnis sehen konnte.“ 

    Nach der vollumfänglichen Invasion Russlands in die Ukraine 2022 verschrieb sich Maryja mit Haut und Haar der Flüchtlingshilfe in Tschechien. Aber es war hart, mit den Ereignissen fertigzuwerden: Einige ihrer Freunde, die ebenfalls von Belarus nach Tschechien gekommen waren, entschlossen sich, an die Front zu gehen. 

    Einer von ihnen war Timur Mizkewitsch. Der damals 16-jährige Timur war 2020 nach Tschechien gebracht worden, nachdem er während der Massenproteste von den Silowiki geschlagen und gefoltert worden war. Seine Verletzungen waren so gravierend, dass er ins Koma fiel. Während er im Koma lag, starb seine Mutter, und Timur blieb als Waise zurück. Kurz nach seinem 18. Geburtstag beschloss Timur, sich der ukrainischen Armee anzuschließen. 

    „Ich weiß noch, wie Mascha und ich bei Timur zu Hause sitzen, und er fängt an, seine Sachen zu packen. Ich versuchte, ihn aufzuhalten. Aber als ich seinen Blick sah, wusste ich, dass ihn nichts und niemand davon abbringen würde. Hier gab es nichts, was ihn hielt“, erinnert sich Lana. 

    Kurz nach Timurs Abreise fasste auch Maryja den Entschluss, an die Front zu gehen. Sie wollte etwas tun, dass sie einer Rückkehr nach Belarus näherbringen würde. Ihren Freunden zufolge hatte Maryja sich zwar gut in die tschechische Gesellschaft integriert, aber wirklich zugehörig habe sie sich nie gefühlt. Die Freiheit ihres Landes war für sie verbunden mit der Freiheit der Ukraine. „Auf Seiten der Ukrainischen Armee zu kämpfen war für Mascha ein Weg, für ein unabhängiges Belarus zu kämpfen“, sagt Schyjanok. 

    Maryja meldete sich beim Kastus-Kalinouski-Regiment, in dem Belarussen auf der Seite der Ukrainischen Armee kämpfen. Einige Zeit später wurde sie aufgenommen. „Ich flehte sie an, nicht zu gehen, ich bekniete sie buchstäblich. Ich aktivierte ihre Freunde, wir versuchten alle, sie davon abzubringen“, sagt Lana. Aber alle Versuche liefen ins Leere. Im Frühjahr 2023 verabschiedeten ihre Freunde Maryja an die Front. 

    Porträt von Maryja Saizawa aus dem Fotoprojekt Narben des Protests / Foto © Violetta Savchits
    Porträt von Maryja Saizawa aus dem Fotoprojekt Narben des Protests / Foto © Violetta Savchits

    „Ich verstehe, dass sie sich rächen wollte” 

    Bei ihrer Ankunft in der Ukraine wurde Maryja Saizawa der 2. Internationalen Legion der Territorialverteidigung zugeteilt. Noch in Belarus hatte Maryja Vetrinärmedizin studiert. Aufgrund ihrer medizinischen Kenntnisse schickten ihre Vorgesetzten sie zunächst zum Dienst in eine Sanitätsstation. Später war sie für die Evakuierung von Kämpfern von der Frontlinie zuständig. Wie einer der Kommandeure dem belarussischen Radio Svaboda erzählte, übersetzte Maryja auch für andere ausländische Soldaten. 

    Während erbitterter Kämpfe, wenn es an der Frontlinie an medizinischem Personal mangelte, leistete sie freiwillig Hilfe in den Schützengräben, berichten Maryjas Dienstgenossen. Ruslan Miroschnytschenko, der ehemalige Kommandeur der Einheit, in der Saizawa gedient hatte, erinnert sich, dass es sie immer dorthin zog, wo „es brennt”. „Sie hat so manches Leben gerettet“, sagt Miroschnytschenko. 

