дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Cancel Russia aus dem Kreml

    Cancel Russia aus dem Kreml

    Die russische Sängerin Monetochka und der Rapper Noize MC sind für den Friedensnobelpreis 2025 nominiert. Eine Gruppe norwegischer Professoren hat die Kandidaturen im Dezember 2024 eingebracht: Mit ihren Stimmen, so die Begründung, würden die beiden Musiker eine Generation vertreten, die für humanistische Werte einstehe.  

    Monetochka und Noize sind zwei von hunderten (wenn nicht tausenden) russischsprachigen Musikern, die Russland wegen dessen Krieges gegen die Ukraine den Rücken gekehrt haben. Heute leben sie überall in der Welt verstreut, nehmen neue Songs auf, gehen auf Tour und sammeln Spenden für die Ukraine. Ihr künstlerischer Protest gegen Putins Russland bildet eine neue Gegenkultur, die hunderttausende Exilierte vereint. Ihre Kreativität verschafft ihnen darüber hinaus auch Resonanz bei den Nicht-Russischsprachigen. 

    Was hat der Kreml mit Konzertverboten, Stigmatisierung als „Agenten“ und Massenexodus der Kreativen verloren? Was und wer bildet heute die russische Musikkultur? Und wie kann ihre Zukunft aussehen? In einem Parforceritt durch die neuere Musikgeschichte Russlands geht der Journalist Pawel Kanygin diesen Fragen für Prodolshenije Sledujet nach.   

    Erinnern Sie sich an Namen wie Ivan Urgant und Ivan Dorn? Bis vor Kurzem wurden diese noch ständig im Fernsehen gezeigt. Jetzt werden Sie in Russland keinen dieser Ivans mehr zu sehen bekommen. Einer entpuppte sich als Ukrainer, der andere sympathisiert mit der Ukraine. So einfach ist das. 

    Der Gedanke mutet heute seltsam an, aber bis vor Kurzem war die russische Musikindustrie wirklich offen, sowohl gegenüber ihren „Nachbarn“ als auch gegenüber „Einflüssen aus dem Ausland“, wie die heutigen Abgeordneten sagen würden. Und erstaunlicherweise hat ihr diese Offenheit absolut nicht geschadet. Im Gegenteil: Bevor der Krieg begann, war in Russland eine moderne, wettbewerbsfähige Musikkultur herangereift. Man interessierte sich im Ausland für unsere Musik, nahm sie zum Vorbild, lernte von uns! 

    Mit dem Verlust der Musik hat Russland auch an Soft Power verloren. Musiker haben über alle Grenzen hinweg einen gemeinsamen kulturellen Raum geschaffen, der Russland mit seinen Nachbarn verband – bis der Staat kam und alles zerstörte. 

     
    IC3PEAK: Alles soll brennen  

    Vom Stillstand zur Moderne 

    In den vergangenen gut dreißig Jahren hat sich die russische Musikszene mehrfach komplett neuformiert. Auch wenn die sowjetische Musik westliche Trends aufnahm, geschah dies nur äußerst langsam. Während in den 1960er und 1970er Jahren auf der ganzen Welt die Rockmusik ihren Höhepunkt erreichte, erlangte der Rock in der Sowjetunion erst Ende der 1970er Jahre allgemeine Anerkennung, und zu Stars wurden seine Vertreter überhaupt erst nach Beginn der Perestroika. Bis dahin war der Rock unter sowjetischen Behörden nicht wohlgelitten, die Musiker verdienten ihr täglich Brot in Fabriken, und der legendäre Viktor Zoi verdingte sich als Heizer. 

    Das hatte zur Folge, dass die Musikindustrie nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhangs den Westen aktiv einzuholen versuchte – was ihr bis etwa Mitte der 2010er Jahre tatsächlich gelang: Vergleicht man die einzelnen Genres, so hatte sich die russische Musik dem Westen bis zu diesem Zeitpunkt maximal angenähert

    Zum wichtigsten Genre entwickelte sich der Rap. Vergleicht man den russischen und den amerikanischen Rap der Nullerjahre, so könnte man meinen, es handele sich nicht nur um unterschiedliche Genres, sondern um zwei völlig unterschiedliche Phänomene. Zwischen Mnogotochie und Jay-Z bestehen nicht sehr viele Gemeinsamkeiten. Vergleicht man jedoch den russischen und den amerikanischen Rap Ende der 2010er Jahre, lassen sich kaum noch Unterschiede feststellen. In Russland wurde alles übernommen: nicht nur der Stil, sondern auch etwa die Form der Battles. Dabei erwiesen sich die Nachahmer als äußerst talentiert und brachten ihren ganz eigenen Sound ein. Zu den größten Stars des russischen Rap gehörten Noize, Oxxxymiron, Kasta und natürlich das elektronische Hip-Hop Duo AIGEL. 

     

    Über 130 Millionen Aufrufe für Tatarin von  AIGEL

    Die gleiche Entwicklung lässt sich bei dem russischen Rock beobachten. In den Nullerjahren war es üblich, die russische mit der westlichen Rockszene zu vergleichen und die kleinen Unterschiede hervorzuheben: Viele behaupteten zum Beispiel – und behaupten bis heute -, der russische Rock sei lyrischer und textbasierter.  

    Doch schon Mitte der 2010er Jahre änderte sich die Situation grundlegend. Seit Radiosender und Fernsehen an Bedeutung verloren und es immer mehr Möglichkeiten gab, Musik über das Internet zu verbreiten, veränderte sich die russischsprachige Rockmusik. In Russland entwickelte sich eine einflussreiche und vielfältige Post-Punk-Szene. Im englischen Sprachraum lassen sich leicht Diskussionen finden, in denen Bands wie Molchat Doma oder Buerak besprochen werden. Plötzlich stellte sich heraus, dass russischsprachiger Rock nicht zwangsweise Kino, Grebenschtschikow oder DDT war. Der moderne Rock klang anders und sprach nicht nur russischsprachige Hörer an.  

     

    Die belarussische Band Molchat Doma ist nach der Protestwelle 2020 in die USA emigriert 

    Ebenso veränderte sich auch die Popmusik. Aus heutiger Sicht muten die Hits der Nullerjahre seltsam an. Man mag es kaum glauben, dass die Menschen sich damals mit Genuss Lieder wie „Schokoladny sajaz“ [dt. Der Schokoladenhase] anhörten. Aber mit der Zeit klang die Popmusik immer besser. Das lag vor allem an der Entstehung neuer Kanäle für den Musikvertrieb sowie an der schwindenden Rolle der Produzenten. Mit dem Aufkommen von Online-Plattformen in den 2010er Jahren und dem zunehmenden Einfluss sozialer Netzwerke wurden diese immer unwichtiger. Nun mussten Musiker nicht mehr um ihre Gunst werben, um im Radio oder einem der Musiksender im Fernsehen gespielt zu werdenю Sie konnten ihre Hörer selbst im Internet finden.  

    Streben hin zum russischen Markt

    Die moderne russische Musikszene – also die vor dem Krieg – setzte sich aus vielen einzelnen Teilen zusammen. Es gab immer noch Künstler, die sich in der Sowjetunion einen Namen gemacht hatten. Es gab diejenigen, die man erst in den 1990er Jahren wahrgenommen hatte. Die Projekte der Musikproduzenten aus den Nullerjahren wirkten fort. Und natürlich erschienen neue Interpreten im Internet, die anfänglich niemand ernst nahm. 

    Die russische Musikindustrie nahm nicht nur Einflüsse aus dem Westen auf, eine große Rolle spielten auch die direkten Nachbarn. Russland als größtes Land der zerfallenen Sowjetunion bot einen riesigen Markt für Musiker. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Künstler aus den ehemaligen Sowjetrepubliken auf Russisch sangen. So wurde die russische Musikindustrie zu einem großen Schmelztiegel.  

    Einige Künstler waren so feste Bestandteile des russischen Marktes, dass den Hörern womöglich gar nicht klar war, dass sie aus einem anderen Land stammten – beispielsweise der Rapper T-Fest aus der Ukraine, die Bands NEMIGA, LSP sowie die Sängerin Palina aus Belarus, Kaspiski grus aus Aserbaidschan. In den Hitparaden waren immer wieder Titel ukrainischer Interpreten zu hören – von Verka Serdyuchka und Vera Breshneva bis hin zu Ivan Dorn, Max Barskich, der Band Griby und der Band Poshlaya Molly, die in Russland wahrscheinlich von allen die meisten Nachahmer hat. 

     

    Poshlaya Molly – Mishka  

    Auch die Labels achteten nicht darauf, woher die Künstler kamen. So wurde der Belarusse Max Korzh über das russische Lable Kasty berühmt und der kasachische Rapper Skryptonite über Gazgolder. Für die Musiker war die russische Sprache der Schlüssel zu einem großen Markt, und das nutzten sie. Für Russland bedeutete das eine gewaltige Soft Power. Doch hat unser Land es nie gelernt, diese zu seinem Vorteil zu nutzen. Gewalt scheint unserer Staatsmacht immer noch der schnellere und einfachere Weg zu sein. 

    Staat vs. Business

    In den Nullerjahren kümmerte sich die Politik kaum um die Musik, doch in den 2010er Jahren gerieten die Musikschaffenden in den Fokus der Staatsgewalt. Sowohl Abgeordnete als auch dafür bezahlte Personen des öffentlichen Lebens setzten sich wiederholt für ein Verbot von Liedern und Künstlern ein, zahlreiche Konzerte wurden gesprengt.  

    Erinnern wir uns an die Skandale im Zuge des Eurovision Song Contests, als die Abgeordneten der Staatsduma ernsthaft darüber diskutierten, wer uns vertreten dürfe: 2020 wurde bekannt gegeben, dass die Gruppe Little Big für Russland antreten würde. Die Band veröffentlichte damals den Videoclip Uno und wenige Monate später S*ck My D*ck 2020. Natürlich konnte der Freak-Abgeordnete Witali Milonow das nicht unkommentiert lassen: „Das ist absolut abscheuliche Musik für Perverse“, erklärte er und fügte hinzu, dass der Clip nichts mit Kunst und Ironie zu tun habe und nur „absolute Scheusale“ ansprechen könne. 

    Als 2021 die in Tadschikistan geborene Manizha für Russland zum Wettbewerb fuhr, rief die Abgeordnete Jelena Drapeko dazu auf, den Auftritt der Sängerin unter russischer Flagge zu verhindern. Komischerweise forderte sie auch, nicht Manizha zum Wettbewerb zu schicken, sondern Little Big. Milonow war also dagegen, Drapeko dafür, und niemand wird jemals die Logik hinter ihren Positionen verstehen. 

     

    Gemessen in YouTube-Aufrufen, ist Skibidi wohl der größte musikalische Kulturexport der jüngsten russischen Geschichte.  

    Der Krieg setzte all diesen Streitigkeiten ein Ende. Der Frontmann der Band Little Big, Ilja Prusikin, verurteilte die russische Aggression. Wenige Monate nach Beginn des Krieges reiste die Band in die USA aus, und weitere sechs Monate später wurde ihr Frontmann zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Auch Manizha tritt nicht mehr in Russland auf. Ebenso wie viele ukrainische Künstler natürlich. 

     

    Manizha tritt in Russland nicht mehr auf, 2024 hat sie jedoch in Moskau einen Antikriegs-Clip aufgenommen. 

    Was ist nun aus der russischen Musikindustrie geworden? Monetochka singt über die Emigration. Pornofilmy touren mit Liedern über das Putin-Regime um die Welt. Auf der anderen Seite schreien Musiker, die ehemals über Mephedron sangen, nun „Russland, Russland“ bei ihren Konzerten und versuchen zugleich, nicht die Aufmerksamkeit von Jekaterina Misulina auf sich zu ziehen.  

     

    Monetochka: Das war in Russland, also ist es lange her.  

