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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Der Rubel ist abhängig von bin Salman – möge Allah ihn behüten!“

    „Der Rubel ist abhängig von bin Salman – möge Allah ihn behüten!“

    Anfang März haben sich die 13 Staaten des Ölkartells OPEC mit Russland und anderen Erdöl exportierenden Ländern in Wien an einen Tisch gesetzt. Um der weltweit sinkenden Nachfrage nach Öl- und Ölprodukten zu begegnen, wollten sie gemeinsam die Fördermenge drosseln und damit das Angebot verknappen. Das Vorhaben scheiterte: Vor allem der russische Unterhändler Alexander Nowak hatte sich gegen eine Verknappung gestemmt.

    Seitdem sprudeln weltweit die Ölquellen, und die Preise purzeln: Ein Barrel Brent ist derzeit für unter 30 US-Dollar zu haben, die für Russland wichtigste Rohölsorte Urals kostet ohne Rabatte weniger als 25 US-Dollar – bei Förderkosten, die manche ausländischen Experten auf rund 42 US-Dollar taxieren.

    Dumping würden aber vor allem „die anderen“ betreiben, sagte kürzlich Rosneft-Chef Igor Setschin, und verwies vor allem auf Saudi-Arabien. Dabei betragen die Förderkosten für saudisches Öl laut derselben Schätzung rund 17 US-Dollar. Aus diesem Grund kann sich das Land offenbar auch leisten, derzeit großzügige Rabatte auf den Marktpreis zu gewähren – auch für Abnehmer in Europa und China, die traditionell Russlands Kunden sind. Die Folge ist ein Preiskrieg, bei dem Russland zunehmend vom Markt verdrängt wird.

    War dieser Preiskrieg gewollt, als Russland in Wien ausscherte? Haben sich Setschin und Nowak dabei verkalkuliert? War ihnen nicht klar, dass der Rubelkurs eng am Ölpreis hängt? Die Novaya Gazeta hat den Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew in einem Interview dazu befragt.

    Irina Tumakowa: Inwieweit ist das Coronavirus schuld daran, dass der Rubelkurs derart gefallen ist? Und inwieweit hat es andere Gründe?

    Wladislaw Inosemzew: Das Coronavirus ist gewissermaßen ein Trigger. In letzter Zeit sind die Ölpreise weltweit zurückgegangen. Weil die Nachfrage sehr langsam stieg und zu spüren war, dass sie sich weiter verlangsamt. Die OPEC hat im November 2019 einen Bericht veröffentlicht, in dem sie prognostiziert, dass die Wachstumsraten bei der Ölnachfrage in den kommenden 20 Jahren bei einem Drittel dessen liegen werden, was wir aus den vergangenen 20 Jahren kennen. 
    Die Abmachung der OPEC von 2016 sollte die Ölpreise ansteigen lassen. Es hat aber keinen Anstieg gegeben. Im Gegenteil: Sie gingen mit jedem Jahr zurück. Als dann das Coronavirus kam, war die erste Welle des Preisverfalls eine absolut natürliche Reaktion auf die Epidemie und die Maßnahmen der Regierungen in den verschiedenen Ländern. Wenn die OPEC-Abmachung bis zum April gehalten hätte, wären Preise von 45 bis 50 Dollar, wie wir sie noch bis Anfang März hatten, weiterhin möglich gewesen.

    Genau das wollten die OPEC-Länder bei ihrem Treffen Anfang Dezember 2019  in Wien auch erreichen, so wie ich das verstehe.

    Saudi-Arabien und andere Länder wollten die Produktion noch weiter drosseln, aber Russland war nicht bereit dazu, und die Abmachung platzte. Die letzten Preisrückgänge waren unmittelbar darauf zurückzuführen, dass Saudi-Arabien seinen Kunden riesige Preisnachlässe versprochen und erklärt hatte, dass es bereit sei, um einzelne Märkte einen Krieg zu beginnen – insbesondere um den europäischen Markt, und dazu das Förder- und Absatzvolumen zu erhöhen.

    Das heißt, die staatlichen Fernsehsender haben Recht? Ist Saudi-Arabien tatsächlich an allem Schuld, nicht wir?

    Russland hat das Abkommen abgelehnt und seine primäre Verantwortung für den Rückgang der Ölpreise liegt auf der Hand. Doch schauen wir uns einmal die Preis-Charts von Freitag, dem 6. März an, und die Erklärung aus Wien, dass das Abkommen geplatzt ist: Von einem Scheitern des Abkommens war bereits am 4. März die Rede, als Nowak nach Moskau abgereist war. Der Ölpreis fiel um fünf bis sechs Prozent. Am Freitag, 6. März, nachdem er zurückgekehrt war und wieder keine Einigung zustande kam, fiel der Ölpreis um weitere vier Prozent und stabilisierte sich bei rund 44 Dollar pro Barrel. Weiter dann, am Wochenende, erklärten die Saudis, dass sie den Europäern und Amerikanern einen Rabatt von 7 bis 8 Dollar auf den aktuellen Preis geben. Sie haben also gesagt: Wir werden nicht für 45, sondern für 37 Dollar verkaufen.

    Die Saudis sind gegenüber dem berüchtigten Charisma von Putin immun

    Riad war wegen der Position Moskaus empört. Und Mohammed bin Salman ist eben nicht irgendein Schröder, der davon träumt, an die Tränke von Rosneft zu gelangen.

    Gegenüber dem berüchtigten Charisma von Putin herrscht hier Immunität. So war also letztendlich das Handeln Saudi-Arabiens der Grund, dass die Ölpreise derart stark nachließen. Übrigens nicht aus Versehen, sondern vollkommen bewusst.

    Eine solche Reaktion Saudi-Arabiens hätte man wohl voraussehen können. War der Nutzen durch den Ausstieg aus dem OPEC-Abkommen für Russland größer als der Schaden durch mögliche Folgen? Inwieweit ist dieser Abzug im Interesse Russlands?

    Er ist überhaupt nicht im Interesse Russlands. Man hätte ihn aber voraussehen können.

    Der Chef von Rosneft verkündet, die Förderung anzukurbeln und die Produzenten von Schieferöl in den Ruin zu treiben. Experten haben aber vielfach gesagt, dass Russland die Förderung bei niedrigen Preisen nicht wird steigern können; die meisten Vorkommen sind nur schwer zu fördern, verbunden mit hohen Kosten. Wo liegt da für Rosneft der Sinn?

    Das müssten Sie Setschin fragen; ich stimme Ihnen da vollkommen zu. Das Problem ist auch, dass man die US-amerikanischen Schieferölproduzenten nicht kaputtmachen kann.

    Das haben die Amerikaner schon mehrfach bewiesen.

    Ja, das haben sie, das ist das eine. Und es gibt noch einen zweiten Aspekt: Vor einigen Tagen hat die Bank of England den Schlüsselzinssatz gesenkt, vergangene Woche auch die Fed. Selbst wenn eine amerikanische Ölfirma auf Null arbeiten muss, würde es sie nichts kosten, Überbrückungskredite aufzunehmen – und mit dem Ausblick auf steigende Preise weiterzumachen. Selbst wenn irgendeine verrückte Bank versuchen würde, die Firma in den Ruin zu treiben, kann man Insolvenz beantragen und viele Jahre unter dem Schutz des berühmten Chapter 11 des US-amerikanischen Insolvenzrechts tätig sein, während die Umstrukturierung läuft. Dieser Zeitraum kann sich zwei bis drei Jahre hinziehen. In dieser Zeit würde Russland schlichtweg pleitegehen. Und die amerikanischen Firmen würden weiter Öl pumpen, weil sie zumindest für die Löhne und zur Kostendeckung Einnahmen brauchen.

    Und für Rosneft gibt es keine Möglichkeit für Überbrückungskredite zu niedrigen Zinssätzen, es fällt ja unter die Sanktionen, in Europa und den USA wird man keine Kredite geben.

    Russland hat viele Reserven, mit denen Ölfirmen unterstützt werden können. Anstelle von Krediten wären da Steuererleichterungen, der Fonds für nationalen Wohlstand [FNB], auf den Setschin seit langem schimpft, und so weiter. Ich meine einfach, dass die ganze Logik, mit der Rosneft die amerikanischen Unternehmen kaputt machen will, sehr lächerlich wirkt.

    War das denn wirklich die Logik dahinter? Vielleicht hat Herr Setschin ja auch ganz andere Motive?

    Na, ich weiß nicht. Vielleicht will er die Preise ruinieren, damit sich der Börsenwert von Lukoil halbiert, und er dann mit Hilfe eines Strafverfahrens gegen Alekperow das Unternehmen kaufen kann. Wie das mit Baschneft der Fall war. Warum auch nicht? Wir wissen nicht, was Setschin im Sinn hat. Wie dem auch sei, auf der Sitzung bei Putin war niemand außer Setschin dafür, den Deal platzen zu lassen. 

    Also steht der Staat vor der Alternative: Entweder er unterstützt Rosneft, das gegen die Amerikaner Krieg führt, oder der Staat erfüllt seine sozialen Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung?

    Das würde ich so nicht sagen. Der Staat verfügt wirklich über sehr große Reserven. Der Haushalt des vergangenen Jahres ist nicht vollkommen ausgeschöpft worden. Der FNB beläuft sich jetzt auf 124 Milliarden Dollar. Unter Berücksichtigung der Abwertung sind das rund zehn Prozent des BIP. Der Staatshaushalt macht etwa 18 Prozent des BIP aus. Selbst wenn dort eine Lücke von drei Prozent entsteht, dann können bei den heutigen Reserven alle festgeschriebenen sozialen Verpflichtungen zwei, drei, ja sogar vier Jahre lang ohne große Probleme erfüllt werden. Außerdem ist der Haushalt nicht die ganze Wirtschaft, es gibt noch den privaten Sektor. Der Dollar steigt, die Einkommen sinken. Die Bevölkerung überlegt, ob man nicht etwas für schlechte Zeiten zurücklegen sollte, schließlich ist es ja beunruhigend. Die Leute gehen nicht mehr in Cafés, fahren nicht mehr in Urlaub und kaufen keine teuren Sachen.

    Das haben wir 2015 gesehen, als der Rubel gegenüber dem Dollar einbrach. Übrigens ebenfalls durch das Vorgehen von Rosneft und dessen Chef.

    Ja. Außerdem fällt der Rubel – die Zentralbank ist gezwungen, mit einer Erhöhung der Zinssätze zu antworten. Kredite werden teurer, die Käufe von Wohnraum auf Hypothek und Autos auf Kredit gehen zurück. Das heißt, die Realwirtschaft wird sich abschwächen, selbst wenn der Haushalt wie ein Uhrwerk funktioniert. In Russland ist somit ein Wirtschaftsrückgang absolut unausweichlich.

    Und das alles nur deshalb, weil allein Igor Iwanowitsch Setschin aus dem Deal mit der OPEC aussteigen wollte?

    Wir haben hier die Effekte sowohl durch das Coronavirus als auch durch Setschin, und dadurch, dass unsere Wirtschaft zu stark reguliert ist, um angemessen auf Herausforderungen zu reagieren.

    In Russland ist ein Wirtschaftsrückgang absolut unausweichlich

    Doch der Setschin-Effekt ist nicht zu vernachlässigen. Offenbar ist Setschin einer der größten Newsmaker in der russischen Wirtschaft, wir konnten das auch schon früher sehen, auch beim Deal mit Baschneft und in anderen Situationen. Sein Einfluss sollte nicht unterschätzt werden.

    Wie geht es weiter mit dem Rubel?

    Ich glaube nicht, dass morgen schon etwas Katastrophales passiert. Ich hatte in diesen Tagen einen sehr viel stärkeren Rückgang erwartet. Ich denke, die Regierung wird den Rubel erst einmal stützen. Für die Menschen in Russland ist der Devisenkurs ein wichtiges symbolisches Moment. Wir erinnern uns an die Situation im Januar 2016, als der Ölpreis innerhalb weniger Tage auf 29 Dollar pro Barrel zurückging und der Dollar auf 85 Rubel hochschnellte. Jetzt gibt es diese Panik nicht. Und das ist gut: Die Zentralbank und das Finanzministerium verfolgen eine sehr viel angemessenere Politik, und die Wirtschaft reagiert nicht so empfindlich auf die Ereignisse. Deswegen schließe ich mich nicht der „100 Rubel für 1 Dollar“-Prognose an. Der neue Korridor wird bei 72 bis 75 Rubeln liegen in den nächsten paar Monaten. Der Kreml wird nicht erklären, wie schön das ist – wie Putin das mal gesagt hat –, wenn man für einen Dollar mehr Rubel kaufen kann. Das Regime spürt jetzt: Seine Popularität ist längst nicht so groß, dass man die Geduld der Bevölkerung auf die Probe stellen könnte.