    Ein anderer Kommandeur, Maryjas Mitstreiter Ruslan Romaschnytschenko, erinnerte sich in einem Interview mit der Deutschen Welle, dass sie trotz ihres jungen Alters und der gefährlichen Lage auf dem Schlachtfeld immer die Ruhe bewahrte. „Was mich erstaunte, war ihre Entschlossenheit und ihr Fokus bei der Arbeit, ihr Wissensdurst, ihr ausgeglichener Charakter. Äußerlich wirkte sie wie ein Fels: ruhig, kühl. Gleichzeitig war sie ein sehr offener und wohlmeinender Mensch“, erzählt er. 

    Dann wurde sie verletzt: Eine Leuchtrakete explodierte in ihrer linken Hand. Sie erlitt schwere Verbrennungen, mehrere Knochen in ihrem Handgelenk waren zertrümmert. Aufgrund der Verwundung kehrte Maryja Saizawa zur Behandlung und Reha nach Tschechien zurück. Aber sie wollte nicht zurück in ihr altes Leben, erinnern sich ihre Freunde. Bald erklärte sie, dass sie wieder an die Front will. Kryszina Schyjanok versuchte mit allen Kräften, ihre Freundin davon abzuhalten: Sie vermittelte ihr eine Arbeitsstelle in Prag, die ihr erlaubt hätte, die Ukraine weiterhin aus der Ferne zu unterstützen. Aber Maryja wollte nichts davon wissen. 

    „Sie schrieb mir: ‚Was sollen sie ohne mich? Man wird sie alle erschießen.‘ Ich versuchte ihr zu erklären: ‚Du kannst diese Verantwortung nicht auf dich nehmen‘“, erinnert sich Kryszina. „Sie litt seit Belarus eindeutig unter PTBS, jetzt kam noch das Trauma aus der Ukraine hinzu. Du fährst weg vom Krieg und nimmst den Krieg mit. Hier muss man sich auch fragen, ob sie ohne die traumatische Erfahrung in Belarus überhaupt an die Front gegangen wäre.“ 

    Ich verstehe, dass sie sich rächen wollte: für Minsk und für ‚Minsk‘ 

    Als Maryja Saizawa sich 2020 an die Evakuierungsorganisation Medevac wandte, lehnte sie jede psychologische Hilfe ab. Dabei erwähnte sie in einem Interview gegenüber Schtosden einmal, dass sie mit Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung kämpft. „Wir können niemanden dazu zwingen, mit einem Psychologen zu arbeiten. Aber meine Schuldgefühle blieben: Ich hatte sie hergebracht, also hätte ich sie beschützen müssen“, sagt Schyjanok. „Der Verstand sagt: ‚Es war ihre freie Entscheidung, in die Ukraine zu fahren, du kannst nicht die Verantwortung für anderer Leute Entscheidungen übernehmen.‘ Und trotzdem bleibt das Gefühl zurück, dass ich nicht ernst genug genommen habe, wie labil sie war.“ 

    Nach der Reha kehrte Maryja in die Ukraine zurück. Trotz der Einwände ihrer Vorgesetzten und aller Versuche, sie davon abzubringen, beharrte die junge Frau fest auf ihrer Entscheidung, sich erneut dem Kampf anzuschließen. Ihren Kampfgenossen zufolge hatte ihr Wunsch, an die Front zurückzukehren – diesmal als Soldatin –, mit dem Verlust von Kameraden zu tun, die im Kampf gefallen waren. Im Sommer 2023 hatte sie ihren Freund mit dem Kampfnamen „Minsk“ verloren. Nach mehreren Monaten im Ausbildungslager wurde sie im November 2024 als Scharfschützin an die Front in der Oblast Donezk geschickt. 

    „Ich verstehe, dass sie sich rächen wollte: für Minsk und für ‚Minsk‘“, sagt [ein Kamerad mit dem Kampfnamen] „Santa“. Ihren letzten Geburtstag feierte Maryja an der Front: Am 16. Januar 2025 wurde sie 24 Jahre alt. Am Tag darauf fiel sie im Kampf gegen die russische Armee. „In jener Nacht bei Pokrowsk hat sie hervorragende Arbeit geleistet. Aber die Artillerie tut ihr Werk“, erinnert sich „Santa“. 