    Staatlich verordnete Kultur 

    Und hier stellt sich die Frage: Wie kann es sein, dass der Staat nicht selbst begreift, dass sich die Interessen des Landes gerade über die Kultur auf internationaler Ebene viel effektiver vorantreiben lassen als mit Hilfe von Waffengewalt? Ich denke, die Machthaber begreifen das sehr wohl, nur tun sie dies auf ihre ganz eigene Weise: 

    Auf der ganzen Welt wurden unter der Ägide von Rossotrudnitschestwo sogenannte „russische Häuser“ eröffnet. Ihre Aufgabe besteht eben darin, die russische Kultur zu verbeiten. Aber was verstehen ihre Führungskräfte unter russischer Kultur? Ein paar dutzend Schriftsteller, ein Dutzend Komponisten und exakt zwei Regisseure, das war’s. Die russischen Häuser verfügen über einen Telegram-Kanal, der dies sehr deutlich veranschaulicht: Die Ukraine wurde [Stand: 01.10.2024] in 252 Beiträgen erwähnt, Puschkin in 234, Putin in 220. Michail Bulgakow und Joseph Brodsky dagegen jeweils nur sechsmal, und Nabokow wird überhaupt nicht erwähnt.  

    Aber die russische Kultur wird vom Westen gecancelt, nicht dass Sie durcheinanderkommen! 

    Der russische Staat behandelt die Kultur wie eine heilige Kuh und glaubt aus irgendeinem Grund, sie permanent retten zu müssen. Lew Tolstoi ist in der Vorstellung der Staatsbeamten und Propagandisten anscheinend so unbedeutend, dass er einfach verschwände, würde Margarita Simonjan ihn nicht verteidigen. Und wenn wir nicht unablässig über Pjotr Tschaikowski reden, werden seine Werke nirgends mehr aufgeführt werden. Dabei sind es die USA, in denen am Unabhängigkeitstag die Ouvertüre „1812“ erklingt. Kann sich irgendjemand erinnern, wann dieses Werk in Russland zum letzten Mal bei einer großen öffentlichen Veranstaltung zu hören war? Unsere Hymne ist die sowjetische und das Einzige, was bei offiziellen wie inoffiziellen Veranstaltungen gespielt wird, vielleicht noch gefolgt von einem Lied von Schaman. Und das sollen wir dann also als russische Musikkultur betrachten? 

    Banale Geschmacklosigkeit  

    Während unsere, und nicht nur unsere, Musiker, ohne es zu wollen, gezeigt haben, dass Russland über eine lebendige, moderne Musikkultur verfügt, die in der Welt wahrgenommen wird, gaben sich unsere Beamten alle Mühe, sich selbst und alle um sie herum zu konservieren. Dabei geht es nicht nur um den fanatischen Hang zur antiwestlichen Rhetorik, eine große Rolle spielt wahrscheinlich ganz banale Geschmacklosigkeit. Hören Sie sich einmal das Ende des Stücks Spolna an, das von Katya Lel gesungen wird. Wissen Sie, wer es geschrieben hat? Die Pressesprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa. Damit ist klar, dass solche Menschen Schaman aufrichtig für einen außergewöhnlichen Komponisten halten können. 

     

    „Mit einer Tüte überm Kopf / und Elektroden am Arm / sitzt mein Russland im Knast / aber glaub mir: Das geht vorbei!“ Eto proidjot (dt. Es geht vorbei) ist eine der vielen russischen Protesthymnen. 

    Doch was ist mit der echten russischen Musik? Wird sie wirklich in diesem Sumpf untergehen? Wenn ich darüber nachdenke, kommt mir ein banaler Gedanke in den Sinn: Die Wendepunkte in der russischen Geschichte gingen immer mit einem gewaltigen Aufschwung der Kultur, insbesondere der Protestkultur einher. So fiel das silberne Zeitalter der russischen Poesie mit dem Untergang des Russischen Reichs und der Gründung der Sowjetunion zusammen. Der Russische Rock lieferte den Soundtrack zur Perestroika und zum Zerfall der Sowjetunion. Das heißt nicht, dass ich unserem Land eine neue schwere Prüfung prophezeien möchte, aber diese ganze herangereifte coole Musikkultur der Kriegsära lässt sich da ohne Umstände einreihen. 

     
    Schwanensee ist heute ein Code für Aufruhr und Umsturz / Video: Noize MC Kooperatiw „Lebedinoje osero“ 

    Die Stimme unserer Musiker ist lauter als die der Politiker. Keine Propaganda wird sie übertönen – und das ist vielleicht der Grund, warum die Herrschenden solche Angst vor ihnen haben. Vielleicht haben sich die russischen Staatsbeamten deshalb die ganze Zeit über so vehement gegen die Soft Power der russischen Musikkultur gewehrt, weil diese weder lenk- noch kontrollierbar ist. Sie lässt sich nicht dazu benutzen, eine „Russische Welt“ zu konstruieren, sie baut und gestaltet ihre eigene unvorhersehbare, aber kluge und menschliche Welt. Eine, in der sich Menschen wie Putin, Sacharowa und Misulina sehr unwohl fühlen werden. 

    Es wird sich zeigen, wer letztlich stärker ist. Das aktuelle Konstrukt „Putins Russland“ oder die niemals vollständig erklärbare Urgewalt der Musik. 

    Weitere Themen

    „Ich liebe mein Land, auch wenn ich den Staat hasse“

    Cancel Culture im Namen des „Z“

    Russland und der ESC

    „Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“

    Noize MC

    Protestmusik

  • Landschaft der Trauer

    Landschaft der Trauer

    Kirchen, einstige Adels-Residenzen oder Gutshäuser – der belarussische Fotograf Valery Vedrenko beschäftigt sich mit der belarussischen Geschichte auf dem Landstrich zwischen Polesien im Süden und der Seenlandschaft im Norden von Belarus. Er fotografiert Bauten, die oft wie in die Gegend gewürfelt scheinen: Kleinode, klassizistisch, barock oder gotisch. 
    Allesamt erzählen sie viel über die Geschichte seines Landes, die bis in die Zeit des Großfürstentums Litauen zurück reicht. Einige der Orte sind für die Nachwelt erhalten worden, besitzen sogar Unesco-Weltkulturerbestatus; andere sind sich selbst überlassene Ruinen.

    Vedrenko wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet. Er hat sich mit unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen einen Namen gemacht, darunter mit Grafiken, Filmen und Malerei. Mit der Digitalisierung, sagt er, fand er einen ganz eigenen Zugang zur Fotografie, seither lässt er die Kunstformen miteinander verschmelzen. Wenn er die belarussischen Baudenkmäler dokumentiert, über die Jahre immer wieder zu ihnen zurückkehrt, hält er sich an digitale Schwarz-Weiß-Aufnahmen, ohne Filter, ohne Effekte. So sind Bilder entstanden, die auch zeigen, wie schwer es dieses kulturelle Erbe in Belarus hat, einen festen Platz zu finden.

    Njaswísh, Fronleichnamskirche aus dem 16. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2006 / Foto © Valery Vedrenko
    Njaswísh, Fronleichnamskirche aus dem 16. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2006 / Foto © Valery Vedrenko

    dekoder: Ihre Fotografien zeigen Architekturdenkmäler, hauptsächlich Kirchen. Glockentürme zwischen Bäumen, Ruinen im Wald oder imposante Gebäude entlang ausgestorbener Dorfstraßen. Wie kommt es zu dieser Motivauswahl? 

    Valery Vedrenko: Mich interessieren Sujets mit eigener Biografie. Die Wahl der Motive ergibt sich daher quasi von selbst. Die Architekturdenkmäler in den belarussischen Großstädten sind aus ihrem historischen Kontext gerissen und wirken eher wie Museumsstücke, die ihres natürlichen Umfelds beraubt sind. Daher reise ich umher und fotografiere in kleinen Ortschaften und Dörfern, in denen die Landschaft und das Alltagsleben noch mehr oder weniger natürlich sind. Allerdings gibt es von diesen Orten mit jedem Jahr weniger, und auch die Motive selbst verschwinden. Sie werden von den neuen Besitzern nach Gusto umgebaut, während sich die Orte selbst  in ländliche Siedlungen verwandeln, die dem Muster einer belarussischen Agrogorodok entsprechen. 

    Die Fotoserie heißt Landschaft der Trauer. Ist Belarus das Land der vergessenen Ruinen?

    Belarus hat zwei Gesichter. Es gibt das touristische und das lebendige Belarus. Im ersten werden Ihnen ein Dutzend restaurierter Schlösser und Kathedralen präsentiert, im zweiten finden Sie hunderte Kirchen, Gutshäuser und Wirtschaftsgebäude, die zu Ruinen verfallen. Zum historischen Erbe pflegt die Regierung ein Verhältnis wie zum Sport: Wichtig sind nur die Plätze auf dem Podest. Finanzielle Mittel werden nur für die herausragenden Denkmäler bereitgestellt, die Gewinn einbringen und von denen es nicht mehr viele gibt. Um die anderen sollen sich die lokalen Behörden kümmern, die weder über Geld, noch über die fachliche Ausbildung, noch über Infrastruktur verfügen. Deshalb nagt an vielen Architekturdenkmälern in den kleinen Städten und Dörfern der Zahn der Zeit, der leider alles in Ruinen verwandelt. Ich versuche, diese traurige Entwicklung in meinen Bildern festzuhalten, daher der Titel des Projekts.

    Hängt die Tatsache, dass Kulturdenkmäler verfallen und in Vergessenheit geraten auch damit zusammen, dass die Belarussen ihre eigene Geschichte oft schlecht kennen?

    Natürlich. Da kommen wir schon in den Bereich von Politik und der Bildung, die ihr untersteht. Um eine Metapher zu bemühen: Wenn in der Sowjetunion die Geschichte mit dem Jahr 1917 begann, dann hat die Geschichte in Belarus mit der Wahl der heutigen Staatsführung  begonnen. Alles, was davor war, ist kaum von Bedeutung. Die wirkliche Geschichte des Landes kann man nur in den Bibliotheken erfahren, nicht in den Schulbüchern, die alle fünf Jahre je nach aktueller Lage umgeschrieben werden. Ein solches Verhältnis zur Vergangenheit spiegelt sich unweigerlich auch im Zustand des architektonischen Erbes.

    Kann es also sein, dass der Staat kein Interesse daran hat, die Erinnerung an die Geschichte zu bewahren?

    Ich werde Ihnen meinen Standpunkt dazu erläutern: In Belarus gibt es weder eine klare Vorstellung von der eigenen Geschichte noch eine Beziehung zu ihr. Alles unterliegt der politischen Konjunktur. Was gestern noch erlaubt war, ist heute bereits verboten, und umgekehrt. Dieser Umstand wirkt sich auf die Einstellung der Beamten und lokalen Behörden aus, die über den Schutz des architektonischen Erbes entscheiden. Er führt zu Gleichgültigkeit nach dem Motto „Nur nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, nichts übereilen“. Und am einfachsten lässt sich das Problem mit der Antwort lösen: „Dafür ist kein Geld da“.

    Wie ist die Idee zu diesem Fotoprojekt entstanden?

    Ich war schon mein Leben lang viel in Belarus unterwegs. Als die Fotografie zu meiner Hauptbeschäftigung wurde, zeichnete sich auch das Genre ab, das mir besonders lag: historische Landschaften. Aus irgendeinem Grund befanden sich die meisten noch erhaltenen Architekturdenkmäler im Westen des Landes. Die Serie (etwa 500 Fotografien) ist das Ergebnis zahlreicher Reisen in diese Regionen und ich beschloss, sie in einem Kunstband zu vereinen. Nach Sichtung und Analyse des aufgenommenen Materials trat jener spezifische Ton hervor, der dem Projekt seinen Namen gab.

    Aus welcher Zeit stammen die Ruinen, die Sie fotografieren, und warum sind sie in so schlechtem Zustand?

    Aus der Zeit zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert, als das Großfürstentum Litauen und dann später die Rzeczpospolita  seine Bedeutung verlor und unsere Gebiete an das Russische Reich fielen. Am besten erhalten ist die Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der Klassizismus, der Jugendstil, die Neugotik … Aber was die Geschichte bis dahin verschont hatte, fiel entweder dem letzten Krieg oder dem Sowjetregime zum Opfer. Die meisten sakralen Bauten und Gutshöfe wurden in Kolchosen verwandelt und solange sie standen, auch genutzt. Doch mit der Zeit wurde alles baufällig, die Gebäude hätten restauriert werden müssen, aber sie wurden, als sie ausgedient hatten, einfach verschlossen und ihrem Schicksal überlassen. In den 1990er Jahren gingen einige Gebäude an die Kirchengemeinden zurück, aber die alten Höfe blieben verwaist.

    Welche Fotografie aus dieser Serie gefällt Ihnen selbst am Besten und warum?