    Ein allzu drastischer Kursrückgang wird nicht begrüßt, doch im Weiteren wird dann alles davon abhängen, was die Saudis machen: Wie stark sie tatsächlich die Ölförderung ankurbeln und in welchem Maße sie den Markt mit ihren Preisnachlässen erobern. Der Rubel ist jetzt von Mohammad bin Salmans Willen abhängig – möge Allah ihn behüten!

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  • Debattenschau № 80: Putin forever?

    Debattenschau № 80: Putin forever?

    Es ist Dienstag, 10. März 2020, eigentlich will die russische Staatsduma über die geplante Verfassungsänderung abstimmen. Die Zukunft des amtierenden Staatspräsidenten Putin nach der Wahl 2024 scheint unklar, laut Verfassung darf er nicht mehr kandidieren. Dennoch beschäftigen sich die Abgeordneten routiniert mit den von ihm eine Woche zuvor eingebrachten Vorschlägen. Bis die Abgeordnete Valentina Tereschkowa eine aufsehenerregende Idee in die Diskussion einbringt: 

    „Warum es so verworren und kompliziert machen, wozu all die unnötige Mühe mit künstlichen Konstruktionen?“, fragt Tereschkowa, die 1963 als erste Frau im Weltall war. Es gebe doch eine einfache Lösung: Die verfassungsmäßige Begrenzung der Amtszeiten für den russischen Präsidenten zu annullieren, damit Putin wieder zum Staatschef gewählt werden kann.

    Tereschkowa, eine bekannte und geschätzte Person des öffentlichen Lebens, ist in der Duma bislang nicht als Verfassungsrechtlerin aufgefallen, insgesamt blieb sie in der russischen Politik eher unscheinbar. Ihr Vorschlag aber platzt wie eine Bombe in den Reihen der Abgeordneten. Der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, ruft schleunigst den Staatschef an, der schon kurze Zeit später in der Duma erscheint, um eine Rede zu halten. Im Prinzip, sagt Putin, wäre die Annullierung der Amtszeiten möglich, aber nur, wenn das Verfassungsgericht sie als verfassungskonform bestätigt. Außerdem müsse auch das Volk demokratisch darüber entscheiden, bei der Abstimmung am 22. April.

    Schon bevor die Duma mehrheitlich für die scheinbar überraschende Verfassungsänderung stimmt, bricht in Russland eine hitzige Diskussion los: Ist die Volte Teil eines sorgsam orchestrierten Plans, den Putin am 15. Januar mit seiner Idee von der Verfassungsänderung lostrat, oder ist sie aus der Not geboren? Was könnte den Präsidenten dazu getrieben haben, diesen Vorschlag vorbringen zu lassen: Gefahr, die aus dem Westen droht, Angst vor Machtverlust – oder gar das Coronavirus? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in russischen Medien.

    Novaya Gazeta: Alle Hemmungen fallen gelassen

    Kirill Martynow konstatiert in der Novaya Gazeta, dass Putins „eleganter“ Plan, bis 2024 einen geregelten Machttransfer zu vollziehen und dennoch faktisch an der Macht zu bleiben, nun einer plumpen Lösung weicht:

    [bilingbox]Der Kreml hat in Bezug auf die Verfassung alle Hemmungen fallen gelassen: Putin ist bereit, so lange an der Macht zu bleiben, wie er und die von ihm selbst ernannten Richter des Verfassungsgerichts das für nötig halten.~~~У Кремля больше нет никаких конституционных комплексов: Путин готов находиться на своем посту столько, сколько сочтет нужным он сам и назначенные им же судьи КС.[/bilingbox]

    erschienen am 10.03.2020, Original

    TASS: Annullierung? Welche Annullierung?

    Pawel Krascheninnikow, Ausschussvorsitzender der Staatsduma für Staatsaufbau und Gesetzgebung, bewertet die Lösung als verfassungsgemäß – schließlich sollen die Bürger darüber abstimmen:

    [bilingbox]Es gibt da keine Annullierung […]. Die Verfassungsänderungen werden zur Volksabstimmung vorgelegt. Und wenn die Bürger dem zustimmen, dann kann er nochmal Kandidat werden. Und das wird in einem Artikel der Verfassung sowie in einem Artikel der Übergangsbestimmungen verankert.~~~Ну нет там обнуления […]. Поправки выносятся на общероссийское голосование. И если граждане это поддерживают, то он еще раз может стать кандидатом. И это будет записано в одной статье Конституции и в одной статье переходных положений.[/bilingbox]

    erschienen am 11.03.2020, Original

    Meduza: Die äußere Gefahr bestimmt den Kurs

    Meduza zitiert einen anonymen Informanten aus der Präsidialadministration. Dieser meint, dass Putin bei seiner Entscheidung von Silowiki wie Nikolaj Patruschew und Alexander Bortnikow gedrängt wurde:

    [bilingbox]‚Die äußere Gefahr bleibt und nimmt zu, ein Machttransfer in einer solchen Situation ist gefährlich. Man hat den Präsidenten davon überzeugt, dass er sich durch eine Annullierung absichern sollte, damit er die Möglichkeit hat, [im Amt – dek] zu bleiben. Und dass es besser wäre, er bliebe.‘~~~«Внешняя угроза сохраняется и растет, транзит власти в таких условиях опасен, они убеждали президента „подстраховаться“ через обнуление, что надо оставить возможность остаться. И лучше бы остаться»[/bilingbox]

    erschienen am 10.03.2020, Original

    Echo Moskwy: In einem Krieg wechselt man nicht den Befehlshaber

    Auch der kremlnahe Politologe Sergej Markow bemüht die Propagandaformel der belagerten Festung: Der Westen führe einen Krieg gegen Russland, das russische Volk sei verängstigt und dürste mehr denn je nach einem starken Leader: 

    [bilingbox]Der Oberbefehlshaber darf während des hybriden Krieges gegen Russland nicht ausgewechselt werden, das ist der Wille des Volkes. Das ist die Logik der Geschichte. Wenn also der Westen seinen hybriden Vernichtungskrieg gegen Russland fortsetzt, den er seit 2013 führt, […] dann wird das russische Volk wollen, dass Putin an der Macht bleibt …~~~Главнокомандующий во время гибридной войны против России меняться не должен, такова воля народа. Такова логика истории. Поэтому если Запад продолжит свою гибридную войну на уничтожение России, которую он ведет, начиная с 13-го года, […] тогда народ России, чтобы Путин остался у власти…[/bilingbox]

    erschienen am 11.03.2020, Original

    Facebook/Grigori Golossow: Angst vor dem Nachfolger

    Der Politikwissenschaftler Grigori Golossow glaubt, dass Putins Entscheidung improvisiert war. Der ursprüngliche Plan barg für den Präsidenten große Gefahren, meint der Dekan der Politikwissenschaftlichen Fakultät an der Europäischen Universität Sankt Petersburg:

    [bilingbox]Ich nehme an, dass die kasachische Variante, mit [Putin als Chef des] Staatsrat, lange Zeit ernsthaft erwogen wurde. Irgendwann (vielleicht sogar erst letzte Woche) hat Putin aber erkannt, dass er keinen Kandidaten finden würde, den er einerseits ernsthaft für das Präsidentenamt aufstellen könnte und der ihn andererseits nicht bei der ersten Gelegenheit aus dem Staatsrat entlassen würde. Putin hatte schlicht Angst. Ihm wurde klar, dass es nicht die Zeit ist, einen Wettbewerb mit Nasarbajew zu veranstalten, wer jetzt cooler ist: Es ist wichtiger, jetzt auf sich selbst aufzupassen.~~~Я так понимаю, что казахстанский вариант с Госсоветом довольно долго рассматривался как приоритетный, но в какой-то момент (возможно, даже на прошлой неделе) Путин понял, что он не найдет такого кандидата, которого, с одной стороны, он мог бы всерьез выдвинуть в президенты, а с другой стороны, который не уволил бы его с Госсовета при первой возможности. Просто испугался. Понял, что не время тягаться с Назарбаевым в крутизне, важнее позаботиться о себе.[/bilingbox]

    erschienen am 10.03.2020, Original

    Facebook/Kirill Rogow: Coronavirus hilft Putin 

    Auch der Politologe Kirill Rogow ist sich sicher, dass Putins Entscheidung nicht orchestriert war. Geboren sei sie vielmehr aus einer für den Präsidenten günstigen Gelegenheit:

    [bilingbox]Es war improvisiert. Putin hatte sich allem Anschein nach davor gefürchtet, jetzt anzukündigen, dass er bleibt. Er hatte Angst vor Massenprotesten. Er fürchtete sich vor einer Konsolidierung [der Opposition – dek]. Aber dann wurde ihm nahegelegt, auf das Coronavirus zu setzen: Die Überlegung, dass das Coronavirus ein guter Helfer ist, um Massenproteste zu verhindern. Es erzeugt Ängste bei den Menschen und liefert einen guten Vorwand, um Demonstrationen zu verbieten.~~~Это была импровизация. Объявлять сейчас о том, что он остается, Путин, по всей видимости, боялся. Боялся массовых манифестаций. Боялся точки консолидации. Но тут ему принесли план с коронавирусом – рассуждение о том, что коронавирус хорошее подспорье в предотвращении массовых протестов – и страхи людей, и хорошая отмазка для запрета манифестаций.[/bilingbox]

    erschienen am 10.03.2020, Original

    Facebook/Dimitri Gudkow: Putinsche Nebelkerzen

    Der Oppositionspolitiker Dimitri Gudkow glaubt dagegen, dass die im Januar angekündigte Verfassungsreform nur vom Wesentlichen ablenken sollte. In diesem Schauspiel sei der Vorschlag von Valentina Tereschkowa Teil eines orchestrierten Szenarios:

    [bilingbox]Das heißt, dieses ganze unanständige Hin und Her mit der Verfassung ist allein wegen dieses einen Moments heute angezettelt worden: für zwei neue Amtszeiten Putins. Tereschkowa, die Stalin noch gut in Erinnerung hat, hat Putin nicht hängen lassen.~~~То есть вся эта неприличная возня с Конституцией затевалась ради одного сегодняшнего момента: двух новых сроков Путина. Терешкова, хорошо помнящая еще Сталина, не подвела.[/bilingbox]

    erschienen am 10.03.2020, Original

    Geopolitiкa: Weltweites Ende des Liberalismus

    Alexander Dugin gehört zu denjenigen Intellektuellen in Russland, denen eine Nähe zum neofaschistischen Gedankengut nachgesagt wird. Putins Entscheidung bewertet der Ideologe zweideutig: Es werde zwar keine Gerechtigkeit unter Putin geben, weil dieser laut Dugin unter anderem nicht nationalistisch genug sei. Dafür werde Russland unter Putin dem Westen aber weiterhin die Stirn bieten können:

    [bilingbox]Die Politik in Russland wird bis 2036 abgeschafft, wenn vorher nichts geschieht: etwas Coronavirus-Artiges oder etwas ähnlich Unberechenbares. […] Die bedrohliche Beschwörungsformel des „langwährenden Staates“ wird real. Ja, jetzt ist klar, in welchem Sinne er langwährend sein wird … Richtig, er ist langwährend, nämlich im Sinne von „praktisch ewig“ … […]
    Es wird keine Proteste geben, oder es wird welche geben, die leichterdings durch einen einfachen Verweis auf ihren pro-westlichen liberalen Charakter erstickt werden können. Und der Liberalismus ist nicht nur bei uns, sondern einfach überall zusammengebrochen. Jetzt geht es nur noch um eine geschlossene Gesellschaft und chinesischen Zentralismus.~~~Политика в России отменена до 2036 года, если раньше ничего не случится коронавирусного или аналогично непредсказуемого.[…] Сбывается угрожающее заклинание про «долгое государство». Да, теперь понятно, в каком смысле оно будет долгим… Правда, это долго – в смысле практически «вечно»…
    […]
    Протестов не будет или будут такие, которые легко заглушить простым указанием на их прозападную либеральную природу. А либерализм рухнул окончательно не только у нас, но просто везде. Теперь только закрытое общество и китайский централизм имеют значение.[/bilingbox]

    erschienen am 10.03.2020, Original

    Vedomosti: Putin forever 

    Das System Putin habe nun auch seine letzte Maske fallen lassen, meint die Redaktion von Vedomosti:

    [bilingbox]Die vorgeschlagenen Änderungen stärken das hyperpräsidentielle, fast monarchische Machtmodell, bei dem die Imitation von Wahlen nicht verhindert, dass es praktisch jahrzehntelang von ein und derselben Person aufrechterhalten wird. Die erste Generation der unter Putin geborenen Russen könnte bereits am 22. April an der landesweiten Volksabstimmung teilnehmen. Die Verfassungsänderung, die ihnen zur Abstimmung vorgelegt wird, bedeutet: Auch ihre Kinder könnten allein unter Putin geboren werden und aufwachsen.
    ~~~Предложенные поправки укрепляют гиперпрезидентскую, близкую к монархической модель власти, в которой имитация выборов не мешает ее сохранению одним и тем же человеком в течение теперь уже фактически десятилетий. Первое поколение россиян, родившееся при Путине, уже может прийти на общероссийское голосование 22 апреля. Поправки, за которые им будет предложено проголосовать, означают, что и их дети могут родиться и вырасти при нем же.[/bilingbox]

    erschienen am 11.03.2020, Original

    Zusammenstellung: dekoder-Redaktion
    Übersetzung: Hartmut Schröder, dekoder-Redaktion

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  • Operation Entmenschlichung

    Operation Entmenschlichung

    Noch nie gab es in russischen Gefängnissen so wenige Insassen: Etwas mehr als eine halbe Million Menschen verbüßen derzeit ihre Haftstrafe. Vor 20 Jahren waren es etwa doppelt so viele, nach den USA war Russland das Land mit den meisten Gefangenen pro 100.000 Einwohner.