    „Mascha hatte die Fähigkeit, andere zu inspirieren” 

    Die mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit spielte eine große Rolle in Maryjas Selbstwahrnehmung und bei den Zielen, die sie sich steckte, meinen ihr nahestehende Menschen. „Wenn die Medien ständig über dich als Opfer des Regimes schreiben, wächst der Wunsch, allen zu beweisen, dass du kein Opfer bist, sondern ein Subjekt, dass du etwas bewegen kannst“, sagt Schyjanok. „Wir hatten ja auch Menschen bei uns im Programm, die verletzt waren, auf denen aber nicht die Last der Öffentlichkeit lag. Sie können weiterhin ihr Leben leben, sonntags auf den Bauernmarkt gehen und montags bis freitags zu ihrer Arbeit, Geld verdienen. Aber bei Mascha war es anders. Sie fragte sich, was man über sie schreiben und wie lange sie noch als Opfer gelten würde.“ 

    Der Wunsch, aktiv zu sein und anderen zu helfen, war ein Leitmotiv für alles, was Maryja tat. Ihre Bewerbungen begann sie nicht mit ihren Arbeitserfahrungen und Qualifikationen, sondern mit den Worten, dass sie eine Arbeit sucht, die „der Gesellschaft echten Nutzen bringt und die Chance bietet, Menschen in Not zu helfen“. 

    Ich kann mein Leben nicht mehr unabhängig von Belarus betrachten 

    „Wenn jemand gezwungen ist, in der Emigration zu leben, sucht er normalerweise nach jeder Art von Arbeit. Aber für sie war es wichtig, dass die Arbeit sinnstiftend und nützlich für die tschechische Gesellschaft war“, erklärt Schyjanok. Maryjas Freunde erwähnen ihre vielfältigen Interessen. Sie sprach nicht nur sechs Sprachen, sie malte auch, spielte Football und begeisterte sich fürs Fechten. 

    Seit den Protesten 2020 nahm die belarussische Identität einen wichtigen Platz in ihrem Leben ein. Auch in der Emigration nahm sie weiter an Protesten gegen Lukaschenkos Regime teil. Sie thematisierte das oft im Freundeskreis und gegenüber Journalisten. „Ich kann mein Leben nicht mehr unabhängig von Belarus betrachten. Wenn nicht Belarus, was dann? Ich habe immerhin meine Gesundheit dafür geopfert. Und ich habe wirklich an unsere Idee geglaubt, ich will unbedingt, dass mein Land das schafft. Ich will das sehen und dorthin zurückkehren“, sagte Saizawa in einem Interview. 

    Ihre Freunde erinnern sich, wie sie in ihrer Zeit in Prag traditionelle belarussische Gerichte und Getränke für sich entdeckte, wie Draniki und Krambambulja. Irgendwann entschied sie sich, nur noch Belarussisch zu sprechen. „Nach ihrem Tod zeigte man mir ihre Nachrichten in den Kriegs-Chats: Sie schrieb in Taraschkewiza [das ist die klassische belarussische Rechtschreibung]“, erzählt Schyjanok. 

    Ihre Freunde heben Maryjas moralische Standhaftigkeit, ihre Prinzipientreue und innere Freiheit hervor. Besonders ehrfürchtig erinnern sie sich an die Warmherzigkeit und Aufrichtigkeit, mit denen sie sich ihrer Umwelt mitteilte. „Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand Fehler machte oder sein Wort nicht hielt. Weil sie selbst mit dem besten Beispiel voranging, wie man sein sollte“, sagt Lana. „Das führte dazu, dass sie oft enttäuscht wurde und sich einsam fühlte. Nach außen hin strahlte sie stets Wärme und Licht aus, aber deshalb blieb vieles in ihrem Inneren verborgen.“ 

