Geht es um Proteste in Russland, so fällt in deutschen wie internationalen Artikeln immer wieder ein Name: OWD-Info. Die in Moskau ansässige Menschenrechtsorganisation gilt vielen Journalisten als verlässliche Quelle, etwa wenn es um die Zahl der Festgenommenen bei Protesten in Russland geht.
OWD-Info ist benannt nach dem russischen OWD, dem otdel wnutrennich del (dt. Abteilung für innere Angelegenheiten), im Grunde ein lokales Polizeirevier. Wer dorthin kommt, etwa nach Protesten, dem steht OWD-Info zur Seite: Die Bürgerrechtsorganisation bietet von der Hotline bis hin zur konkreten juristischen Beratung durch Anwälte zahlreiche praktische Hilfen für festgenommene Demonstranten. In einem Nachrichtenticker etwa berichtet ovdinfo.org außerdem über Demonstrationen, Verhaftungen und Gerichtsentscheide.
Den Kontakt zwischen Bürgern und den Rechtsanwälten der Organisation stellt Alla Frolowa her. Im Interview erzählt die Menschenrechtsaktivistin des „aktuellsten Projekts Russlands“, wie das Stadtmagazin Afisha daily teasert, von ihrer Arbeit.
Jelena Wereschtschagina: Wie lange haben Sie in den letzten 24 Stunden geschlafen?
Alla Frolowa: Drei Stunden.
Was genau tun sie derzeit, seit Beginn der Protestaktionen?
Wir helfen den Verhafteten. Am 27. Juli etwa kamen den ganzen Tag immer wieder neue Meldungen rein: Besucher werden nicht zu den Verhafteten gelassen, Paket- oder Briefsendungen werden nicht angenommen, es herrscht völlige Willkür. Um zu verstehen, was genau vor sich geht, muss sich ein Anwalt vor Ort ein Bild machen. Und solange nicht der Letzte das Revier verlassen hat, kann ich mir nicht erlauben zu schlafen. Am Tag darauf haben wir dann Anwälte auf die Gerichte verteilt. Den nächsten Tag waren wir mit den Gerichten beschäftigt. Schließlich haben wir die Vermissten gesucht. Wir erhalten die Information, dass Verhaftete in Gefängnisse gebracht wurden, aber niemand weiß, in welche. Wir finden sie.
Waren Sie darauf vorbereitet, dass die Festgenommenen nach Nowaja Moskwa gebracht und von dort aus auf die Haftanstalten von Luchowizy und Mytischtschi verteilt werden? Inwiefern hat das Ihre Arbeit erschwert?
Das einzige, was meine Arbeit erschwert, ist die fehlende Transparenz des Polizeisystems. Sie handeln nicht im Interesse der Bürger, sondern führen Befehle aus. Dass man die Leute ins Moskauer Umland bringen würde, war schon klar, nachdem [die Bürgerrechtsaktivisten] Artschagow, Kotow und Galperin verhaftet und nach Luchowizy, Tschechow und Sergijew Posad verbracht wurden. Darauf waren wir gefasst.
Das einzige, was meine Arbeit erschwert, ist die fehlende Transparenz des Polizeisystems
Der Grund dafür ist offensichtlich: Sie spekulieren darauf, dass nicht alle Anwälte es dorthin schaffen. Das ist eine Kette von Schikanen. Wir mussten erst herausfinden, wie wir in dieser Situation den Menschen helfen können.
Wie sieht Ihre Arbeit bei Großereignissen aus, wenn Hunderte oder gar Tausende auf Ihre Hilfe angewiesen sind – im Gegensatz zum Normalbetrieb?
Den ganzen Ablauf werde ich hier nicht darstellen. Das hat seine Gründe. Sie müssen sich vor Augen führen, dass das System – die Moskauer Polizei, die Stadtverwaltung und die Sicherheitskräfte – riesige Ressourcen hat. Im Vergleich zu denen haben wir gar keine. Alles was wir haben, sind unsere Mitarbeiter von OWD-Info und freiwillige Helfer. Bei uns gibt es normale Arbeitstage und die Stabsarbeit (so nennt OWD-Info die Einsätze während großer Protestaktionen, Anm. d. Red.). Wir haben eine Monitoring-Gruppe, die [während der Stabseinsätze] rund um die Uhr arbeitet, wobei jeder Mitarbeiter seinen persönlichen Dienstplan hat. Sie nehmen Anrufe entgegen und verarbeiten die Meldungen aus unserem Telegram-Bot. Dort kommen die Hilfsanfragen als erstes an. Manchmal stehen sie nicht im Zusammenhang mit politischer Verfolgung, in dem Fall leiten wir sie weiter.
Wir haben eine Monitoring-Gruppe, die rund um die Uhr arbeitet
Wenn zum Beispiel jemand anruft, der gerade festgenommen wurde, muss man ihn beruhigen und herausfinden, womit wir helfen können, gleichzeitig muss diese Informationen veröffentlicht werden. Das alles macht die Monitoring-Gruppe. Bei dieser Tätigkeit brennt man schnell aus. Es ist sehr schwer, in der ersten Reihe zu stehen.
Die Stabsarbeit läuft anders ab. Jedes Mal versuchen wir zunächst das „Ausmaß der Zerstörung“ abzuschätzen. Das gelingt nicht immer, weil die Vertreter der Staatsmacht ziemlich unberechenbar sind: Mal werden dutzende Einzel-Protestierende eingesackt, mal keiner. Bei der Kundgebung am 1. Mai in Sankt Petersburg konnte auch niemand ahnen, dass es zu Festnahmen kommen würde – die Demo war ja genehmigt. Wir rechnen, schätzen ab, besprechen mit den Leuten, wie wir helfen können. Und danach läuft unsere kleine Menschenrechtsmaschine an.
Wie viele feste Mitarbeiter hat OWD-Info und wie viele Freiwillige?
27 feste Mitarbeiter und bis zu 100 Freiwillige, gerade sind es mehr.
Wie finanziert sich OWD-Info?
Wir finanzieren uns durch Crowdfunding. Von diesem Geld bezahlen wir Gehälter und Löhne, organisieren Rechtsbeistand, stellen Verteidiger, Rechtsberater und Anwälte.
Steigen die Spendeneinnahmen während solcher Ereignisse wie den derzeitigen Massenprotesten stark an?
Während großer Protestaktionen schießen die Einnahmen natürlich in die Höhe. Man zählt auf unsere Hilfe.
Haben sich ihre Annahmen bezüglich der Zahl an Festnahmen Ende Juli bewahrheitet? Waren Sie darauf vorbereitet?
Dass es viele Festnahmen geben würde, wusste ich schon morgens. Ich bin durch die Moskauer Straßen gefahren und habe die zusammengezogenen Streitkräfte gesehen. Aber ein solches Ausmaß hätte ich mir nicht einmal vorzustellen gewagt (laut Schätzungen von OWD-Info kam es am 27. Juli zu 1373 Festnahmen, laut Ministerium für innere Angelegenheiten zu 1074, Anm. d. Red.).
Diesmal war es auch deswegen schwierig, weil es drei große Verhaftungswellen gab.
Es kommt auch vor, dass wir uns mit den Einschätzungen irren: Wir sitzen da und warten, aber keiner wird festgenommen. Dann trinken wir Tee mit den Freiwilligen und haben gute Laune.
Wir sitzen da und warten, aber keiner wird festgenommen. Dann trinken wir Tee und haben gute Laune
Egal, wie gut man sich auf eine Demo vorbereitet, bei einer Festnahme steht jeder erst einmal unter Schock. Wenn du in den Händen der Polizei landest und nicht weißt, was in der nächsten Stunde passiert, ist das immer äußerst unangenehm. Leider fehlt es uns immer noch an Mitarbeitern, Rechtsberatern und Anwälten. Deshalb bin ich unseren Partnern von Apologija Protesta, der Moskauer Helsinki-Gruppe, Open Russia, Gesellschaftliches Verdikt und Einsitzende Rus für ihre Hilfe sehr dankbar.
Drei Verhaftungswellen – ist das Hysterie der Silowiki oder deren neue Methode?
Das ist keine Hysterie, die verstehen einfach das Verhalten der Leute nicht, die auf eine friedliche Demo gehen. Sie denken, die Menschen kommen raus, skandieren ihre Losungen, lassen Dampf ab und gehen nach Hause. Aber die Leute sind nicht weggegangen, die wollten nun mal spazieren gehen. Selbst wenn sie etwas skandiert haben – was für ein Strafbestand soll das sein, wenn man ruft: „Lasst sie zu“? Die Staatsmacht hat sich selbst in Zugzwang gebracht, indem sie alle Wege versperrt hat. Man hat den Menschen nicht nur die Entscheidung abgenommen, wen sie wählen sollen, sondern auch noch, wo sie hinzugehen haben.
Vor unseren Augen flammt ein Kampf zwischen staatlichen Sicherheitskräften und Rechtsanwälten auf. Sehen Sie eine Chance, diesen Kampf zu gewinnen?
Ich bin weder Juristin noch Anwältin. Ich bin Verfahrenstechnikerin. Aber mein Grundprinzip lautet: Niemand sollte dem System alleine ausgeliefert sein. Die Anwälte, die mit uns zusammenarbeiten, halten sich strikt an ihre Regeln, aber sie stehen hinter unseren Prinzipien.
Ich betone das immer wieder: Wir arbeiten mit den besten Anwälten der Welt zusammen. Wir kämpfen für eine einzige Sache: Die absolute Gültigkeit des Gesetzes. Wir wollen den Menschen helfen – unter den Bedingungen, die hier und jetzt bestehen.
Wir kämpfen für eine einzige Sache: Die absolute Gültigkeit des Gesetzes
Wie man das System bekämpft, weiß ich nicht. Natürlich erschwert es die Arbeit der Anwälte. Wenn ein Bürgerrechtler um 20 Uhr abends auf ein Polizeirevier kommt, sitzen da 20 Leute, die seine Hilfe brauchen. Er muss sie beruhigen, erklären, was sie unterschreiben sollen und was nicht. Und er wird nicht gehen, bis man den letzten freigelassen hat oder schlafen lässt. Nach fünf Stunden kommen die Anwälte dann wieder raus und können sich kaum auf den Beinen halten, aber am nächsten Tag fahren sie in die Gerichte, wo man versucht, die Fälle nach dem Fließbandverfahren abzuwickeln. Die Anwälte sehen aber einen verängstigten Jungen vor sich, ein Mädchen, eine junge Frau oder einen jungen Mann, und arbeiten weiter. Sie lassen nicht zu, dass die Gerichte sie im Schnelldurchlauf abhaken.
Leider ist der EGMR aktuell die einzige Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen. Besonders dann, wenn es um die Versammlungsfreiheit geht. Ich finde, wir müssen der ganzen Welt zeigen, was bei uns los ist.
Wie sieht Ihre Idealvorstellung von Russland aus?
Ich will, dass wir faire Wahlen haben und die Polizei im Rahmen des Gesetzes agiert. Es werden genug Schwerverbrechen begangen, und ich will, dass diese gesunden jungen Kerle nicht friedliche Demonstranten durch die Stadt jagen, sondern ihre Arbeit tun. Ich will, dass Ermittler nicht Computer für das Zentrum E beschlagnahmen, sondern Verbrecher jagen. Dass Staatsbeamte mit dem Trolleybus fahren und nicht in einer Eskorte. Ich will, dass der russische Staat für die Menschen da ist, und nicht für die Machtelite.
Ein schönes Format in Russlands Medienlandschaft sind „Vorlesungen“: Ein Journalist oder Wissenschaftler erzählt über ein bestimmtes Thema. Ausführlich. Zunächst live, ein Auszug wird dann danach veröffentlicht. Auf Inliberty hat der bekannte Journalist und Kulturkritiker Juri Saprykin nun eine ganze Vorlesungsreihe bestritten zu den großen Themen des Lebens, und zwar aus russisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive: Liebe, Krieg und Freiheit – und andere russische Fragen.
In einer der ersten Vorlesungen beschäftigt er sich mit Krieg: Wie kann Krieg einen Wert darstellen? Und was soll das besondere russische Verständnis von Krieg sein?
In der Liste der „wichtigsten russischen Fragen“ wirft das Wort Krieg die meisten – entschuldigen Sie die Tautologie – Fragen auf. Wie kann Krieg bitteschön einen Wert darstellen? Wir sind doch friedliche Menschen. Und inwiefern soll sich das russische Verständnis von Krieg von anderen unterscheiden?
Es stimmt zwar, dass die Ursprünge der russischen Literatur in Kriegsepen liegen (wie übrigens jeder Literatur). Die ältesten uns überlieferten weltlichen Werke sind das Igorlied, das Epos von der Schlacht am Don oder die Sage von der großen Schlacht gegen Mamai. Sie bestehen nahezu komplett aus Beschreibungen von Kriegshandlungen. Sie sind die Grundpfeiler unserer Kultur, ob wir wollen oder nicht. Aber damit sind wir keineswegs allein.
Seit den vergangenen Jahrzehnten gibt es neben diesen Grundpfeilern, die schon fast in den Tiefen der Geschichte versunken und unsichtbar sind, eine weitere tragende Säule: den Großen Vaterländischen Krieg. Die Rolle, die er für die aktuelle Staatsideologie, die nationale Identität, die Erinnerungskultur oder das kollektive Bewusstsein spielt – nennen Sie es, wie Sie wollen – ist einzigartig.
Wenn wir heute das Wort „Krieg“ sagen, sagen wir das ganz allgemein, aber fast augenblicklich wird es zu einem konkreten Krieg, mit Großbuchstaben: „Krieg“ ist immer der „Große Vaterländische Krieg“, der Zweite Weltkrieg, das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts, an dem das zeitgenössische Russland ansetzt und worin es nicht nur seine Bestimmung und Legitimation sieht, sondern auch das grundlegende Existenzmodell.
Dieser Krieg gibt eine Matrix vor, in deren Sprache sich alles Alltägliche leicht übersetzen lässt – ob lokale bewaffnete Konflikte oder internationale politische Ereignisse, bis hin zu den absurdesten Fällen, wenn das Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft zur Fortsetzung der Schlacht bei Stalingrad wird oder das Spiel gegen Kroatien zum Kampf gegen die Ustascha, stets wie aus der Maschinenpistole aufgeladen mit der Beschwörungsformel „Wir können das wiederholen“.
Der Krieg des 19. Jahrhunderts
Aber dieses Verständnis von Krieg ist nicht das einzig mögliche. Es war einmal anders, wie auch Krieg selbst anders war. Bei dem oft zitierten Satz „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist der klassische Krieg vom Typ des 19. Jahrhunderts gemeint. Dabei wird ein Streit weitergeführt, den Diplomaten nicht lösen konnten, es wird neues Gleichgewicht hergestellt und es werden, im Falle von Kolonialisierung, Einflusssphären erweitert und gleichzeitig zivilisatorische Missionen ihrer Vertreter erfüllt. So ein Krieg ist ein Spezialfall mit eigenen Regeln und Gesetzen.
Die Sichtweise auf den Krieg liegt im Auge des Betrachters. Nehmen wir zum Beispiel den Kaukasuskrieg. In der Regel sind solche Texte aus der Perspektive eines adeligen Offiziers geschrieben, der den Krieg als romantisches Abenteuer erlebt. Für ihn ist der Krieg die Möglichkeit, seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen und zu Ruhm und Ehre zu kommen. Im Blick des Offiziers stehen in erster Linie edle Gefühle, starke Leidenschaften, große Taten oder exotische Bräuche und Sitten anderer Völker, auf die er stößt. Das ist eine erstaunliche und verblüffende Welt, die den Menschen die Chance bietet, sich von ihrer besten Seite zu zeigen.
Dabei entgeht dem Blick des adligen Offiziers natürlich nicht, dass er nicht der einzige ist in diesem Krieg, dass es auch Menschen gibt, für die er weder eine Reise noch ein Abenteuer darstellt. Das sind die vielzähligen Maxim Maximytschs, die Hauptakteure dieses Krieges. Die sind nicht so begeistert und nicht so romantisch gestimmt. Für die ist es vor allem hartverdientes Brot, wie die Arbeit in der Landwirtschaft.
Kaukasuskrieg: Treffen auf die absolute Andersheit
In diesem Krieg gibt es weitere Akteure: die Bergvölker, mit denen man kämpfen muss und die es zu zivilisieren gilt. Sie haben kein Recht auf eine eigene Stimme, wie wahrscheinlich in jeder Art von Kolonialliteratur. Ihre Sitten, Bräuche und Gewohnheiten können beschrieben, ihr Mut bewundert und ihr Äußeres bestaunt werden, aber bis auf Hadschi Murat wird keinem Kaukasier bis Ende des 19. Jahrhunderts das Wort gegeben.
Der Vaterländische Krieg erscheint als nationale Aufgabe, als Vereinigung aller im gemeinsamen Enthusiasmus / „Die Schlacht bei Borodino“, Louis Lejeune, 1822
Es ist klar, dass es in jedem Kriegsbericht Leerstellen geben muss, Gruppen, die schweigen, und Schichten, die in diesem historischen Drama im Hintergrund bleiben, während nur den Siegern die Autorität zugesprochen wird, über den Krieg zu sprechen. In der Literatur wird der Kaukasuskrieg zu einem „Treffen auf die absolute Andersheit“, auf einen Menschen, der nach grundlegend anderen, nicht nachvollziehbaren und zuweilen faszinierenden, zuweilen erschreckenden Regeln lebt.
Der erste große Prosatext zum Vaterländischen Krieg von 1812 wird erst 1830 veröffentlicht. Es ist Michail Sagoskins Werk Roslawlew oder die Russen im Jahre 1812. Darin zeigt sich das Verständnis vom Krieg als einer Angelegenheit des Volkes mit oberster Priorität, die uns gewöhnlich und natürlich scheint. Im Namen des Krieges vereinen sich alle Stände und vergessen alle Unterschiede, vorübergehend wird die komplexe russische Gesellschaftsstruktur einfach und homogen. Alle verschmelzen zu einer stählernen Faust im Schlag gegen den Feind. Mit diesem neu aufkommenden Verständnis von Krieg als nationaler Aufgabe, als Vereinigung aller im gemeinsamen Enthusiasmus um das heilige Zarenreich, rutscht Russland in den Krimkrieg, der sich als bittere Enttäuschung entpuppt.