    Was sich in den letzten 20 Jahren allerdings nur wenig verändert hat, sind die Haftbedingungen. Heute gibt der russische Staat täglich nur etwas mehr als umgerechnet zwei Euro pro Gefangenen aus. Ein Haftplatz in Deutschland kostet rund das 60-fache. Abgesehen von oft katastrophalen Haftbedingungen müssen sich die Gefangenen in Russland auch besonderen Knast-Gesetzmäßigkeiten unterwerfen: Erniedrigungen und Folter seitens der Justizmitarbeiter oder Mitinsassen gehören dort faktisch zur Tagesordnung. Zwar gibt es bestimmte Ausnahmen, wie sie die Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja Olga Romanowa beschreibt, insgesamt sei das russische Gefängniswesen aber systematisch darauf ausgerichtet, Menschen zu brechen.

    Eine Innenansicht solcher Praktiken liefert Oleg Senzow. Der ukrainische Regisseur wurde 2014 verhaftet und nach einem als politisch-motiviert eingestuften Prozess wegen Terrorismus verurteilt. Erst im Zuge eines Gefangenenaustauschs kam Senzow im September 2019 frei. In der Novaya Gazeta gibt er einen Einblick hinter Gitter und reiht sich damit ein in das traditionsreiche Genre russischer Gefängnisliteratur.

    Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow liefert eine Innenansicht russischer Gefängnisse / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
    Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow liefert eine Innenansicht russischer Gefängnisse / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    Alle Gefängnisse ähneln sich wie traurige Verwandte. Jedoch nur äußerlich – in ihrer inneren Struktur unterscheiden sie sich: Es gibt welche, wo es schlecht ist, und solche, in denen vollständige Finsternis herrscht. Für einen Außenstehenden, der nicht im System steckt, sind diese Unterschiede schwer zu erkennen und zu verstehen. Kommt eine Überprüfungskommission ins Gefängnis oder in die Strafkolonie, dann ist dort alles in bester Ordnung, die Häftlinge haben keinerlei Beschwerden, die Anstaltsleitung ist zuvorkommend, die Prüfer sind zufrieden. Das wirkliche Gefängnisleben wird für die Zeit des Kommissionsbesuchs weggepfercht und übertüncht. Ist die Kommission wieder weg, geht alles wieder seinen gewohnten Gang, manchmal den Gang der Höllenkreise.

    Lager, in denen die Häftlinge gebrochen werden sollen

    Der schwer auszusprechende Name des kleinen Städtchens am Polarkreis wird dem Durchschnittsbürger nichts sagen. Den Häftlingen sagt er hingegen sehr viel. Labytnangi oder umgangssprachlich Labytki, kennen fast alle, die einsitzen, wie auch den nicht weniger traurigen Nachbarort, die Siedlung Charp, die „Polareule“. Sie wurden in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Lager errichtet, in denen die Häftlinge unter den schweren Bedingungen des hohen Nordens gebrochen werden sollten – und das ist noch heute so. Ihr Ziel ist nicht, die Häftlinge zu bessern oder sie arbeiten zu lassen (außer acht Monaten im Jahr Schneeschippen gibt es hier nichts zu tun), sondern sie in eine gehorsame Herde Vieh zu verwandeln. Dese Aufgabe wird seit vielen Jahren mit großem Erfolg erfüllt. Im Prinzip wird in Russland jede Strafanstalt mit dem Ziel errichtet, jemanden zu brechen und zu vernichten, menschliche Körper und Schicksale zu zermalmen. Nur geschieht dies mancherorts auf alltägliche Art, routinemäßig, während es woanders wie am Fließband läuft und ein unvorstellbar perverses Niveau erreicht.

    Außer acht Monaten im Jahr Schneeschippen gibt es nichts zu tun

    Dort gibt man dir gleich auf der Schwelle zu verstehen, dass du in ein Fegefeuer geraten bist, in dem du keinerlei Rechte hast, Beschwerden zwecklos sind und es niemanden gibt, bei dem man sich beschweren könnte. Die Ankömmlinge werden allein deshalb gnadenlos geschlagen, weil sie existieren; das ist die sogenannte „Aufnahme“. Es ist eine obligatorische Prozedur, praktisch ein Ritual. Hier wird dir auch beigebracht, dass du die Mitarbeiter der Anstaltsverwaltung nie anders als mit „Bürger Vorgesetzter“ anzureden und für jede Handlung um Erlaubnis zu fragen hast, etwa, um an einem Uniformierten vorbeizugehen: „Erlauben Sie, dass ich vorbeigehe, Bürger Vorgesetzter?“ Die Häftlinge haben laut und im Chor zu grüßen, ganz gleich, wie oft man den betreffenden Mitarbeiter an diesem Tag schon gegrüßt hatte, mit einem klaren und freundschaftlichen „Guten Tag, Bürger Vorgesetzter!“

    Nach der „Aufnahme“ wird dir eine Zusammenarbeit mit der Verwaltung nahegelegt, wobei klargemacht wird, dass es hier im Lager keine einfachen mushiki gibt, sondern nur kollaborierende krasnyje und erniedrigte petuchi. Dabei musst du wählen, zu wem du gehören willst.

    Wenn du dich für deine eigene Variante entscheidest, ein anständiger Häftling zu bleiben, wird dir mit Hilfe entsprechender Werkzeuge zu verstehen gegeben, dass du falsch liegst. Gut die Hälfte der Neuankömmlinge schlägt sich schon in der Quarantäne auf die Seite der Roten, der Rest versucht standhaft zu bleiben. Diejenigen, die nicht umgehend gebrochen werden können, werden langfristig bearbeitet; sie werden praktisch über die gesamte Haftzeit hinweg psychischem und physischem Druck ausgesetzt.

    Drohungen mit Vergewaltigung sind ständige Begleiter

    Während der zweiwöchigen Quarantäne wirst du regelmäßig schikaniert. Die Anstaltsordnung pauken, patriotische Lieder und die Hymne der Russischen Föderation singen, in Reih und Glied marschieren, im Gleichschritt – das sind die Pflichtteile der Anfangslektion im Umerziehungsprogramm. Diesen Schwachsinn abzulehnen, nicht in eine Kooperation einzuwilligen und die entsprechenden Papiere nicht zu unterschreiben, das trauen sich nur wenige. Für die gibt es allerdings spezielle Behandlungen, die in der sogenannten petrowka stattfinden. Das ist ein kleines einzeln stehendes Gebäude mit zwei Zellen und drei Büroräumen für die operativen Mitarbeiter. Hier behandelt man die Ungehorsamen besonders grausam, denn, wie es so schön heißt: „Operative drehen nicht Däumchen“. Schläge, Erniedrigungen, Elektroschocks, nackt in einer kalten Zelle oder in einem nassen Knastkittel zu stecken – das ist nicht das Schlimmste, was dir passieren kann.

    Vielleicht wirst du für einen Tag in eine Matratze eingerollt und herumgeworfen wie eine Puppe. Oder noch schlimmer: Man steckt dich in Embryohaltung in eine Metallkiste und verschließt sie wie einen Safe, in dem man keine Luft bekommt und unter sich macht, weil eine Toiletten- oder Mittagspause bei diesem Abenteuer nicht vorgesehen ist.

    Drohungen mit Vergewaltigung sind ständige Begleiter der erniedrigenden Behandlung.

    Für den Häftling gibt es nur ein Mittel, sich gegen diese Folter zu wehren, nämlich, sich aufzuschlitzen. Mit einer Klinge, einem Stück Glas oder Metall, mit den Zähnen. Sich die Adern aufschneiden, aufreißen, damit man ins Gefängnislazarett gelangt, wo man sich von diesem Albtraum ein wenig erholen kann. Kommst du so weichgekocht wieder hoch ins Lager, hat das Leiden des Häftlings jedoch kein Ende. Du gerätst in ein eigenartiges Zombieland, in dem sämtliche offizielle Regeln mit idiotischer und perverser Genauigkeit befolgt werden; darüber hinaus gibt es noch einen Haufen eigener Regeln, lokale Raffinessen, die sich die werte Verwaltung hat einfallen lassen. Wagemutige, die gegen dieses System kämpfen, gibt es wenige, und wenn die sich nicht fügen, wird ihnen übel mitgespielt, dann werden sie gebrochen, durch den Dreck gezogen, aber die Hände sollen sich dabei andere schmutzig machen. Die besonders Standhaften werden in die jeschka gesteckt, ins JePKT, das sich im benachbarten Charp befindet, wo sich der nächste Kreis der Hölle angesiedelt hat.

    Nur ein Mittel, sich gegen diese Folter zu wehren

    Der die gesamte Haftzeit hindurch leidende mushik sieht, wie vor seinen Augen die Barackenmeister „ausfliegen“ und herumschnüffeln mit ihren Schergen, den sogenannten kosly (dt. Ziegenböcke), die nicht angerührt, geschlagen oder erniedrigt werden. Er sieht jene, die ihr Gewissen für ein kleines bisschen süßeres Leben verkauft haben, die für die Verwaltung der Strafkolonie arbeiten, die mithelfen, den übrigen Häftlingen das Regime reinzudrücken. Viele halten es nicht aus, geben auf und gehen zu den Roten, wo es leichter ist, wärmer, und wo es eine Chance gibt, dass man früher auf Bewährung freigelassen wird.

    Das aus zehn Mitarbeitern pro Schicht bestehende Team ist nicht in der Lage, 500 Lagerhäftlinge in dieser sklavischen Hörigkeit zu halten. Also wurde ein System geschaffen, bei dem die Hälfte der Insassen offen oder insgeheim mit der Verwaltung zusammenarbeitet und dabei hilft, die Ordnung und die Atmosphäre der Angst und des Misstrauens aufrechtzuerhalten. Du kannst nichts machen oder etwas sagen, was den Mitarbeitern nicht zugetragen würde.

    Jeder der kosly führt im Laufe des Tages seine kleine Liste in die er alle Verfehlungen einträgt, alles, was er gesehen oder gehört hat, jede Information über andere Häftlinge, die für die operativen Mitarbeiter nützlich ist – auch über Denunzianten wie er selbst einer ist. Am Ende des Tages sammelt der Barackenmeister all diese Zettel auf einem Haufen und stellt den Gesamtbericht über die Baracke zusammen. Der wird am Morgen den Operativen übergeben, die das alles bearbeiten und entsprechende Maßnahmen treffen. Und schon wird jemand zur Bestrafung in die petrowka abgeführt.

    Bei den Roten herrscht untereinander heftige Konkurrenz. Sie versuchen alle, sich diensteifrig nicht nur bei der Verwaltung hervorzutun, sondern auch bei dem eigenen Barackenmeister, um auf der lokalen Hierarchieleiter aufzusteigen. Dabei werden gegeneinander Intrigen gesponnen und sowohl Mitarbeiter als auch andere Häftlinge in diese Machenschaften hineingezogen. Nicht alle können so wendig oder zynisch sein, daher justiert das System die benötigten Leute ständig neu und stößt die ungeeigneten ab. Dieses verbrauchte Menschenmaterial wird als Wolle oder Krätze bezeichnet, mit dem weder die Roten selbst und umso weniger die mushiki etwas zu tun haben wollen.