    An dem Tag, als die Nachricht von Maryjas Tod kam, begannen viele spontan, Erinnerungen daran zu teilen, wie sie ihre Leben beeinflusst hatte. „Mascha hatte die Fähigkeit andere zu inspirieren. Sie veränderte die Menschen um sich herum zum Besseren, als würde sie ihre innere Stärke auf sie übertragen“, erzählt Schyjanok. Und ihre Freundin Lana ergänzt: „Mascha lebt in den Herzen der Menschen weiter.“ 

    Zur Trauerfeier kamen Dutzende von Maryjas Kampfgenossen 

    Maryja war die erste belarussische Freiwillige, die im Kampf für die Ukraine gefallen ist. Die Trauerfeier fand am 4. Februar 2025 statt. Maryja hatte ihre Vorstellungen von der Bestattung in schriftlicher Form Kryszina Schyjanok hinterlassen – ihrem Notfallkontakt. Diese reiste in die Ukraine, um sich von Maryja zu verabschieden und bei der Ausrichtung der Zeremonie zu helfen. Ihr zufolge habe die Militärkommandantur die Entscheidung über die Feuerbestattung getroffen. Erst wenige Stunden vor der Einäscherung erfuhr Schyjanok davon und schritt ein – denn Maryja hatte sich gewünscht, dass ihr Körper nicht verbrannt würde. Sie wollte neben ihrem Feund „Minsk“ beerdigt werden, in dem Teil des Kyjiwer Friedhofs, in dem die belarussischen Soldaten ruhen. 

    Als Schyjanok von der bevorstehenden Kremierung erfuhr, setzte sie sich sofort mit Swjatlana Zichanouskaja in Verbindung, die sich wiederum an die Verwaltung des Kyjiwer Bürgermeisters Vitali Klitschko wandte. Die Entscheidung, Maryja Saizawa an dem von ihr gewählten Ort beizusetzen, wurde nur wenige Minuten vor der Einäscherung getroffen. 

    „Das war eine dramatische Situation. Wir bekamen die Zustimmung von der Verwaltung genau in dem Moment, als die Trauerfeier vorbei war und der Sarg in den Ofen geschoben werden sollte. Die Zeremonie wurde unterbrochen“, erzählt Schyjanok. „Dank Swjatlana Zichanouskaja konnten wir Maschas letzten Willen erfüllen.“ 

    Maryjas Eltern konnten nicht in die Ukraine kommen, um sich von ihrer Tochter zu verabschieden, aber Kryszina Schyjanok sagt, sie sei ihren Wünschen nachgekommen. „Mascha war Atheistin und wollte weder religiöse Rituale noch ein Kreuz auf ihrem Grab. Aber ich wollte gleichzeitig die Wünsche ihrer Eltern erfüllen“, erzählt Schyjanok. „Ihre Mutter bat mich, eine kleine Ikone mit der Jungfrau Maria ins Grab zu legen, nach der ihre Tochter benannt wurde. Der Vater wünschte sich weiße Rosen dazu.“ 

    Das Grab von Maryja Saizawa auf dem Kyjiwer Friedhof am Tag ihrer Beerdigung, 7. Februar 2025. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)
    Das Grab von Maryja Saizawa auf dem Kyjiwer Friedhof am Tag ihrer Beerdigung, 7. Februar 2025. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)

    Zur Trauerfeier kamen Dutzende von Maryjas Kampfgenossen. Später übergaben sie Maryjas persönliche Gegenstände dem Museum Swobodnaja Belarus s Ukrainoi w serdze (dt. Das freie Belarus mit der Ukraine im Herzen, Wanderausstellung in der Ukraine – dek). 

    „Das ganze Bataillon ist in Trauer. Sie war unser Liebling. Maryja war eine der wenigen Veteranen, die erbitterte Kämpfe überstanden und dabeigeblieben waren. Wir haben einen Teil unserer Familie verloren, einen Teil von uns selbst“, sagte der Kommandeur Ruslan Miroschnytschenko in einem Interview mit Radio Svaboda. „Sie ist eine starke Kriegerin“, fügt Miroschnytschenko hinzu. „Sie hat ihr Leben für unsere und eure Freiheit gegeben. Für ein freies Belarus und für eine freie Ukraine.“ 

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