Lew Tolstoi: Krieg als universelle Erfahrung
Neben einigen politischen Folgen führt die Erfahrung dieser Niederlage zu einer völlig neuen Auffassung von Krieg, die Lew Tolstoiaus den Batterien von Sewastopol mitbringt. Sein Blick ist nicht mehr der romantische Blick eines Offiziers, der nach Abenteuern sucht, es ist der Blick eines Kriegsteilnehmers, eines Menschen als solchem.
Tolstoi berichtet über den Krieg aus der Sicht eines Teilnehmers und macht deutlich, dass diese Erfahrung universell ist. Es gibt keine Offiziere oder einfache Soldaten, Feldherren oder gewöhnliche Menschen, die unbemerkt im Hintergrund vorbeiziehen. Es gibt nur den Menschen, und jeder Mensch, auf den ein Geschütz zufliegt, hat in diesem Moment mehr oder weniger dieselben Empfindungen. Und das sind Empfindungen, die kein Mensch durchmachen sollte. Krieg widerspricht der menschlichen Natur völlig , es ist etwas Unerträgliches, das es nicht geben darf.
Wie so oft, nimmt Tolstoi auch hier eine radikal neue Position ein, die vorherrschende Auffassungen vehement ablehnt, da diese versuchen, den Krieg in edle weiße Gewänder zu hüllen und ihn zu rechtfertigen mit der Verteidigung nationaler Interessen, Anlass seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen oder der Möglichkeit Russlands Territorium zu vergrößern.
Laut Tolstoi redet man sich damit den Krieg schön, während in Wirklichkeit der einzelne Mensch mit aufgeschlitztem Bauch auf dem Schlachtfeld liegt und ihm weniger als eine Sekunde zu leben bleibt. Und das ist das einzige, was zählt.
Jede Rechtfertigung oder Rationalisierung des Krieges ist Betrug, eine Illusion, die entlarvt werden muss. In Wirklichkeit sind die Gründe für einen Krieg eher profaner, pragmatischer Art. Für Fürst Schtscherbazki in Anna Karenina ist der Krieg – während er sieht, wie sich die Bevölkerung in einen patriotischen Taumel hineinsteigert – nichts weiter als eine fixe Idee des Adels. Sein äußerst treffender Satz ließe sich als Kommentar so manchem Sofaexperten entgegnen: „Sie meinen, ein Krieg sei notwendig? Wunderbar. Wer den Krieg predigt, kommt in eine besondere, vorgeschobene Legion, und dann – auf zum Sturm, zur Attacke, allen voran!“ Meistens verteidigen diejenigen die Kriege, die letzten Endes für ihre Worte nicht geradestehen müssen. Wenn es deine tägliche, schwere Arbeit ist, wirst du wohl kaum viele Worte darüber verlieren, außer ganz schlichte, vulgäre.
Das Schlachtfeld als Chaos
Tolstois Darstellung steht im Widerspruch zu der damals etablierten Tradition, den Krieg als Ausdruck von Größe und Bedeutung historischer Persönlichkeiten zu sehen. So ist Woina i Mir (dt. „Krieg und Frieden“) eine groß angelegte Polemik gegen jene, die meinen, dass Kriege von Napoleon, Alexander oder Kutusow gewonnen werden, dass Kriege den Befehlen bedeutender Autoritäten gehorchen. Das Schlachtfeld ist ein Chaos, das von fast mystischen, unergründlichen Kraftlinien bestimmt wird, vom Trieb ganzer Nationen.
Es ist durchaus interessant, dass es um den Zeitpunkt der Veröffentlichung von Woina i Mir einen Skandal gab, der sehr an die Skandale der letzten Jahre erinnert: Tolstoi wird buchstäblich beschuldigt, die Kriegsveteranen zu verunglimpfen. Pjotr Wjasemski schreibt, Tolstois Roman sei eine Schmähschrift auf den Krieg, er habe dieses heroische Ereignis dargestellt, als würden da Menschen im Dreck herumwuseln und selbst nicht verstehen, was sie tun und wohin es geht. Eine zentrale Frage, die Tolstoi beschäftigt, lautet: Was bringt Menschen dazu, sich zusammenzurotten und in dieselbe Richtung zu marschieren, mehr noch, etwas zu tun, das der menschlichen Natur absolut widerstrebt? Trotz seiner seitenlangen geschichtsphilosophischen Überlegungen, muss Tolstoi vor dieser unsichtbaren überwältigenden Kraft in gewisser Hinsicht kapitulieren. Er spürt ihre Wirkung, kann sie aber nicht genau greifen. Natürlich ist die ordnende bürokratische Maschinerie der Moderne eine treibende Kraft für das organisierte Heer, und das Unpersönliche und Maschinenhafte ist an sich schon erschreckend. Und trotzdem bleibt das Gefühl, dass hinter diesem bürokratischen Apparat etwas Größeres steht, irgendwelche unergründlichen Schicksalskräfte. Etwas Unbestimmtes, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts durchsetzt. Und Tolstois Vergleiche vom zerstörten Ameisenhaufen oder Bienenstock weichen komplett den Metaphern vom Wetterleuchten, lodernden Himmel und anderen metaphysischen Verklärungen.
Denn die Ereignisse des 20. Jahrhunderts in ihrem vollen Ausmaß haben tatsächlich nichts mit Bienenstöcken gemeinsam. Sie sind unfassbar, katastrophal und monströs. „Karger Himmel der Tode in Scharen“, wird später Ossip Mandelstam schreiben.
Um die Jahrhundertwende fängt es an, wird immer deutlicher, dass der Krieg nicht mehr Anlass ist, Ruhm zu erlangen, und auch keine Aufgabe der Nation. Er ist ein weltumspannendes Grauen, das der menschlichen Natur zuwiderläuft und gleichzeitig die Menschen einer fatalen Zwangsläufigkeit unterwirft.
Karger Himmel der Tode in Scharen
Wahrnehmbar wurde dieser „karge Himmel der Tode in Scharen“ erstmals am Vorabend des Ersten Weltkriegs – jenes Krieges, der von späteren tragischen Ereignissen aus dem Gedächtnis gedrängt wurde, der aber eine weitere, eine wichtige Erkenntnis mit sich brachte. Nämlich, wie gefährlich der, wie Lenin es nannte, „Übergang des imperialistischen in den Bürgerkrieg“ ist, dieser auflodernde Patriotismus und die Vereinigung aller Volkskräfte gegen einen Feind.
Jeder kann zum Feind werden. Nicht nur Ungläubige oder Imperialisten, diabolische Deutsche oder Japaner, auch dein Nachbar oder dein Bruder. Dieser Krieg schwelt gewissermaßen ständig in uns, denn durch Russland ziehen sich unzählige Sprenglinien. Zwischen den bildungsfernen Schichten und der Elite, zwischen Arm und Reich, zwischen Bauern und Großgrundbesitzern, zwischen Stadt und Land, zwischen dem Chanson und dem iPhone, zwischen Liberalen und Patrioten. Jeder dieser Konflikte lässt sich im Handumdrehen bis zu dem Punkt hochschaukeln, wo plötzlich eine wahrhaft dunkle Macht, die vernichtet werden muss, gleich neben einem ist.
Das Gerede darüber, dass sich verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammenschließen müssen für ein übergeordnetes Ziel, der Patriotismus, der Nationalstolz und der gemeinsamen Sieg – all das sind Beschwörungsformeln, die die Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen bewahren sollen. Und vor dem Krieg jeder gegen jeden.
Russischer Existenzialismus, ohne papierene Klugscheißerei
Aber noch ein paar Worte zum Großen Vaterländischen Krieg. Selbstverständlich erschöpft sich sein Stellenwert im kulturellen Gedächtnis nicht darin, dass sich das ganze Volk vereint und den Feind besiegt habe. Es gab da etwas Größeres, das den vorherigen Kriegen nicht eigen gewesen war oder sich zumindest nicht in diesem Ausmaß in die Kultur eingeschrieben hat. Für alle, die den Krieg überlebt haben – und das wissen wir nur zu gut – war dieser Krieg das wichtigste Ereignis ihres Lebens. Für alle, die an der Front waren, für alle, die im Hinterland waren, überhaupt für jeden. Etwas Wichtigeres konnte es danach nicht mehr geben. Es war der Augenblick der Wahrheit, der den Menschen das Maximum an Kraft abverlangt und sie mit der absoluten Ausnahmesituation konfrontiert hatte. Ständig an der Grenze zwischen Leben und Tod trafen sie dringlichste moralische Entscheidungen. Auf welcher Seite stehst du? Wie verhältst du dich? Wofür entscheidest du dich? Bist du bereit, Risiken zu tragen? Zu sterben? Und wenn ja, wofür? Das war russischer Existenzialismus ohne papierene Klugscheißerei, es war der Augenblick, in dem Millionen Menschen solche Fragen für sich selbst beantworten mussten, ohne irgendwelche Autoritäten, Religionen oder Ideologien. Fragen über Leben und Tod.
Zuweilen vermittelte der Krieg manchen Menschen an manchen Orten den Eindruck von unwahrscheinlicher Freiheit und Glück. In Wassili Grossmans Roman Shishn i Sudba (dt. „Leben und Schicksal“) gibt es eine Beschreibung vom Grekow-Haus, dem das Pawlow-Haus in Stalingrad als reales Vorbild diente, jenes umstellte Haus, das Soldaten monatelang mit dem Leben verteidigten.
Wenn du dich plötzlich an so einem Ort wiederfindest, in ständiger Lebensgefahr, aber immer wieder überlebst, entsteht ein unglaublich starkes Gefühl von Brüderlichkeit, Gemeinschaft und einem Sinn des Lebens, sprich von etwas, das man durchaus als Glück interpretieren könnte. All diese Dinge, die während des Großen Vaterländischen Krieges mit einer nie gekannten Intensität erlebt wurden – sie sind der Grund für die starke Erinnerung an ihn. Es versteht sich von selbst, dass uns diese Erinnerung nicht einfach durch die aktuelle Politik aufgezwungen wird, sie sitzt tief in uns. Ist seit 1945 immer präsent.
In den Kellern saßen die Kinder und wollten unter die Panzer
Bei Wyssozki heißt es in der Ballada o Detstwe (dt. „Ballade über die Kindheit“): „In den Kellern und Souterrains saßen die Kinder und wollten unter die Panzer.“ Dieses Gefühl, man sei zu spät geboren und hätte das wichtigste Ereignis im Leben verpasst, war der ersten Nachkriegsgeneration besonders eigen. Aber auch heute flammt es hier und da auf.
Ich möchte an dieser Stelle nicht über Sachar Prilepin sprechen. Es versteht sich von selbst, dass die ganze Geschichte mit dem Donbass für Prilepin wie für viele andere nicht nur mit dem Wunsch herumzuballern einhergeht, sondern auch mit der obengenannten Sehnsucht nach dem wichtigsten Krieg im Leben, nach dem Großen Vaterländischen, wo das absolute Gute auf das absolute Böse trifft. Hier wird für viele plötzlich alles nochmal durchgespielt, und zwar buchstäblich, mit denselben Begrifflichkeiten: Man führt Krieg gegen die Faschisten, gegen die Henker. Die Sehnsucht nach Wahrheit und Sinn, die der Große Vaterländische mit sich brachte, ist so stark, dass man bereit ist, jeden Krieg zum Großen Vaterländischen zu erklären.
Es gibt noch etwas Wichtiges, das nicht als Nachklang der Kriege entstanden ist, sondern als eine Art therapeutisches Mittel im Umgang damit: die Lieder von Viktor Zoi.
Wir denken, wir lieben Zoi, weil er so großartige Lieder schrieb – schön, melodiös, energiegeladen und ein bisschen rätselhaft. Aber ich weiß noch sehr gut, welche Zeilen den Jugendlichen am stärksten im Gedächtnis blieben, als das alles 1988/1989 aufkam. Für die meisten waren es zweifellos die Bilder des Krieges: „Wünsch mir Glück im Gefecht“, „ich will niemandem den Fuß auf die Brust setzen“, „wie die Krieger wankend ihre Schwerter am Gras abwischten“, „was sind tausend Worte wert, wenn es auf die Armeskraft ankommt“.
Ich bin mir vollkommen sicher, dass diese Worte genau in jenem Moment gesagt werden mussten: „zwischen Himmel und Erde herrscht Krieg“. Was bedeutet das? Es sind nicht die Worte eines Militaristen oder Propagandisten, der den Krieg überhöht oder behauptet, wir könnten den ganzen Planeten in radioaktive Asche verwandeln. Es sind Worte, die etwas vollkommen Unrussisches durchweht, vielmehr ist es eine östliche Auffassung vom Krieg als Teil eines großen, kosmischen Zyklus. Ich will niemandem den Fuß auf die Brust setzen, aber es ist vom Schicksal vorherbestimmt, es ist Ausdruck eines Naturgesetzes, eines natürlichen Zyklus, der sich immerzu zwischen Himmel und Erde vollzieht. „Nach einer Stunde ist es bloß noch Erde, nach zwei wachsen auf ihr Blumen und Gras, nach drei ist sie wieder lebendig.“
Zwischen Himmel und Erde herrscht Krieg
Man achtet da nicht unbedingt drauf, aber es ist bemerkenswert, wie in der ersten Strophe des Liedes Swesda po imeni Solnze (dt. „Ein Stern namens Sonne“) der Blick wandert. Anfangs ist er auf den Boden geheftet, weißer Schnee, graues Eis auf der aufgeplatzten Erde; dann schnellt er hinauf und zeigt uns die Stadt im Verkehrsknoten; plötzlich steigt er noch höher, Wolken ziehen über die Stadt und spiegeln das Licht des Himmels; bis er in der fünften Zeile im fernen Kosmos verschwindet, zum Planeten namens Sonne. In diesen Zeilen sehen wir den gesamten kosmischen Zyklus, in dem ein zweitausend Jahre andauernder Krieg als natürliches und unabdingbares Element erscheint.
Viktor Zoi, „Swesda po imeni Solnze“ im Film „Igla“ von Raschid Nugmanow, 1988
Warum mussten diese Worte gesagt werden? Oder warum hatten sie zu jener Zeit so eine starke Wirkung? Weil sie, wie mir scheint, für die Menschen, die sie mit 15 oder 16 zum ersten Mal hörten, eine unwahrscheinliche Hilfe waren, die 1990er Jahre zu überstehen. Denn sie hatten sich plötzlich im Epizentrum gleich mehrerer Kriege wiedergefunden: Im Krieg, der auf den Straßen der russischen Städte tobte und der sich auf unterschiedlichste Weise äußerte – vom Putsch bis zur Straßenschießerei.
Zudem hatten sie den ersten Tschetschenienkrieg miterlebt, bei dem es keine ritterlichen Hoffnungen mehr gab, kein Gefühl der großen, gemeinsamen Sache. Nur die absolute Sinnlosigkeit, Absurdität und den Schrecken des Zusammenpralls mit einem äußerst brutalen Gegner, der gleichermaßen der Eigene, der Fremde, der Andere und sonst noch wer war.
Diese aus dem Mund eines fünfundzwanzigjährigen Petersburger Jungen unerwartete Weisheit in Bezug auf Krieg – nicht einfach als patriotische Aufwallung, sondern als eine harte, aber absolut notwendige menschliche Angelegenheit, hat den Menschen in den 1990ern sehr geholfen. Und dieses Verständnis hat bis heute nicht an Aktualität verloren.
Die 1990er wurden durch Afghanistan so, wie sie waren
In Zusammenhang mit den Kriegen in Afghanistan und Tschetschenien hat auch der Film Brat(dt. „Bruder“) von Alexej Balabanow eine besondere Bedeutung. Er zeigt den Krieg als eine Erfahrung, die im Menschen eine feste, kristalline Struktur erzeugt, welche er dann auch in Friedenszeiten um sich herum aufbaut.
Das alles ist sehr nah an dem posttraumatischen amerikanischen Film nach dem Vietnamkrieg, in dem Veteranen von der Front zurückkehren, aber den Krieg nicht aus dem Kopf bekommen.
Der Film „Brat“ zeigt den Krieg als traumatische Erfahrung, die Veteranen nicht aus dem Kopf bekommen / Filmstill aus dem Film „Brat“/CTB Film Company
In Balabanows Film schwingt sogar mit, dass die 1990er durch den Afghanistankrieg so wurden, wie sie waren, denn die charismatischsten, leidenschaftlichsten und energischsten Menschen dieser neuen Verhältnisse waren Leute, die nur einen Verhaltensmodus kannten: sich mit einer Handvoll Vertrauter, quasi Brüder, im Schützengraben zu verschanzen und um sich zu schießen. Sind ringsum keine Feinde, werden sie künstlich geschaffen.
Einen anderen Verhaltensmodus kennen Menschen nach einer Kriegserfahrung nicht. Weder die gemeinsame Sache, noch patriotische Aufwallung, noch Ehre oder Heldenmut, sondern das Gefühl eines Soldaten, der im Schützengraben sitzt und sich nach allen Seiten vor Feinden verteidigen muss – das war ihr Beitrag zum Frieden.
Die unterschiedlichen Auffassungen von Krieg haben allerdings eines gemeinsam. Und das konnten wir in den letzten Jahren sehr deutlich spüren: Sie stehen allesamt auf sehr wackligen Füßen. Beim kleinsten Druck von oben kippen wir als Individuen oder als Gesellschaft in Kriegsszenarien.
Soldaten auf dem Sofa
Plötzlich fühlen wir uns wie Soldaten, auch wenn wir bloß auf dem Sofa sitzen und Kommentare bei Facebook tippen oder den Fernseher anbrüllen.
Der Krieg ist eine große Versuchung. Er lockt mit der Möglichkeit, doch noch jene wichtige Sache zu erleben, die alles mit der absoluten Wahrheit auflädt und alle Schulden erlässt.
Wir glauben sehr leicht an Geschichten von dunklen Mächten, die unser aller Existenz bedrohen. Und je leichter wir daran glauben, je leichter wir darauf reinfallen, desto schneller geraten wir in die Hände ganz anderer dunkler Mächte, die Menschen zu einer Masse zusammendrängen und in den Tod schicken, wie schon Tolstoi sagte.
Je leichtfertiger wir in gewöhnlichen Facebook-Posts eine Sprache des Krieges verwenden, je leichtfertiger wir unsere Widersacher mit Insekten, Parasiten, Käfern und anderem Getier vergleichen, desto näher rücken wir der Ansicht, sie seien Unmenschen, die vernichtet werden müssen. Das Einzige, was uns davor bewahren kann, ist die durch die russische Geschichte buchstäblich leidvoll errungene Erkenntnis, dass die letzte Wahrheit nicht in exaltierten Losungen oder den patriotischen Notizen eines Graf Rastoptschin liegt. Sondern in der Angst, im Schmerz und im Chaos, die im Hirn eines Menschen toben, der irgendwo auf dem Schlachtfeld bei Sewastopol liegt und nur noch eine Sekunde zu leben hat.