    Die Barackenmeister mit ihren engsten Untergebenen schröpfen nicht nur andere Häftlinge, wenn diese Pakete bekommen oder sich etwas im Gefängnisladen gekauft haben, sie gehen auch in größerem Stil vor. Unter Mithilfe des operativen Personals und der aus der Masse aller Insassen angeworbenen Unterhändler werden unerträgliche Bedingungen geschaffen oder verschleierte Fallen für Erpressungsopfer aufgebaut, die angesichts der Gefahr, in den „Gockelstall“ zu geraten (die Sonderbaracke für gefallene petuchi), bereit sind zu zahlen. Manchmal ist das eine einmalige Aktion, manchmal eine regelmäßige. Und es ist längst nicht gesagt, dass ein solch gejagter kabantschik tatsächlich draußen Geld hat. Dann ruft er flehend zu Hause an, und es wird ein Auto verkauft oder ein Kredit aufgenommen.

    Die umfassende Atmosphäre der Rechtlosigkeit, des Misstrauens, der Gewalt und der Angst innerhalb eines Lagers, das durch einen Verbotskanon eingefriedet ist, gleicht dem Modell eines kleinen totalitären Staates. Kafka und Orwell in einem. Dort zu existieren und dabei Mensch zu bleiben, ist sehr schwer. Diese Atmosphäre sorgt in jeder Weise dafür, dass du dich in einen gehorsamen Sklaven verwandelst, in einen Zombie, ein Tier, das bereit ist, seinen Artgenossen an die Kehle zu gehen, um das eigene Leben leichter zu machen, und das auf alle Fragen der Prüfer antwortet: „Keine Beschwerden, Bürger Vorgesetzter!“ Weil die Kommission wieder abfährt, die petrowka aber bleibt.

    Jedes Gefängnis ist ein Abbild der Gesellschaft

    Bis ins Unendliche lassen sich die Schrecken des Gefängnisses, die Folter und die Erniedrigungen beschreiben. Man kann all die gottverdammten Orte des Strafvollzugsystems in Russland aufzählen, die all jene auswendig kennen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Man kann hunderte Überprüfungsmissionen engagierter Menschenrechtsbeauftragter schicken, die in Wirklichkeit Beauftragte der Gefängnisverwaltung sind. Oder sogenannte Gesellschaftskommissionen, die vor allem aus ehemaligen Mitarbeitern bestehen, die keinerlei Verfehlungen feststellen werden. Ändern wird sich dadurch nichts. Jedes Gefängnis ist lediglich ein Abbild der Gesellschaft, die es erschafft. Ein Land, das zwei Schritte von einem totalitären Staat entfernt ist, kann keine anderen Gefängnisse haben. Man könnte Labytnangi dem Erdboden gleich machen, doch würde dieser Furunkel an anderem Ort erneut aufbrechen – weil dieser Staat von innen heraus krank ist.
     

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  • Historische Presseschau: 20 Jahre Putin

    Historische Presseschau: 20 Jahre Putin

    „Ich habe eine Entscheidung getroffen. Lange und schmerzhaft war der Prozess. Heute, am letzten Tag dieses Jahrhunderts, trete ich zurück.“ Diese Worte von Boris Jelzin, ausgestrahlt am 31. Dezember 1999 im russischen Fernsehen, kamen völlig überraschend. Zwar hatte der Ruf des ersten postsowjetischen Präsidenten Russlands durch die Wirtschaftskrise und Korruptionsskandale in den Jahren zuvor stark gelitten, und die Niederlage im Ersten Tschetschenienkrieg wurde ihm genauso angelastet wie die Folgen der wirtschaftlichen Schocktherapie – mit einem vorzeitigen Rücktritt hatte jedoch kaum jemand gerechnet.

    Noch am selben Tag übergab Jelzin das Präsidentenamt kommissarisch an Wladimir Putin, der erst im Herbst überraschend zum Premierminister ernannt worden war. Und Putin, nicht Jelzin, hielt um Mitternacht die traditionelle Neujahrsansprache. Dabei kündigte er unter anderem Neuwahlen an für Ende März. Am nächsten Tag garantierte er mit seiner ersten Amtshandlung Jelzin und dessen Familie Immunität vor Strafverfolgung.

    In den damaligen Reaktionen auf den Machtwechsel spiegeln sich die Fragen und Hoffnungen jener Tage. Wie ist Jelzins Amtszeit, wie sein vorzeitiger Rücktritt zu bewerten? Wer ist dieser Nachfolger überhaupt und was kann man von ihm erwarten? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in den russischen Medien.

    Jelzin übergibt die Macht an Wladimir Putin – symbolisiert durch die goldene Amtskette / Foto © kremlin.ru

    Fernsehansprache Boris Jelzins

    Um zwölf Uhr mittags verkündet Boris Jelzin seinen Rücktritt vom Amt des Präsidenten. Kurz vor Mitternacht wird das Video in allen Regionen des Landes noch einmal gesendet.

    erschienen am 31.12.1999

    Echo Moskwy/Boris Nemzow: Würdevoller Abgang

    Bereits eine halbe Stunde nach dem Rücktritt äußert sich der einst als Jelzins Kronprinz gehandelte Boris Nemzow auf dem Radiosender Echo Moskwy zum scheidenden Präsidenten und den kommenden politischen Aufgaben:

    [bilingbox]Erstens waren sowohl Jelzins Amtsantritt als auch seine Amtsniederlegung sehr schön. Als seinen Antritt begreife ich den Moment, in dem er auf den Panzer kletterte und mit seiner ganzen Erscheinung die Freiheit in Russland verteidigte. Und auch der Moment seines Rücktritts wird, denke ich, in die Geschichtsbücher eingehen. Allein deshalb, weil es an der Schwelle zum neuen Jahrtausend geschah, und auch, weil Jelzin außerordentlich offen und aufrichtig war, und auch, weil er es meiner Ansicht nach rechtzeitig tat und gleichzeitig absolut unerwartet. […]

    Nun braucht es eine starke Kampagne. Und da kommt mir nur eine Kampagne in den Sinn: der Kampf gegen die Korruption. Und zwar nicht eine Korruptionsbekämpfung im Stile Primakows, wo nur darüber geredet wird, aber nichts geschieht. Sondern eine effektivere Bekämpfung, bei der diejenigen, die tatsächlich viel Schändliches und Gemeines angestellt haben, schnell hinter Gittern landen.

    Wenn es Wladimir Putin gelingt, vor den Wahlen wenigstens bei der Bekämpfung dieses Übels Entschlossenheit zu demonstrieren, dann liegen seine Siegeschancen klar bei 100 Prozent.~~~Во-первых, я считаю, что Ельцин и очень красиво пришел, и очень красиво ушел. Я считаю его приходом момент, когда он забрался на танк и всем своим видом защищал свободу в России. А момент отставки, я думаю, тоже попадет в учебники по истории, уже хотя бы потому, что это на пороге тысячелетий, уже хотя бы потому, что Ельцин был необыкновенно открытым и искренним, и уже потому, что он это сделал вовремя, на мой взгляд, и одновременно, абсолютно неожиданно. (…)

    Нужны будут какие-то яркие кампании. Мне в голову приходит только одна кампания, а именно борьба с коррупцией, причем борьба с коррупцией не в стиле Примакова, когда об этом говорится и ничего не делается, […] а очень эффективная борьба, когда те, которые действительно много натворили всяких гнусностей и гадостей, вдруг оказываются за решеткой. Если Владимиру Владимировичу удастся продемонстрировать хотя бы решимость перед выборами бороться с этим делом, то тогда его шансы просто 100 процентов.[/bilingbox]

    erschienen am 31.12.1999

    Radiosender Majak: Putin ist eine antidemokratische Figur

    Emil Pain, ehemaliger Jelzin-Berater und schon damals ein bekannter Politikwissenschaftler und Nationalismusforscher, gibt auf Radio Majak eine kritische Prognose zum Interimspräsidenten ab:

    [bilingbox]Ich meine, dass Putin ganz klar eine antidemokratische Figur ist, ein Anti-Reformer. Er ist ein Traditionalist, ein Sowjetmensch, der unsere Gesellschaft für eine gewisse Zeit mit imperialen Ideen ablenken wird, mit ideologischen Gedanken, und keineswegs mit Ideen, die mit der Wirtschaft zu tun haben.~~~Я считаю, что ПУТИН как раз фигура антидемократическая, антиреформаторская. Это традиционалист, советский человек, который на какое-то время отвлечет наше общество на идеи имперские, идеи идеологические, а вовсе не на те, которые связаны с экономикой. [/bilingbox]

    erschienen am 31.12.1999

    Neujahrsansprache von Wladimir Putin

    Fünf Minuten vor Mitternacht erscheint Wladimir Putin in Millionen russischen Haushalten auf dem Fernsehbildschirm und hält die traditionelle Neujahrsansprache:

    erschienen am 31.12.1999

    Literaturnaja Gaseta: Der Ruf nach einem starken Mann

    Der Philosoph und Politologe Alexander Zipko spricht in der Literaturnaja Gaseta über die Erwartungshaltung vieler Russen an den neuen Präsidenten:

    [bilingbox]Jelzin hat sich als ein sehr viel verantwortungsbewussterer und gewichtigerer Politiker erwiesen, als seine Gegner dachten. Was Putin angeht, so ist dieser deshalb sein Nachfolger geworden, weil er sämtliche notwendige Eigenschaften hat, um sich maximal an die Bedingungen unserer „Revolution des Apparates“ anzupassen, an die Interessen und Stimmungsschwankungen von Boris Jelzin. […] 

    Jelzin hat sowohl durch seine Senilität als auch durch seine gesundheitlichen Probleme und seine Verantwortungslosigkeit die Erwartungen nach einer starken, zentralisierten und entschlossenen Staatsmacht hervorgerufen und geschürt, die mutig und energisch vorgeht.
    Die Ära Jelzin, eine Ära der Stagnation und des Auseinanderdriftens der Russischen Föderation, hat das traditionelle Bedürfnis nach einer Einzelherrschaft, nach einer starken Hand des Staates verschärft. Und das Drama besteht darin, dass wir ohne extreme Maßnahmen, etwa im Kampf gegen die Kriminalität oder die Schattenwirtschaft, die derzeitige Staatskrise niemals überwinden werden.~~~Ельцин оказался куда более ответственным и серьезным политиком, чем предполагали его оппоненты. Что же касается Путина, то он стал наследником именно потому, что имел все необходимые качества, чтобы максимально приспособиться к условиям нашей аппаратной революции, к интересам и сдвигам в настроениях Бориса Николаевича. (…)
    Сам Ельцин и своей дряхлостью, и своей болезненностью, и своей безответственностью спровоцировал и обострил ожидание сильной, централизованной и решительной власти, которая будет действовать смело и энергично. Эпоха Ельцина, эпоха стагнации и расползания Российской Федерации обострила традиционную потребность в единоначалии, в крепкой государственной руке. И драма состоит в том, что без чрезвычайных мер, скажем, и по борьбе с преступностью, и по восстановлению контроля над теневой экономикой мы никогда не преодолеем нынешний государственный кризис.
    [/bilingbox]

    erschienen am 13.01.2000

    Izvestia: Die historische Rolle Putins

    In der reichweitenstarken Zeitung Izvestia findet die Journalistin Swetlana Babajewa versöhnliche Worte für Jelzin und erklärt Putin zum richtigen Mann für den notwendigen politischen Wandel: 

    [bilingbox]Er kam auf einer Welle des demokratischen Schulterschlusses in der Gesellschaft an die Macht, als Sieger. Und er schied auf einer Welle politischer Stabilisierung, und sei diese auch nur rein taktisch. Er hat die Gesellschaft zwei Mal um sich geschart (1991 und [durch seinen Rücktritt – dek] 1999), wobei er alles getan hat, was er tun musste. Und er ist abgetreten. Alles Übrige ist nun an denen, die bleiben. […] Er kam als Sieger und geht als Sieger. Er zieht in die Geschichte ein. […]

    Wir treten in einen neuen politischen Zyklus ein, der, den vorhergegangenen nach zu urteilen, vier bis acht Jahre andauern wird. […] Putin wird in diesem Zyklus nicht nur subjektiv gebraucht, als „Kaltmacher“, Militär, harter und kompromissloser Politiker. Er wird objektiv gebraucht. Zweifellos wird auch er seine historische Rolle bekommen. Die Rolle eines Heerführers. Als solcher wird er die russische Gesellschaft an die Grenze zum zivilisierten Leben heranführen – und mit ihr gemeinsam diese Grenze überschreiten.~~~Он пришел к власти на волне демократического сплочения общества, как победитель. Он ушел из нее на волне политической стабилизации, пусть и тактической. Он сплотил общество дважды – в 1991-м и в 1999-м, сделав все, что должен был. И ушел. Остальное – остающимся. (…) 

    Он пришел победителем и уходит победителем. Уходит в историю. (…)

    Мы входим в новый политический цикл, который, судя по прежним виткам, продлится от 4 до 8 лет. (…)

    Путин востребован в этом цикле не только субъективно – как „мочитель“, военный, жесткий и бескомпромиссный политик. Он востребован объективно. У него – нет сомнений – тоже будет своя историческая роль. Роль полководца. Он должен будет подвести российское общество к границе цивилизованной жизни. И перейти вместе с ним эту границу.[/bilingbox]

    erschienen am 05.01.2000

    Izvestia: Wer ist der neue Präsident?