    Da gibt es selbstverständlich nicht die Eine. Aber es gibt eine Fotografie, die ich als Titelbild des Bandes Landschaft der Trauer verwenden wollte. Sie zeigt eine alte Lärche auf dem Friedhof von Ljachawitschy im Bezirk Brest. Ich finde, dass diese Fotografie aus dem Jahr 2013 sehr gut den Reichtum der Vergangenheit und die traurige Gegenwart des historischen Andenkens in Belarus widerspiegelt.

    Gibt es irgendwelche lokalen Initiativen, Projekte oder Hilfen, um Gebäude zu retten, die sich in einem besonders schlechten Zustand befinden?

    Die gibt es. Es gibt Versuche, leerstehende baufällige Gebäude bei Auktionen zu verkaufen. Manchmal, eher selten finden sich tatsächlich Käufer. Aber ich erinnere mich an keinen Fall, in dem das gekaufte historische Gebäude fachmännisch restauriert und entsprechend wieder genutzt wurde. Die für Belarus einzigartigen Schlösser in Shamyslaul und Shaludok haben schon mehrfach den Besitzer gewechselt. Ich war im September dieses Jahres dort und konnte nicht sehen, dass sich an ihrem traurigen Schicksal etwas geändert hätte. In der Regel treten die neuen Besitzer nach drei bis vier Jahren von ihrem Kauf zurück. Sie sind sich dann stärker bewusst, in was für einer Lage sich diese Schlösser befinden: Weit weg von den Hauptverkehrsstraßen – da gibt es keine Infrastruktur. Keine Hotels, keine Cafés, kein Freizeitangebot. Keine brauchbaren Straßen. Sie sehen sich mit zahlreichen Bau- und Sanierungsproblemen konfrontiert und begreifen, dass sie das investierte Geld nie wieder reinholen werden.

    Wie arbeiten Sie normalerweise, wie kann man sich das vorstellen: Suchen und finden Sie Ihre Motive mehr oder weniger zufällig, wenn Sie unterwegs sind? Oder wissen Sie im Voraus, wohin Sie fahren wollen und welches Motiv Sie genau interessiert?

    Da gibt es kein System. Selbst wenn ich an einen mir unbekannten Ort fahre, komme ich unterwegs unweigerlich an Orten vorbei, an denen ich schon mehrmals war. Belarus ist nicht groß. Das macht es leichter, Veränderungen wahrzunehmen und zu dokumentieren, sowohl die positiven als auch die negativen, wenn zum Beispiel etwas instandgesetzt wurde oder ein Haus, das eben noch da war, inzwischen eingestürzt ist. Aber besonders interessant ist, dass ich an mir bekannten Orten jedes Mal Motive entdecke, die ich zuvor noch nicht gesehen habe.

    Wehrschloss von Mir, zunächst in gotischem Stil erbaut, später erweitert und umgebaut, Renaissance- und Barockeinflüsse. Genießt heute Welterbestatus der Unesco, fotografiert im Jahr 2011 / Foto © Valery Vedrenko
    Ruinen der Burg von Nawahrudak, wo der litauische Großfürst Mindaugas seinen Sitz hatte, erbaut im 13. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2012 / Foto © Valery Vedrenko
    Ursprünglich rein gotische, später umgebaute Christi-Verklärungskirche in Nawahrudak aus dem 14. Jahrhundert. Grundstein von Großfürst Witold gelegt, fotografiert im Jahr 2012 / Foto © Valery Vedrenko
    Klassizistische Kirche aus dem 19. Jahrhundert im Dorf Wischnewo im Norden von Belarus, fotografiert im Jahr 2015 / Foto © Valery Vedrenko
    Kirche und Kirchturm aus dem 19. Jahrhundert, in einem Dorf nordwestlich von Minsk, fotografiert im Jahr 2013  / Foto © Valery Vedrenko
    Katholischer Golgatha-Friedhof in Minsk, auf dem auch belarussisch-polnisch-litauische Adelsgeschlechter bestattet sind. Im Hintergrund: Kirche der Kreuzerhöhung, im 19. Jahrhundert als Steinkirche (wieder-)errichtet, fotografiert im Jahr 2016  / Foto © Valery Vedrenko
    Kapelle auf einem Friedhof, erbaut im 19. Jahrhundert, Stadt Waloshyn, fotografiert im Jahr 2015  / Foto © Valery Vedrenko
    Kirche auf einem Friedhof im Städtchen Iwjanez. Ein Wagen zum Transport der Särge steht vor dem Eingang, fotografiert im Jahr 2017 / Foto © Valery Vedrenko
    Kapelle im Wald nahe dem Dorf Hruschauka, Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut. Sie gilt als Grab-Gewölbe der polnischen Adelsfamilie Reitan, fotografiert im Jahr 2010 / Foto © Valery Vedrenko
    Alte Dorfstraße, Warontscha, fotografiert im Jahr 2010 / Foto © Valery Vedrenko
    Njaswish, frühere Residenz des polnisch-litauischen Adelsgeschlechts Radziwiłł aus dem 15./16. Jahrhundert. Seit 2005 mit Welterbestatus der Unesco, fotografiert im Jahr 2011 / Foto © Valery Vedrenko
    Grabstein auf einem Friedhof im Dorf Lasduny, fotografiert im Jahr 2015  / Foto © Valery Vedrenko
    Siedlung Sembin: Ruinen einer Kirche, die im 19. Jahrhundert erbaut wurde, allerdings einen Vorgänger an selber Stelle aus dem 18. Jahrhundert hatte, fotografiert im Jahr 2017 / Foto © Valery Vedrenko
    Eine verfallene Kapelle im Schatten einer alten Lärche auf einem Friedhof in Ljachawitschy, fotografiert im Jahr 2016 / Foto © Valery Vedrenko
    Katholische Kirche in Rubjashewіtschy, eine ländliche Siedlung südwestlich von Minsk. Erbaut im neogotischen Stil Anfang des 20. Jahrhunderts, fotografiert im Jahr 2016 / Foto © Valery Vedrenko
    Kirche, neogotischer Stil, erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fotografiert im Jahr 2013 / Foto © Valery Vedrenko
    Schloss in Shaludok, das der polnische Architekt Władysław Marconi für die fürstliche Familie Czetwertyński entworfen hatte, erbaut 1908, Neobarock, fotografiert im Jahr 2017  / Foto © Valery Vedrenko
    Kreuzung im Dorf Galschany im Nordwesten von Belarus nahe der litauischen Grenze, fotografiert im Jahr 2014 / Foto © Valery Vedrenko

    Fotograf: Valery Vedrenko
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: dekoder-Redaktion
    Übersetzung: Henriette Reisner
    Veröffentlicht am: 30.09.2021

    Weitere Themen

    Die Belarussische Volksrepublik

    Leben und Sterben

    Das andere Minsk

    Am Ende eines Sommers

  • Putins Kampf gegen das „Anti-Russland“

    Putins Kampf gegen das „Anti-Russland“

    Mitte Juli hat Wladimir Putin einen Aufsatz veröffentlicht: Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern. Den Großteil der knapp 40.000 Zeichen widmet der Präsident der ukrainischen Geschichte. In einem Ritt vom Mittelalter bis zur Gegenwart argumentiert er, dass es eigentlich kein ukrainisches Volk gebe – vielmehr seien Russen, Ukrainer und Belarussen Teil einer „großen russischen Nation, eines dreieinigen Volkes“. 

    Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts hätten einige wenige Nationalisten und ausländische Feinde Russlands eine ukrainische Nation konstruiert. Auch in der Gegenwart würden sie eine Front bilden, die Putin „Anti-Russland“ nennt. Diese Front habe einen „Bürgerkrieg“ im Osten des Landes angezettelt, dem schon über 13.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Russland habe aber „alles getan, um den Brudermord zu stoppen“, und schütze auch jetzt Millionen von Menschen in der Ukraine, die sich gegen den Kurs der ukrainischen „Zwangsassimilation“ stellen. Dieser aggressive Kurs gegen Russland ist laut Putin mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen vergleichbar, „ohne Übertreibung“.

    Nachdem der Aufsatz auf der Webseite des Kreml erschienen ist – auf Russisch und Ukrainisch – entlud sich im Internet massive Empörung: Verdrehung von Fakten, Geschichtsfälschung, Pseudowissenschaft, Manipulation, Ideologie – die Liste der Kritikpunkte ist lang. Auf Snob geht auch Konstantin Eggert auf die argumentativen Unzulänglichkeiten des Präsidenten ein. Die wichtigeren Fragen sind für den Journalisten aber die Fragen dahinter: Wie Putin zu solchen Erkenntnissen kommt, ob er selber daran glaubt und was er damit insgesamt bezweckt. 

    Wladimir Putins Artikel Über die Ukraine hat man in den sozialen Medien Wort für Wort auseinandergenommen. Der Mini-Enzyklopädie der Verdrehungen, Irrtümer und Fälschungen, die Dutzende von Menschen innerhalb kürzester Zeit erstellt haben, ist nichts hinzuzufügen. Allein Putins Hinweis auf die Zeitung Prawda als maßgebliche Quelle für die öffentliche Meinung in Karpatenrussland der 1940er Jahre ist schon bemerkenswert. Ich füge vielleicht noch meine persönlichen Eindrücke von einem Besuch in Kiew vor ein paar Wochen hinzu: Einer Stadt, die unter dem Joch einer nationalistischen Diktatur und „externen Kontrolle“ [Putin spricht von „Kontrolle durch die westlichen Staaten“ – dek] fast zusammenbricht, ähnelt es nicht die Spur.

    Warum dieser Text?

    Aus dem Artikel geht hervor, dass das von den ukrainischen Behörden eröffnete Strafverfahren gegen den prorussischen Politiker und Putin-Freund Medwedtschuk möglicherweise den Anstoß für den Text gegeben hatte. Eigentlich ist jedoch schon seit 2014 klar, dass es für das Regime Putins nichts Wichtigeres gibt als die ukrainische Frage.
    Auf dem Weg zu dieser Realität befand sich der Kreml mehrfach an einem Scheideweg, an dem die Geschichte einen anderen Lauf hätte nehmen können: zunächst Ende Februar 2014 bei der Entscheidung, GRU-Spezialkräfte auf die Krim zu entsenden, um das dortige Regionalparlament zu besetzen. Zuletzt am 17. Juli desselben Jahres, als im Fernsehen ein sichtlich erschütterter Putin erschien, nachdem am Himmel über dem Donbass das Passagierflugzeug MH17 der Malaysia Airlines mit fast 300 Passagieren an Bord von einer Buk-Rakete abgeschossen worden war. Putin sagte irgendetwas Unverständliches, das nicht in Erinnerung blieb. Dabei hätte er aber doch eingestehen können, dass im Donbass nicht irgendwelche freiwilligen Bergarbeiter mit Militäruniformen aus dem Army-Shop agierten, sondern russische Streitkräfte. Dass sie das Flugzeug aus Versehen abgeschossen hatten. Und dass Russland jeder Familie, die ihre Angehörigen verloren hatte, eine großzügige Entschädigung zahlen würde.

    „Dialog“ – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt

    Ich war sicher, dass die Regierung Barack Obamas, ganz zu schweigen von den Staatschefs der Europäischen Union, die stets darauf bedacht sind „Russland zu verstehen“, nach einer kurzen Phase der Empörung und der Verabschiedung eines neuen Sanktionspakets (wie viele hat es seitdem schon gegeben?) wie gewöhnlich erneut den „Dialog“ suchen würden – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt. 

    Aber Putin zog es vor, an der Mär vom „Donbass-Volk, das sich erhebt“ festzuhalten. Seitdem ist er eine Geisel der erlogenen offiziellen Version, nach der es nie einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gegeben hat. Bei dem Artikel handelt es sich um eine Art kanonische Version der Geschehnisse, eine allumfassende nachträgliche Erklärung, warum Putin schon immer Recht hatte. Denn er kämpfte gegen ein „Anti-Russland“. Dieses neue Mem, das auch von Alexander Dugin stammen könnte (vielleicht ist er der Autor), riecht schon von Weitem nach jenen „analytischen Berichten“ der russischen Geheimdienste mit ihrer seltsamen Mischung aus Messianimus (im Stile „Moskau – das Dritte Rom“), Krämergeist (man rechnete Putin aus, dass die Ukraine in den Jahren 1991–2013 angeblich 82 Milliarden Dollar durch russische Gaslieferungen eingespart habe) und Verschwörungstheorien.