Hat der Kreml die US-Wahl 2016 beeinflusst? Gerüchte gibt es schon länger, auch die US-amerikanischen Geheimdienste werfen Russland vor, die Wahl manipuliert zu haben. Ihr Hauptverdächtiger ist die sogenannte Trollfabrik, die unter dem Dach der St. Petersburger Nachrichtenagentur Glawset wirken soll. Untergebracht in einem unscheinbaren Gebäude an der Uliza Sawuschkina, soll sich hier demnach eine Zentrale für die nahezu industrielle Produktion von Falschinformationen befinden.
Nun bringt die Nachrichtenplattform RBC Licht in diese „Trollhöhle“ und recherchierte zu wichtigen Fragen: Wer steckt hinter der Kampagne zur US-Wahl? Wie teuer war sie? Der vielbeachtete investigative Artikel deckt die Mechanismen hinter der Aktion auf.
22. Oktober 2016. Die Stadt Charlotte im US-Bundesstaat North Carolina. Es ist ein sonniger Samstag. Einige Dutzend Menschen sind in den Central Park der Stadt gekommen. Allerdings nicht zum Spazierengehen, sondern zu einer Demonstration der afroamerikanischen Bevölkerung gegen Polizeigewalt. Die Protestierenden rufen am Brunnen des Parks Parolen, dann ziehen sie friedlich zum Eingang der örtlichen Polizeistation. Auf der Eingangstreppe zur Polizeiwache rufen sie einige Male: „Black Lives Matter!“ Eine populäre Parole und der Name einer Organisation, die sich für die Rechte schwarzer US-Bürger einsetzt.
Die Aktion in Charlotte war auf Facebook ordentlich beworben worden von der Gruppe BlackMattersUS, die mit der Organisation Black Lives Matter nichts zu tun hat. Die Verbindungen von BlackMattersUS reichen weit über die Grenzen der USA hinaus – bis nach Russland in die Uliza Sawuschkina 55 in St. Petersburg.
Diese Adresse im Primorski-Bezirk ist schon lange ein feststehender Begriff. Vor rund drei Jahren sind in das vierstöckige Gebäude in der Uliza Sawuschkina einige hundert junge Leute eingezogen, deren Hauptaufgabe es ist, patriotische Werte zu propagieren. Die Arbeit der Mitarbeiter dieser Trollfabrik (im Weiteren kurz: Fabrik), gegründet und finanziert vermutlich von dem Petersburger Geschäftsmann Jewgeni Prigoshin, bestand vor allem darin, unter fiktiven Namen non-stop Kommentare in Blogs und Sozialen Netzen des russischen Internet zu schreiben. Sie sollten das gegenwärtige Regime verteidigen, Oppositionelle kritisieren und politisch willkommene öffentliche Events unterstützen.
Die Trollfabrik in der Uliza Sawuschkina
Bald schon wurden in der Fabrik die anfänglich primitiven Methoden weiterentwickelt. Ungefähr zu dieser Zeit entstanden die ersten Portale, die dann zum Kern des Medien-Anteils der Organisation wurden, der sogenannten „Medienfabrik“. Eine komplette patriotische Holding, über die RBC im März 2017 berichtet hat und die mittlerweile monatlich über 50 Millionen Menschen erreicht.
Bis Mitte 2015 war die Fabrik auf 800 bis 900 Leute angewachsen. Auch das Instrumentarium hatte sich erweitert, hinzugekommen waren Videos, Infografiken, Meme, Reportagen, Nachrichtenmeldungen, Interviews, analytische Beiträge und eigene Gruppen in den Sozialen Netzwerken. Im Januar 2017 wurde dann in einem Bericht der US-amerikanischen Geheimdienste über die Einmischung Russlands in die US-Präsidentschaftswahlen neben dem Fernsehsender RT [Russia Today – dek] die Agentur für Internetrecherchen erwähnt. Mutmaßlich war dies eine der ersten juristischen Personen im Rahmen der Trollfabrik (die hatte ihre Tätigkeit 2015 eingestellt und war Ende 2016 aus dem Handelsregister gestrichen worden). Bald nach der Wahl Donald Trumps wurden im US-Kongress und im Senat eine Reihe von Ausschüssen eingesetzt, die die Vorkommnisse untersuchen sollten.
US-amerikanische Firmen wie Facebook, Twitter oder Google arbeiten mit den Behörden zusammen und forschen auf ihren Plattformen nach Trollen. Westliche Medien, unter anderem The Wall Street Journal, The New York Times, CNN und The Daily Beast veröffentlichen fast täglich neue Details zu einer möglichen russischen Einmischung in die Präsidentschaftswahlen. Es werden immer neue Social-Media-Gruppen gefunden, die vor und nach den Wahlen aktiv waren, sowie Aufrufe und Veranstaltungen, die mit ihnen in Verbindung standen. Als Grundlage dieser Berichte dienen zuweilen einzelne Bilder und Videos gesperrter Gruppen.
RBC hat jetzt eigene Recherchen angestellt. Es ist uns gelungen, die Beteiligung von Mitarbeitern aus der Uliza Sawuschkina an 120 Gruppen und Themen-Accounts in Sozialen Medien aufzudecken und deren Existenz zu belegen, ihren Inhalt zu analysieren und die Gesamtausgaben für diese Kampagne zu berechnen. Rechtfertigt das Ausmaß der Auslandstätigkeit der Trollfabrik die Hysterie, die in den USA darum entstanden ist?
Es wurden nur Möglichkeiten getestet, es war ein Experiment. Und es hat funktioniert
Frühjahr 2015. Ein paar Leute sind vor einem Bildschirm versammelt. Auf dem Monitor des Computers ist ein recht monotones Bild zu sehen: Menschen kommen auf einen Platz in New York, lassen den Blick schweifen, schauen auf ihre Telefone, schauen sich noch einmal um und gehen nach einiger Zeit weg.
Einige Tage zuvor war auf Facebook mit einem Targeting auf die Bewohner von New York ein Event beworben worden: Man bekommt kostenlos einen Hotdog, wenn man zur richtigen Zeit am festgelegten Ort erscheint. Allerdings hat letztendlich niemand irgendein Würstchen bekommen. Dafür hatten andere Leute ihren Spaß: Mit Hilfe städtischer Überwachungs-Webcams wurde das Geschehen auf dem Platz online verfolgt, von St. Petersburg aus, aus einem Büro im ersten Stock der „Trollhöhle“.
Die Aktion sollte die Praxistauglichkeit einer Hypothese prüfen, nämlich, ob sich aus der Ferne eine Aktion in einer US-amerikanischen Stadt organisieren lässt. „Es wurden nur Möglichkeiten getestet, es war ein Experiment. Und es hat funktioniert“, erinnert sich ein Mitarbeiter der Fabrik, ohne seine Freude zu verhehlen. An jenem Tag, also fast anderthalb Jahre vor den Präsidentschaftswahlen in den USA, begann die eigentliche Arbeit der Trolle in der amerikanischen Internet-Community.
Im März 2015 wurde auf dem Portal Super Job eine freie Stelle als „Internet-Operator (nachts)“ ausgeschrieben. Für ein Gehalt zwischen 40.000 und 50.000 Rubel [etwa 590 und 740 Euro – dek] und mit Arbeitszeiten von 21.00 bis 9.00 Uhr (nach dem Schema „zwei Nächte arbeiten, zwei Tage frei“) wurde ein Mitarbeiter für ein Büro im Primorski-Bezirk gesucht: Zu den Aufgaben gehört das Verfassen von „nachrichtlich-informierenden und analytischen“ Beiträgen „zu einem vorgegebenen Thema“. Gefordert wird unter anderem „fließendes Englisch in Wort und Schrift“ sowie Kreativität.
Die freie Stelle wurde von der Petersburger Firma Internet-Issledowanija [dt. Internet-Recherche – dek] angeboten. Als Besitzer dieser Firma wurde damals Michail Bystrow geführt, ehemaliger Leiter der Verwaltung des Innenministeriums für den Moskowski-Bezirk von St. Petersburg. Er leitete auch die Agentur für Internetrecherchen und steht bis heute an der Spitze von Glawset, registriert unter der Adresse Uliza Sawuschkina 55 (Angaben von SPARK-Interfax).
Über Anzeigen dieser Art wurden in der Uliza Sawuschkina Leute rekrutiert, die die amerikanischen Social-Media-Gruppen in Echtzeit bearbeiten sollten, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter der Fabrik gegenüber RBC. Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter ergänzt, dass seit Frühjahr 2015 zum Arbeitsfeld auch die „Diskreditierung der Kandidaten“ gehörte, die bei den Präsidentschaftswahlen in den USA antraten.
Wenn Facebook die Accounts der Trolle sperrt, kauft die IT-Abteilung Proxy-Server, teilt neue IP-Adressen zu, schafft virtuelle Betriebssysteme, und die Arbeit beginnt von Neuem, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter der Fabrik. Auch kaufen sie neue SIM-Karten oder Cloud-Nummern, es werden neue Zahlungskonten eröffnet und manchmal auch Dokumentenpakete zur Registrierung von Accounts, ergänzt ein Gesprächspartner von RBC aus der Fabrik. Für die IT-Versorgung werden monatlich bis zu 200.000 Rubel [knapp 3000 Euro – dek] ausgegeben, führt eine Quelle aus, die mit der Vorgehensweise der Organisation vertraut ist.
Einen sehr viel umfangreicheren Ausgabenposten stellen die Gehälter dar. Bis zum Sommer 2016, also innerhalb eines Jahres, hatte sich die Zahl der Mitarbeiter der Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina fast verdreifacht, auf 80 bis 90 Personen. Das sind rund zehn Prozent derjenigen, die der Fabrik zugeordnet werden können.
Die Köpfe der Trollfabrik
Chef der gesamten Fabrik ist de facto der 31-jährige Michail Burtschik, wie RBC berichtet hatte. Er war früher Besitzer der IT-Firmen VkAp.ru und GaGaDo und Herausgeber kommunaler Zeitungen. Burtschik hat nie offiziell bestätigt, dass er Chef der Fabrik sei oder im Büro in der Uliza Sawuschkina arbeite.
Gegenüber RBC meinte er jedoch, dass er Medien berate, „als Fachmann für die Förderung und Entwicklung von Internet-Projekten“. Burtschik hat mit etwa 20 bis 30 Leuten zu tun, die ihrerseits wiederum, je nach Aufgabenbereich, Teams von zehn bis 100 Mitarbeitern leiten, beschreibt ein Informant der Fabrik das Arbeitsmodell.
Auf die Frage, wer die Amerika-Abteilung leite, nannten Gesprächspartner gegenüber RBC einhellig den 27-jährigen in Aserbaidschan geborenen Ceyhun Aslanov. Einem Korrespondenten von RBC gegenüber hat Aslanov diese Information dementiert. Als Quellen dienten RBC ein aktueller Mitarbeiter der Fabrik, ein ehemaliger Mitarbeiter der Amerika-Abteilung sowie eine Person, die mit der Tätigkeit der Organisation vertraut ist. Neben diesen mündlichen Angaben liegt RBC noch eine Mitteilung aus einem Telegram-Chat vor, die Aslanov verfasst hat und in der es um die Zwischenergebnisse der Fabrik-Arbeit in den USA geht. Aslanov war Ende der 2000er Jahre aus der Stadt Ust-Kut (Gebiet Irkutsk) nach St. Petersburg gezogen, um dort an der Hydrometeorologischen Universität Wirtschaft zu studieren. 2009 verbrachte er einige Monate in den USA, besuchte dabei New York und Boston und fuhr 2011 nach London, wie aus den öffentlichen Informationen auf Aslanovs Profil bei Vkontakte hervorgeht. Aktuell gehören dem mutmaßlichen Leiter der Auslandsabteilung der Fabrik zwei Firmen mit Spezialisierung im Werbe- und Online-Geschäft. Eine der Firmen namens Asimut bietet Dienste an, mit denen Accounts in Sozialen Netzen gepusht werden, erzählte Aslanov und bot dem Korrespondenten von RBC sogar seine Hilfe an, um dessen persönliche Seiten hochzubringen.
Eine Million Euro für Gehälter
Ein beträchtlicher Teil des Content in den englischsprachigen Gruppen wurde auf Facebook mittels eingetakteter Postings veröffentlicht. Von der Gesamtbelegschaft der Auslandsabteilung arbeiteten rund zehn Mitarbeiter in Nachtschichten, die übrigen hatten eine normale Arbeitswoche (fünf Arbeitstage, zwei Tage frei). Der Budgetposten für die Gehälter der Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina liegt bei 60 bis 70 Millionen Rubel [knapp eine Million Euro – dek] jährlich. Trolle der unteren Ebene erhalten rund 55.000 Rubel [etwa 800 Euro – dek] (plus Prämien, wenn Mitglieder der Gruppen reagieren), Administratoren verdienen 80.000 bis 90.000 [etwa 1200 Euro – dek] und Führungskräfte 120.000 [1700 Euro – dek] aufwärts. Diese Zahlen nennen ein ehemaliger und ein aktueller Mitarbeiter der Fabrik.
RBС liegt eine Liste mit fast 120 Gruppen und Themen-Accounts auf Facebook, Instagram oder Twitter vor, die bis zum August 2017 aktiv waren. Die Echtheit dieser Liste wird durch Screenshots mit Posts der Gruppen und der einzelnen Accounts bestätigt, die von den internen Panels der Administratoren aus gemacht wurden (ebenfalls gesperrt). Der Mitwirkung der Trolle an dieser Liste wurde RBC von einem Informanten aus dem engeren Umfeld der Fabrik-Leitung bestätigt. Darüber hinaus ist über die Hälfte der Twitter-Accounts auf Telefonnummern mit der russischen Ländervorwahl +7 registriert, wie aus der Passwortwiederherstellung hervorgeht.
Zusätzlich hat RBC Linguisten gebeten, sieben Veröffentlichungen aus den Social-Media-Gruppen zu analysieren, die auf der Liste stehen. Die Autoren der Posts waren in vielen Fällen Russen. Ronald Meyer, Adjunct Associate Professor an der Columbia-Universität, und seine Kollegin Alla Smyslova, Direktorin des Programms für russischen Spracherwerb, haben hierfür „hinreichend Belege“ gefunden. Sie verwiesen auf wörtliche Übersetzungen aus dem Russischen (z. B.: „sitting on welfare“ – sidet’ na possobii / auf Stütze sitzen), auf Fehler in der Zeichensetzung ( Kommata vor „that“), auf fehlende Artikel und überhaupt auf „merkwürdige“ Formulierungen.
Jekaterina Tschegnowa, Direktorin der Sprachenschule Star Talk, und der Englischlehrer Dimitri Bulkin meinten allerdings, dass die Publikationen in „recht sauberem Englisch“ geschrieben seien. Deshalb könne man davon ausgehen, dass die Verfasser Muttersprachler seien. Zum Teil könnte das damit zusammenhängen, dass die Trolle immer wieder Teile ihrer Posts von „echten“ US-Amerikanern übernehmen.
Weniger als 100 Personen haben wöchentlich mehr als 1000 Beiträge verfasst und gepostet. Die Reichweite betrug beispielsweise im September 2016 durchschnittlich 20 bis 30 Millionen Nutzer. Wie ist es den Trollen gelungen, die User für ihre Fabrik-Inhalte zu interessieren?
Das Erfolgsrezept der Trollfabrik
Am 28. Februar 2017 hat sich Trump-Spitzenberaterin Kellyanne Conway bei einem Staatsempfang im Oval Office des Weißen Hauses mit Schuhen auf ein Sofa gekniet. Das Bild löste in den Sozialen Netzwerken einen Sturm der Entrüstung aus: Sie in dieser Position im Vordergrund und der Präsident im Hintergrund, wie er gerade mit den Direktoren der speziell für die schwarze Bevölkerung gegründeten afroamerikanischen Colleges und Hochschulen (HBCU) vor den Kameras posiert. Conway sei Respektlosigkeit gegenüber dem Oval Office, dem US-amerikanischen Volk und seinem Präsidenten vorgeworfen worden, hieß es in der BBC.
Am selben Tag reagierte die Bloggerin Jenn Abrams mit zwei Tweets auf die Kritik an Conways Verhalten: Ein Bild zeigte den Ex-Präsidenten Barack Obama mit den Füßen auf dem Tisch, das zweite wiederum den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton mit Monica Lewinsky im Arm. Beide Fotos wurden im Oval Office gemacht. Diese Beiträge bekamen insgesamt circa 1000 Retweets, 1,3 Millionen Likes und wurden von der britischen Zeitung Independent aufgegriffen. Backlinks zu Abrams Beiträgen wurden von RBC unter anderem auf den Webseiten von Aljazeera, Elle, Business Insider, BBC, USA Today und Yahoo gefunden. Der Account @Jenn_Abrams, der unter einer Telefonnummer mit der Vorwahl +7 registriert wurde, und die Homepage Jennabrams.com sind aktuell nicht verfügbar.
Die Fabrik hatte Dutzende von Accounts wie den von „Jenn Abrams“. Um die zehn Mitarbeiter der amerikanischen Abteilung waren für Twitter zuständig. Ihre Aufgaben hätten nicht den Wahlkampf selbst betroffen, sondern im Einrichten von Accounts und im Durchführen von Flashmobs bestanden, die von großen Medien und zentralen Medienpersonen aufgegriffen werden sollten, erzählt ein Mitarbeiter der Fabrik.
Mehr Clinton als Trump
Laut einer Quelle aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung wurde fast der gesamte US-bezogene Content der Fabrik weniger zugunsten eines konkreten Kandidaten als zu „sozial brisanten Themen“ erstellt. Es sei quasi rein zufällig zu Übereinstimmungen mit Trumps Rhetorik gekommen, was ein Informant als „Korrelation“ und nicht etwa als direkte Unterstützung bezeichnet.
„Wir hatten nicht den Auftrag, Trump zu unterstützen. Alle Probleme waren unmittelbar auf die Arbeit der damaligen Regierungspartei [der Demokraten Anm. d. Red.] zurückzuführen. Als ihre Vertreterin trägt Hillary [Clinton Anm. d. Red.] eine Mitschuld“, sagt ein anderer. Die Analyse hunderter Publikationen ergab, dass Clinton in den Posts der Trolle wesentlich öfter vorkam als Trump.