    Dieselbe Autorin kommt in einem weiteren Izvestia-Artikel jedoch nicht umhin einzugestehen, dass über den künftig mächtigsten Mann im Staate kaum etwas bekannt ist:

    [bilingbox]Die Mehrheit der Bürger Russlands weiß in Wirklichkeit nichts über ihn, und – was das Interessante ist – das ist für sie auch gar nicht notwendig. Dem Volk reicht es, dass er „hart, ehrlich und prinzipienfest“ ist.

    Also: Der amtierende Präsident Russlands ist 47 Jahre alt, ist Leningrader, Geheimdienstler, Tschekist. Putins ehemalige Kollegen vom Geheimdienst hatten im Herbst gesagt: „Ihr werdet ihn noch kennenlernen – dieser harte, zynische und ehrgeizige Mensch wird sich schon noch zeigen“. […]

    Eine Diskussion, ob es nun gut oder schlecht ist, fünf vor Mitternacht einen Präsidenten mit diesen Eigenschaften zu bekommen, ist sinnlos. Das Volk bekommt die Herrscher, die es verdient. Jetzt braucht es einen solchen. Und ein solcher wird er auch sein.~~~Большинство российских граждан действительно не знает о нем ничего, и, что любопытно, им это и не надо. Для народа достаточно того, что он „жесткий, честный и принципиальный“.

    Итак, исполняющему обязанности президента России 47 лет, он ленинградец, разведчик, чекист. Бывшие коллеги Путина по спецслужбам осенью говорили: „Вы его еще узнаете – этот жесткий, циничный и честолюбивый человек еще себя покажет“. (…)

    Плохо или хорошо получить без пяти минут президента с такими качествами – обсуждать бессмысленно. Народ получает тех правителей, которых он заслуживает. Сейчас нужен такой. Такой ему и будет.[/bilingbox]

    erschienen am 05.01.2000

    Sowetskaja Rossija: Um eine Wahl betrogen

    In Sowetskaja Rossija, Organ der kommunistischen Opposition, beklagt Wassili Safrontschuk die Art und Weise der Machtübergabe und mutmaßt, warum Jelzin gerade Putin als Nachfolger auserkoren hat:

    [bilingbox]Formal wurde die Machtübergabe gemäß Recht und Verfassung gestaltet. Doch wo, in welchem demokratischen Land hat man erlebt, dass die Macht vom amtierenden Präsidenten an ein neues Staatsoberhaupt nicht durch den Willen des Volkes übergeben wird, sondern durch die Entscheidung des Präsidenten?! Es heißt, das sei im Einklang mit der Verfassung Russlands. Dabei demonstriert es ein weiteres Mal den undemokratischen, gegen das Volk gerichteten Charakter der Jelzinschen Verfassung. […]

    Wie ist diese plötzliche Entscheidung zu erklären? Einige Beobachter nehmen an, dass Jelzin in den letzten Jahren auf Drängen des Westens und russischer Oligarchen fieberhaft nach einem Nachfolger für sich gesucht hat, der einerseits die Beibehaltung des gegenwärtigen kriminellen pseudomarktwirtschaftlichen Regimes gewährleisten und andererseits Jelzin und seiner Familie Immunität garantieren würde. Einen solchen Nachfolger hat er schließlich in Putin gefunden.~~~Формально эта передача власти была обставлена по всем канонам законности и конституционности. Но где, в какой демократической стране видано, чтобы власть передавалась действующим президентом новому главе государства не волей народа, а решением президента?! Говорят, что это соответствует нормам российской конституции. Но это лишний раз демонстрирует недемократический,mантинародный характер ельцинской конституции. (…)

    Чем же объяснить это внезапное решение? Некоторые наблюдатели полагают, что в последние годы Ельцин по настоянию Запада и российских олигархов лихорадочно искал себе преемника, который, с одной стороны, обеспечивал бы сохранение нынешнего криминального псевдорыночного режима, а с другой стороны, дал бы гарантии неприкосновенности Ельцину и его семье. Такого преемника он в конце концов нашел в лице Путина.[/bilingbox]

    erschienen am 05.01.2000

    Novaya Gazeta: Unser neuer russischer Pinochet

    Journalistin Yevgenia Albats wirft Jelzin in der Novaya Gazeta vor, seinen Platz in den Geschichtsbüchern über demokratische Prinzipien gestellt zu haben. Und erinnert die Leser daran, dem neuen Präsidenten genau auf die Finger zu schauen:

    [bilingbox]Jelzin will in die Geschichte eingehen als erster russischer Souverän […], der selbst, aus eigenem Willen heraus, die Macht abgab. […] Er selbst, er hat das beschlossen und das Zepter übergeben. Das ist eine Tat. Das verdient Respekt.

    Hätte Jelzin allerdings nicht an sich und seinen Platz in der Geschichte gedacht, sondern an das Land und daran, die demokratischen Traditionen hier zu festigen, dann hätte er bis [zur Wahl im – dek] Juni durchhalten müssen – mit Tabletten, Spritzen, Geräten, ganz egal, wie –, damit die Macht auf dem Wege direkter Wahlen, bei denen es Alternativen gibt, an einen Nachfolger übergeht. Jelzin hat jedoch keinen demokratischen, sondern einen monarchischen Präzedenzfall geschaffen. Er hat Kraft seines monarchischen Willens, der allein dem Allmächtigen verantwortlich ist, die Macht an seinen Nachfolger übergeben. Es liegt auf der Hand, dass die [vorgezogenen – dek] Wahlen im März von rein ritueller Bedeutung sein werden. […]

    Was für ein Präsident Wladimir Putin auch werden mag, eines ist klar, nämlich dass im März – und im Grunde schon jetzt – die Regeln des innen- und außenpolitischen Spiels Russlands für die kommenden vier, wenn nicht sogar acht Jahre, geändert werden.

    Für uns ist die Situation etwas komplizierter. Wir müssen erst noch rauskriegen, ob unser neuer russischer Pinochet ein guter oder ein böser sein wird. Das wird übrigens auch von uns abhängen. Er wird die Art Präsident sein, die wir zulassen.~~~Ельцин хочет остаться в истории первым российским сувереном (…) который сам, своей волей передал власть. (…)

    Сам, сам решил и отдал скипетр. Это – поступок. Это заслуживает уважения. Хотя если бы Ельцин думал не о себе и своем месте в истории, а о стране и укреплении в оной демократических традиций, он обязан был бы дотянуть – на таблетках, на уколах, на аппаратах, как угодно – до июня, чтобы власть перешла к преемнику путем прямых и альтернативных выборов. Ельцин же создал не демократический – монархический прецедент: он монаршей волей, подотчетной лишь всевышнему, передал власть преемнику. Очевидно, что выборы в марте будут иметь чисто ритуальное значение. (…)

    Каким бы президентом ни оказался Владимир Путин, очевидно, что в марте – а по сути дела уже сейчас – будут переделаны правила российской внутренней и внешнеполитической игры на ближайшие четыре, если не все восемь, лет. Несколько сложнее ситуация с нами. Нам еще только предстоит узнать, будет ли наш российский Пиночет злым или будет он добрым. Впрочем, это зависит и от нас. Каким мы позволим ему быть, таким он и будет.[/bilingbox]

    erschienen am 10.01.2000

    Prawda: Wieder ein Oberst an der Staatsspitze

    In der Prawda, der Parteizeitung der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, fühlt sich Journalist Jewgeni Spechow an einen anderen Amtsantritt erinnert:

    [bilingbox]An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte Oberst Nikolaj Romanow, bekannt als Zar Nikolaus II., das Amt des Herrschers Russlands angetreten. An der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert wurde der Oberst Wladimir Putin zum Interimspräsidenten Russlands ernannt. Ein Treppenwitz der Geschichte? ~~~На исходе XIX и в начале XX века на пост правителя России заступил полковник Николай Романов, известный как Николай II. В конце XX и на пороге XXI века исполняющим обязанности президента назначен полковник Владимир Путин. Гримаса истории?[/bilingbox]

    erschienen am 06.01.2000

    Übersetzung: Hartmut Schröder
    Zusammenstellung und begleitende Texte: dekoder-Redaktion

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  • Tiergarten-Mord: Nachgeschobene Rechtfertigung

    Tiergarten-Mord: Nachgeschobene Rechtfertigung

    Der Mord an dem 40-jährigen Georgier Zelimkhan Khangoshvili in Berlin hat eine diplomatische Krise zwischen Russland und Deutschland ausgelöst. Der mutmaßliche Täter war schnell gefasst, die Bundesanwaltschaft sieht „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ dafür, dass „staatliche Stellen“ in Russland den Mord in Auftrag gegeben haben. Sollte sich dieser Verdacht erhärten, würde der Kreml des Staatsterrorismus beschuldigt – was weitere diplomatische Verwerfungen nach sich ziehen würde.

    Diese aber gibt es schon jetzt zuhauf: Da Moskau bei der Aufklärung des Mordes nicht kooperiere, hat sich Berlin entschieden, zwei Agenten des Militärgeheimdienstes GRU auszuweisen, die als Diplomaten akkreditiert waren. Der Kreml reagierte traditionsgemäß „symmetrisch“, indem er zwei deutsche Diplomaten des Landes verwies. 

    Auf der Pressekonferenz des Normandie-Gipfels in Paris am 9. Dezember 2019 sagte Putin noch, Russland habe mehrmals ohne Erfolg die Auslieferung von Khangoshvili beantragt. „Wir sind nicht angefragt worden, jemanden auszuliefern […] Das kommt jetzt alles im Nachhinein, das hört sich ein bisschen nach Rechtfertigung an“, dementierte der deutsche Außenminister Heiko Maas einige Tage später. (UPDATE: Auf der Jahrespressekonferenz am 19.12.2019 räumte Putin ein, dass über eine Auslieferung nicht auf offizieller, nur auf Geheimdienstebene gesprochen wurde.)

    Wer war eigentlich Zelimkhan Khangoshvili? Was wirft der Kreml ihm vor? Und warum nimmt Moskau trotz weitgehender internationaler Isolation erneut solch gravierende Verwerfungen in Kauf? Oleg Kaschin kommentiert auf Republic

    Mit dem am 23. August in Berlin ermordeten georgischen Tschetschenen Zelimkhan Khangoshvili geschehen die sonderbarsten Dinge, und zwar nach dessen Tod. So etwas passiert wohl zum ersten Mal überhaupt: Erst wird jemand ermordet und danach denkt man sich aus, warum. Ganz allgemein ist die Rede von einem „tschetschenischen Warlord“, aber das kann alles Mögliche bedeuten. 1979 geboren, war er 15 Jahre alt, als der erste Einmarsch begann, und 20 Jahre zu Beginn des zweiten. In beiden Fällen war das zwar ein durchaus wehrfähiges Alter (es geht schließlich um den Kaukasus), trotzdem wird der junge Mann wohl kaum ein außerordentlicher Schlächter gewesen sein. Wenn, dann hätte sicher irgendjemand schon von ihm gehört.

    Wer war Zelimkhan Khangoshvili?

    Er lebte im Pankissi-Tal – und ja, das war in dieser Zeit ein übler Ort. Damals war es sehr wahrscheinlich, dass ein junger, dort lebender Tschetschene (in dem Tal liegen tschetschenische Dörfer) einer gewissen Logik folgend auf der Seite der tschetschenischen Rebellen kämpft. Doch hat damals ganz Tschetschenien gekämpft. 

    Schon unter Saakaschwili wurde über Khangoshvili in der georgischen Presse geschrieben, dass er für die georgischen Geheimdienste arbeite, ihnen dabei helfe, einen Einmarsch Russlands ins Pankissi-Tal zu verhindern. Dann, nach dem Krieg, haben georgische Sicherheitskräfte vor sieben Jahren im Pankissi-Tal irgendeine tschetschenische Bande entwaffnet – und unter deren Unterhändlern soll wohl auch Khangoshvili gewesen sein. Das ist bestimmt nichts Gutes, aber nicht Horror Horror Horror, wie man es uns heute erzählen will.

    Wer erzählt, und was wird erzählt?