    Messianismus, Krämergeist und Verschwörungstheorien

    Das ist das Erschreckendste. Schlimm genug, wenn solche schriftlichen Erzeugnisse aus der Feder irgendwelcher Genossen Majore stammen – schließlich sollen die Geheimdienste die Gesellschaft und den Staat doch vor realen Bedrohungen schützen. Aber ein Staatsoberhaupt, das in einer Welt aus Verschwörungsphantasien à la Umberto Eco lebt, das ist eine politische Katastrophe. Und zwar für alle Bürger Russlands, der Ukraine und Belarus‘.
    Denn im Grunde genommen ist der Artikel ein Freibrief, den Putin sich selbst ausgestellt hat, um in irgendeiner Form gegen eben jenes „Anti-Russland“ zu kämpfen, unter dem in erster Linie die derzeitige ukrainische politische Klasse, aber auch der kollektive Westen verstanden werden.
    Dieser Artikel ist eine schallende Ohrfeige für alle: für Russen, die bei der Europameisterschaft 2021 die ukrainische Mannschaft anfeuern und dabei aufrichtig glauben, dass „Ukrainer Idioten“ sind und die Krim „uns“ gehört. Für die russische Opposition, die bis auf wenige Ausnahmen versucht hat, auf zwei Stühlen zu sitzen: Putin zu bekämpfen, ohne die Themen der von ihm heraufbeschworenen Konflikte zu berühren – den Neoimperialismus und das Großmachtgebahren. Für die vielen, hauptsächlich europäischen Anhänger der Strategie, um jeden Preis „mit dem Kreml zu reden“. Und natürlich ist es ein „Signal“ für alle Mitglieder der Machtriege, bereit zu sein für neue Härtetests, neue Kriege und neue Sanktionen.

    Er denkt, er habe alle gewarnt

    Weder eine schnell voranschreitende Pandemie, noch demographische Probleme oder eine geringe Arbeitsproduktivität können Putin von seiner selbst auferlegten historischen Mission abbringen: dem Kampf gegen das in seiner Realität existierende „Anti-Russland“. Und wenn der Präsident morgen die Einstellung des Gastransits durch die Ukraine, die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk oder gar den Angriff auf Mariupol verkündet, müssen wir uns nicht wundern. Putin denkt, er habe alle vor allem gewarnt.

    Weitere Themen

    Vom Säbelrasseln zum Krieg?

    „Ich habe sie im Genick getroffen“

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Krieg im Osten der Ukraine

    Krym-Annexion

    Archipel Krim

  • Bidens Bärendienst

    Bidens Bärendienst

    Denken Sie, dass Putin ein Killer ist? „Das tue ich“, antwortet Joe Biden, als US-Präsident noch ziemlich frisch im Amt, im ABC-Interview und löst damit eine weltweite Debatte aus: Endlich deutliche Worte? Unverschämte Beleidigung? Oder Zeichen dafür, dass die USA Russland (von Obama als „Regionalmacht“ geschmäht) wieder ernst nehmen, und sei es als Bedrohung – wie es der Historiker Sergej Radtschenko im Interview mit Meduza nahelegt. Insofern legitimiere Bidens Aussage Putin geradezu. 

    Der russische Präsident hatte zunächst mit einer Anekdote aus seiner Kindheit im Petersburger Hinterhof gekontert, damals hätte es geheißen: „Wer anderen einen Namen gibt, heißt selbst so.“ Er wünsche Biden Gesundheit, „ohne Ironie“, und bot ihm außerdem ein Gespräch an, online und live. Das Weiße Haus reagierte ausweichend, man werde sicher irgendwann wieder miteinander reden. Unmittelbar nach dem Interview hatte Moskau seinen Botschafter aus Washington zu Beratungen zurückbeordert.

    Ganz egal, welche Auswirkungen Bidens Antwort auf die russisch-amerikanischen Beziehungen haben mag: Vor allem spielt Biden der russischen Wir-sind-von-Feinden-umzingelt-Propaganda in die Hände, findet Iwan Dawydow in seinem Kommentar auf Republic.

    Der Präsident der Vereinigten Staaten hat den russischen Politikern und Propagandisten ein echtes Geschenk gemacht. Noch nie war es so leicht, Loyalität zu demonstrieren. Nach der (übrigens ziemlich unvorsichtigen) Bemerkung von Biden ist ein regelrechter Wettstreit darüber entflammt, wer wohl mutiger zurückschlagen oder sich liebedienerischer beim Führer einschleimen könne. Es lassen sich gar nicht alle zitieren – es gab bereits dutzende Reaktionen, und dieser Karneval wird wohl noch mindestens bis zum Ende der Woche andauern.

    Nehmen wir zum Beispiel Andrej Turtschak von der Regierungspartei Einiges Russland (in Journalistenkreisen natürlich vor allem für seine leidenschaftliche Liebe zu Eisenstangen bekannt): „Bidens Aussage ist Triumph des politischen Wahnsinns der USA und der altersbedingten Demenz seines Führers. Eine aus Hilflosigkeit geborene äußerste Stufe der Aggression.“ Was dann folgt ist beinahe poetisch, oder wie soll man es nennen, wenn etwas derart Heiliges berührt wird: „Wir besiegen die Pandemie. Unser Impfstoff ist der beste der Welt – die anderen planen nur. Wir haben die Familie und ihre Werte – die haben Gender und Transgender.“ Und das Wichtigste: „Überhaupt ist es schlicht eine schamlose und widerwärtige Aussage. Es ist eine Kampfansage an unser ganzes Land.“

    Oder Wjatscheslaw Wolodin. Der Duma-Vorsitzende verzichtet auf jedwede Sentimentalität und kommt direkt zum Punkt: „Biden hat mit seiner Äußerung die Bürger unseres Landes beleidigt. Aus einer ohnmächtigen Hysterie heraus. Putin ist unser Präsident, Angriffe auf ihn sind Angriffe auf unser Land.“

    Diese beiden prominenten Vertreter von Einiges Russland sind sehr politikerfahren. Oder, besser gesagt, erfahren in etwas, das in Russland schon seit Langem die Politik ersetzt. Beide spüren genau, was geschehen ist. Und beide setzen ohne zu zögern ein Gleichheitszeichen – und man beachte den feinen Unterschied – nicht zwischen Putin und dem Staat, sondern zwischen Putin und dem Land. Russland ist Putin. Sein Schmerz ist unser Schmerz. Anders kann es gar nicht sein. 

    Russland ist Putin. Sein Schmerz ist unser Schmerz

    Während sich weise Analytiker fragen, ob wir eine neue Stufe der Verschlechterung der russisch-amerikanischen Beziehungen zu erwarten haben (falls das überhaupt möglich ist), wollen wir einen Blick darauf werfen, was uns die Ereignisse über die Struktur des russischen Regimes verraten.

    Regimekritiker sprechen oft – und nachdrücklich – von der „internationalen Isolation Russlands“. Die Verteidiger des Regimes weisen diesen Vorwurf zornig zurück und behaupten, die Isolation Russlands sei ein Mythos, wobei sie sich zum Beweis auf irgendein weiteres Abkommen mit Togo über die Nichtverbreitung von Waffen im Weltraum berufen. 

    Ich würde gern mal die Begriffe genauer klären:

    Alle Probleme in den Beziehungen zu Europa und den USA hat sich Putins Russland selbst geschaffen. Sukzessive, zielstrebig, über mehrere Jahre (dieser Text erscheint übrigens am Jahrestag der Rückkehr einer gewissen Halbinsel in den Heimathafen, herzlichen Glückwunsch, liebe russische Staatsbürger). Das heißt, es ist angemessener, nicht von „Isolation“, sondern von „Selbstisolation“ zu sprechen. Die russische Föderation hat auf internationaler Ebene die Praxis der Selbstisolation eingeführt.

    Anfänglich sah es wie eine „Gefechtsaufklärung“ aus, oder sogar, ich bitte um Entschuldigung, wie ein Test: Wenn wir den Westen hier anpieksen, wie wird er reagieren? Und hier? Aber mit der Zeit entwickelte sich dies zu einer Praxis, die vor allem für den internen Gebrauch notwendig war.
    Normale Beziehungen zum „kollektiven Westen“ werden sich nicht mehr herstellen lassen, immer weniger sind die dortigen Politiker bereit, in Putin einen verhandlungsfähigen Partner zu sehen (ich nehme übrigens an, dass Biden etwas Derartiges meinte, falls seine Bemerkung überhaupt irgendeinen Sinn hatte). Denn Putin ist Russland – denken Sie an die oben angeführten Sieger-Zitate im Wettkampf um die Liebe zum Präsidenten. Man kann ihn nicht ausklammern, und man kann auch Russland nicht gänzlich aus dem internationalen Leben streichen – letztendlich ist es zu groß, zu reich an immer noch wichtigen fossilen Brennstoffen und zu gefährlich. Also wird man es zähneknirschend ertragen. Wohin auch mit ihm – der Erdball ist klein.

    Und wenn das nunmal so ist, dann kann man dem Westen ganz unverblümt Gopnik-Streiche spielen und jeden seiner Versuche, darauf zu reagieren, zum eigenen Vorteil wenden.

    Konflikt als Strategie

    Sanktionen erfreuen die russische Führung immer weniger, aber sie bringen sie nicht um (auch künftig nicht, das ist ebenfalls klar). Also ist für die innere Ordnung jede Verschärfung der Beziehungen zur Welt ein Geschenk. Worte sind hier noch willkommener als Taten. Biden hat Putin Killer genannt – nun, dann hat er ihn eben so genannt – wie viele Vorteile lassen sich doch daraus ziehen! Und zwar hier in Russland, wenn es um die Aufgabe des Machterhalts geht.

    Andere Aufgaben gibt es schon lange nicht mehr und seit die Bürger der Verfassungsänderung bei der Abstimmung an frischer Luft auf Baumstümpfen zugestimmt haben, wird nicht einmal mehr sonderlich versucht, diese Tatsache zu verbergen.

    Erheben die verdammten Russophoben jenseits des Ozeans etwa ihre Köpfe? Wagen sie es, unseren Wladimir, die Rote Sonne, zu beleidigen? Wie bitte? Auf die unverschämten Machenschaften des Buchhalters Kukuschkind werden wir, die Russen, antworten wie aus einem Mund: Rückt nahe zusammen! Schließt die Reihen! Der Feind steht vor der Tür!

    Biden hat Putin Killer genannt – nun, dann hat er ihn eben so genannt – wie viele Vorteile lassen sich doch daraus ziehen!

    Doch der eigentliche Feind des Regimes ist die eigene Bevölkerung. Deren Maß an Geduld ist zwar riesig, aber vermutlich doch nicht grenzenlos. Gegen ihre (hypothetischen) Einmischungsversuche in die Politik gilt es sich zu schützen. Mit einem Regime der Selbstisolation auf internationaler Ebene lässt sich die Notwendigkeit solcher Schutzmaßnahmen wunderbar rechtfertigen:

    All die endlosen Kommissionen, die „den Tatbestand ausländischer Einmischung untersuchen“, die Strafgesetze für ausländische Agenten, die Geschichten über eine internationale Verschwörung gegen Russland, das Einimpfen von Hass gegen die Welt über die staatlichen Fernsehsender ist nicht etwa deshalb nötig, weil die derzeitige russische Führung tatsächlich Angst vor einer Bedrohung durch den „kollektiven“ (das heißt fiktiven) Westen hat.

    Wobei es natürlich sein kann, dass sie mittlerweile tatsächlich Angst hat. Es spricht viel dafür, dass unsere Politiker, angefangen beim obersten Führer, irgendwann begonnen haben, an ihre eigene Propaganda zu glauben. Aber das ist nicht das Entscheidende.

    Das Entscheidende ist, dass es in einem Regime, das sich in internationaler Selbstisolaton befindet, leicht ist, jeden internen Kritiker zu einem Handlanger des Westens zu erklären, ihm seine Selbstbestimmung abzusprechen und ihn nicht (nur) zum Feind, sondern schlimmer noch, zum Komplizen des Feindes, zum Verräter zu machen. Ein Krieg vereinfacht das Weltbild stark, und ob tatsächlich Krieg herrscht, spielt im Endeffekt keine Rolle.