„Teilt das, wenn ihr glaubt, dass Muslime an 9/11 unbeteiligt waren. Seht euch an, wie viele Menschen die Wahrheit kennen“ (Post von United Muslims of America vom 11. September 2016). „Clinton besteht darauf: ‚Wir haben keinen einzigen Amerikaner in Libyen verloren‘. Die vier mit Fahnen zugedeckten Särge waren nicht leer, Hillary“ (Being Patriotic zu Clintons Verhalten ob der nationalen Tragödie vom 8. September 2016). In einer Stellungnahme hat Facebook darauf hingewiesen, dass ein Großteil der gesperrten Beiträge Themen wie LGBT, Rassismus, Immigration oder Waffenbesitz betraf und „das ganze ideologische Spektrum umfasste“.
Die Gesamtzahl der Fans und Follower der etwa 120 gesperrten Gruppen und Accounts betrug nahezu sechs Millionen, nach Berechnungen von RBC waren davon über die Hälfte auf Facebook und ein Drittel auf Instagram. Unterteilt man die gesperrten Gruppen nach Themen, so wird deutlich, dass die Trolle meistens politische Konflikte anheizten, und ethnische, vor allem mit Bezug auf die Probleme der schwarzen US-Bevölkerung. Insbesondere für die massenhafte Streuung dieser Themen wurde das Marketingbudget in Sozialen Netzwerken verwendet.
„Es ist verboten, mich im Fernsehen zu zeigen, weil ich zu gewalttätig war. Klick auf Gefällt mir und Teilen, wenn du mich als Kind im Fernsehen gesehen hast, eine Pistole besitzt und niemanden angeschossen oder umgebracht hast!“ Dieses Posting wurde am 9. März in der Facebook-Gruppe South United veröffentlicht. Inmitten des Textes ist ein Bild, das die Zeichentrickfigur Yosemite Sam zeigt. Die Reichweite dieses Beitrags betrug über 17 Millionen Nutzer, 1,6 Millionen haben darauf reagiert, lediglich 3000 Nutzer haben den Beitrag auf ihrer Chronik verborgen und neun haben ihn als Spam gemeldet, wie sich aus einem Screenshot schließen lässt.
Die Zahl der Fabrik-Beiträge auf Facebook mit vergleichbarer Reichweite lässt sich an zwei Händen abzählen. Darunter war ein Post über Veteranen und Flüchtlinge, der in der Gruppe Being Patriotic über 17,2 Millionen Personen erreicht hat. Gerade mal an die 20 Posts hatten eine Reichweite von einer Million Nutzern. Nach Berechnungen von RBC sieht die Statistik bei Twitter ganz ähnlich aus. Es gibt zwar mehrere hundert Tweets, die zehntausende Views hatten, der Löwenanteil der Tweets hatte allerding bestenfalls 1000 Views.
Ein Marketingbudget von 5000 US-Dollar pro Monat
Einer internen Statistik, die RBC vorliegt, kann man entnehmen, dass das Marketingbudget in Sozialen Netzwerken etwa 5000 US-Dollar pro Monat betrug, beziehungsweise 120.000 US-Dollar für den Zeitraum von insgesamt zwei Jahren. Diese Zahlen bestätigte ein Informant aus der Organisation gegenüber RBC. Der wesentliche Teil des Werbeetats der Fabrik war jedoch nicht etwa für die Promotion der Gruppen an sich vorgesehen, sondern für eine Potenzierung der Hotdog-Erfahrung.
Im Mai 2016 erhielt Micah White, ein bekannter amerikanischer Aktivist und Mitbegründer der Bewegung Occupy Wall Street, eine E-Mail von einem gewissen Yan Davis. Dieser gab sich als ein freier Mitarbeiter der Organisation BlackMattersUS aus, die sich den Problemen der afroamerikanischen Bevölkerung widmet, und bat um ein Telefoninterview. Der Aktivist willigte ein und gab ihm seine Nummer, die anschließende Unterhaltung kam ihm allerdings seltsam vor. „Die Verbindung war schlecht und ich glaube, der Interviewer war kein Muttersprachler“, erinnert sich White gegenüber RBC. White war 2014 vom Magazin Esquire zu einem der einflussreichsten Menschen unter 35 gekürt worden.
Jetzt ist das Interview nur noch auf der Webseite BlackMattersUS verfügbar. Außer des Tumblr-Accounts sind die Seiten der Plattform auf Facebook, Twitter und Instagram mit insgesamt über 250.000 Fans und Followern nicht mehr aufrufbar. Auch das Facebook-Profil von „Yan Davis“ wurde deaktiviert. RBC hat versucht, die Person über die Adresse zu kontaktieren, über die auch White mit dem „freien Journalisten“ kommuniziert hat, aber nach Meldung des Dienstes Readnotify wurde die E-Mail nicht geöffnet. Der Account @BlackMattersUS ist bei Twitter auf eine Telefonnummer mit der Vorwahl +7 registriert. Laut Angaben eines fabriknahen Informanten von RBC waren die Mitarbeiter, die in Nachtschichten Kommentare in Gruppen beantworteten, auch für den Beziehungsaufbau zu verschiedenen amerikanischen Aktivisten verantwortlich.
BlackmattersUS – geführt aus Russland
Im Gegensatz zu einem Großteil der von der Fabrik geführten Gruppen, wurde BlackMattersUS als ein nichtkommerzielles Nachrichtenportal mit eigener Redaktion präsentiert: Jeder konnte den Kampf gegen Rassismus durch Spenden über PayPal auf ein Gmail-Konto mit dem Nutzernamen xtimwalters unterstützen. Auf der Webseite werden neben Yan Davis sechs weitere Redaktionsmitglieder gelistet. RBC hat außerdem von noch zwei „Mitarbeitern“ Twitter-Accounts gefunden: Einer davon ist gesperrt, der andere seit 2016 inaktiv.
BlackMattersUS gelang es, ein ganzes Interview-Portfolio mit bekannten Bürgerrechtlern zu erstellen, die sich für die Gleichstellung dunkelhäutiger US-Amerikaner einsetzen. Der Kontakt mit ihnen bestand nach den Interviews weiter: Besagter White erhielt von Yan Davis im Folgenden mehrere E-Mail-Anfragen mit der Bitte, die Aktionen von BlackMattersUS zu unterstützen. So sollte er über seinen Account Informationen zu einem Protest am 14. Oktober 2016 im Gebäude des Strafgerichts von New Orleans teilen. An diesem Tag wurde der Prozess gegen den Afroamerikaner Jerome Smith wiederaufgenommen, der 1986 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Wie man auf der Seite von BlackMattersUS nachlesen kann, sei geplant gewesen, dass die Protestierenden nach der Kundgebung die Anhörung besuchen. RBC konnte jedoch nicht in Erfahrung bringen, ob tatsächlich jemand an der Protestaktion teilgenommen hat. Die Facebook-Seite der Veranstaltung wurde gesperrt.
Mehr Belege gibt es hingegen für die anfangs erwähnte Demonstration gegen Polizeiwillkür, die ebenfalls im Oktober 2016, zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl, in Charlotte stattfand. Kurz vor Beginn der Veranstaltung kontaktierten Akteure der Gruppe BlackMattersUS per Facebook den lokalen Aktivisten und Leiter der Initiative Living Ultra-Violet Conrad James. Er sei gebeten worden, bei der Durchführung der Protestaktion zu helfen, berichtet James. Dieser erklärte sich nicht nur dazu bereit, sondern mobilisierte weitere lokale Bürgerrechtler, Afroamerikaner und andere Minderheiten. Er selbst erschien sogar mit Megafon bei dem Protest.
Nach der Wahl: Anti-Trump-Posts
Einige Wochen nach Trumps Wahl zum US-Präsidenten habe in Charlotte eine weitere, von James zusammen mit BlackMattersUS organisierte, Kundgebung stattgefunden, erzählt der Aktivist. Unter dem Motto „Charlotte against Trump“ versammelten sich mehrere Dutzend Gegner des neugewählten Präsidenten. Solche heftigen Positionswechsel der Fabrik lassen sich damit erklären, dass in der Uliza Sawuschkina völlige Gleichgültigkeit darüber herrscht, wer das andere Land letztendlich regiert.
Durch die Initiative von BlackMattersUS seien in den USA im Zeitraum von 2016 bis 2017 etwa zehn Veranstaltungen durchgeführt worden, berichtet ein mit der Arbeit der Fabrik vertrauter Informant. Seine Aussagen werden von organisationsinternen Berichten über die Aktionen bestätigt und von Bildern illustriert, die bisher unveröffentlicht geblieben sind (sie liegen RBC vor). Die an den Aktivitäten von BlackMattersUS beteiligten Bürger vor Ort hätten nicht gewusst, dass hinter der Organisation Trolle von der Uliza Sawuschkina standen, versichern ein Angestellter der Fabrik sowie ein ehemaliger Mitarbeiter der Amerika-Abteilung. Beide betonen, dass es keinerlei Dienstreisen aus St. Petersburg in die USA gegeben habe.
Unterm Strich konnten die Trolle, die sich in den Sozialen Netzwerken unter falschen Namen als Mitarbeiter von Gruppen ausgeben, etwa 100 nichtsahnende ortsansässige Aktivisten mobilisieren, die bei der Umsetzung durch ihr Offline-Engagement halfen.
Über die Social-Media-Gruppen der Fabrik wurden in den USA rund 40 Kundgebungen und Aktionen verschiedener Art organisiert, wie aus internen Berichten hervorgeht. Dabei kamen einige dieser Veranstaltungen erst in die amerikanischen Medien, nachdem Facebook die Informationen zu den gesperrten Beiträgen und Accounts an den Kongress übergeben hatte. So hatte Being Patriotic im August 2016 die Bewohner von 17 Städten Floridas über Facebook dazu eingeladen, an Unterstützungskundgebungen für Trump teilzunehmen, der zu diesem Zeitpunkt noch Präsidentschaftskandidat war. Mindestens zwei dieser Veranstaltungen haben auch tatsächlich stattgefunden, stellten die Journalisten von The Daily Beast in einer investigativen Recherche zu Being Patriotic fest.
Konnten wir den Wahlausgang beeinflussen? Natürlich nicht
Die Ausgaben der Fabrik für die Arbeit der lokalen Organisatoren – darunter Inlandsflüge, Druckproduktion, Technik und ähnliches – beliefen sich monatlich auf circa 200.000 Rubel [knapp 3000 Euro – dek], wie RBC aus organisationsnahen Kreisen berichtet wird. Somit betrugen diese Kosten für zwei Jahre insgesamt fünf Millionen Rubel, beziehungsweise 80.000 US-Dollar, und damit etwas weniger als die Marketing-Ausgaben in den Sozialen Netzwerken.
Heute zählt die Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina etwa 50 Mitarbeiter. Diese namen- und gesichtslose Gruppe gilt in der aktuellen Berichterstattung US-amerikanischer Medien als geradezu wichtigster Motor für den Wahlsieg Trumps. US-Präsident Trump selbst hat zu den Vorwürfen über eine mögliche Einmischung der russischen Trolle in die Präsidentschaftswahlen nie eine klare Stellung bezogen.
Statt Präsident Putin reagierte dessen Pressesprecher Dimitri Peskow auf die Vorwürfe. „Wir wissen nicht, von wem und wie Werbung auf Facebook platziert wird und haben so etwas auch nie gemacht. Von russischer Seite gab es keinerlei Beteiligung daran“, erklärte er bei einer Pressekonferenz. Quellen aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung beteuern, dass es „keinerlei direkte Zusammenarbeit mit Vertretern der Präsidialverwaltung gab“. Die von RBC an Prigoshin adressierte Anfrage blieb bis dato unbeantwortet.
Unterdessen führt die amerikanische Abteilung ihre Arbeit fort, wie ein derzeitiger und ein ehemaliger Mitarbeiter berichten. Aus dem Gebäude in der Uliza Sawuschkina würden nach wie vor englischsprachige Gruppen mit einer Gesamtreichweite von rund einer Million Menschen betrieben, so ein Angestellter. Und ein Informant aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung sagt:
„Konnten wir den Wahlausgang beeinflussen? Natürlich nicht. Konnten wir unentschiedene Staaten zugunsten von Trump beeinflussen? Möglicherweise. Aber die Ergebnisse haben uns selbst umgehauen. Wozu wir das alles machen? Einfach aus Spaß an der Freude.“
Den Befehl Nr. 00447 hat NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichnet. Mit diesem Befehl Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente begann die umfassendste Massenoperation des Großen Terrors unter Stalin. Hunderttausende wurden auf seiner Grundlage verhaftet, ein Großteil davon erschossen.
80 Jahre später feiert Stalin eine Art Revival: Einer Umfrage des Lewada-Instituts zufolge halten 38 Prozent aller Russen Stalin für die herausragendste Persönlichkeit aller Zeiten – vor Staatspräsident Putin und vor dem Nationaldichter Alexander Puschkin. Nach wie vor verbinden viele Stalin mit dem Sieg über Hitlerdeutschland. Aber erklärt das allein die große Popularität?
„Die Ent-Stalinisierung“, so schreibt Meduza, „kümmert in Russland heute kaum einen: die Gesellschaft verhält sich zu Stalin entweder gleichgültig oder gar wohlwollend.“
Von führenden Wissenschaftlern und Experten wollte Meduza deshalb wissen: Hat denn überhaupt eine Ent-Stalinisierung stattgefunden in Russland? Oder warum ist die Figur Josef Stalin nach wie vor so populär?
Zu Sowjetzeiten war Stalin wie Solschenizyn: irgendwas Verbotenes
In Russland hat die Ent-Stalinisierung schon einmal stattgefunden. Ich erinnere mich an meine Kindheit, die mit der späten Ära der Stagnation zusammenfiel – damals klang das Wort „Stalin“ in etwa so wie „Solschenizyn“. Das war etwas Verbotenes, das nirgendwo und in keinster Weise zur Sprache kommen durfte.
Die politische Strategie der geschwächten Kommunistischen Parteibestand darin, Stalin komplett zu vergessen, einfach auszuradieren. Für jemanden, der Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre aufwuchs, existierte diese historische Figur gar nicht.
Verbotene Volkshelden
Stalin sah man, neben seinem gelegentlichen Auftauchen in irgendwelchen Kriegsfilmen, vor allem auf kleinen Porträt-Bildchen – hinter der Windschutzscheibe des nächstbesten Autos. Fernfahrer hängten sich bald Stalin, bald Wyssozki in ihre Fenster. Das waren damals Figuren ein und derselben Kategorie: verbotene Volkshelden. In diesem Sinne verkörperte Stalin weder Repressionen noch Massenmorde, sondern eine Ordnung, die dem einfachen Menschen in der späten Sowjetunion fehlte.
Natürlich wusste niemand von den Repressionen, das Thema kam gar nicht erst auf. Doch es dachte auch keiner an Stalin als den großen Staatsmann, das war längst aus den Geschichtsbüchern gestrichen.
Wunsch nach starker Führung
Seit kurzem ereignet sich etwas Unerfreuliches in Russland: die Re-Stalinisierung. Diese schleichende Entwicklung geht einzig und allein auf den Wunsch der Obrigkeit zurück. Es gibt keine Nachfrage nach Stalin-Denkmälern seitens des Volkes, niemand schreibt dem Präsidenten Briefe: „Bringen sie uns Stalin zurück!“ Es handelt sich hier um eine bewusste Politik der Regierung: Das Pflanzen eines zarten Stalin-Kults als gewissen Orientierungspunkt – danach strebt die derzeitige Staatsmacht, das sei gut, dem solle man nacheifern.
Sie sagen ,Stalin‘ und meinen: Wir wollen weniger Ungleichheit
Die erste Ent-Stalinisierung scheiterte, weil es unmöglich war, die Schuldfrage anständig auseinanderzudividieren. Unter Chruschtschow hat sich die sowjetische Regierung in der Nachfolge Lenins positioniert. Doch tatsächlich lässt sich das System Stalins nicht von den ersten Jahre der Sowjetherrschaft trennen.
Von Anfang an lag der Überwindung des Personenkults eine Lüge zugrunde: nämlich, dass es einen guten Bolschewismus und Kommunismus gegeben habe, aber dann sei Genosse Stalin gekommen und habe alles kaputt gemacht.
Nur einen Teil des Traumas durfte man zulassen
Das heißt, einen Teil des Traumas durfte man zulassen, einen anderen wiederum nicht. So musste die Liquidierung des Adels und der Bourgeoisie als Klasse weiterhin befürwortet werden, während die Verfolgung sowjetischer Beamter als Verbrechen und Ausschweifung gelten konnte. Die Tragödien im Zuge der Kollektivierung dagegen durften überhaupt nicht verurteilt werden, als hätte es sie nie gegeben.
Während der Perestroika begann eine neue Phase der Ent-Stalinisierung. Es konnte darüber diskutiert werden, was wirklich passierte; die Archive wurden geöffnet, es kamen Möglichkeiten auf, diese Informationen auch zu veröffentlichen. Aber diese Tendenz ging einher mit dem relativ traumatischen Zerfall der Sowjetunion und einer tiefen Wirtschaftskrise. So wurden alle Bemühungen, die Vergangenheit zu bewältigen, in Verbindung gebracht mit den unbeliebten 1990er Jahren und der liberalen Politik, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurde und so weiter.
Komplex historischer Mythen
Für die Jugend heute geht es in dieser Geschichte nicht einmal um ihre Großväter, sondern um noch frühere Generationen, um Menschen, die sie nie erlebt haben. Das heißt also, dass dieses Trauma für sie kein lebendiges Gesicht hat. Ihr Verhältnis dazu ist weniger ein Verhältnis zu aktuellen, realen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit als eher ein Verhältnis zu einem historischen Bild, zu einem bestimmten Komplex historischer Mythen.
Was hat es mit Stalin heute auf sich? Für den Großteil seiner Bewunderer steht Stalin beispielsweise für effektive Führung, obwohl schon längst belegt ist, dass er kein guter Staatenlenker war. Er steht auch für den Kampf gegen Korruption, doch die gab es auch in der UdSSR, wie Historiker ja wissen.
Stalin steht auch dafür, dass es in der UdSSR wesentlich weniger Ungleichheit gab als heute. Das ist schon etwas realistischer. Der mythische Stalin verkörpert für seine Befürworter eine Gesellschaftsform, in der die Ungleichheit (und vor allem der demonstrative Luxus der Oberschicht) wesentlich geringer war als in ihrer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit.