    Wer erzählt, und was wird erzählt? Hauptquelle ist die Polizei in Inguschetien, das berüchtigte inguschische Zentrum E, also eine Behörde, in die kein deutscher Journalist hineingelangt, der noch ein paar Nachfragen hat, und wo ein Moskauer Journalist nicht mal per Telefon durchkommt. (Erst kürzlich wurde der oberste Extremismusbekämpfer dort zu Grabe getragen, der wahrscheinlich einer Blutrache zum Opfer fiel – so viel zu Sitten, Recht und so weiter)

    Nun erinnern sich die inguschischen Extremismusbekämpfer nach dem Mord an Khangoshvili daran („erinnern“!), dass sie ihn seit 2008 suchen. Ganz schön lange, aber das nur, weil sie sorgsam Ermittlungsinformationen über seinen möglichen Aufenthaltsort durchgearbeitet haben. Warum er gesucht wurde? Weil er 2004 an dem Überfall von Bassajews Einheiten auf Nasran beteiligt gewesen sei.

    Jetzt in Paris hat Putin auf die Frage eines deutschen Journalisten eine Zahl genannt: 98 Tote. Was ist das für eine Ziffer? Eben die vom Überfall auf Nasran. Das war der größte und gewiss verwegenste Überfall Bassajews in der Nachkriegszeit (die aktive Phase der Kampfhandlungen war damals schon vorüber). Selbst wenn die (durch nichts bestätigten) Information über eine Beteiligung Khangoshvilis an diesem Überfall zuträfe, so wäre es doch vermessen, die Verantwortung für die 98 Toten ihm persönlich zuzuschreiben – vielleicht saß er am Steuer eines LKW oder kaufte auf dem Markt Essen für Bassajew.

    Dann sprach Putin von den Explosionen in der Moskauer U-Bahn, ohne genauer zu sagen, von welchen (entweder von 2004 zwischen den Stationen Awtosawodskaja und Pawelezkaja, oder denen von 2010 in den Stationen Lubjanka und Park Kultury). Und es wäre peinlich, daran zu erinnern, dass die russischen Behörden in beiden Fällen öffentlich verkündet haben, die Organisatoren der Terroranschläge seien ermittelt worden. Weder 2004 noch 2010 war von einem Khangoshvili die Rede. 

    Moskau hat die deutschen Behörden doch sicher um Auslieferung gebeten?

    Aber gut, einmal angenommen, alles war genauso, wie es Putin und die inguschischen Extremismusbekämpfer sagen, und wir glauben, dass Khangoshvili ein blutrünstiger Terrorist war, der lange gesucht wurde. Daran kann man tatsächlich nur glauben (Beweise liegen ja nicht vor), und die stärkste Probe für diesen Glauben, das sind Anfragen. Wenn ein Terrorist in Deutschland lebt und Russland an ihn herankommen möchte, dann hat Moskau die deutschen Behörden doch sicher um eine Auslieferung gebeten?

    Die deutsche Regierung aber sagt: Nein, es gab keine Anfragen. Der deutsche Peskow, Regierungssprecher Steffen Seibert, erklärt offiziell, dass es keinen Antrag gegeben habe. Russlands Peskow sagt, es habe einen gegeben, nimmt dann Worte in den Mund, die selbst für ihn untypisch sind, und spricht von „außerordentlich blutigen Terroranschlägen und Massenmorden“, wobei er nichts belegt. 

    Welchem Peskow glaubt man da eher, unserem oder dem deutschen? 

    Wer ist Wadim Sokolow?

    Der Killer – das ist eine Frage für sich. Die Deutschen haben ihn gefasst, er hat einen russischen Pass auf den Namen Wadim Sokolow, und der Insider bezeichnet ihn als Wadim Krassikow, einen 2014 untergetauchten mehrfachen Mörder, der früher in einer Spezialeinheit des FSB gedient hat. Wird er reden, und was wird er aussagen – das ist die bisher spannendste Frage. 
    Die russische Seite, unter anderem Putin persönlich, leugnet eine Verwicklung des russischen Staates in die Ermordung Khangoshvilis. Doch auf eine Stelle aus dem Buch des Genres „Das waren wir nicht!“ kommen zehn aus einem anderen Genre: „Das war ein derart übler Schurke, dass es schon lange an der Zeit war, ihn zu töten.“ 
    Das ist das gleiche Verhältnis wie im Fall Skripal, und es ist klar, wie das in den Ohren der Deutschen klingt – wohl kaum anders als letztes Jahr in den Ohren der Engländer. Sanktionen, zerrüttete Beziehungen, neue spannende Details, das alles wird es zweifellos geben. Und mit der gegenseitigen Ausweisung von Diplomaten wird die Sache nicht beendet sein. Für Russland, das sowieso mit allen im Streit liegt, stehen die Dinge offensichtlich nicht allzu gut. Doch war es das wohl wert.

    Warum? Wer hat das entschieden?

    Die wichtigste Frage ist aber: Warum? Der Insider nimmt an, der Grund für alles sei darin zu suchen, dass Khangoshvili 2008 die georgische Armee beraten hat, und dass auf Leute, die den Georgiern während des Fünftage-Krieges irgendwie geholfen haben, Jagd gemacht wird. So schrieb etwa die New York Times über einen russischen Killer im ukrainischen Riwne: Dieser hat einen Angehörigen der ukrainischen Sicherheitskräfte ermordet, der ebenfalls 2008 in Georgien tätig gewesen war. Bei dem Killer hat man eine Liste von sechs Ukrainern gefunden, die in Georgien gekämpft hatten. 

    Wer weiß – vielleicht führen die russischen Geheimdienste tatsächlich jenen Krieg zu Ende, irgendwie ist die Sache ja heilig. Aber dafür die Beziehungen zu Deutschland aufs Spiel setzen? Wer hat das entschieden, wer hat die Risiken gegeneinander abgewogen, wer hat die Szenarien vorausgesehen, wie sich die Dinge weiterentwickeln? Entweder niemand, oder es gibt einen zehn Jahre alten Befehl, der lautet „Alle umbringen“, und alle führen ihn aus, ohne darüber nachzudenken, in welchem Maße sie jetzt damit ihrem Staate schaden. Jetzt habt ihr euren Khangoshvili endlich, und was bringt’s?

    Jetzt habt ihr euren Khangoshvili endlich, und was bringt’s?

    Die schlimmste (und wahrscheinlichste) Antwort wäre: Nichts. Einfach, weil sie es wollten; sie liquidierten ihn, weil sie sich das leisten können. Das Problem ist nur, dass längst auch so schon niemand mehr daran zweifelt, dass sie das können. Und doch versuchen sie immer weiter, es zu beweisen, als ob es ihr Ziel wäre, in der ganzen Welt dieses unstrittige Bild vom Übeltäter Russland zu erzeugen. Damit ja niemand darauf kommt, mit Russland Beziehungen zu knüpfen. Damit von außen ein Eiserner Vorhang fällt und eine Isolation entsteht, die sie selbst hervorrufen.

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    Abhängig – die Öl-Krankheit

    Russland ist der zweitgrößte Erdölexporteur der Welt, dennoch lebt ein großer Teil der Gesellschaft in Armut. Obwohl der Ölpreis seit 2016 relativ hoch ist, sinkt im Land das Realeinkommen. Wie geht das zusammen?

    Was auf den ersten Blick unlogisch klingt, ist fast überall zu beobachten: Venezuela, Irak, Nigeria – die Liste der Länder mit reichen Ressourcen und armen Menschen ist lang. Für all diese Länder sind Rohstoffe kein Segen, sondern ein Fluch – ein Ressourcenfluch. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist die holländische Krankheit: In den 1960er Jahren wurden in den Niederlanden große Erdgasvorkommen entdeckt. Durch die gestiegenen Exporterlöse ist auch die Landeswährung gestiegen, was die Exporte verteuerte und damit auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit anderer Wirtschaftssektoren schwächte.

    In Russland läuft es jedoch anders: Schon 2018 dümpelte der Rubelkurs dahin, während der Ölpreis relativ hoch war – ein Phänomen, das der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew analysierte. 

    Woran krankt die russische Wirtschaft? Eine vieldiskutierte Diagnose stellt der russische Historiker Alexander Etkind. In seinem kürzlich erschienen Buch Priroda sla: Syrje i gossudarstwo (dt. Die Natur des Bösen: Rohstoffe und Staat) seziert der Geschichtsprofessor das Wirtschaftssystem Russlands und umreißt dabei ein neues Krankheitsbild: die russische Krankheit. Kommersant-Ogonjok bringt Auszüge aus dem Buch.

    Rohstoffabhängigkeit – das ist ein gut untersuchtes Phänomen in der Politikwissenschaft. Der wichtigste Schluss, den man aus der reichhaltigen Literatur zum Ressourcenfluch ziehen kann, ist der, dass an dieser Abhängigkeit nichts Fatales ist. Ist man sich erstmal darüber im Klaren, welche Gefahren sie birgt, so kann man diese mit ernsten, konzentrierten Anstrengungen überwinden. Rohstoffabhängigkeit ist eben kein Fluch, sondern eine freie Entscheidung. Je höher die Ölpreise und je weniger produktiv die übrige Volkswirtschaft, umso verführerischer ist die Falle.

    Rohstoffabhängigkeit ist eben kein Fluch, sondern eine freie Entscheidung

    Der Wirtschaftswissenschaftler und Politologe Michael Ross hat vier Besonderheiten von Einnahmen aus dem Ölgeschäft aufgeführt: Sie sind riesig (die Regierungsapparate in Ölstaaten sind um die Hälfte größer als die ihrer Nachbarn, die über keine Ölvorkommen verfügen); ein großer Teil des Haushalts hängt nicht von den Steuerleistungen der Bürger, sondern von direkten Einnahmen aus Staatsbesitz ab; diese Einnahmen wiederum sind instabil, weil sie vom Ölpreis auf den Weltmärkten und den natürlichen Bedingungen abhängen; und schließlich sind die Einnahmen intransparent und geheim. So kann sich die Elite optimal an Öleinnahmen bereichern. Aufgrund des geringen Arbeitsaufkommens sind Ölstaaten unabhängig von der Bevölkerung: Die wird nicht wirklich gebraucht, solange sie nur bitte keine Unruhe stiftet.

    Daher ist für solche Staaten eine Art Stände-Struktur kennzeichnend – die strikte Trennung zwischen einer unabsetzbaren, im Luxus lebenden, wohlbewachten Elite einerseits, und der Bevölkerung andererseits, die erst vor kurzem der Naturalwirtschaft entwachsen ist. 

    Die Elite rechtfertigt ihre Existenz stets mit ihren Managerfähigkeiten und ihrer Sorge für die Menschen. Und tatsächlich kann die Elite einen Teil der Mehreinnahmen an die Bevölkerung umverteilen. Da die Empfänger dieser Wohltaten aber keine Möglichkeit haben, auf die Mehreinnahmen einzuwirken, bleiben diese Ausgaben oft unproduktiv. Das politökonomische Prinzip der Demokratie – „no taxation without representation“ – funktioniert in Ölstaaten nicht, weil diese eben nicht von Steuern abhängig sind. Allein das Öl vermag es, Finanzströme zu generieren, die den Steuereinnahmen ganzer Staaten entsprechen. Frühere Formen der Ressourcenabhängigkeit – etwa von Zucker oder Wolle – waren partieller Natur: Die Elite versklavte zwar einen Teil der Bevölkerung, doch der andere Teil blieb frei. Öl versetzt fast alle in Abhängigkeit. Es führt nicht zu totaler Sklaverei, bringt aber auch keine echte Freiheit.

    Öl versetzt fast alle in Abhängigkeit. Es führt nicht zu totaler Sklaverei, bringt aber auch keine echte Freiheit

    Nach UNO-Angaben ist die Ausbeutung von Bodenschätzen weltweit – neben der Rüstungsindustrie – derjenige Wirtschaftssektor mit der stärksten Gender-Ungleichheit. Zu dem einen Prozent der Bevölkerung, das in der Öl- und Gasindustrie beschäftigt ist, muss man weitere rund fünf Prozent hinzurechnen, die die Pipelines, Geldströme und Oligarchen bewachen. All diese Soldaten, Offiziere und Wachleute sind ebenfalls Männer. Die politökonomischen und die genderpsychologischen Merkmale dieses Menschentyps lassen sich mit dem Begriff „Öl-Macho“ zusammenfassen. 
    Dann ist da noch die große Gruppe der Juristen (in Russland sind das ein Prozent der Bevölkerung, vier Mal so viel wie in Deutschland), die damit beschäftigt ist, Konflikte zu klären. Ihre Hauptaufgabe ist nicht Kapital zu generieren, sondern zu schützen, die Banken und Pipelines zu bewachen, die Grenzen gegen Feinde zu verteidigen und die Elite vor der Bevölkerung zu schützen. 