    Wenn du aber daran zweifelst, dass Krieg herrscht, heißt das, du bist ein feindlicher Agent.

    Der Leere entgegen

    Sinnvoller als darüber nachzudenken, wie sich Bidens kurze Bemerkung auf die russisch-amerikanischen Beziehungen auswirken werden, scheint es daher, sich Gedanken zu machen, was das Regime in seiner Selbstisolation auf internationaler Bühne der einfachen russischen Bevölkerung bereits (ein)gebracht hat und noch einbringen wird.

    Und hier liegen die Dinge sehr einfach. Es bedeutet, dass ein Russe, der von einem Polizisten zusammengeschlagen wurde (weil er Parolen gerufen hat, einen falschen Gesichtsausdruck hatte oder dem Polizisten zufällig seine Brieftasche gefiel) sich vom Vorsitzenden des Rats für Menschenrechte eine erbauliche Rede darüber anhören darf, wie wichtig es ist, unsere Sicherheitsbeamten zu unterstützen, die uns vor Terroristen und Verschwörern schützen. Das ist alles, was er zu hören bekommt, denn die wirklichen Menschenrechtsverteidiger haben immer weniger Raum zu überleben.

    Es bedeutet, dass es keine unabhängigen NGOs mehr geben wird, die die Wahlen verfolgen, Diabetikern helfen oder sich um obdachlose Katzen kümmern. Und es wird auch keine unabhängigen Aufklärungskampagnen mehr geben (die sowieso schon faktisch verboten sind).

    Es wird auch keine unabhängigen Medien mehr geben. Wenn sogar die Verfassung auf Bitten der Werktätigen hin geändert werden kann, warum sollte dann nicht auch eine Zeitung auf den Wunsch der Männer des Achmat-Kadyrow-Regiments geschlossen werden können? Und so wird es weitergehen.

    Für den Streit der Herren, die die Welt regieren, muss immer der Knecht seinen Kopf hinhalten.

    PS: Die Praxis der Selbstisolation ist durchaus wirksam, wir sind leider Zeugen davon. Ganz ohne Makel ist sie jedoch nicht: Unweigerlich wird der Moment kommen, da der Verweis auf die Machenschaften ausländischer Feinde und ihrer hiesigen Mitläufer nicht mehr als Antwort auf jede beliebige Frage ausreichen wird, schon gar nicht auf die einfachen. Also nicht die Fragen zu Wahlen und anderen komplizierten Angelegenheiten, sondern nach den Preisen in den Läden.

    Die Zerstörung jeglicher wirklicher Kommunikationskanäle mit der Gesellschaft ist kein Weg zur Stabilität, sondern zu einer Explosion. Aber erstens kann es ein langer Weg sein und zweitens gibt es keine Garantie, dass nach der Explosion auf den Trümmern der Autokratie von selbst ein wunderschönes Russland der Zukunft erwächst. Nach einer Explosion ist da normalerweise erstmal ein Krater. Ein Loch.

    Weitere Themen

    „Großmächte brauchen einen Großfeind“

    Krim nasch

    Umzingelt von Freunden?

    Petersburger Trolle im US-Wahlkampf

    Die Honigdachs-Doktrin

    „Wir haben einen hybriden Krieg“

  • Playlist: Best of Protest

    Playlist: Best of Protest

    Die politischen Freiräume werden fortschreitend eingeschränkt, aber kritische Stimmen gibt es weiterhin und immer wieder auch Protest. Dieser wird nicht selten von Musik begleitet, aber auch von ihr angetrieben. Jekaterina Lobanowskaja hat für 7×7 reingehört und die besten Protestsongs des Jahres gekürt.  

    Noize MC – 26.04

    Zum 34. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl veröffentlicht Noize MC das Musikvideo 26.04. Iwan Alexejew vergleicht darin die Geschehnisse von 1986 mit der ersten Welle der Coronavirus-Pandemie. Dem Musiker zufolge verhielten sich die Menschen im April 2020 genauso wie vor 34 Jahren: Sie bestritten die Gefahr des Virus, folgten nicht den Empfehlungen der Ärzte und trafen sich, als die Pandemie ihren Höhepunkt erreichte, mit Freunden und Verwandten zum traditionellen Schaschlik.

    Der Musiker versprach, den gesamten Erlös aus der Veröffentlichung der Single 26.04. an den gemeinnützigen Verein zur Unterstützung des medizinischen Personals WBlagodarnost zu spenden.

    Max Korsh – Teplo

    Die Single Teplo (dt. Wärme) wird einen Tag vor der Präsidentschaftswahl in Belarus veröffentlicht. Sie erzählt das Märchen von einem Weisen, der den Menschen die Sonne wegnahm und dafür Ordnung schuf, aber es zeigte sich, dass die Leute zwar nicht viel Wärme brauchen, wohl aber Sonnenauf- und -untergänge, um „Kraft zu schöpfen und zu träumen“.

    Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse [Anfang August 2020 – dek] und den ersten Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften postete Korsh auf Instagram einen Beitrag, in dem er die Menschen dazu aufrief, damit aufzuhören – wofür man ihn in den sozialen Netzwerken kritisierte. Der Musiker äußerte sich im Weiteren nicht mehr zu den Protesten, kam jedoch am 15. August ins Minsker Untersuchungsgefängnis Okrestina, um die bei den Protestaktionen inhaftierten Demonstranten zu unterstützen.

    Kasta – Wychodi guljat

    Ein weiteres Musikvideo über die Ereignisse in BelarusWychodi guljat (dt. Komm mit spazieren) – bringt die Band Kasta im November 2020 heraus. Es zeigt einen Sicherheitsbeamten, der nach seiner Schicht nach Hause kommt und am Esstisch Blut an seinen Händen bemerkt, das sich nicht abwaschen lässt. Diese Szenen wechseln sich mit Aufnahmen ab, die zeigen, wie Menschen hinter den verschlossenen Türen der Justizbehörden misshandelt werden.

    Schyma, ein Mitglied der Gruppe, berichtete in einem Interview mit Afisha, dass der zugrundeliegende Song Wychodi guljat bereits 2019 veröffentlicht wurde. Inspiriert wurden die Musiker dazu ursprünglich durch die Massenproteste in Russland, angefangen mit den Kundgebungen auf dem Bolotnaja-Platz im Jahr 2010. Lange Zeit konnte sich die Band nicht auf einen Inhalt für das Video festlegen. Die Idee kam dann infolge der Proteste in Belarus. Übrigens fanden am Tag der Veröffentlichung des Videos, am 15. November, in Belarus Kundgebungen unter dem Slogan „Ja wychoshu“ (dt. „Ich gehe raus“) statt. Es war der letzte Satz, den der Belarusse Roman Bondarenko schrieb, bevor er von Unbekannten in Zivil im Hof ​​seines Hauses zusammengeschlagen wurde und daraufhin seinen Verletzungen erlag.

    Pornofilmy – Album Eto proidjot

    Im Februar 2020 präsentiert die Punkband Pornofilmy (dt. Pornofilme) das Album Eto proidjot (dt. Es geht vorbei), auf dem mindestens vier Titel auf politische Ereignisse und soziale Tendenzen im modernen Russland Bezug nehmen. 

    A nas dogonit ljubow (dt. Die Liebe wird uns einholen) ist die Geschichte eines Moskauer Soldaten der Russischen Nationalgarde, der sich in ein Mädchen verliebt, das im Gefängnis sitzt – weil es bei einer Kundgebung einen Plastikbecher nach ihm geworfen hatte. In dem Song Djadja Wolodja (dt. Onkel Wolodja, Koseform von Wladimir (Vorname Putins) – dek) geht es um einen Nachbarn, einen KGB-Oberst, der ordentlich die Daumenschrauben anzieht. Tschushoje gore (dt. Fremdes Leid) handelt davon, dass das, was im Land passiert, das Ergebnis des Schweigens und der Untätigkeit der großen Mehrheit ist. 

    Der zentrale Song des Albums ist der gleichnamige Titel Eto proidjot (dt. Es geht vorbei). Das Lied, das während der Moskauer Kundgebungen 2019 veröffentlicht worden war, wurde zur Protesthymne. So sangen Angehörige der Angeklagten und Aktivisten, die die Beschuldigten im Fall Seti (dt. Netzwerk) unterstützten, Es geht vorbei vor dem Gerichtsgebäude und den Mauern des Untersuchungsgefängnisses, in dem die Angeklagten festgehalten wurden. 

    Der Musikproduzent und -agent Oleg Rubzow über den Song:

    „Ich mag die Band Pornofilmy überhaupt nicht, und ich könnte am Text des Songs sowohl ideologisch als auch ästhetisch einiges beanstanden, aber meiner Meinung nach entfaltete er dank der Verweise auf den Fall Seti eine enorme Wirkung. Und im Laufe des Prozesses wurde er immer wieder mit neuen Bedeutungen gefüllt. Ihn unter den Fenstern der behördlichen Einrichtungen zu spielen, wurde zu einem festen Ritual, er verfolgte buchstäblich die Akteure und Beteiligten des Prozesses und wurde bei den Sitzungen zu einem ähnlich unverzichtbaren Attribut wie die richterliche Robe oder die Worte ‚Bitte erheben Sie sich …‘. Eine solche gegenseitige Durchdringung und Beeinflussung von Realität und künstlerischem Ausdruck ist der Traum eines jeden Künstlers, der gesellschaftlich etwas bewirken will“, so der von 7×7 befragte Experte.

    Ne neshnaja – Orgasm

    Tatjana Mingalimowa, Autorin und Moderatorin des YouTube-Kanals Neshny redaktor, veröffentlicht am 24. November 2020 das Musikvideo Orgasm (dt. Orgasmus), in dem sie den Feminismus, die Rollenerwartungen an Frauen und das Selbstvertrauen besingt. Die Journalistin schrieb in ihrem Instagram-Account, sie habe davon geträumt, einen Titel zu machen, bei dem „sich Mädchen aufrichten und ihre innere Stärke spüren“. Ihrer Meinung nach wird den Mädchen schon in der Kindheit keine Selbstliebe eingeimpft, und daher rührt die Unsicherheit, die zu destruktiven Beziehungen, Abhängigkeiten und psychischen Traumata führt.

    Shortparis – KoKoKo/Struktury ne wychodjat na ulizy

    Das Musikvideo zu diesem Song veröffentlicht die Band Shortparis im September 2020. Die Musiker inszenieren darin Hahnenkämpfe, tanzen auf Ladentheken und hängen in der Schlachterei an Fleischerhaken. Viele dachten, das Video spiele auf die Ereignisse in Belarus an. Doch die Musiker wiesen diese Vermutungen in einem Interview mit der Zeitschrift Meduza zurück.

    „Der Text des Liedes und das Skript zum Video entstanden in den ersten Monaten der Quarantäne und beruhen natürlich auf den Besonderheiten unseres Landes. Doch die weltpolitische Realität lieferte in Windeseile Ereignisse, die es fast unmöglich machten, keine Analogien zu ziehen. Wir sind der Meinung, dass die Darstellung aktueller Geschehnisse ein banales, verbotenes Verfahren ist, das in eine Sackgasse führt. Es vereinfacht das Denken und macht die Musik zu einem Diener der Gesellschaft, deshalb können wir nur müde mit den Schultern zucken, nachdem es zum dritten Mal in unseren Videoarbeiten Überschneidungen mit gesellschaftlichen Ereignissen gibt“, so die Künstler von Shortparis.

    DDT – 2020

    Die Band DDT zieht dagegen eine Bilanz für das Jahr 2020. In ihrem Song 2020 erinnern sich die Musiker an die Pandemie, die Isolation und daran, wie schwierig das vergangene Jahr mit all seinen Verwundungen und Verlusten war. Und obwohl „die Welt sich verändert hat und eine andere geworden ist“, lässt die jüngste Geschichte auf Besserung hoffen. Im Interview mit dem Korrespondenten von Nasche Radio sagte Juri Schewtschuk, es gehe in diesem Lied um Optimismus.