Keiner will die Repressionen zurück
Ich würde darauf achten, was die Leute eigentlich sagen wollen, wenn sie mit Stalin-Porträts auf die Straße gehen. Sie meinen damit nicht: „Wir wollen Repressionen; wir wollen, dass mehr Menschen ins Gefängnis kommen; wir wollen eine Zentralplanwirtschaft; wir wollen die Repression ganzer Völker; wir wollen, dass unsere Regierung einen weiteren Weltkrieg entfesselt.“
Sie meinen damit: „Wir wollen weniger Ungleichheit; wir wollen weniger Korruption; einen sozialeren Staat als wir jetzt haben. Uns gefällt nicht, was wir haben, wir sind es leid, und um das zu artikulieren, wählen wir die Figur, die so grausam und abschreckend ist, wie möglich.“ In etwa das haben sie im Sinn, wenn sie Stalin zum besten Herrscher Russlands erklären.
Die Ent-Stalinisierung ist noch nicht abgeschlossen
Die Ent-Stalinisierung ist in Russland aus einer Reihe von Gründen nicht abgeschlossen. Üblicherweise wird als [wichtigster] Grund das Vorgehen der russischen Staatsmacht in den 1990er Jahren genannt: Die Aufarbeitung des sowjetischen Erbes war für Boris Jelzin kein substanzieller Teil seiner Agenda. Die Demonstrationen auf der Lubjanka einen Tag nach dem gescheiterten Putsch führten lediglich zur Demontage des Dsershinski-Denkmals. Niemand wagte es, die KGB-Zentrale selbst zu betreten, und weiterhin wurde das Fortbestehen dieser obersten repressiven Instanz des Landes am selben Ort wie vor 70 Jahren kaum noch in Frage gestellt. Im Grunde genommen ist der Versuch, einen offenen [gerichtlichen] Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu führen, im Sande verlaufen.
Kein fundamentaler Elitenwechsel
Unter Jelzin hat außerdem kein fundamentaler Elitenwechsel stattgefunden. Zu einem großen Teil sind diejenigen an der Macht geblieben, die die Karriereleiter der UdSSR-Nomenklatura hinaufgestiegen waren. Am auffälligsten wurde die Elitenkontinuität erst unter Wladimir Putin, als klar wurde, dass 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ehemalige Mitarbeiter des sowjetischen KGB und Mitglieder der KPdSU an der Spitze des Staates standen.
Legitimation des heutigen Regimes
Es stellt sich heraus, dass wegen des Fehlens einer eigenständigen Ideologie die sowjetische Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Legitimation des aktuellen politischen Regimes spielt: Durch die kritische Auseinandersetzung mit Stalin und mit der sowjetischen Vergangenheit könnten die heutigen Machthaber in ernsthafte Bedrängnis geraten.
Nach 1991 war das Bedürfnis nach Ent-Stalinisierung von Seiten der Gesellschaft nicht stark genug. Wie unlängst der Fall von Denis Karagodin zeigt, der im Alleingang die Namen derjenigen identifiziert hat, die an der Hinrichtung seines Vaters beteiligt waren, können konsequente und durchdachte Bemühungen auf privater Ebene sehr wirkungsvoll sein. Leider gibt es hier immer noch wenige Initiativen solcher Art.
Gewalt als Norm
Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht nur die Geschichte des Stalinismus an sich ist, die uns beschäftigt. Vielmehr werden damit auch wichtige Fragen über die Gesellschaftsordnung aufgeworfen, in der wir heute leben.
Wenn wir heute über die Ent-Stalinisierung sprechen, meinen wir die Notwendigkeit der totalen Entautomatisierung der Gewalt: Wir müssen lernen, die Gewalt zu erkennen, die vielen gesellschaftlichen Institutionen inhärent ist, und aufhören, diese als etwas Normales hinzunehmen.
In diesem Sinne ist der Kampf um die Rechte der Menschen in Heimen, Gefängnissen, im Militär und an den Schulen heute eine Fortführung der Ent-Stalinisierung der russischen Gesellschaft. Es ist nicht von grundlegender Bedeutung, ob wir Stalin erwähnen oder nicht, wenn wir darüber sprechen, dass keine Regierung dazu befugt ist, die Würde des Menschen mit Füßen zu treten. Dieser Kampf wird auf jeden Fall weitergehen, ob wir dabei auf die Geschichte verweisen oder nicht.
Jede Kritik an der Vergangenheit wird als Intrige des Westens dargestellt
Die Ereignisse der sowjetischen Epoche liegen in der Vergangenheit, aber was beunruhigt uns heute? Uns beunruhigt, dass das Land im alltäglichen Leben noch immer nicht vom Gesetz regiert wird, dass die bestehenden Gesetze wie Imitate wirken.
Es gibt eine Verfassung, die Rechte und Freiheiten garantiert, und es gibt den Alltag, in dem das alles mit Füßen getreten wird.
Willkür statt Gesetze
Wir sehen, wie wir zu den Praktiken zurückkehren, die es in der UdSSR gab, als der politische Wille der Führung und nicht das Gesetz den Alltag bestimmt hat. Von diesem Standpunkt gesehen ist die Ent-Stalinisierung eine Absage an eine solche Praxis, an die Regeln und Gewohnheiten der Willkür, die sich im sowjetischen System gebildet haben.
Andererseits muss man juristisch einen klaren Strich ziehen unter die sowjetische Vergangenheit und sagen, dass die sowjetische Epoche nicht nur eine Epoche der Willkür war, sondern auch die eines totalitären und verbrecherischen Staates. Dieser Strich ist momentan noch nicht gezogen.
Es tut sich was
Wenn man Ent-Stalinisierung enger versteht als Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen, dann tut sich da natürlich etwas. Allerdings im ständigen Widerspruch zu den Versuchen, Stalins Namen zurück auf die russische Landkarte zu bringen [durch die vorübergehende Umbenennung Wolgograds in Stalingrad – dek] oder das Thema 1945 zu forcieren und mit Stalins Persönlichkeit zu verknüpfen. Deswegen befürwortet der Staat nicht mal die vorsichtigsten Ent-Stalinisierungs-Programme.
Leider haben sich der Staat und unser Volk als unfähig erwiesen, unter rechtsstaatlichen und demokratischen Bedingungen zu leben. Man ist ständig in alte Praktiken verfallen, weil man es so gewohnt ist und anders nicht kann. Das Primat des Staates vor den persönlichen Rechten ist heute die Visitenkarte des Kreml. Auch deswegen ist das Thema Ent-Stalinisierung so unbeliebt unter Russen. Mit Hilfe von Propaganda, Radio und Fernsehen hat man vielen Bürgern eingetrichtert, dass unsere Besonderheit in eine aggressive Xenophobie münden solle. Alle Versuche, die Vergangenheit zu kritisieren, werden als Intrigen des Westens dargestellt.
Als Don Quijote des russischen Internet feiern ihn große Teile der Web-Community: Pawel Durow, Begründer des facebook-Pendants VKontakteund des Messenger-Dienstes Telegram. Vergangene Woche hat die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor verschiedene Informationen von Telegram eingefordert, um die Organisation in das sogenannte Rejestr (dt. Register) aufnehmen zu können. Andernfalls, so die Drohung, werde der Dienst in Russland gesperrt.
Doch Durow weigerte sich. In mehreren Mitteilungen auf VKontakte nannte er seine Argumente, warf Roskomnadsor vor, gegen das in der Verfassung garantierte Briefgeheimnis zu verstoßen, den Terrorismus dagegen so nicht wirkungsvoll bekämpfen zu können. Der Streit vollzog sich vor Augen der Social-Media-Community und die feierte Durow für seine Hartnäckigkeit.
Dann nannte Durow, ebenfalls auf VKontakte, die Bedingungen, unter denen er einer Aufnahme ins Rejestr zustimmen würde, vor allem: kein Zugriff auf die persönlichen Mitteilungen der Nutzer. Sämtliche geforderte Firmen-Angaben seien sowieso öffentlich einsehbar. Am gestrigen Mittwoch schließlich erklärte Roskomnadsor-Chef Sharow persönlich, dass die von Durow erwähnten Firmenangaben ausreichten, Telegram wird damit ins Rejestr aufgenommen.
„Letzten Endes hat Roskomnadsor eine Möglichkeit gefunden, mit einer Niederlage aus den Verhandlungen zu gehen, ohne aber dabei das Gesicht zu verlieren“, kommentiert der Blogger Ilya Varlamov.
Durow, der Don Quijote des Internet? Und wie sicher ist Telegram tatsächlich? Noch während der Streit zwischen Durow und Roskomnadsor schwelte, hat Republic-Korrespondent Dimitri Filonow einige Hintergrundinformationen zusammengetragen.
Seine Premiere in der Rolle des Gründers von Telegram hatte Pawel Durow bei der TechCrunch-Konferenz im September 2015. Für die Präsentation seiner neuesten Schöpfung wählte Durow die Figur Neo aus Matrix: ganz in Schwarz mit Stehkragen. Einzig die Sonnenbrille fehlte, wäre aber auch zuviel gewesen. „Egal, ob es schon viele Messenger-Dienste gibt – sie stinken alle ab. Und für mich und mein Team stinkt WhatsApp am meisten ab“, lautete Durows zweiter Satz bei seinem Auftritt. Sein geniales Marketingtalent, das ihm schon während der VKontakte-Zeit eine große Hilfe war, brach damals voll durch. Im Zuge der Enthüllungen durch Assange und Snowden setzte er auf Datenschutz: komplette Verschlüsselung, keinerlei Verhandlungen mit Behörden jeglicher Staaten.
Durows „Nein“ ist alternativlos
Knapp zwei Jahre später stellten die russischen Behörden Durow vor die Wahl: Entweder Kooperation oder Blockade von Telegram auf russischem Staatsgebiet. Warum ist Durows „Nein“ alternativlos, selbst wenn er es anders wollte?
Telegram nahm seinen Ursprung in einem Algorithmus, den Pawel Durows Bruder Nikolaj erfunden hat. Die Brüder versicherten, dass nach diesem Algorithmus verschlüsselte Nachrichten nicht entschlüsselt werden können.
Sie schrieben sogar einen Wettbewerb mit einem Preisgeld von 200.000 US-Dollar aus, für den- oder diejenige, dem dies gelänge. Später wurde die Aufgabe vereinfacht: Bereits für die Entschlüsselung eines Ausschnitts aus einem Nachrichtenverlauf wurde der Zugang zu einem Geldbeutel mit 200 Bitcoins [im russischen Original ist die Summe in 60.000 US-Dollar umgerechnet, der Kurs liegt derzeit allerdings bei 2.500 US-Dollar für 1 Bitcoin – dek] versprochen. Letzten Endes gelang es niemandem, diesen Preis zu gewinnen.
Die Sicherheit der Kommunikation und das geschützte Übermitteln von Nachrichten wurden zum wichtigsten Marketinginstrument beim Vormarsch von Telegram. Die Ausgangslage dafür war denkbar günstig: Nach den Enthüllungen der weltweiten Internetüberwachung amerikanischer Sicherheitsbehörden durch Edward Snowden stand die ganze Welt Kopf.
Bruch mit Russland
Vom ersten Tag an wollte Durow Telegram auf dem globalen Markt etablieren. Öffentlich brach er mit Russland: Er bekam eine zweite Staatsbürgerschaft und gab bekannt, sein Heimatland zu verlassen und das Entwicklerteam ins Ausland auszulagern. Die Entwickler arbeiteten jedoch laut RBK und Sekret firmy weiterhin im St. Petersburger Singer-Haus am Code für Telegram, wo sich auch der Hauptsitz von VKontakte befindet.
Der Unternehmer Durow ritt gekonnt auf der Welle im Kampf um die Unantastbarkeit der Privatsphäre: „Das Recht auf Privatsphäre ist wesentlich wichtiger als unsere Angst vor möglichen negativen Dingen wie Terrorismus“, erklärte er auf der besagten TechCrunch-Konferenz.
Nach dem Terroranschlag in Paris kam die Frage auf, ob ISIS-Anhänger den Messenger Telegram anderen Diensten vorziehen würden. Gegenüber den russischen Behörden, die bereits 2015 einen Versuch unternommen hatten, Telegram zu verbieten, reagierte Durow harsch: „Ich schlage vor, Wörter zu verbieten. Es gibt Informationen, denen zufolge Terroristen sie zur Kommunikation nutzen.“
Übrigens begann man seitdem, die Kanäle von ISIS-Sympathisanten auf Telegram ausfindig zu machen und zu sperren; die Administratoren des Dienstes erstatten in einem gesonderten Kanal täglich Bericht über die Zahl der gesperrten ISIS-Kanäle: Im Juni 2017 waren es bereits 5773.
Ist Telegram tatsächlich so sicher?
Aber ist Telegram tatsächlich so sicher, wie Durow beteuert, oder ist das einfach eine Marketingstrategie? Teils, teils: Sicher ist es zwar – aber mit Einschränkungen. Im September 2016 traten Edward Snowden und Pawel Durow in einen Streit bezüglich der Sicherheit. Ursprünglich hatte sich Snowden für den Chat-Dienst Signal ausgesprochen. Müsste er sich zwischen Telegram und WhatsApp entscheiden, würde er aber Letzteren vorziehen. Laut Snowden ist WhatsApp deshalb sicherer, weil in den Einstellungen bereits standardisiert eine End-to-end-Verschlüsselung festgelegt ist, also ein Algorithmus, der das Lesen der Nachrichten nur auf den Geräten des Senders und des Empfängers erlaubt. Bei Telegram hingegen werden auf diese Weise nur Nachrichten in geheimen Chats verschlüsselt, welche aber lange nicht von allen genutzt werden.
Darauf erwiderte Durow, dass WhatsApp obligatorisch alle Nachrichten der Nutzer ungeschützt auf seinen Servern in den USA speichere, zu denen die Landesregierung Zugang erhalten könne. „Und die End-to-end-Verschlüsselung kann WhatsApp jederzeit auf seinem Server abschalten“, so Durow. Was die Verschlüsselung in Telegram betrifft, so geschehe das laut Durow tatsächlich nur in geheimen Chats. Das Fehlen einer Verschlüsselung in gewöhnlichen Chatgesprächen würde aber erlauben, die Nachrichten auf verschiedenen Geräten zu synchronisieren, was durchaus nutzerfreundlich sei. Belege für ihre Behauptungen lieferten allerdings weder Snowden noch Durow.
End-to-end-Verschlüsselung nur in Geheim-Chats
Wie sieht die Sache in Wirklichkeit aus? Auf der Website von Telegram steht, dass End-to-end-Verschlüsselung nur in geheimen Chats angewendet wird: Die Krypto-Schlüssel liegen dann auf den jeweiligen Endgeräten der Nutzer. Wenn sie in gewöhnlichen Chats miteinander kommunizieren, werden die Daten in den Rechenzentren von Telegram verschlüsselt. „Die Schlüssel werden immer in verschiedenen Rechenzentren aufbewahrt, die sich wiederum in verschiedenen Gerichtsstandorten befinden. Deswegen sind lokale Ingenieure sogar im Falle eines physischen Eindringens nicht in der Lage, Zugang zu den Nutzerdaten zu bekommen“, heißt es auf der Telegram-Seite.
Dienst für „Terroristen und Drogenhändler“?
Bereits seit mehr als einem Monat führten die russischen Behörden eine systematische Informationsoffensive gegen Telegram, die sich in den letzten Tagen drastisch zugespitzt hatte [am gestrigen Mittwoch, 28. Juni 2017, haben sich Durow und Roskomnadsor-Chef Alexander Sharow geeinigt, s.o. – dek].
Am Wochenende wurde auf den drei führenden Fernsehsendern Erster Kanal, Rossija und NTW über Telegram berichtet. Alle stimmten in den Refrain ein, Telegram würde von Terroristen und Drogenhändlern genutzt. „Telegram wird immer mehr zu einem Kommunikationssystem für Terroristen“, so der Moderator des Senders Rossija 1 Dimitri Kisseljow.
Auch der FSB stimmte ins Mantra der Liebe der Terroristen zu Telegram ein. Die Behörde ließ verlauten, dass die Terroranschläge in Russland, einschließlich der Explosion in der Metro von St. Petersburg, über eben jenen Dienst organisiert worden seien.
Terror nur als Vorwand?
„Es ist traurig, wenn die Geheimdienste Russlands eine solche Tragödie zum Vorwand nehmen, um ihren Einfluss und die Kontrolle über die Bevölkerung zu verstärken“, so Durows Reaktion auf die Erklärung aus dem FSB. „Sollte Telegram gesperrt werden, wird das die Tätigkeit der Terroristen und Drogendealer in keinerlei Hinsicht erschweren. Dutzende anderer Instant-Messaging-Dienste mit End-to-end-Verschlüsselung (+VPN) werden ihnen weiterhin zur Verfügung stehen. In keinem Land der Welt sind alle vergleichbaren Chat- oder VPN-Dienste gesperrt. Wenn man den Terrorismus mit Hilfe von Sperren besiegen will, muss man schon das gesamte Internet sperren“, so Durow.
Null Bite offengelegt
Natürlich sei eine Übergabe der Krypto-Schlüssel völlig ausgeschlossen – eine andere Antwort war von Durow nicht zu erwarten. Das gesamte Konzept von Telegram wurde im Laufe mehrerer Jahre um die Sicherheit und Privatsphäre von Kommunikation aufgebaut. „Wir werden eure Informationen niemals weitergeben. Bis zum jetzigen Zeitpunkt haben wir Dritten, einschließlich Regierungen, null Bite Nutzerinformationen offengelegt“, heißt es im ersten Punkt der Datenschutzerklärung auf der Homepage von Telegram.
Lässt sich Telegram jemals auf einen Handel mit den russischen Behörden ein, zerfällt das Image des Vorkämpfers für die Freiheit von Internetnutzern, das Durow Stein für Stein seit dem Start von Vkontakte aufgebaut hat.
Bislang galten sie als Brüder im Geiste, nun bekämpfen sie sich öffentlich: Dimitri Kisseljow, Chef der staatlichen Medienagentur Rossija Sewodnja, und der erzkonservative Dumaabgeordnete Jewgeni Fjodorow. Kisseljow wird von Kritikern gerne als „Chefpropagandist des Kreml“ bezeichnet, Fjodorow sitzt der Nationalen Befreiungsbewegung vor. Ausgerechnet die wirft Kisseljow nun „Trumpophilie“ vor.