    Insgesamt entstehen so zwei Klassen von Bürgern: Eine privilegierte Minderheit, die die kostbare Ressource fördert, schützt und mit ihr handelt – und alle anderen, deren Existenz von der Umverteilung der Rente aus diesem Handel abhängt. Diese Situation schafft starre, fast schon ständische Strukturen. 

    Starre, fast schon ständische Strukturen

    So wie der Schutz vor Piraten eine Schlüsselaufgabe zu Zeiten des Tabak- und Zuckerhandels war, nimmt auch in der ölabhängigen Volkswirtschaft das Sicherheitspersonal eine herausgehobene Stellung ein. Der kritische Punkt ist nicht die Förderung, sondern der Transport, besonders dessen Sicherheit. Daher stehen an der Spitze ölfördernder Länder nur selten Ölindustrielle – sondern eher Militärs oder Geheimdienstler, also Fachleute für Sicherheitsfragen.

    Im idealtypischen Fall verwandelt sich das Land in einen Öl- und Gaskonzern, der externen Verbrauchern direkt die Rohstoffe liefert und für die Sicherheit der Förderung, des Transports und des Exports sorgt. [In Russland – dek] gelingt das aber nicht. Hier leben viele, die eine solche Konstruktion stören. Zwei Drittel des in Russland geförderten Gases und ein Viertel des Erdöls werden im Lande selbst gebraucht. Die Regierung sucht nach Wegen, diesen Verbrauch zu senken. 

    Aus der Sicht eines Staates, der vom Ölexport lebt, ist die Bevölkerung überflüssig. Das heißt nicht, dass die Menschen leiden und sterben müssen. Der Staat kümmert sich um sie, aber nur soweit, wie es dem Staat genehm ist. Statt selbst zur Quelle des Volksvermögens zu werden, verwandelt sich die Bevölkerung in ein empfangendes Objekt der Wohltätigkeit, die von Seiten des Staates gewährt wird.

    Statt selbst zur Quelle des Volksvermögens zu werden, verwandelt sich die Bevölkerung in ein empfangendes Objekt der Wohltätigkeit, die von Seiten des Staates gewährt wird

    Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat sich die Entwicklung weltweit beschleunigt – außer in den OPEC-Staaten, wo das jährliche Wirtschaftswachstum negativ war. Nach 1973 hat sich die Produktion der OPEC-Staaten kaum verändert, während andere ölfördernde Staaten ihre Produktion vervierfachten. Die politischen Prozesse unterschieden sich zwar, doch zeugen die Zahlen von Kapitalflucht, zunehmender Ungleichheit, patriarchalen Strukturen und von Ineffizienz – also den typischen Merkmalen von Ölnationen.

    1977 beschrieb The Economist die holländische Krankheit, den wirtschaftlichen Rückgang, der in den Niederlanden erfolgte, nachdem in der Nordsee unweit von Groningen Gasvorkommen entdeckt worden waren. Selbst in diesem entwickelten Land hatte das Entstehen eines mehr als gewinnträchtigen Wirtschaftssektors dazu führen können, dass andere Branchen unterdrückt wurden. 

    Allein das Öl vermag es, Finanzströme zu generieren, die den Steuereinnahmen ganzer Staaten entsprechen / Foto © Acodered/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0
    Allein das Öl vermag es, Finanzströme zu generieren, die den Steuereinnahmen ganzer Staaten entsprechen / Foto © Acodered/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    Trotzdem haben die Niederlande, und nach ihnen Norwegen, Kanada und Australien die Probleme mit Rohstoffexporten überwunden. Man hatte gelernt, die holländische Krankheit dadurch zu heilen, dass die Öldollars in Staatsfonds flossen – grundlegend neue staatlich-gelenkte Institutionen.
    In Russland, im Iran, in Venezuela und Nigeria können wir einen Teufelskreis der Rohstoffabhängigkeit beobachten. Diese Staaten zerstören Humankapital, weil sie Rohstoffe fördern und dabei keine vernünftige Verwendung von Rohstoffeinnahmen auf die Beine stellen. Wenn sie sich dann mit mangelnder Kompetenz, schrumpfender Produktivität und kaputten Institutionen konfrontiert sehen, werden sie noch abhängiger von den natürlichen Ressourcen. Diese Gesellschaften kommen von einer Krise in die nächste und verschmutzen dabei die Umwelt. Folge dieser umgekehrten Entwicklung ist eine Entmodernisierung, der Verlust des bereits erreichten Bildungs- und Gleichheitsniveaus, die zunehmende Lähmung der Gesellschaft und die Willkür des Staates. 

    Ein Musterbeispiel hierfür ist Russland mit seinem Ressourcenreichtum, seinem ungesicherten Recht auf Eigentum, seinem politischen Autoritarismus und seinen Rekorden, was das Thema Ungleichheit angeht.

    Die holländische Krankheit ist eine Kombination aus Ressourcenabhängigkeit und guten oder wenigstens passablen Institutionen. Folglich können wir also die Kombination aus Rohstoffabhängigkeit und schlechten Institutionen als „russische Krankheit“ bezeichnen.

    Die Kombination aus Rohstoffabhängigkeit und schlechten Institutionen können wir als ,russische Krankheit‘ bezeichnen

    Russland hat in den vergangenen 18 Jahren aufgrund des Öl- und Gasexports im Schnitt zehn Prozent mehr exportiert als importiert. Das ergibt in der Summe weitaus mehr als die 200 Prozent kumulativen Wirtschaftswachstums. Allerdings sind die dabei berücksichtigten Vermögensposten, staatliche wie private, sehr viel langsamer gewachsen. Grund hierfür war die Kapitalflucht

    Das Offshore-Vermögen in russischen Händen beläuft sich auf 800 Milliarden US-Dollar oder 75 Prozent des jährlichen Nationaleinkommens. Das Vermögen im Ausland ist genauso groß wie sämtliche Vermögen innerhalb Russlands. Mit anderen Worten: Die aktiven Wirtschaftseinheiten (einschließlich Regierung, Unternehmen und Bürger) haben ihr Kapital zur einen Hälfte im Ausland und zur anderen Hälfte in Russland. Diese Kapitalausfuhr wird durch den Charakter der russischen Einnahmen begünstigt: Von allen Bereichen der Weltwirtschaft ist der Ölsektor weltweit der intransparenteste. Einmal ausgeführt, nimmt dieses Kapital – eine umgewandelte Energieform – an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Qualitäten an: in der Schweiz die eines Bankkontos, in Frankreich die eines Chalets, in Deutschland die eines Unternehmens, in den USA die von Aktien. 

    Juristisch blieben diese Vermögenswerte zwar umstritten, doch Streitereien waren jeweils schnell beendet, da das in jeder Hinsicht beträchtliche Kapital auch der Empfängerseite nützt: Eine Schweizer Bank erhält Gebühren, Londoner Immobilien steigen im Wert und neue Unternehmen bringen den Ländern, in denen sie ihren Sitz haben, Steuereinnahmen. 
     
    Betrachten wir also einmal eine typische Situation in den internationalen Beziehungen, nämlich den Handel zwischen zwei Staaten: einem ressourcenabhängigen und einem, der auf Arbeitskraft setzt. Das ist ein Spiel zu zweit, bei dem der eine kostbare Ressourcen verkauft, der andere sie einkauft und sie dann in ein Produkt der Arbeitsleistung seiner Bevölkerung umwandelt. Die klassische Politökonomie mit ihrer Arbeitswerttheorie bezieht sich nur auf eine der beteiligten Seiten, nämlich den Staat, der auf Arbeitskraft setzt, und beschreibt nicht die Probleme des ressourcenabhängigen Staates. 

    Die Politökonomie lehrt, dass ein Staat, der auf Arbeitskraft setzt, aus Sorge um seine Effizienz die innere Konkurrenz, Eigentumsrechte und das öffentliche Wohl stärkt sowie technischen Fortschritt und soziale Mobilität gewährleistet. Das alles bleibt in einem ressourcenabhängigen Staat aus, weil die Herrschenden es für ihr staatliches Gewerbe nicht benötigen. In einem solchen Land existieren das Öl und die Ölindustrie und die (bei der Förderung überflüssige) Bevölkerung jeweils für sich. Das alles ist hinlänglich als Ressourcenfluch bekannt: Die Institutionen entwickeln sich nicht, die Natur degeneriert, die Bevölkerung verkümmert. Das ist aber noch nicht alles.

    Die Institutionen entwickeln sich nicht, die Natur degeneriert, die Bevölkerung verkümmert. Das ist aber noch nicht alles

    Da die Herrscher des Ressourcenstaates die Eigentumsrechte in ihrem Land nicht sicherstellen, sind sie auch nicht in der Lage, sich auf ihr eigenes Kapital zu verlassen, dieses im Land zu halten und es an ihre Kinder weiterzugeben. Die Herrschenden leiden gemeinsam mit ihren Untertanen unter dem Mangel an öffentlichen Gütern – wie etwa fairen Gerichten oder sauberer Luft.

    So erfolgt der nächste Schritt: Die Elite des ressourcenabhängigen Staates hortet ihre Guthaben in Staaten, die auf Arbeitskraft setzen. Selbst wenn diese Gelder dort nach unten durchsickern und den Armen und Kranken zugutekommen, so geschieht das nicht am Ort ihrer Herkunft, sondern an ihrem Aufenthaltsort. Das ist auch der Ort, wo die Elite ihre Konflikte löst, ihre Häuser kauft und wo ihre Familien leben. Auf paradoxe, wenn auch nachvollziehbare Weise investiert diese Elite in genau jene Institutionen, die sie bei sich zu Hause ignoriert oder sogar zerstört: in faire Gerichte, gute Universitäten und saubere Parks.

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  • Politische Trends in Belarus

    Politische Trends in Belarus

    „Administratives Ritual“ nennt Artjom Schraibman die am vergangenen Sonntag in Belarus abgehaltene Parlamentswahl: 110 Abgeordnete ziehen in das Repräsentantenhaus ein, keiner davon gehört der Opposition an. Das sei wenig überraschend, meint Shraibman, und doch habe die Wahl einige bemerkenswerte politische Tendenzen offenbart, die auch für Russland von Bedeutung sind, kommentiert der Minsker Politologe und Kolumnist auf Carnegie.ru.

    Die belarussischen Parlamentswahlen sind nach dem traditionellen, rundum kontrollierten Szenario verlaufen. Bei den letzten Wahlen hatte das Regime zwei Oppositionelle ins Parlament einziehen lassen. Dieses Experiment wurde jetzt beendet. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 war der Führung des Landes ihr seelisches Wohlbefinden wohl wichtiger als Zugeständnisse an den Westen, bei denen unklar bleibt, welche Gegenleistungen man dafür erhält.

    Aber selbst ein derart administratives Ritual wie Wahlen in Belarus vermag gewisse politische Trends zu offenbaren. Zu den innersystemischen Tendenzen gehört, dass sich der Anteil parteigebundener Abgeordneter erhöht hat und einige hochrangige und prominente Funktionäre des Staates ins Parlament geschickt wurden.

    Wenigstens ein bisschen politisches Gewicht

    Es sieht ganz danach aus, als würden Lukaschenko und seine Administration versuchen, dem Parlament mit Hilfe dieser gewichtigen, aber noch nicht alten Funktionäre wenigstens ein bisschen politisches Gewicht innerhalb des Systems zu verleihen. Es passt in die Logik der von Lukaschenko angekündigten Verfassungsreform: In den kommenden vier bis fünf Jahren sollen die Vollmachten des Präsidenten in Richtung Parlament und Regierung verschoben werden.

    Gleichzeitig ist die Zahl der Abgeordneten gestiegen, die regimefreundlichen Parteien angehören. Das belarussische Parlament wird zwar nach dem Mehrheitssystem gewählt, doch wird bereits seit einigen Jahren der Übergang zu einem gemischten System diskutiert, bei dem ein Teil der Abgeordneten über Parteilisten gewählt wird.

    Eine solche Wahlreform soll wohl ebenfalls Teil der erneuerten Verfassung werden. Wenn das Land zukünftig auch über das Parlament regiert werden soll, ist eine eigene Partei der Macht vonnöten, samt Spoiler-Parteien und einer Systemopposition.

    Unzufriedene Kräfte verbreiten im Wahlkampf ihre Ideen

    Da der Wahlprozess in Belarus seit Langem schon nichts mehr mit einem Kampf um Mandate zu tun hat, werden die Parlamentswahlen nun von verschiedenen Gruppen Unzufriedener intensiv zur Verbreitung ihrer Ideen genutzt. So traten bei den Wahlen die Anführer der bekannten Umweltproteste gegen die Akkufabrik in Brest an, wie auch die der Initiative Mütter 328, deren Kinder wegen geringfügigen Drogenbesitzes zu sehr hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Fast alle sind entweder von den Behörden nicht als Kandidaten zugelassen worden oder haben ihre Registrierung wieder verloren, damit sich sozialer Protest nicht politisiert.