    Original: 7×7
    Übersetzerin: Henriette Reisner
    erschienen am 15.01.2021

    Weitere Themen

    Russki Rock

    Musyka: Lucidvox

    Playlist: Best of 2017

    „Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“

    Playlist: Best of 2018

    Playlist: Best of 2019

  • „Wer gehen will, geht leise“

    „Wer gehen will, geht leise“

    Die Silowiki-Strukturen scheinen nach wie vor loyal zum Machtapparat von Alexander Lukaschenko zu stehen. Nur vereinzelt kündigen Leute der Spezialeinheit OMON, Milizionäre und andere ihre Arbeit auf. Häufig, weil sie die brutale Gewalt, die von den Sicherheitsleuten ausgeht, nicht mehr mittragen wollen.

    Dass auch für sie die ständige Belastung und der psychische Druck hoch sind, zeigt dieses Interview, das das Medienportal tut.by mit einem ehemaligem Mitarbeiter der Truppen des Inneren geführt hat. Er bat darum, anonym zu bleiben. Das Gespräch mit ihm zeigt auch, welche Rolle Korpsgeist und ideologische Schulung in den Reihen der Silowiki spielen und mit welchen Folgen derjenige rechnen muss, der die Loyalität aufkündigt.

    N.N.: Die, die gehen, versuchen es leise zu tun, damit ihnen nichts Schlimmeres widerfährt.

    Nach den Wahlen schrieb ich ein Entlassungsgesuch. Es dauerte mehrere Wochen, bis die Formalitäten abgewickelt waren und ich offiziell vom Dienst befreit war. Währenddessen wurde ich meines Amtes enthoben und war irgendwann bereits nicht mehr an Einsätzen beteiligt [Auflösung von Demonstrationen – Anm. der Redaktion]. Jetzt kann ich über mich sagen: Ich war in einer Führungsposition tätig. Ab dem 9. August wurden wir bei den Protesten eingesetzt. Natürlich waren wir immer darauf vorbereitet – schließlich waren wir Einsatzkräfte des Innenministeriums. Aber die Vorbereitung erfolgte im Rahmen der Gesetze. In den ersten Tagen waren das gesamte Innenministerium, die Einsatztruppen des Inneren und das Militär, das heißt die Offiziersschüler der Militärakademie, an der Auflösung der Demonstrationen beteiligt. Wir hatten sie schon vor der Wahl geschult und ganz gezielt vorbereitet. Aber niemand hätte gedacht, dass es so weit kommen würde. Am späten Abend des 9. August war ich auf der Nemiga Straße, wir waren in Uniform, trieben die Leute auseinander, nahmen aber niemanden fest. In den nächsten Tagen, als ich noch im Dienst war, war unsere Einheit in Bereitschaft, wir saßen im Zentrum von Minsk und warteten auf unseren Einsatz. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass es zu einem solchen Ausmaß an Gewalt kommen würde.

    Wir erfuhren es einige Tage später, als Berichte darüber im Internet erschienen. Und ich hörte viel von meinen Kollegen, die an anderen Standorten eingesetzt waren. Nach dem Dienst kam ich gegen drei Uhr nachts ins Revier, schaltete das Telefon ein, sah mir alles an, analysierte die Lage. Und mir war sofort klar: Das war erst der Anfang. So viel ungerechtfertigte Gewalt! In dem Moment verlor das Ganze für mich seinen Wert, unsere Abzeichen waren mit Schande befleckt, und ich entschied, dass ich nicht länger Teil davon sein wollte. Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit war für mich die Grundlage meines Dienstes, aber, wie sich herausstellte, „ist manchmal nicht die Zeit für Gesetzmäßigkeit“. Ich habe das damals nicht verstanden und verstehe es bis heute nicht.

    tut.by: Denken Sie, dass die Gewalt geplant war? Sind die Einsatzkräfte einem Befehl gefolgt oder geriet die Situation einfach außer Kontrolle?

    Es kann sein, dass in der Okrestina Straße und an ähnlichen Orten die Leute absichtlich geschlagen und gedemütigt wurden. Was das Verhalten der Einsatzkräfte betrifft, so denke ich, dass das Verhältnis wohl 50 : 50 war. In jedem Fall gab die politische Führung ihr stillschweigendes Einverständnis und versuchte nicht, die Gewalt zu verhindern. Sogar als alles schon an der Öffentlichkeit war: Es war geschehen, und man verschloss davor die Augen. Und natürlich war die gesamte Miliz nun auf  der Seite der Regierung, von der man sich Schutz versprach. Sie sehen ja selbst, es gibt kein einziges Strafverfahren gegen Einsatzkräfte. Dazu kommt, dass viele über keinerlei juristische Bildung verfügen. Einige glauben allen Ernstes, dass sie sich in einer Kriegssituation befinden, dass die Proteste von Drahtziehern (aus dem Ausland) gesteuert werden und sie das Land verteidigen. Einer versicherte mir: „Du hast gar nichts verstanden, später wirst Du es verstehen.“

    Sie können Eigentum beschlagnahmen oder ein Auslandsreiseverbot verhängen

    Sie werden von Ideologen geschult. Die Soldaten befinden sich überhaupt in einer Informationsblase. Abends schauen sie im Fernsehen die Nachrichten. Man bringt ihnen bei, dass an allem die westlichen Drahtzieher Schuld seien. Einige verstehen einfach überhaupt nicht, was vor sich geht. Sie denken über ihre Versetzung in die Reserve nach und wie sie nach dem Wehrdienst leben werden. Alles andere kümmert sie nicht. Und selbst wenn es jemand versteht – wenn du rund um die Uhr in einer in sich abgeschlossenen Welt lebst, wirst du es kaum wagen, deine Meinung laut kundzutun, denn du weißt nicht, was dann mit dir passiert.

    Ich hatte einen festen Vertrag, aber auch für mich war es riskant zu gehen, sie hätten mich durchaus schnappen können, oder alles durchsuchen. Die Jungs von der Direktion kamen zu mir, Untersuchungsbeamte, um mit mir zu reden. Auch andere Offiziere sprachen mit mir. Aber letztlich gaben sie mir ein paar Tage Bedenkzeit, und stimmten der Entlassung zu.

    Ich wandte mich an Stiftungen und fand zunächst einen Mentor und dann einen Job. Auch ehemalige Kollegen halfen mir. Aber viele glauben nicht ernsthaft daran, dass ihnen irgendwelche unbekannten Menschen helfen können, daher trauen sie sich nicht zu gehen. Insgeheim beklagen sie sich untereinander über den Dienst und die Vorgesetzten, aber sie verlassen sich nur auf sich selbst und halten weiterhin aus. 

    Wie viele Menschen haben wie Sie den Dienst quittiert? Und was hält die Übrigen davon ab?

    Aus meiner Einheit sind nur wenige gegangen, die anderen sind nach wie vor im Dienst. Was sie am meisten hält, ist das Geld. Nehmen wir zum Beispiel einen jungen Offizier mit einem Fünfjahresvertrag. Hat er die Zeit nicht abgeleistet, muss er das Geld für die Ausbildung und seinen Unterhalt zurückzahlen. In welcher Höhe hängt davon ab, wann er geht. Der Betrag beläuft sich auf etwa 1000 Rubel für jeden Monat, den er nicht gedient hat. Von einem Bekannten, der einer anderen Abteilung angehörte, haben sie 80.000 Rubel [knapp 26.000 Euro – dek] verlangt. Das sind utopische Summen, man weiß nicht, woher man die nehmen soll. Aber bezahlen muss man innerhalb eines halben Jahres, dann schreitet das Gericht ein, und es kommt zu Zwangsvollstreckungen, sie können einem vorübergehend Rechte entziehen, Eigentum beschlagnahmen oder ein Auslandsreiseverbot verhängen. Einige Zeit später beginnt die Indexierung  [die Anpassung an die Inflation – dek] und die Summe steigt schneeballartig. Nicht jeder hat Verwandte und Freunde, die ihm helfen können. Deshalb halten die Leute still. Der zweite Grund liegt in der langjährigen Betriebszugehörigkeit. Gehst Du, verlierst du deine gesamten Arbeitsjahre [für spätere Rentenansprüche – dek]. Dann sagen sie: Ihr wusstet doch, worauf ihr euch einlasst. Wir wussten es nicht. Es ist immer noch eine Art Frondienst und nicht so rosig, wie es bei der Aufnahme in die Akademie dargestellt wird.

    Wie viel haben Sie verdient?

    Unsere Gehälter lagen zwischen 900 und 1100 Rubel [300 und 350 Euro – dek]. Bei mir gingen 400 Rubel [130 Euro – dek] für die Miete drauf, weitere 200 Rubel [gut 60 Euro – dek] für Sprit, um zur Arbeit zu kommen, da bleibt nicht mehr viel zum Leben. Es stimmt nicht, dass für die Arbeit bei den Protesten viel Geld gezahlt wurde. Ja, im August gab es einmalige Boni – 500 Rubel [rund 160 Euro – dek] zusätzlich zum normalen Gehalt. Aber selbst beim OMON verdient man keine exorbitanten Summen – viele machen es wirklich aus Überzeugung.

    Wie pflichteifrig jemand bei den Verhaftungen ist, hängt weitgehend von der Person ab. Auch hier ist das Verhältnis meiner Meinung nach 50 : 50. Der eine glaubt an westliche Drahtzieher und ist besonders aktiv. Aber die Hälfte tut nur so. Sie denken, ich werde in der Kette stehen mit meinem Schild, aber ich werde nichts tun. Glauben Sie, dass unsere Verwandten nicht festgenommen werden? Doch, das werden sie. Eine Verwandte von mir wurde festgenommen, sie stand da mit Blumen in der Hand. Sie nahmen ihr den Schmuck, das Telefon und sogar den Ehering ab und erklärten, sie bekäme es zurück, wenn sie die Strafe bezahlt.

    Wer gehen will, geht leise, damit es keine Probleme gibt

    Wie ist es für die Sicherheitsbeamten, erkannt zu werden? Ist das ein schmerzhafter Moment?

    Einige schämen sich, andere haben Angst um ihre Familien. Diejenigen, die sich im Recht fühlen, werden einfach wütend. Aber es gibt sicherlich niemanden, dem es egal ist. Das ist echt belastend. Das weiß ich von mir selbst: Ich wollte die Maske nicht abnehmen, und wir haben immer gegenseitig darauf geachtet, dass unsere Gesichter bedeckt waren. Viele haben Angst zu gehen, weil sie nicht wissen, was sie dann tun sollen. Wenn einer nach der Schule zur Militärakademie geht oder sich nach dem Wehrdienst verpflichtet, hat er nichts anderes gelernt. Natürlich hat er dann Angst, etwas Neues anzufangen und sein Leben von Grund auf zu verändern. Viele haben Familie, Kinder, Kredite, Staatsbedienstetenwohnungen – und wo sollen sie dann hin?

    Wer gehen will, geht leise, damit es keine Probleme gibt. Für die Hälfte meiner Kollegen bin ich ein Verräter, vor allem für die Führung. Sie werden bis zum Ende für dieses Regime ihren Kopf hinhalten. Viele von ihnen sind über 40. Die haben durch den Dienst vieles erreicht, warum sollten sie es aufs Spiel setzen?

    Die Armee wurde geschaffen, um äußere Feinde zu bekämpfen. Nach der Logik derer, die dem System besonders treu ergeben sind, kämpft sie auch jetzt gegen westliche Drahtzieher, die die Leute für ihre Teilnahme an Protestaktionen bezahlen. Ein Teil von ihnen denkt, dass Lukaschenko eine starke Führungspersönlichkeit ist und an der Macht bleiben wird. Der andere Teil glaubt, dass Russland uns bezwingen wird. Aber diese Option ist ihnen auch recht. Wie mir einmal ein Kommandant sagte: „Na und? Führen die Offiziere in Russland etwa ein schlechtes Leben?“

    Stimmt es, dass wegen der ständigen Proteste die Einsatzkräfte in Kasernen leben?

    Am Anfang lebten wir, das heißt die, die unter Vertrag standen und die Offiziere, tatsächlich in Kasernen. Jetzt sitzen sie hauptsächlich an den Wochenenden in den Kasernen, weil die Proteste am Samstag und Sonntag stattfinden. Und die freien Tage wurden auf Mitte der Woche verlegt, wenn keine Demos stattfinden. Die Kollegen sind sehr müde, sie sehen ihre Familien nicht und können sich nicht wirklich ausruhen. Niemand hatte damit gerechnet, dass sich das Ganze Monate hinziehen würde. Am 10. und 11. August, als es zu größeren Gewaltausbrüchen kam, waren wir in Bereitschaft, aber wir hörten die Explosionen um uns herum. Als ich später all diese Bilder sah, diese Lawine von Gewalt, war ich mir sicher, dass es niemals enden würde. Ich dachte, Lukaschenko würde das Kriegsrecht einführen und alles würde noch schlimmer. Und das war der Moment, an dem ich anfing, darüber nachzudenken, dass ich aussteigen muss.