Was der Konflikt vor allem mit Putin, der Krim und dem Donbass zu tun hat – und nur am Rande mit Trump – das analysieren Andrej Perzew und Gleb Tscherkassow im Kommersant-Vlast.
Bis vor Kurzem schienen Dimitri Kisseljow und Jewgeni Fjodorow noch auf der gleichen Seite der Barrikaden zu stehen. Kisseljow ist Fernsehmoderator und Generaldirektor von Rossija Sewodnja, Fjodorow sitzt für die Regierungspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ist außerdem Vorsitzender der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD). Sei es die bedingungslose Unterstützung des Präsidenten Wladimir Putin und all seiner Vorhaben, sei es die harte Kritik an den USA und der Außenpolitik des Weißen Hauses, die klare Ablehnung der derzeitigen ukrainischen Führung – in vielerlei Hinsicht wirkten die beiden wie Brüder im Geiste.
In seiner Sendung Westi Nedeli [dt. Nachrichten der Woche – dek] behauptete Dimitri Kisseljow unter anderem, dass Russland die USA in „radioaktive Asche verwandeln“ könne, er prangerte nicht-systemische Oppositionelle und auch den durch und durch verdorbenen Westen an. „Schwule für Homosexuellen-Propaganda unter Minderjährigen zu bestrafen, ist nicht genug. Ihnen muss es verboten werden, Blut oder Sperma zu spenden und im Falle eines Autounfalls müssen ihre Herzen tief in der Erde vergraben oder verbrannt werden.“ Das ist eines der bekanntesten Zitate des Fernsehmoderators.
Jewgeni Fjodorows Äußerungen wirkten wie eine logische Fortsetzung dieser Position, und seine Sympathisanten von der Nationalen Befreiungsbewegung setzten diese Ideen in die Praxis um, indem sie Kundgebungen Oppositioneller überfielen und Protestaktionen vor Medienbüros und Botschaften der „feindlichen westlichen Staaten“ abhielten. Auf der Homepage der Gruppe für das Swerdlowsker Gebiet, einer der aktivsten der NOD, wurden sogar regelmäßig Videoaufzeichnungen von Westi Nedeli verlinkt.
Wie gewohnt haben nun Vertreter der Bewegung mit Plakaten vor einem Medienhaus protestiert. Doch diesmal war es nicht etwa das Medienunternehmen RBC – sondern die internationale Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja. Die Anhänger von Jewgeni Fjodorow beschuldigen die Agentur und ihren Direktor der „Trumpophilie“.
Die Anhänger von Jewgeni Fjodorow beschuldigten Kisseljow der „Trumpophilie“. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und Kisseljow holte zum harten Gegenschlag aus
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. In der Sendung vom 19. Februar holte Dimitri Kisseljow zum harten Gegenschlag aus – gegen Jewgeni Fjodorow, gegen die Nationale Befreiungsbewegung, gegen Witali Milonow, den ultrakonservativen Dumaabgeordneten der Partei Einiges Russland, und gegen die Organisation Offiziere Russlands, die nach ihrem Angriff auf die Fotoausstellung von Jock Sturges Ruhm erlangt hatten – gegen alle radikal konservativen Kräfte also.
Kisseljow sprach vor einer Fotocollage verschiedener Politiker mit der Bildaufschrift Die Spinnerten. Neben Milonow und Fjodorow waren darunter auch die in die Ukraine emigrierte ehemalige Dumaabgeordnete für Einiges Russland Maria Maksakowa und der St. Petersburger Jabloko-Politiker Boris Wischnewski.
„Eigentlich gehen wir in Russland milde und nachsichtig mit spinnerten Politikern um, die uns in Erstaunen versetzen, zu irgendetwas aufrufen, oder irgendwohin abkommandieren wollen. Überraschenderweise schleichen sich diese Spinnerten in die Strukturen ein und erlangen, wenn auch nur kurzzeitig, Geltung. Mit schlauer Miene zwingen sie uns ihre dummen Diskussionen auf. Derzeit wird derart viel Blödsinn in den Äther geblasen, dass man in diesem Informationslärm untergehen könnte“, empörte sich Kisseljow. Die Nationale Befreiungsbewegung bezeichnete er dabei als einen „Wanderzirkus“, der „in Moskau umherzieht“.
„Besonders traurig ist, dass der Abgeordnete Fjodorow diese armen Menschen zusammengeschart hat und sie mit überdimensional großen, geradezu grotesken Georgsbändern als Fahnen ausgerüstet hat. Das stolze Symbol der russischen Wehr und der Schlacht gegen den Faschismus – das Symbol des Sieges – hat Fjodorow mit dem Namen seiner Pseudobewegung besetzt und aus dem Ganzen ein Tingeltangel unter Mitwirkung irgendwelcher Trachtenträger oder Wandersänger gemacht. Was für ein Frevel! Überhaupt ist diese Manier der Spinnerten, edle Symbole für inszenierte Skandale und leere Parolen zu vereinnahmen, wenig sympathisch“, rügte der Fernsehjournalist den NOD.
Das stolze Symbol der Schlacht gegen den Faschismus – das Symbol des Sieges – hat Fjodorow mit dem Namen seiner Pseudobewegung besetzt und aus dem Ganzen ein Tingeltangel unter Mitwirkung irgendwelcher Trachtenträger oder Wandersänger gemacht
Dimitri Kisseljow erinnerte auch an die Organisation Offiziere Russlands, wie sie im Herbst versucht hatte, eine Fotoausstellung von Jock Sturges, dem sie Pädophilie vorwarf, zu verwüsten. Und er brandmarkte sie dafür, sich vom Staat finanzieren zu lassen.
Auch der größte Hüter der traditionellen Werte, Witali Milonow aus der Partei Einiges Russland, bekam sein Fett weg: „Im Sticharion – dem geistlichen Gewand für den Kirchendienst – verteidigte er die Übergabe der Isaakskathedrale, und da schickt er sich an, antisemitische Äußerungen von sich zu geben.“
Allerdings klang auch ein Seitenhieb auf die liberalen Verteidiger der Isaakskathedrale an. Dabei sah der Moderator jedoch von persönlichen Angriffen ab und beklagte lediglich, dass die damit verbundene Diskussion den „gesunden Menschenverstand abtöten“ würde.
Die Antwort Jewgeni Fjodorows folgte schnell: Er drohte Dimitri Kisseljow mit einem Gerichtsverfahren und Anzeigen tausender gekränkter NOD-Anhänger, unterstellte ihm eine „Verschwörung gegen den Präsidenten“ und dass er auf Staatskosten eine Kampagne führe für den Präsidenten eines anderen Staates: Donald Trump.
Die Haltung zum US-Präsidenten war der formale Auslöser des Konflikts: Der Pressesprecher des Weißen Hauses Sean Spicer hatte erklärt, dass Trump von Russland erwarte, in der Ukraine für Deeskalation zu sorgen und die Krim „zurückzugeben“. Bis dahin hatte das russische Fernsehen mit Donald Trump sympathisiert, nun aber fast komplett aufgehört, über ihn zu berichten. Doch auch die Kritik, die zuvor unter anderem von Kisseljow gegen Barack Obama vorgebracht worden war, blieb gegenüber dem neuen Staatsoberhaupt der USA aus. Das nahmen die NOD-Aktivisten zum Anlass für ihre Empörung. Die wahren Gründe aber liegen viel tiefer.
Die Kritik, die unter anderem von Kisseljow gegen Barack Obama vorgebracht worden war, blieb gegenüber dem neuen Staatsoberhaupt der USA aus. Das nahmen die NOD-Aktivisten zum Anlass für ihre Empörung. Die wahren Gründe aber liegen viel tiefer
Der Krim-Konsens von 2014 hatte nicht nur dazu geführt, dass 86 Prozent der Bevölkerung den politischen Kurs des Präsidenten unterstützen, sondern es hat sich auch eine recht bunte gesellschaftliche Koalition herausgebildet: von solchen, die dienstlich zum Patriotismus verpflichtet sind, bis hin zu radikalen Fürsprechern eines Konflikts mit dem Westen und Russlands „Erhebung von den Knien“. Die Frage, inwiefern die Mitglieder dieser Koalition solche Überzeugungen aufrichtig vertreten, bleibt nach wie vor offen: Der Fall von Denis Woronenkow und Maria Maksakowa hat gezeigt, dass bereits bei den ersten Anzeichen von Ärger glühende Verfechter eines gesamtnationalen Konsens bereit sind, sich als eingefleischte Dissidenten erkennen zu geben.
Die Heterogenität dieser Koalition war auch in ihrer besten Zeit zu spüren: Die radikalen Kräfte forderten die sofortige Anerkennung der Volksrepubliken Luhansk und Donezk, eine härtere Linie gegenüber den USA sowie grundlegende Umwälzungen im Land. Gemäßigte und radikale Positionen unterschieden sich beispielsweise beim Verhältnis zum finanzwirtschaftlichen Block der Regierung. Die Radikalen sahen in ihm geradezu eine fünfte Kolonne, die das Land daran hindern würde, „sich von den Knien zu erheben“.
Ein klarer Sieg dieser „Krim-Koalition“ war das Resultat der Dumawahl 2016. Kein einziger oppositionell eingestellter Abgeordneter schaffte es ins Unterhaus und gleichzeitig ging ein Teil der Mandate an Bewerber, die noch vor wenigen Jahren als absolute Randfiguren in der Politik galten. Diese Glanzleistung ist zum entscheidenden Wendepunkt geworden: Radikale sahen, dass ihre Kräfte gefragt waren und fingen an, nach mehr zu streben. Die Machthaber wiederum wollten sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2018 und vor dem Revolutionsjubiläum 2017 von radikalen Gesinnungen distanzieren.
Dabei war die Regierung bereits vor den Parlamentswahlen dem radikalen Aktionismus etwas überdrüssig geworden. Fragen nach den Übergriffen auf Ausstellungen wurden auch schon bei Wladimir Putins letztjähriger Pressekonferenz gestellt. Der Präsident verurteilte sie, merkte jedoch an, dass es unter den Kulturschaffenden trotzdem Selbstbeschränkungen geben müsse.
Die Dumawahlen waren der Wendepunkt: Radikale sahen, dass ihre Kräfte gefragt waren und strebten nach mehr
Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte Dimitri Kisseljow den versöhnlichen Ton herausgehört. „In den Westi Nedeli vom vergangenen Sonntag haben wir das Thema [die Proteste gegen die Ausstellung von Jock Sturges und die Schließung der Fotoschau – dek] gleich zu Beginn gebracht, sogar noch vor den Wahlergebnissen (der Dumawahl im September 2016, Anm. d. Red. Vlast). Darin haben wir erklärt, dass wir gegen Vandalismus sind und gegen gesellschaftliche Organisationen, die Ausstellungen schließen oder eröffnen können“, erläuterte er im Radio Westi FM.
Der Regierung vorzuwerfen, dass sie von den formulierten Werten abweiche, das geht den radikalen Kräften zu weit, zumindest fürs Erste. Sie haben sich unter Putins Fahne versammelt und es ist klar, dass es unmöglich ist, direkte Kritik am Präsidenten zu üben. Deshalb ist die Strategie, ehemaligen Bündnispartnern vorzuwerfen, sie würden den Präsidenten dabei hindern, die richtige Politik umzusetzen, sowohl aus systemischer als auch aus ideologischer Sicht durchaus verständlich.
Das ist im Grunde klassisch für jede Revolution. Früher oder später machen sich unter den Siegern diejenigen bemerkbar, die nicht gänzlich einverstanden damit sind, dass dies schon der ganze und endgültige Erfolg ist. Die Radikalen – sie hatten viele Namen – bestehen darauf, dass es weiter gehen muss. Die entscheidende Frage ist, ob sie dafür die nötigen Mittel haben.
Der Leiter des Lewada-ZentrumsLew Gudkow ist sicher, dass der Großteil der Gesellschaft sich nicht weiter radikalisieren wird und die Regierung vorhat, Druck aus dem Kessel zu lassen. „Die Norm ist in diesem Fall nicht Jewgeni Fjodorow, sondern Dimitri Kisseljow. Fjodorow ist ein Provokateur, er lotet die Grenzen des Zulässigen aus. Kisseljow hingegen wird oft als Kreml-Stimme wahrgenommen, obwohl er zu Formulierungen greifen darf, die härter sind als die offiziellen. Dieser Konflikt deutet darauf hin, dass der Kreml und die Präsidialverwaltung den radikalen Kräften vor den Wahlen und dem Revolutionsjubiläum Einhalt gebieten möchten“, meint der Soziologe.
Dieser Konflikt deutet darauf hin, dass der Kreml den radikalen Kräften vor den Wahlen und dem Revolutionsjubiläum Einhalt gebieten möchte
Laut des führenden wissenschaftlichen Mitarbeiters des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften Leonti Bysow spüren die radikalen Kräfte diese Tendenz und werden nervös: „Ihnen ist klar, dass sie nicht mehr gebraucht werden, dass die Machthaber nicht viel auf sie halten und über sie hinweggehen können.“
Zudem besteht das Problem auch darin, dass die ideologische und politische Wende von 2014 die Lage nicht nur in der Gesellschaft sondern auch auf der Straße verändert hat.
„Vor 2014 (vor der Angliederung der Krim und dem Beginn des Konfliktes im Donbass – Anm. d. Red. Vlast) haben ein bis zwei Prozent der Bevölkerung radikale rechte Ansichten geteilt, vergleichbar mit denen von Fjodorow. Bewegungen wie NOD hätten nie genügend Menschen für eine Großkundgebung sammeln können. Die Regierung machte sich diese radikalen rechten Ideen jedoch zu eigen und bekam Zuspruch von einem Großteil der konformistisch eingestellten Wähler, die diese Überzeugungen ansonsten nicht geteilt hätten. Auch Dimitri Kisseljow hat seinen Teil dazu beigetragen“, erklärt Leonti Bysow.
Wenn es um den Zuspruch für die Ideen der Russischen Welt und um eine „antiwestliche Einstellung“ geht, bemerkt er folgende Besonderheit: Der harte Kern der Befürworter sei gleich geblieben und nach wie vor übersichtlich, aber um ihn herum habe sich eine „riesige Peripherie“ gebildet.
„Wenn die Gesellschaft einer derart aggressiven und suggestiven Propaganda ausgesetzt ist, fängt ein Teil davon an, sich zu radikalisieren. Früher haben die radikalen Kräfte die Opposition angegriffen, heute greifen sie Gruppen und ihre öffentlichen Vertreter an, die der Regierung gegenüber loyal eingestellt sind“, so Bysow.
Wenn die Gesellschaft einer derart aggressiven und suggestiven Propaganda ausgesetzt ist, fängt ein Teil davon an, sich zu radikalisieren
Gudkow ist im Übrigen der Meinung, dass das Fernsehen durchaus in der Lage wäre, die öffentliche Meinung von radikalem Gedankengut zu befreien: „Fjodorow ist kaum bekannt, in den Umfrage-Ranglisten der Politiker taucht sein Name nicht auf. Kisseljow ist ein Prominenter, der beliebteste Fernsehmoderator nach Wladimir Solowjow. Jewgeni Fjodorow wurde als spinnert bezeichnet, als solchen wird man ihn jetzt auch wahrnehmen“, resümiert der Soziologe.
Allerdings ist eine derartige Abspaltung der radikalen Kräfte von den gemäßigten ein viel zu langwieriger Prozess, um schon jetzt mit absoluter Sicherheit sagen zu können, wer letzten Endes gewinnt und wessen Beitrag zum gemeinsamen Erfolg mehr wert sein wird. Dies wird sich bestenfalls zum Ende des Präsidentschaftswahlkampfs herauskristallisieren.
Da die Innenpolitik derzeit so abhängig ist von äußeren Faktoren, könnte eine negative Konjunkturentwicklung jedoch bewirken, dass die „Krim-Koalition“ erneut zusammenrückt. Nicht zufällig war ja der Auslöser des Streits ausgerechnet der US-Präsident mit seinen Tweets.
„Alle hatten eine Krise erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Situation. Es kam, wie man so schön sagt, eins zum anderen …“, erklärt Boris Kolonizki, renommierter Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg, über die dramatischen Ereignisse vor 100 Jahren im damaligen Petrograd, die zur Februarrevolution führten.
Zu Beginn des Jahres 1917 erwächst aus Protestmärschen und Streiks eine Protestbewegung, die Zar Nikolaus II. den Thron kostet. Bewaffnete Arbeiter und Soldaten besetzen am 27. Februar zentrale Knotenpunkte der Stadt, darunter Waffenarsenale, die Telefonzentrale und Bahnhöfe. Die Regierung verliert ihre Macht und Kontrolle, aus der Duma wird die Forderung nach Abdankung des Zaren laut – der er sich kurz darauf beugt.
Die Februarrevolution krempelt die politischen Verhältnisse um: Die 300-jährige Herrschaft der Zarenfamilie Romanow endet. Russland ist keine Monarchie mehr.
Boris Kolonizki ist auf dem Feld der Revolutionen von 1917 führender Experte in Russland. Im ersten Teil eines Longread-Interviews mit The Village, geht er vor allem auf die Stimmung jener Zeit ein, warum sie damals so dramatisch hochkochte, welche Symbole eine wichtige Rolle spielten und wie das Jahr 1917 gegenwärtig wahrgenommen wird.
Alexey Pavperov: Welche der beiden Revolutionen, deren Jahrestage dieses Jahr begangen werden, ist Ihrer Meinung nach von größerem Interesse für die Öffentlichkeit? Es sieht so aus, als würde von seiten der Regierung die Oktoberrevolution mehr Aufmerksamkeit bekommen.
Boris Kolonizki: Das hängt ganz davon ab, wie man die Geschehnisse betrachtet. Viele meinen, es war ein zusammenhängender Revolutionsprozess. Die Frage ist, wie wir die Revolution begreifen, wie wir den Begriff definieren. Ich denke, sowohl der Februar als auch der Oktober wecken Aufmerksamkeit bei den Menschen und den Medien. Möglicherweise hat es sich aus der Historie heraus so ergeben, dass viele meinen, besser über die Ereignisse des Oktobers informiert zu sein. Aber das ist bei weitem nicht immer der Fall.
Für die derzeitige Regierung ist die Revolution kein angenehmes Thema. Es spaltet eher, als dass es verbindet. Ich erwarte einige Kontroversen
Man wird sehen. Für die derzeitige Regierung ist es im Grunde kein angenehmes Thema: Es spaltet die öffentliche Meinung eher, als dass es verbindet. Wie Sie wissen, haben viele auf irgendein Signal gewartet, und in der Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlunghaben sie eines bekommen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass man auf dieser Grundlage zu einer nationalen Einheit kommen wird, daher erwarte ich einige Kontroversen. Schwer zu sagen, was da kommt.
Ich meine damit nicht nur den gesamtpolitischen Kontext, sondern auch unvorhersehbare Ereignisse. Zum Beispiel hätte ich absolut nicht damit gerechnet, dass der Kinofilm Mathilda so viel Aufsehen erregen und Publicity bekommen würde. Gut möglich, dass noch andere Überraschungen warten.
I. Die Stimmung in St. Petersburg vor 100 Jahren
„Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues.“ Dies trieb die Menschen auf die Straße, hier in Petrograd im Februar 1917
Wir unterhalten uns heute im Februar 2017. Können Sie bitte beschreiben, wie die Stimmung in der Hauptstadt etwa zur gleichen Zeit vor 100 Jahren war? Bis zur Revolution blieb noch knapp ein Monat, die Hungerrevolten brachen erst in der letzten Februar-Dekade aus. Was bewegte die Stadt in dieser Phase?
Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues. Doch die Versorgungsengpässe waren jetzt deutlich spürbar. Das betraf nicht nur Lebensmittel, sondern auch Holz und Kohle – die Versorgung hing davon ab, dass die Infrastruktur funktionierte. Es gab Schwierigkeiten mit dem Transport, Zeitzeugen berichteten von einer Eisenbahnkrise. Dabei deutet in der Statistik nichts auf eine Krise hin, dank der Professionalität ihrer Mitarbeiter wurde die Russische Eisenbahn immer besser. Immer schwieriger aber wurde es, die Armee zu versorgen – entsprechend litt der Binnentransport. Außerdem herrschten schwierige Witterungsverhältnisse in verschiedenen Regionen des Landes und die Schienen mussten vom Schnee freigeschaufelt werden. Auch der teilweise sehr unübersichtliche organisatorische Überbau und der ungeregelte Markt hatten negative Auswirkungen.
Die Menschen strömten nach St. Petersburg: Flüchtlinge, Soldaten, Deserteure
Eine weitere Besonderheit war der Alltag in der Stadt. Die Menschen strömten hierher: Flüchtlinge in Not, Soldaten auf Fronturlaub oder nach einem Krankenhausaufenthalt, Deserteure. Die Grenze zwischen entlassenen oder beurlaubten Militärs auf der einen und Fahnenflüchtigen auf der anderen Seite war manchmal recht schwer auszumachen. Zwar stieg die Kriminalität nicht so stark an, wie es dann in der Folgezeit der Fall war, insgesamt jedoch war eine höhere Instabilität zu spüren. Spekulationsgeschäfte und Korruption florierten.
In der Stadt begegneten einem zahlreiche Männer im wehrpflichtigen Alter in Zivil oder in Uniform, die fernab der Gefahren an der Front lebten. Durch Schmiergelder oder dank guter Verbindungen konnten sich viele einer Einberufung entziehen. Eine Mobilisierung von solchem Ausmaß, wie sie einem auf den Straßen von Paris oder London ins Auge fiel, gab es in St. Petersburg nicht.
Viele in der Hauptstadt schlugen Profit aus Kriegsgeschäften und Spekulationen. Zum Beispiel war damals in Russland ein großer Mangel an Medikamenten spürbar. Bis zum Krieg waren sie vorwiegend aus Deutschland importiert worden. Führte man diese wertvollen Waren über Skandinavien ein, um sie für ein Heidengeld hier weiter zu verkaufen, konnte man davon in Saus und Braus leben. Der Aufstieg von Neureichen – den Marodeuren im Hinterland, wie sie damals in Russland genannt wurden – war bezeichnend in der Kriegszeit. Diese Aspekte der Krise bleiben häufig außen vor. Krieg ist immer ungerecht, aber hier war er vielleicht besonders ungerecht.
Viele in der Hauptstadt schlugen Profit aus Kriegsgeschäften. Krieg ist immer ungerecht. Aber hier war er vielleicht besonders ungerecht
Hinzu kamen innerstädtische Verkehrsprobleme. Zeichnungen von damals zeigen Menschenmassen, die Straßenbahnen stürmen. Die Spannungen im Alltag spitzten sich zu.
Ich möchte noch einmal betonen, dass das Kinkerlitzchen waren im Vergleich zu den darauffolgenden Jahren. Aber Menschen können nun mal ihre aktuelle Situation nicht mit der Zukunft vergleichen.
Noch etwas machte die Stadt damals besonders aus: die Gerüchte. Gerüchte über Verrat, über Spione, Gerüchte über eine deutsche Partei am Hof, Gerüchte über das Vorhaben, einen Sonderfrieden zu schließen, darüber, dass die Zarin eine Agentin des Feindes sei, und über ihre Protektion durch den Zaren. Man munkelte, es gebe eine Verschwörung.
Heute streiten die Historiker über deren tatsächliches Ausmaß, allerdings können Gerüchte über Verschwörungen manchmal genauso bedeutsam sein wie die Verschwörungen selbst.
II. Zunahme der Gewalt und Proben für die Revolution
„Während der Februarrevolution gab es ziemlich viel Vandalismus.“ Zerstörtes Polizeigebäude in Petrograd
Wie stand es um die Gewalt in der Stadt, wie alltäglich war sie? Lew Lurje beispielsweise spricht in diesem Kontext oft von Hooligans und dass junge Arbeiter oft und gerne Gewalt angewandt hätten.
Ich denke, wir können zu jener Zeit nicht von einer einheitlichen Subkultur der Arbeiterklasse sprechen. Es gab zum Beispiel Textilarbeiter, die vor dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich saisonal beschäftigt waren. Wenn es im Dorf nichts zu tun gab, zog es sie in die Stadt. Sie waren Arbeitsmigranten, die Geld nach Hause schickten und die Verbindung zu ihren Dörfern nicht abreißen ließen.
Es gab aber auch ausgebildete Arbeiter, die sich teilweise selbst als Arbeiter-Intelligenzija bezeichneten. Sie hatten ein gutes Einkommen, das mitunter dem eines Staatsbediensteten gleichkam. Manche von ihnen konnten ihre Kinder auf Gymnasien schicken. Diese Arbeiterelite, die in England Arbeiteraristokratie genannt wurde, bestand aus gebildeten, politisierten Menschen, die Karriere gemacht hatten. Dabei waren sie oft oppositionell eingestellt. Die Arbeiterklasse war also vielfältig und umfasste verschiedene Generationen.
Für jugendliche Arbeiter war es ein Fest für die Seele, mit einem Eisstück nach einem Polizisten zu werfen
Lurje hat aber absolut recht: Für jugendliche Arbeiter war es ein Fest für die Seele, mit einem Eisstück nach einem Polizisten oder mit einer Schraubenmutter nach dem Meister zu werfen.
Die amerikanische Forscherin Joan Neuberger hat ein Buch mit dem Titel Hooliganism geschrieben: Dieses englische Fremdwort ist Anfang des 20. Jahrhunderts in den russischen Sprachgebrauch eingegangen; seine Bedeutung war damals allerdings eine andere als heute.
Hooliganismus ist kulturell ritualisierte Gewalt. Das heißt, junge Leute aus Arbeitervierteln, die sich in ihrer Nachbarschaft durchaus anständig verhalten, die sich gut anziehen und eventuell gut verdienen, begeben sich auf das Territorium des Klassenfeindes, ins Stadtzentrum oder in einen Datschenvorort, um Vertreter einer anderen sozialen Gruppe zu provozieren.
Lassen sich die steigende Kriminalität und die spontanen Gewaltausbrüche als eine Art Probe für die Ereignisse Ende Februar deuten?
Proben für die Februarrevolution gab es im ganzen Land und viele. Eine Probe, die häufig vergessen wird, gab es auch in St. Petersburg: ein großer Streik im Sommer 1914. Dabei wurden Telegrafenmaste abgesägt, Barrikaden in Arbeitervierteln errichtet, Bahnwaggons umgekippt und unter Revolutionsgesängen Gebäude gestürmt.
Der Unterschied zur Revolution bestand darin, dass die Arbeiter zu jenem Zeitpunkt vom Großteil der Bevölkerung isoliert waren, von der Bildungsschicht, der Mittelschicht, den Liberalen. Liberale Zeitungen äußerten Entrüstung, nach dem Motto: Was für ein unerhörter unzivilisierter Vandalismus, wo wir doch Steuern zahlen, es sind unsere Telefonleitungen und unsere Straßenbahnen!
Während der Februarrevolution haben die Arbeiter dann haargenau dasselbe gemacht. Vielleicht haben sie keine Barrikaden errichtet, dafür aber Straßenbahnen blockiert, hier und da Waggons umgekippt, es gab ziemlich viel Vandalismus.
Ein wichtiges Moment der Februarrevolution waren Pogrome: Lebensmittelläden oder Bäckereien wurden verwüstet. Wissen Sie, die Kruste des französischen Brötchens krachte ziemlich laut. Es kam zu Überfällen auf Juwelierläden, manchmal wurden aber auch nur Schaufenster eingeschlagen.
Auch den Machthabern war ein ebensolches Maß an Gewalt nicht fremd.
Natürlich, und das ist sehr entscheidend. Gewalt galt auch auf der anderen Seite als probates Mittel. Man darf nicht vergessen, dass die Machtorgane bei jeglichen Konflikten in der Regel sehr hart durchgriffen.
Charakteristisch für Russland war, dass es ein Polizeistaat mit einem Mangel an Polizisten war. Sogar in St. Petersburg, wo es eigentlich ein hohes Polizeiaufkommen gab, kam man bei Unruhen nicht ohne die Armee aus. In erster Linie wurden Kosakentrupps eingesetzt, wobei uns bekannt ist, dass auch die Infanterie hinzugezogen wurde. Das heißt, die Armee wurde zu Polizeizwecken eingesetzt. Aber in der Armee lernt man andere Dinge: mit einem Bajonett zu stechen, mit einem Gewehrkolben zu schlagen und – im Extremfall – zu schießen.
Unterm Strich liefen bereits Jahrzehnte vor der Februarrevolution auf beiden Seiten Vorbereitungen zum erbitterten Kampf. Ich mache mir derzeit viele Gedanken zu Konfliktkultur: Wie haben unterschiedliche Länder die Krisen überwunden. Schließlich war Russland nicht das einzige Land, in dem es während des Ersten Weltkriegs Spannungen gab. Aber in Russland bereiteten schon viele kleine Bürgerkriege, an denen sich viele, viele Menschen beider Seiten beteiligten, die Revolution mit vor.
Gerade wurde im Bolschoi Dramatitscheski Teatr das Stück Der Gouverneurnach der gleichnamigen Erzählung von Leonid Andrejew inszeniert. Darin befiehlt der Gouverneur, Streikende, einschließlich Frauen und Mädchen, zu erschießen. Ab diesem Zeitpunkt wird er von ihnen regelrecht verfolgt. Nach den blutigen Ereignissen wartet die ganze Stadt darauf, dass der Gouverneur erschossen wird: Damit endet das Stück. Es zeigt eindringlich, wie die Gesellschaft Terror bestraft und wie Gewaltspiralen ausgelöst werden.
Eine Kompromisskultur gab es weder auf der einen noch auf der anderen Seite
Natürlich gab es einerseits die aggressive Subkultur der Arbeiterklasse. Und in manchen Teilen Russlands war das Ausmaß der Gewalt noch wesentlich größer als in St. Petersburg. Nehmen Sie zum Beispiel die Beschreibungen der Streiks auf dem Gebiet des heutigen Donbass. Andererseits ist es aber den Machtorganen auch zu keinem Zeitpunkt gelungen, für Verhandlungen, Kompromisse oder Deeskalation zu sorgen. Eine Kompromisskultur gab es weder auf der einen noch auf der anderen Seite.
Sicher, die Bolschewikihaben in der russischen Geschichte eine ungeheuer große Rolle gespielt. Doch gerade die Rahmenbedingungen – eine Bürgerkriegskultur und der Mangel an Kompromissbereitschaft – waren Wind in ihren Segeln.
III. Der zunehmende Konflikt zwischen Regime und Gesellschaft
„Viele Probleme wurden unnötig politisiert.“ Demonstration auf dem Marsfeld, nach der Abdankung des Zaren
Kann man sagen, dass 1917 von vielen als ein Jahr wahrgenommen wurde, in dem es zu umfassenden Veränderungen kommen musste – ohne dass man in dem Moment hätte sagen können, wie die aussehen?
Zum einen sagten viele, dass das Leben so nicht weitergehen könne. Zum anderen kam die Revolution recht unerwartet. Alle hatten eine Krise erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Situation. Es kam, wie man so schön sagt, eins zum anderen – ein Konflikt, dann ein zweiter, ein dritter …
Zum Teil lag die Schuld bei der Regierung: Viele Probleme wurden nicht gelöst, indem man sie sachkundig erörterte. Stattdessen wurden sie unnötig politisiert.
Das ist eine wichtige Lehre auch für unsere Zeit.
Viele Probleme wurden nicht gelöst, indem man sie sachkundig erörterte. Stattdessen wurden sie unnötig politisiert. Das ist eine wichtige Lehre auch für unsere Zeit
Beispielsweise wird jetzt über einen Zusammenschluss zweier Bibliotheken geredet, der Petersburger Publitschka und der Moskauer Leninka. Es gibt keinerlei rationale Argumente für eine Vereinigung dieser beiden Giganten; Probleme und Errungenschaften finden sich bei beiden. Enden wird alles damit, dass in St. Petersburg schließlich eine Menge Leute aufheulen werden: „Das ist unsere Stadt – was sollen bloß diese Moskauer Pöbeleien?!“
Im Jahr 1917 gab es noch weit mehr solcher Fälle. Viele wollten ihre privaten Angelegenheiten regeln, die dann ohne Notwendigkeit politisiert und ideologisiert wurden, was dann wiederum die Machthaber ausbaden mussten.
Mich hat das Buch Les Français dans la Grande Guerre des Historikers Jean-Jaques Becker sehr beeindruckt. Wir fragen uns, warum es in Russland zur Revolution gekommen ist und wie das hätte verhindert werden können. Und er fragt, wie wir – wir Franzosen – es hingekriegt haben, während des Ersten Weltkrieges eine Revolution zu vermeiden.
Er beschreibt die Konflikte und du erkennst, wie alles am seidenen Faden hing. Manchmal wollten die Streikenden einfach Ärger machen und die örtlichen Verwaltungen versuchten mit unglaublicher Geduld, diese Konflikte zu lösen: mit Hilfe von Lehrern, mit Hilfe der Kirche, mit Hilfe von Schriftstellern, die sie hatten hinzuziehen können. Das ist eine enorme Leistung, die Tradition des demokratischen Diskurses hat die Lage stabilisiert.
Und was geschah in Russland, als diese Konflikte begannen? Im Gouvernement Tomsk beispielsweise kam es während der Mobilisierung zu Unruhen und Zusammenstößen, halb Barnaul wurde abgefackelt. Und in Moskau kam es zu einem antideutschen Pogrom – auch hier setzten die Truppen Waffengewalt ein. In den Textilfabriken in der Provinz kam es zu Konflikten – und wieder Truppen, wieder Waffen.
Ganz zu schweigen von dem Aufstand 1916 in Turkestan, der durch den idiotischen Befehl ausgelöst wurde, die örtliche Bevölkerung zu Arbeitseinsätzen zu rekrutieren. Schlecht durchdacht, schlecht umgesetzt und entsprechend begleitet von Korruption. Die Behörden haben alles Mögliche getan, damit es zu einem Konflikt kam.
Lässt sich das Erbe der Leibeigenschaft als Grund für das Unverständnis und die Spaltung ausmachen, als Grund vieler damaliger Konflikte?Es gab sehr viele Bauern in der Stadt; zwischen ihnen, den Offizieren und den Soldaten herrschte ein grundlegendes Unverständnis.
Die Leibeigenschaft ist sicher wichtig, allerdings gab es in Petersburg viele Arbeiter, die aus Regionen kamen, in denen es nie Leibeigenschaft gegeben hatte, oder eine ganz andere als in Russland. In der Hauptstadt lebten damals viele finnische Arbeiter und Balten …
Aber ich stimme Ihnen insofern zu, als dass es wohl eher eine kulturelle Frage war. Mir scheint: Länder, die eine stürmische Urbanisierung erleben, sind ganz prinzipiell sehr verwundbar.
Die wichtigste Veränderung in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts war die Umsiedlung Russlands in die Städte. Für die erste, und manchmal auch für die zweite Generation der neuen Städter ist das ein sehr schwieriger Prozess, mitunter schwieriger als eine Emigration. Viele der Zugezogenen zerbrechen psychisch an der Urbanisierung. Die Überlebenstaktik ist eine völlig andere, die Moral, die Religion.
Viele der Zugezogenen zerbrechen psychisch an der Urbanisierung. Die Überlebenstaktik ist eine völlig andere, die Moral, die Religion
Wenn jemand auf dem Land lebt, dann ist die Gemeinde mit dem Dorf und dessen Umgebung kongruent, alle kennen einander mehr oder weniger. Dann kommt er in die anonyme Stadt, in der nicht mal der Bau von Kirchen mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten kann. Zum einen gibt die Stadt viele Möglichkeiten und Freiheiten. Zum anderen bedeutet sie eine große Prüfung und riesigen Stress.
Schauen Sie: Das Spanien, in dem ein Bürgerkrieg ausbricht, die iranische Revolution, der aktuelle arabische Frühling – das alles sind Menschen, die aus traditionellen Gesellschaften in modernisierte Städte gelangen. Die können in verschiedene Richtungen driften.
IV. Über die Effektivität der Bolschewiki und die Schwäche der Regierung
In einem Interview sprachen Sie vom kreativen Gehalt der Revolution; sprich, dass die Kräfte, die um die Macht kämpfen, auch miteinander um die Kreativität der Rhetorik und Propaganda konkurrieren, um die Ideologie und die Kreativität des eigenen Handelns. Kann man sagen, dass die Bolschewiki ihren Konkurrenten hier einiges voraus hatten?
Vor der Revolution war über Jahrzehnte hinweg eine hoch entwickelte Subkultur, ein revolutionärer Untergrund entstanden, insbesondere seit den 1870er Jahren, seit der Bewegung Narodnaja Wolja. Es gab Bestseller des revolutionären Untergrunds, Bücher, mit denen die radikale Jugend erzogen wurde. Es gab Lieder, städtische Mobilisierungsrituale. Diese Kultur hatte ihre Berührungspunkte mit der russischen Hochkultur, ob uns das gefällt oder nicht.