    Haben Sie die Videos im Internet gesehen, in denen die Leute den Einsatzkräften zurufen: „Miliz mit dem Volk“​? Wie wird das wahrgenommen?

    Mir selbst haben die Leute das entgegengerufen. Aber in dieser Situation funktioniert das überhaupt nicht. Die Stimmung ist sehr angespannt, man passt auf, dass niemand etwas wirft, und dann schreien sie einem ins Gesicht. Jeder muss selbst erkennen, was er tut, und für sich eine Entscheidung treffen. Das kritische Denken muss an das Gewissen appellieren und die Scheuklappen öffnen.

    Vor jedem Einsatz stellen sie die Frage: „Wer ist nicht bereit? Vortreten“. Niemand tritt vor. Vortreten ist das Schlimmste. Was kommt dann? Man wird bestraft oder gefeuert oder wer weiß, was passiert. Lieber man fährt mit, irgendwie wird man den Einsatz schon überleben.

    Als wir nach Minsk fuhren, hupten uns alle zu. Ich erinnere mich, wie ein Kollege sagte: „Wie sie uns alle hassen“. Aber man denkt: Ich bin ja ein normaler Mensch, ich habe niemanden geschlagen, und dann siehst du die Bilder von der Okrestina … Jetzt verstehe ich, warum die Leute uns so hassen, weil wir die Grenze des Gesetzes übertreten haben, denn das Gesetz gilt jetzt nur noch in eine Richtung, und wenn Du Dich gegen die Herrschenden stellst, hast Du keinerlei Schutz. Und das ist schlimmer als im Krieg. Du lebst und denkst, dass sie jeden Moment kommen und dich für irgendeine abfällige Bemerkung mitnehmen können. Und das Gefühl dieser permanenten Ungerechtigkeit raubt dir nachts den Schlaf.

    Die, die dem System treu bleiben, glauben nicht, dass Lukaschenko geht, und sollte er doch gehen, sind sie überzeugt, dass die Armee unter jeder Regierung gebraucht wird. Sie denken, ach, das sitzen wir aus, und dann wird es wie vor der Wahl. Ich glaube, die Regierung wird sich noch ein, zwei Jahre halten. Und dann ist Zahltag.

    Weitere Themen

    Wie der Dialog in Belarus aussehen sollte

    „Wir sollten keine Feinde sein“

    „Alle sind entweder im Gefängnis oder außer Landes gebracht“

    Was war da los? #2

    „Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“

    „Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden“

  • Russland – coronaresistent?

    Russland – coronaresistent?

    Der Propagandaapparat der russischen Staatsmedien läuft in Corona-Zeiten auf Hochtouren: Der Virus, so heißt es oft, sei eine biologische Waffe der USA gegen China (oder Iran oder Russland). In der EU herrsche Chaos, die Menschen seien auf sich selbst gestellt, die aufziehende Wirtschaftskrise werde massive Opfer fordern. Insgesamt sei das liberal-demokratische System am Ende, die Ohnmacht der westlichen Politiker gleiche einer Bankrotterklärung.

    Laut Staatsmedien gibt es jedoch eine Lösung: Wenn der Westen seine Sanktionen aufhebt, dann könnten China und Russland die restliche Welt retten. China habe bereits eindrückliche Erfolge im Krisenmanagement nachgewiesen, und Russland habe sowieso alles unter Kontrolle: Offiziell gibt es keine Corona-Toten und auch die vergleichsweise niedrige offizielle Zahl von 438 Corona-Infizierten sei Zeugnis für die umsichtige Politik des Kreml.

    Viele russische Experten jedoch zweifeln sowohl diese Zahlen an als auch die Wirksamkeit der bislang beschlossenen Maßnahmen gegen den Coronavirus. Auch Wassili Wlassow gehört dazu: In The Insider fragt der Epidemiologe nach der Verlässlichkeit russischer Statistiken – und ob die Gesundheitspolitik des Landes tatsächlich gewappnet ist für die Pandemie. 

    Russische Statistiken sollte man weder für zutreffend noch für vertrauenswürdig halten. Sogar die Statistiken zu Geburten- und Sterberaten sind in Russland unzuverlässig. Russische Demographen, die im internationalen Vergleich zu den Bestqualifizierten auf ihrem Gebiet gehören, haben die Zuverlässigkeit der Statistiken zu Geburtenraten und Sterblichkeit untersucht und kamen zu dem Schluss, dass man lediglich den Ganzjahresergebnissen vertrauen könne. Die Quartalsergebnisse dagegen seien äußerst zweifelhaft und würden teilweise ganze Regionen aussparen. Und dies, obwohl wir es hier mit langsamen Entwicklungen und gut berechenbaren Ereignissen zu tun haben: Geburt und Tod. Doch sogar diese Daten schwanken, und es ist oftmals nicht nachzuvollziehen, wo der Fehler liegt. Darüber hinaus gibt es sogar hier Raum für Manipulation.

    Noch keine Corona-Routine

    Was die derzeitige Situation betrifft, so ist sie erstens viel weniger geregelt und sehr viel ungenauer einzuschätzen. Das liegt daran, dass jede Statistik auf entsprechenden Daten beruht. Diese statistischen Daten werden in regelmäßigen Abständen erhoben – einmal im Monat oder einmal in der Woche. Daten zu epidemischen Erkrankungen – wie Tuberkulose, Ruhr und so weiter – werden routinemäßig häufiger erhoben. Ich bin jedoch sicher, dass das Coronavirus nicht dazugehört und daher noch keine tägliche Routine besteht. Wahrscheinlich wissen die Menschen, dass sie jeden Tag berichten müssen, nur ist es noch keine alltägliche Routine. 

    Zweitens herrscht in allen Regionen ein Kampf. Und je nachdem, was im Kopf eines Funktionärs im Gesundheitsamt vorgeht, kann er den Informationsstrom verlangsamen oder die Dinge anders darstellen als sie sind. Es gibt viele Gründe, Meldungen zurückzuhalten oder Fakten absichtlich zu verzerren.

    Probleme mit der Diagnostik 

    Und schließlich drittens: Es gibt sowohl in Russland als auch in anderen Ländern Probleme mit der Diagnostik. Wenn sich eine Epidemie ausbreitet, so stellt man die Zahl der Erkrankten fest, indem man diejenigen Personen erfasst, die mit ihren Symptomen den „Normkriterien“ entsprechen. Zunächst fällt unter diese Definition ein Mensch, der sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort aufhielt und nun unter Fieber und trockenem Husten leidet – dann wird er statistisch erfasst. Mit dem Aufkommen neuer diagnostischer Mittel verändert sich die Definition der Normkriterien jedoch, und es kommt zu einer Neuberechnung. Wenn man sich die Grafiken über die Entwicklung in China anguckt, kann man sehen, dass die Zahl der Erkrankten um den 8. Februar herum einen Höhepunkt erreicht. Und warum? Weil die Chinesen ihre Normkriterien neu definiert haben, woraufhin Menschen, die mit ihren Symptomen am Tag zuvor der Definition der Krankheit noch nicht entsprachen, plötzlich ebenfalls in die Kategorie fielen.

    Die Fallzahlen sind noch nicht allzu hoch, aber um die Entwicklung einzuschätzen, schauen wir uns an, mit welcher Geschwindigkeit die Zahlen steigen. Derzeit erleben wir einen raschen Anstieg der Erkrankungsfälle, wir haben zur Zeit eine sehr hohe Wachstumsrate. Die Anfangsphase einer Epidemie ist durch exponentielles Wachstum gekennzeichnet. Während die Verdopplungszeit der Fälle bei den schweren Epidemien in Europa, in Italien und Frankreich, drei bis fünf Tage betrug, betrug sie bei uns in den letzten Tagen, in denen der Anstieg der Zahlen begann, weniger als zwei Tage. Das bedeutet, dass in zehn Tagen die Zahlen um das Tausendfache zunehmen werden.

    Manipulation von Meinung 

    Darüber hinaus möchte ich noch einmal unterstreichen, dass wir den Zahlen, die uns vorliegen, nicht uneingeschränkt vertrauen können. Kürzlich sagte der angesehene Politologe Waleri Solowei, man habe ihm zugetragen, dass bereits 1600 Menschen [in Russland – dek] am Coronavirus gestorben seien. Er verweist sehr oft auf unbekannte Staatsdiener, die ihm Informationen „zugespielt“ hätten. So auch diesmal. Wie können wir sicher sein, dass er nicht selbst Opfer von Fehlinformationen ist? Umso mehr, da die Situation im Land momentan so ist, dass man aus politischen Erwägungen die öffentliche Meinung gezielt manipulieren kann. 

    Als Beispiel für eine solche Manipulation kann man den Erlass sehen, am 22. April über die Verfassungsänderung abzustimmen. Dies ist auch eine Folge dessen, dass die Regierung so stark ist – in jedem beliebigen Moment kann sie sagen: „Kommt, wir verschieben es um einen Monat. Das kostet uns ein paar Milliarden, aber was soll’s.“ Den Obersten ist das egal, sie können die Dinge jederzeit ändern, wenn sie wollen.

    Ist der Virus in Russland weniger bösartig?

    Es ist unmöglich, Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich die Situation in Russland entwickeln wird: ob so ähnlich wie in Italien oder schlimmer. Jeder, der sich darüber mit Überzeugung äußert, ist ein Schwachkopf. Erstens herrscht eine starke Ungewissheit hinsichtlich der Zahl der Erkrankten. Zweitens, wenn sich die Epidemie bei uns tatsächlich langsamer ausbreitet und die Daten stimmen sollten, kann dies zum Beispiel auch bedeuten, dass wir eine weniger bösartige Form des Virus haben. Der Virus mutiert schnell, seit November sind mehr als 20 Mutationen aufgetreten. Die Italiener haben möglicherweise eine besonders bösartige Form und die Koreaner vielleicht nicht.

    Das Problem ist auch, dass die Möglichkeit unseres Gesundheitssystems, Massen von schwerkranken Patienten zu behandeln, gegen Null geht. Darüber hinaus haben wir ein sehr schlechtes Verwaltungssystem. So befindet sich zum Beispiel das epidemiologische Kontrollzentrum beim Rospotrebnadsor, während die Gesundheitsversorgung dem Gesundheitsministerium untersteht. Dieses wird jedoch nicht gerade von Experten geführt.

    Weitere Themen

    Liberale in Russland

    HIV und AIDS in Russland

    Die Fehler des Westens

    Welcher Gott, um Gottes willen?!

    Debattenschau № 80: Putin forever?

    Corona: „Die Rettung ist Sache der Ertrinkenden“

  • Playlist: Best of 2019

    Playlist: Best of 2019

    Nach den zahlreichen Konzertverboten Ende 2018 sagte Wladimir Putin, dass diese kontraproduktiv seien, sie hätten „genau den gegenteiligen Effekt wie erwartet, so viel steht fest.“ Wenn man den Erfolg an den Klickzahlen festmacht, dann hat die gesellschafts- und kremlkritische Musik im Jahr 2019 in der Tat einen regelrechten Boom erlebt. Die Gegenkultur wurde damit ein Stück weit Mainstream.

    Ist der Erfolg der Gattung auf die Verbote zurückzuführen? Oder sind etwa die üblichen Kommerzialisierungs-Mechanismen der Musikindustrie dafür verantwortlich? 

    Während Soziologen und Musikkritiker über solche Fragen nachsinnen, hat die Colta-Redaktion traditionsgemäß die besten Alben des Jahres gekürt. Protestmusik darf hier natürlich nicht fehlen, in den Top-12 findet sich aber ein bunter Mix: von Rap mit Punchlines à la deine Mudda bis zum feingeistigen Jazz.

    1. Rap des Jahres 

    Scriptonite
    2004

    Nach seinem kryptischen Doppelalbum Uroboros, in dem es darum geht, dass Ruhm und Erfolg eine schwere Bewährungsprobe sind, verkündete Adil Zhalelov, er wolle sich aus dem Rap zurückziehen, weil er damit nichts mehr zu sagen habe. Und tatsächlich widmete er sich zunächst völlig anderen Dingen – experimentierte in seiner Band Scriptonite mit lateinamerikanischen Vibes und produzierte Alben von Künstlern seines eigenen Labels Musica36. Umso mehr schlägt 2004 ein, das kurz vor Jahresende erschien. Der Form nach ist es ein typisches Rap-Album wie zu Beginn der 2000er Jahre: mit Selbstdarstellungen, Skits, Interludes und sogar versteckten Angriffen auf die Kollegen der eigenen Zunft. Um es richtig zu würdigen, muss man die von Scriptonite im Sprachmix der wilden Vorstädte geschriebenen sarkastischen Texte Zeile für Zeile auseinandernehmen – dann erweist sich diese Zusammenstellung makellos klingender, betörend grooviger Rap-Hits als eine Sammlung von Geboten für die Gerechten.

    2. Antiutopie des Jahres

    Delfin
    Krai

    Das Album Krai (dt. Rand) lässt sich auf unterschiedliche Weise interpretieren, ebenso wie sein mehrdeutiger Titel und das enigmatische Cover. Am leichtesten erkennt man darin die Reaktion des Bürgers und Dichters Andrey Lysikov auf die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse des vergangenen Jahres bis hin zum Moskowskoje Delo. Delfin zufolge sind die Lieder jedoch schon lange vor den besagten Ereignissen entstanden, außerdem entspräche es nicht seiner Art, Lieder über das aktuelle Zeitgeschehen zu schreiben. Allem Anschein nach haben wir es mit einem Beispiel künstlerischer Vorahnung zu tun, und wenn die Realität weiterhin das in Krai beschriebene Szenario abbildet, haben wir 2020 nichts Gutes zu erwarten – es ist ein böses und verzweifeltes Album: Eine Antiutopie, in der junge, ungestüme Herzen zu Kanonenfutter werden. Allerdings verbirgt sich in Krai auch die Antwort auf die Frage, wie man in dieser Hölle überleben kann.

    3. Non-standard Jazz des Jahres

    Makar Novikov & Hiske Oosterwijk
    Stereobass

    Das Sankt Petersburger Jazzlabel Rainy Days, 2018 vom Schlagzeuger Sascha Maschin gegründet, nahm 2019 so richtig Fahrt auf und brachte eine Reihe von Alben heraus, die von den renommiertesten Kennern auf diesem Gebiet hoch gelobt wurden. Stereobass, eingespielt von den KontrabassistInnen Makar Novikov und Daria Chernakova und der holländischen Sängerin Hiske Oosterwijk gehört zu jenen Alben, die auch für Menschen, die nicht jeder Entwicklung des Genres folgen, verständlich und interessant sind. Denn es handelt sich um eine seiner traditionellsten Spielarten – den Vocal Jazz, allerdings in modernster Form. Makar Novikov hat die markanten Melodien der Lieder von Hiske Oosterwijk über ein raffiniert konstruiertes rhythmisches Gerüst gespannt, das über zwei Stereokanäle erklingt (ein Kontrabass ertönt von links, der andere von rechts). Daneben verleihen die filigranen Soli des Pianisten Alex Iwannikow und die explosiven Beats von Sascha Maschin den Liedern eine feine Dramaturgie. Stereobass ist Vocal Jazz, wie man ihn sich für das 21. Jahrhundert wünscht.

    4. Comeback des Jahres

    Alyans
    Chotschu letat (dt. Ich will fliegen)

    Dieses Album der Moskauer Neo-Romantik-Pioniere Alyans hätte bereits Anfang der 2000er Jahre erscheinen sollen. Durch die jahrelange Reifezeit ist es wertvoller und interessanter geworden. Für diejenigen, die mit der Geschichte der Band vertraut sind, ist Chotschu letat (dt. Ich will fliegen) ein epochales Ereignis: Denn es handelt sich um die Reunion des Bandleaders von Alyans Igor Shurawljow mit dem Keyboarder Oleg Parastajew, dem Autor des größten Hits der Band Na sare (dt. Im Morgenrot) – nur dass diese ein paar Jahrzehnte länger als vermutet auf sich warten ließ. Ein zweites Morgenrot sucht man hier vergebens, aber es finden sich einige erstklassige Lieder wie der Titelsong, in dem wie in einer Zeitkapsel das Bittersüße der Romantik von Alyans bewahrt ist – der leidenschaftliche Wunsch zu Fliegen, gesteigert durch die Gewissheit, dass der Flug unweigerlich mit einem Fall enden wird.

    5. Debüt des Jahres

    Maslo tschornogo tmina
    Kensshi

    Maslo tschornogo tmina (dt. Schwarzkümmelöl) folgt der Linie des kasachischen Rap. Das Projekt des in Karaganda lebenden Aidyn Sakarija hat tatsächlich eine Hip-Hop-Genealogie und einen Sound, der an einige Scriptonite-Tracks erinnert. Doch das ist nur der Ausgangspunkt, und aus Kensshi wird deutlich, dass Sakaria einen anderen Weg einschlägt – irgendwo Richtung britischer Trip-Hop zwischen Portishead und King Krule: verdichtete Melancholie, langsame ausgedünnte Beats, ein somnambuler Bass, bittere Reime, suggestive Bilder, Jazz-Samples und das Rascheln der Nadel auf der Vinyl-Schallplatte. Mit seinen effektvollen Sound- und Textleerstellen ähnelt Kensshi der faszinierenden Skizze eines großartigen Albums, das noch folgen wird. Und was will man mehr von einem Debüt?

    6. Widerspruch des Jahres

    Shortparis
    Tak sakaljalas stal (dt. So wurde der Stahl gehärtet)

    Der Titel dieses Albums lässt sich durchaus auch auf die Geschichte von Shortparis selbst übertragen – es scheint, dass keine andere aktive russische Band so polarisiert und so heftige Diskussionen hervorruft, was die Methoden angeht. Nur wenige können von sich behaupten, gleichzeitig als größter Hoffnungsträger und absolute Luftnummer unserer Zeit bezeichnet zu werden. Doch für Shortparis ist es normal, den einen wie den anderen Ruf gleichzeitig für sich zu beanspruchen. Im Prinzip ist die Arbeit mit schärfsten Widersprüchen eine der wichtigsten Fähigkeiten von Shortparis: Kaum einer kann so geschickt Folk und Industrial, Straßenjargon und ästhetisches Drama, zutiefst persönliche und verallgemeinerte soziale Aspekte miteinander verbinden, ohne dabei direkte Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu geben.

    7. Gipfelglück des Jahres

    AIGEL 
    Edem (dt. Eden)

    Aigel Gaissina kehrt nach Hause zurück und findet dort Inspiration für AIGELs eindringlichstes und emotional aufgeladenstes Album. Auf Musyka (dt. Musik), dem zweiten Album, hatte das Duo Aigel Gaissina und Ilja Baramija sich an vielen verschiedenen Themen gleichzeitig versucht und ein wenig die generelle Richtung aus den Augen verloren. Edem korrigiert den Kurs selbstbewusst: Es ist ein Album über Wurzeln und Verästelungen, darüber, wo man anfängt und wie man etwas fortschreibt, wenn man unweigerlicher Teil davon ist. Diese für jeden Menschen äußerst wichtigen Themen treiben AIGEL an. Wie ein persönliches Gipfelglück des Dichters und der Sängerin entpuppt sich Edem sowohl stimmlich als auch textlich als ein absolutes Feuerwerk.

    8. Therapie des Jahres

    Kira Lao
    Trewoshny opyt (dt. Beunruhigende Erfahrung)

    In den vier Jahren, die zwischen Trewoshny opyt und dem vorangehenden Album Woda (dt. Wasser) von Kira Lao liegen, hat sich für Kira Wainstein vieles verändert: darunter zum Beispiel der Wechsel vom Status einer Band-Sängerin zu einer Solokünstlerin. Trewoshny opyt ist zugleich ein Tagebuch dieser schwierigen Zeit und der Versuch, das Blatt zu wenden und alle Schwere von Innen nach Außen zu kehren. Das Kunststück der Erfahrung liegt darin, dass Kira für Unruhe und Chaos, für Zweifel und Ängste nicht nur Worte, sondern auch eine musikalische Sprache findet. Das Ergebnis ist  eine Session in experimenteller Klangtherapie, in der sich, denke ich, jeder erwachsene Hörer wiederfindet. Das Experiment funktioniert also nicht nur für die Künstlerin selbst, sondern für uns alle.

    9. Retro des Jahres

    Inturist (dt. Ausländischer Tourist)
    Ekonomika (dt. Ökonomie)

    Das zweite Album der Art-Jazz-Post-Punk-Formation von Jewgeni Gorbunow zeugt von unbeirrter und sinnvoller Arbeit an sich selbst. Ekonomika poliert den absurden Retrosound des ersten Albums Komandirowka (dt. Geschäftsreise) wunderbar auf und verbannt gleichzeitig kompromisslos die ihm innewohnenden Längen und Unschärfen. Im endlosen Netz der lärmenden Instrumentalimprovisationen muss der Inturist sich nicht mehr zurechtfinden – auf dem Album Ekonomika weiß die Band genau, was sie zu tun hat, und fliegt als leuchtender Pfeil in die richtige Richtung.

    10. Hilferuf des Jahres

    Foresteppe
    Karaul

    Noch eine Chronik einer beunruhigenden Erfahrung: Jegor Klotschichin hat Wehrdienst bei den Raketentruppen geleistet und unter dem Eindruck dieser Phase seines Lebens ein Album aufgenommen. Es verwundert nicht, dass Klotschichins selbstgemachter pastoraler Ambient-Sound auf dieser Platte düsterer und angespannter, unruhiger und scharfkantiger daherkommt. Es ist anzunehmen, dass sich in diesem Jahr viele Menschen ungefähr so gefühlt haben, deren persönliche Utopie durch die Ereignisse in den Fenstern ihrer Browser als auch beim Blick aus dem echten Fenster neue, beunruhigende Schattierungen annahm.

    11. Dancefloor des Jahres

    Samoe Bolshoe Prostoe Chislo (dt. Die größte Primzahl)
    Nawernoje, totschno (dt. Wahrscheinlich, genau)

    In den letzten gut zehn Jahren hat sich die Band von Kirill Iwanow bis zur Unkenntlichkeit verändert und ihre Musik immer wieder neu erfunden. Das Album Nawernoje, totschno gehört in die letzte Etappe dieser endlosen Transformation: Ein Gründungsmitglied, Ilja Baramija, hat die Band endgültig verlassen, um sich auf das Duo AIGEL zu konzentrieren. Dafür ist die Sängerin Jewgenija Borsych der Band beigetreten und hat die zweite, manchmal auch die Lead-Stimme übernommen. Der Idee nach macht SBPC das Gleiche wie auf den beiden vorherigen Alben: Lieder für junge tanzwütige Beine, die den besten Beispielen grooviger Musik folgen – von Old-School-Hip-Hop bis Afrobeat – aber auch für erwachsene Köpfe und Herzen: Die Texte von Kirill Iwanow sind es wie immer wert, in Aphorismen zerlegt zu werden, die unsere Wirklichkeit im Hier und Jetzt beschreiben.

    12. Kooperation des Jahres

    Sojus
    II

    Die Minsker Gruppe Sojus hat den Ruf eines Ensembles, das Musik für Musiker macht. In der Tat hört das geschulte Ohr in den makellos gespielten Stücken zahlreiche musikalische Referenzen – vom brasilianischen Samba bis zum äthiopischen Jazz; dazu geschickt, subtil, und auf einzigartige Art und Weise miteinander verwoben. Es ist sicher kein Zufall, dass Sojus auf seinem zweiten Album bei zwei Songs von den Moskauer Bands Pasosch und Inturist unterstützt wird, die einen völlig anderen kreativen Ansatz verfolgen. Man kann nur hoffen, dass es in Zukunft noch mehr solcher Kooperationen geben wird.

     


    Original: Colta
    Übersetzung: Henriette Reisner
    Veröffentlicht am 07.01.2020

    Weitere Themen

    Russische Rockmusik

    Musyka: Lucidvox

    Playlist: Best of 2017

    „Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“

    Playlist: Best of 2018

    Shortparis – die Band, die immer dagegen sein wird