Nach der Februarrevolution herrschte in Russland ein politischer Pluralismus. Ja, die monarchistischen rechten Parteien waren zwar am Drücker, viele Zeitungen waren verboten, aber man konnte im Großen und Ganzen alles sagen, was man wollte – es bestand absolute Freiheit.
Und wenn wir uns die Symbolik anschauen, dann war diese von Anfang an von der revolutionär-politischen Kultur geprägt. Manche Leute bezeichneten diese Revolution als eine bürgerlich-demokratische, doch die dominierende Symbolik war eine sozialistische. Das wiederum schafft einen Rahmen, der vor allem den Radikalen entgegenkommt, in diesem Fall den Bolschewiki und ihren Verbündeten.
Die Politisierung nach dem Februar 1917 geschah mit Liedern und Ritualen. Erst danach lasen die Leute die Parteiprogramme
Die Menschewiki waren in einer sehr schwierigen Lage: Einerseits waren es ihre Lieder und ihre Subkultur. Andererseits war ihnen bewusst, dass sie den politischen Prozess radikalisieren könnten, und davor hatten sie Angst. Ihre Botschaft war folgende: Leute, das sind jetzt nur Symbole; fasst das nicht als direkte Handlungsanleitung auf. Schließlich verstehen die Franzosen die recht blutrünstige Marseillaise ja auch nicht als unmittelbare Anleitung zur Revolution.
Das war damals ein etwas naiver Aufruf. Die Politisierung nach dem Februar 1917 geschah mit Hilfe von Liedern und Ritualen. Erst danach lasen die Leute die Parteiprogramme. Das war dann der Radikalisierungsfaktor.
Warum war der Stabilitätspuffer des gesamten Systems so schwach? Anfang 1917 war die Situation in Petrograd längst nicht katastrophal. Die Аnsprachen der Arbeiter führten zu der Kundgebung auf dem Snamenskaja-Platz, allerdings hatte diese Demonstration größtenteils symbolischen Charakter. Die Autokratie zu stürzen, war anfangs gar nicht das Ziel. Für die meisten politischen Akteure kamen die anschließenden Ereignisse völlig überraschend. Warum lag das Regime des Zaren buchstäblich innerhalb einer Woche am Boden? Warum erhob sich niemand, den Thron zu verteidigen?
Was den Ort angeht, so war traditionell der Platz vor der Kasaner Kathedrale die Bühne für politischen Protest. Der Snamenskaja-Platz allerdings fungierte wie ein gigantisches Sammelbecken. Leute aus gleich mehreren Arbeitervierteln – aus den Stadtteilen Newskaja Sastawa, Moskowskaja Sastawa, Ochta – konnten gar nicht anders, sie mussten an diesem Platz vorbei, wenn sie zum Newski-Prospekt gelangen wollten.
Wir beschreiben die Revolution gewöhnlich durch das Handeln der Hauptakteure. Dabei werden viele Revolutionen von einer Minderheit verwirklicht. An der Oktoberrevolution ist das noch deutlicher zu sehen. Wenn wir uns die revolutionären Ereignisse jener Zeit anschauen, erkennen wir, dass in den Städten kein sonderlich großer Teil der Bevölkerung mobilisiert wurde. Und auch im Februar 1917 ging nur ein bescheidener Teil der Bevölkerung auf die Straße; allerdings war das eine recht aktive und sichtbare Minderheit.
Wir beschreiben die Revolution gewöhnlich durch das Handeln der Hauptakteure. Dabei werden viele Revolutionen von einer Minderheit verwirklicht
Eine Revolution – das ist eine sehr wichtige These für mich – bedeutet, dass gleichzeitig die einen sehr schnell mobilisiert werden, während die anderen – jene, die sich dem revolutionären Prozess entgegenstellen oder ihn wenigstens hemmen könnten – ganz erheblich demobilisiert werden. Mit anderen Worten: Der Grund für die Februarrevolution lag darin, dass ihr nicht massiv entgegengewirkt wurde, selbst von jenen nicht, die das ureigentlich hätten tun müssen. Da waren Generäle, die mit Entscheidungen zögerten, Offiziere, die Befehle nicht weitergaben, Kosaken, die nur so taten, als ob sie Befehle ausführen …
Und dann noch die Gerüchte! Nicht wenige Offiziere der kaiserlichen Armee nahmen ernsthaft an, dass mit der Zarin nicht alles in Ordnung sei. Es wurden Pläne diskutiert, die Herrscherin mit Hilfe von Gardeoffizieren zu verhaften. Vor dem Krieg wäre so etwas kaum denkbar gewesen.
dekoder dankt Robert Kindler für seine Unterstützung bei der Aufbereitung des Interviews.
Wenn es um Rohstoffe in Russland geht, kommt die Rede meist auf Öl und Gas. Dabei hat sich auch Gold zu einem Milliardengeschäft entwickelt. Weite Regionen wie Sibirien und der Hohe Norden liefern Tonnen über Tonnen des Edelmetalls. Das Land gehört weltweit zu den Spitzenproduzenten und ganze Siedlungen mit Arbeitern sind mancherorts um Goldminen herum entstanden. Im kleinen Nexikan in der Kolyma-Region war das anders herum: Das Dorf fiel dem Goldabbau zum Opfer. Ein einziger Einwohner ist geblieben. Das Medienprojekt dv.land hat sich gefragt, was den Mann dort noch hält und bietet Einblick in einen eigenwilligen Alltag in der Abgeschiedenheit der russischen Provinz.
Wladimir Kuklin ist 65 Jahre alt. Jedes Jahr besteigt er am Tag des Geologen einen vierhundert Meter hohen Berg, um auf der Kuppe eine rote Fahne zu hissen. Früher brauchte er eine Stunde für den Aufstieg, aber nun ist er in die Jahre gekommen. Der Weg zum Gipfel dauert zwei Stunden, wenn nicht gar länger. Einst pflegten viele Einwohner der Siedlung Nexikan diese Tradition und alle drei Gipfel der umliegenden Gebirgskette waren mit roten Fahnen geschmückt. In den letzten Jahren flattert hier nur noch Wladimir Kuklins Fahne.
Nexikan liegt knapp 25 Kilometer von Sussuman entfernt, dem Kreisverwaltungszentrum. Nimmt man von dort die Kolyma-Trasse Richtung Jakutien, so kommt man an einigen verlassenen Dörfern und laufenden Förderanlagen vorbei zu einer Landmarke: eine schwarze Granitplatte, die an einem grob behauenen Stein angebracht ist. Auf der Platte steht die Inschrift: An diesem Ort befand sich 1938 bis 1998 die Siedlung städtischen Typs Nexikan.
Auf Höhe dieses Gedenksteins führt eine schmale Straße von der Trasse weg. Folgt man ihr, gelangt man wenige Minuten später zu einem alten eingeschossigen Haus, zu dem Stromleitungen führen. Bereits seit 17 Jahren arbeitet Wladimir Kuklin als Hüter des kleinen Umspannwerks, das die umliegenden Goldgräbergenossenschaften mit Strom versorgt. An seiner Haustür steht mit Kreide geschrieben: „Demolieren verboten“.
Kuklin ist ein heiterer, gutherziger, stämmiger Mann mit grau meliertem Haar. Sofort bittet er mich zu sich herein, um nicht zu lange an der Türschwelle stehen zu bleiben, wo doch draußen minus 35 Grad sind. Seine Wohnstatt im Umspannwerk entpuppt sich als durchaus gemütlicher kleiner Raum. Ein Zimmer ist als Arbeitszimmer mit Schreibtisch und Funkgerät eingerichtet, der Rest ist Wohnraum, zugerümpelt mit einer Unmenge Kleinkram.
Am Gedenkstein führt eine schmale Straße nach Nexikan
„Etwa 80 Meter von diesem Umspannwerk entfernt stand mein Haus, aber von dem ist nichts übrig, alles wurde abgetragen, umgegraben, ausgewaschen. Unter uns liegt ja gutes Gold. Um es zu gewinnen, muss die freigelegte Erde von oben abgetragen und abgeschlämmt werden. Dann wird diese unnütze Erde in eine andere Grube geworfen. So hat man hier alles Stück für Stück beackert, und es ist diese Mondlandschaft entstanden“, sagt Wladimir und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Schade drum, aber unser Land braucht ja das Gold“.
Glaubt man den Worten Kuklins, so hatte die Siedlung Nexikan in ihrer besten Zeit an die zwei- bis dreitausend Einwohner und eine gute Infrastruktur: Läden, einen Kindergarten, eine Schule für Kinder aus nah und fern. „Die meisten Häuser waren aus Holz und zweigeschossig. Ein einziges Steinhaus mit vier Stockwerken gab es, aber von denen sind kaum drei übrig, die Steine wurden für Garagen und Anbauten verwendet. Auch die Banja war in einem Steinhaus, und ein neues Schulgebäude sollte errichtet werden, ist aber nicht mehr fertig geworden. Da kamen all diese Störungen dazwischen“, erzählt Wladimir.
Etwa 80 Meter entfernt stand mein Haus, aber von dem ist nichts übrig, alles wurde abgetragen, umgegraben, ausgewaschen
Als Störungen bezeichnet der Elektriker die Zeit der Perestroika, als er aus der Mine Bolschewik entlassen wurde, und auch die 1990er, als sein Erspartes völlig an Wert verlor und entschieden wurde, die Siedlung aufgrund fehlender Perspektiven aufzulösen, in der er gelebt hatte, seit er fünf Jahre alt gewesen war.
„Im Frühling 1998 wurde das Heizwerk geschlossen, und im Laufe des Sommers wurden dann die meisten Einwohner in nahegelegene Ortschaften umgesiedelt. Als die Hälfte der Bevölkerung weg war, trommelte man die Übriggebliebenen zusammen. Wir mussten in andere Häuser ziehen, damit in einem Gebäude mit 20 Wohnungen nicht bloß fünf Leute wohnten. Nach und nach wurden den Verbliebenen Wohnungen angeboten, sie zogen aus, ihre Häuser wurden niedergebrannt oder abgerissen, damit an deren Stelle Аbbauflächen entstehen konnten. Sofort wenn ein Straßenzug leerstand, fing das große Graben und Buddeln an“, erinnert sich der Einsiedler.
Ein Teil der Einwohner blieb zunächst in Nexikan, obwohl es keine Infrastruktur mehr gab und das Städtchen sich allmählich in eine einzige Abbaufläche verwandelte. Allerdings kamen sie nur den Sommer über, um zu „wildern“, wie Kuklin es nennt, sprich, um dort Gold auszuschwämmen, wo die Genossenschaften gerade nicht am Werk waren. Darauf angesprochen, ob Kuklin sich nicht auch selbst als freier Goldwäscher versucht hätte, erwidert er, für Gold nie besonders viel übrig gehabt zu haben. Als Kind sei er aber schon zusammen mit den anderen seine drei bis fünf Gramm waschen gegangen, um sich dafür Bonbons und Schokolade zu kaufen. In dem Goldgräberstädtchen konnte jeder Schüler mit Kratzer und Waschrinne umgehen und wusste, wo das Edelmetall zu finden ist.
Der letzte Einwohner von Nexikan – Wladimir Kuklin
Vielleicht ist das auch die Erklärung für die friedliche Koexistenz zwischen Kuklin und den Genossenschaften – jenen Goldgräbern, die für die planmäßige Auslöschung seines Heimatortes verantwortlich sind. Kuklin hat sich nie mit ihnen angelegt, im Gegenteil: Sie kamen gut miteinander aus und unterstützen einander zuweilen. So teilen die Goldgräber mit dem Einsiedler ihr Wasser und nehmen ihn mit in die Stadt, damit er seine Einkäufe erledigen kann. Denn das hat sich im Alltag als die größte Schwierigkeit erwiesen: Strom gibt es, die Heizung im Dienstraum ist kostenlos, für den Betrieb verwendet er Regenwasser oder geschmolzenen Schnee; Lebensmittel aber kann er nicht so einfach besorgen, dafür braucht man ein Transportmittel – und das hat er nicht. Normalerweise helfen die Straßenarbeiter und Goldgräber mit ihren Mannschaftswagen aus. Die ersten Jahre war es schwer, früher gab es wenige Autos auf der Fernstraße von Kolyma, sie hielten nur ungern. Aber nach einer Weile „hat sich die Straße daran gewöhnt“, und fast alle Fahrer aus der Umgebung kennen Wladimir Kuklin mittlerweile. Sie nehmen ihn gerne bis zur nächsten Ortschaft mit und erkundigen sich, wann er sich denn wieder aufmachen würde, um seine rote Fahne auf dem Berg zu hissen.
Kuklins Leben der letzten 17 Jahre hat etwas von dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier: Seine dienstlichen Pflichten bestehen darin, die Strom- und Spannungsmesser abzulesen und die Werte über Funk durchzugeben – und das fünf Mal am Tag. Im Winter gestaltet sich sein Arbeitstag abwechslungsreicher: Da kommt das Schneeräumen dazu. „Das ist keine richtige körperliche Arbeit, sondern eine Art Bereitschaftsdienst am Schreibtisch, deswegen habe ich eine Menge Freizeit. Natürlich ist es etwas langweilig, aber ich habe mich daran gewöhnt.“
Vor der Einsamkeit rettet er sich vor allem durch Filme. Fernsehsender kann er nicht empfangen, sie „kommen nicht durch“, wie er es nennt, aber in Sussuman und Magadan gibt es Menschen, die dem letzten Nexikaner Filme herunterladen und sie auf Festplatten und USB-Sticks kopieren.
Manchmal ruft auch jemand an. Unweit ist die Ortschaft Cholodny, das Netz vom Mobilfunkturm reicht bis zum Umspannwerk. Ab und an telefoniert Wladimir mit Verwandten, Schwestern oder Neffen, Freunden oder Bekannten von früher. Eine eigene Familie hat Wladimir nicht. Er selbst meint dazu: „Ich habe es mit dieser ausprobiert, und mit jener. Aber wer will schon hier leben?“
Es stellt sich heraus, dass der letzte Bewohner Nexikans einst Frau und Sohn hatte. Doch als Wladimir aus der Armee zurückkam, reichte seine Frau die Scheidung ein und zog mit dem Sohn in die Gegend von Rjasan. Zu dem Sohn hat er keinen Kontakt. Dieser hat eine eigene Familie und Kinder, die ihren Opa nie gesehen haben.
„Ich habe sie einige Male besucht, als mein Sohn noch zur Schule ging. Wir haben einander Briefe geschrieben und irgendwann bekam ich ein Telegramm, in dem stand: ‚Papa, komm, ich heirate‘. Aber das ging nicht, damals war Inflation und ich wäre mit dem Geld nicht weiter als bis Magadan gekommen. Dann kam die Geburt seiner Tochter, auch da wollte er, dass ich komme. Aber es ging wieder nicht. Sechs Monate lang stand ich damals schon ohne Lohn da, hatte nie genug Geld. Danach haben wir irgendwann auch aufgehört, uns zu schreiben“, erklärt der Einsiedler.
Ich bin 65. Ich könnte natürlich aufs Geratewohl irgendwohin ziehen, in irgendein Lipezk oder Woronesh. Aber wer wartet da schon auf mich?
Sein Tonfall ändert sich nicht, nur das Gutmütige weicht ein wenig aus seinem Gesicht. Mit denselben Regungen hatte er mir zuvor schon erzählt, wie schwer es war, mit ansehen zu müssen, wie die Häuser dem Erdboden gleichgemacht wurden, etwa die Schule, die er besucht hatte, oder der Laden, in dem er als Kind das Geld ausgab, das er fürs Goldwaschen bekommen hatte.
Ich will wissen, ob er etwas bereut, was für Gedanken sich ihm sicherlich aufdrängen, ob er sich nach einem anderen Leben sehnt, entweder hier im Hohen Norden oder weiter landeinwärts. „Der Mensch ist so: Die ganze Zeit macht er sich irgendwelche Gedanken. Selbst wenn man ein Buch liest, gehen einem ständig irgendwelche Gedanken durch den Kopf: Ob es richtig war zu bleiben oder falsch, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich diesen Job aufgegeben und einen anderen gefunden hätte. Man versucht, es zu drehen und zu wenden, überlegt hin und her. Aber ich bereue nichts. Ich habe nicht das Gefühl, ich hätte alles hinschmeißen sollen. Ich bin hier aufgewachsen, war hier an der Schule, habe hier geheiratet, mein Sohn ist hier geboren, und meine Eltern liegen hier begraben. Ich habe hier Wurzeln geschlagen“, antwortet er, fügt jedoch nach einiger Zeit hinzu: „Manchmal werde ich gefragt, warum ich nicht weggehe. Aber wozu bitteschön? Ich bin 65. Ich könnte natürlich aufs Geratewohl irgendwohin ziehen, in irgendein Lipezk oder Woronesh. Aber wer wartet da schon auf mich?“
Nexikan liegt etwa 650 Kilometer nördlich von Magadan
In den 17 Jahren im Umspannwerk inmitten dieser Mondlandschaft, wo einst das Leben pulsierte, hat sich der nexikanische Einsiedler in seiner kleinen Welt eingerichtet. Nicht weit von hier, in den nach wie vor belebten Ortschaften sind ihm Bekannte und Verwandte geblieben. Zum Totengedenktagkommen die zehn, zwanzig ehemaligen Nexikaner hier zusammen, die es nicht allzu weit in ihre alte Heimat haben. Die meisten schauen bei dem Einsiedler vorbei, um gemeinsam zum Friedhof zu fahren, die verstorbenen Angehörigen zu besuchen und zum Gedenken an die Toten dort ihre 100 Gramm zu trinken, wie es der Brauch ist.
Zusammen mit Kuklin laufen sie auf der für die Goldgräber wertlosen Erde herum. Da wo einmal ihr Wohnort war, versuchen sie die Stellen zu finden, wo ihre Häuser standen, der Laden oder die Schule. Wladimir träumt davon, irgendwann genau zu wissen, wo sich was befand: „Ich hatte sogar den Gedanken, den Ort abzulaufen und überall Pflöcke mit Schildern aufzustellen. Wenn man herauskriegt, wo genau der Kindergarten war, kommt da ein Pflock mit Aufschrift hin. Wenn man die Stelle findet, wo die Schule stand, kommt da auch ein Pflock hin. Und wenn man weiß, dass hier eine Straße war, sagen wir mal die Offizerskaja, dann kommt da ebenfalls so ein Pflock hin, mit Schild.“