    Schließlich wäre da noch das wohl interessanteste Phänomen dieser Wahlen: der Auftritt zweier Kandidaten mit einer prorussischen und gleichzeitig regimekritischen Rhetorik. Deren Botschaft ist schlicht: In den Regionen herrschen Stagnation und Niedergang, das Regime erfüllt den Gesellschaftsvertrag nicht, den Beamten sind wir schnurzpiepegal, wir müssen Freunde Russlands sein, weil es das einzige Land ist, das uns hilft.

    Zwei Kandidaten mit prorussischer, regimekritischer Rhetorik

    Prorussische Kritik am Regime in Belarus galt immer schon als sehr gefährliches Terrain. Lukaschenko hat stets versucht, in dieser Hinsicht das Monopol zu behalten. Kritik an ihm war nur aus pronationalen oder proeuropäischen Positionen heraus erlaubt. Drei russophile Autoren, die bei der Agentur Regnum publizieren, haben für ihre Texte, in denen scharfe Töne gegenüber dem belarussischen Regime und dessen Identitäts-Politik angeschlagen werden, unlängst Strafverfahren und ein Jahr Untersuchungshaft bekommen.

    In dem Maße allerdings, wie sich die Differenzen zwischen Minsk und Moskau mehren, ergeben sich in der belarussischen Politik auch Spielräume für die prorussische Opposition. In den vergangenen Jahren ist bereits eine Reihe derartiger regionaler Internetportale und ziemlich populärer Telegram-Kanäle entstanden.

    Dieser Prozess befindet sich noch im Anfangsstadium. Es hat sich noch keine prorussische Bewegung gegen Lukaschenko formiert, und die Geheimdienste werden eine solche auch kaum zulassen. Doch ein Scheitern der Integrationsbemühungen von Moskau und Minsk dürfte diesen Aktivisten und Gruppen zusätzliche Möglichkeiten eröffnen, insbesondere, wenn es in Belarus dadurch zu einer Wirtschaftskrise kommt. Je mehr Akteure dieser Art es gibt, desto größer wird für Moskau die Versuchung sein, diese zu unterstützen, wenn sich das Verhältnis zu Lukaschenko verschlechtert.

    Dass die Opposition im neuen Parlament nicht vertreten ist, bedeutet keinen Rückgang des Tauwetters, weil das Tauwetter in Belarus nie Einfluss auf die Wahlen hatte. 2016 war der Dialog mit dem Westen stärker in Gang gekommen, und man hatte sich entschieden, diesem einen zusätzlichen Impuls zu verleihen, indem zwei Oppositionelle zu Abgeordneten wurden. Am Wahlprozess selbst wurde aber nichts geändert.

    Parlament ohne Opposition

    Dieses Mal war auch der Ablauf der Wahlen rigider als gewöhnlich: Die Wahlbeteiligung wurde durch vorzeitige Stimmabgabe erhöht, und Oppositionelle, die Mitglieder von Wahlkommissionen oder Kandidaten werden wollten, wurden noch stärker ausgesiebt. Es gab – wie früher – keinen vernünftigen Grund, die Opposition ins Parlament zu lassen.

    Das bedeutet erstens, dass das belarussische Außenministerium, das gewöhnlich als proeuropäische Lobby im System gilt, keinen ernstzunehmenden Einfluss auf Lukaschenko und seine Administration hat, wenn es um Wahlen geht.

    Das Maximum, was das Außenministerium heute tun kann, ist, die übrigen Staatsorgane für eine gewisse Zeit davon zu überzeugen, von ganz heftigen Repressionen abzusehen – damit es keine neuen politischen Häftlinge gibt oder damit Straßenproteste nicht brutal niedergeschlagen werden.

    EU und USA: Weder Engagement noch Reaktionen

    Zweitens sieht auch Lukaschenko in den Beziehungen zum Westen keine Aufgaben, die man über eine Oppositionsquote lösen könnte. Wie Lukaschenko kürzlich in Wien erklärte, sei es für die westlichen Unternehmen egal, ob das belarussische Parlament als legitim anerkannt werde oder nicht. Das Wichtigste seien Investitionsgarantien durch die Führung des Regimes und Stabilität im Land.

    Politisch hat die EU Belarus für den Fall, dass die Opposition im Parlament vertreten ist, keinerlei konkrete politische Gegenleistung in Aussicht gestellt. 

    Die Stimmung in Brüssel und Washington wird durch ein ausnahmslos loyales belarussisches Parlament natürlich nicht besser. Der Elan, sich in Richtung Belarus zu engagieren, dürfte sich künftig noch mehr in Grenzen halten als jetzt. Aber auch eine heftige Reaktion der EU oder der USA wird es wohl kaum geben. Schließlich hat der Westen die Sanktionen gegen Belarus nicht wegen der Wahlen verhängt, sondern wegen der erheblichen Repressionen während und nach den Wahlen [den Präsidentschaftswahl 2006 und 2010 – dek]. Solche Repressionen gibt es derzeit nicht.

    Gleichzeitig wird schon seit etlichen Jahren eine Isolation von Belarus mit der Befürchtung verknüpft, dass Minsk dadurch in den Einflussbereich Moskaus gedrängt werde. Das strategische Interesse, Belarus ungestört zwischen den Machtzentren lavieren zu lassen, ist seit spätestens 2015 größer als die Sorge um demokratische Ideale im Land.

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  • Pakt mit dem Teufel

    Pakt mit dem Teufel

    Am 23. August 1939 stieg der Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop ins Flugzeug nach Moskau, um dort einen folgenreichen Vertrag zu unterzeichnen. Im sogenannten Hitler-Stalin-Pakt einigten sich Deutschland und die Sowjetunion auf die Teilung Polens und Osteuropas, inklusive Finnlands. Außerdem unterschrieben Ribbentrop und Stalins Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Damit ebneten sie, so die eine Lesart, den Weg zum Zweiten Weltkrieg.

    Den Grundstein für eine andere Lesart legte Molotow schon im August 1939: „Der Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags bezeugt, dass sich die historische Voraussicht des Genossen Stalin glänzend erfüllt hat.“ Die Erzählung über die „historische Voraussicht“ beherrschte auch die Auslegung des Pakts in den Nachkriegsjahren: Stalin, so hieß es, habe damit den Kriegsbeginn hinausgezögert und so Menschenleben gerettet. 

    80 Jahre nach der Unterzeichnung des Pakts kommt die russische Politik zu demselben Schluss. Auch mit anderen Argumenten revidiert sie erstmals die seit der Perestroika geltende Verurteilung des Pakts, den auch Putin 2009 als amoralisch bezeichnete. 

    Will Moskau mit dieser geschichtspolitischen Offensive zeigen, dass es auch heute solche Instrumente der Außenpolitik einsetzen will? Was würde das für die völkerrechtlichen Beziehungen bedeuten? Und wer ist hier eigentlich der Adressat? Diese Fragen stellt der Politologe und Außenexperte Wladimir Frolow auf Republic.  

    Moskau hat den 80. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes mit einer mächtigen Informationskampagne begangen. Diese hat einerseits die Verteidigung des Vertrags zum Ziel, andererseits die Rechtfertigung der Motive und Ziele der stalinschen Sowjetunion: sowohl beim Abschluss des Paktes als auch bei der territorialen Aufteilung Osteuropas auf Grundlage des geheimen Zusatzprotokolls. An der Kampagne waren höchstrangige Persönlichkeiten beteiligt, die für Gestaltung des außenpolitischen Kurses Russlands verantwortlich sind.

    „Diplomatischer Triumph der UdSSR“

    Außenminister Sergej Lawrow erklärte, dass „die UdSSR genötigt gewesen“ sei, den Nichtangriffspakt mit Deutschland zu unterzeichnen, weil England und Frankreich nicht zu einem Militärbündnis mit Moskau bereit gewesen seien. Wladimir Medinski, Kulturminister und Vorsitzender der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft, bezeichnete den Pakt als einen „diplomatischen Triumph der UdSSR“.

    Den Schlussakkord der Kampagne bildete ein Post des Außenministeriums in den sozialen Netzwerken, in dem behauptet wurde, dass „durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag der Krieg an für die UdSSR strategisch günstigeren Grenzen begann und die Bevölkerung dieser Gebiete erst zwei Jahre später dem Naziterror ausgesetzt wurde. Dadurch wurden hunderttausende Menschenleben gerettet.“

    Vollständiger Wechsel des historischen Narrativs

    Die Dimension der Kampagne und der hohe Status der Beteiligten übersteigen den Rahmen der üblichen propagandistischen Reaktionen auf „diffamierende Ränke“ der westlichen Partner.

    Es geht um einen vollständigen Wechsel des historischen Narrativs. Diesem hatte seit dem 24. Dezember 1989 und dem Beschluss des Volksdeputiertenkongresses der UdSSR zum Hitler-Stalin-Pakt folgende Einschätzung zugrunde gelegen: dass es sich um einen verfehlten „Akt persönlicher Macht“ (Stalins) gehandelt habe und dass der Pakt in keiner Weise „den Willen des sowjetischen Volkes widerspiegelte, das keine Verantwortung für dieses Komplott trägt“.

    2009 hatte Premierminister Wladimir Putin diese Bewertung des sowjetischen Parlaments erneut bekräftigt, als er den Hitler-Stalin-Pakt als „amoralisch“ bezeichnete. Das Außenministerium der Russischen Föderation erklärte im selben Jahr, dass „der politische und moralische Schaden für die UdSSR durch den Abschluss eines Vertrages mit Nazi-Deutschland offensichtlich war“.

    Vision des Kreml von einer neuen Weltordnung

    Heute wird womöglich der Versuch unternommen, das Narrativ über den Beginn des Zweiten Weltkrieges unter Kontrolle zu bringen, womöglich aus bestimmten, weitreichenden, außenpolitischen Zielen heraus – etwa zur Stützung der Vision des Kreml von einer neuen Weltordnung und einem zukünftigen Sicherheitssystem in Europa. Welche Folgen kann diese intensive Apologetik haben, die etwas rechtfertigt, das vor 30 Jahren zurecht als amoralischer und nicht zielführender (was die Abwendung der Kriegsgefahr von der UdSSR betrifft) Akt persönlicher Macht erklärt worden war, der für die UdSSR „die Folgen der hinterhältigen nazistischen Aggression“ verschärfte?

    Für die aktuelle außenpolitische Agenda Russlands ist die Kampagne kontraproduktiv

    Die pathetische Apologetik des Hitler-Stalin-Paktes ist für die aktuelle außenpolitische Agenda Russlands kontraproduktiv. Moskau hat sich in den vergangenen Monaten einem Punkt genähert, an dem es in den Beziehungen zum Westen endlich „das Thema Ukraine und Krim abschließen“ könnte. Hoffnung sollte für Moskau in dem neuen Gaullismus von Emmanuel Macron bestehen. Der ruft dazu auf, Russland zurückzuholen und zusammen mit ihm eine „neue europäische Sicherheits- und Vertrauensarchitektur“ aufzubauen. Außerdem könnte die Hoffnung in dem geerdeten Pragmatismus von Donald Trump bestehen, der dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky väterlich rät, sein „Problem [mit Wladimir Putin] zu lösen“.

    Sensible Einstimmung statt propagandistischer Salven

    Ein solches Gespräch erfordert allerdings eine sorgsame Vorbereitung und eine Atmosphäre neuer Perspektiven. Hier ist eine sensible Einstimmung des medialen Hintergrunds vonnöten und nicht propagandistische Salven zu militärhistorischen Themen.

    In einer derart sensiblen Situation sollte man es zumindest unterlassen, Salz in die Wunden seiner Verhandlungspartner zu streuen, deren politische Position zu schwächen oder das Misstrauen in die eigenen Ziele und Absichten zu verstärken. Eine Propagierung des Hitler-Stalin-Pakts bedeutet, ein außenpolitisches Instrumentarium und ein Konzept von Völkerrecht gutzuheißen, die der heutigen UNO-Charta widersprechen. Die Charta war 1945 verabschiedet worden, damit „sich derartiges nicht wiederholt“.

    Wofür steht der Hitler-Stalin-Pakt? 

    Der Bruch bestehender bilateraler Vertragsverpflichtungen, die Unterminierung der Souveränität von Nachbarstaaten, Einmischung in deren innere Angelegenheiten, Diktate unter Androhung von Gewalt, militärische Aggression, Neuziehung von Grenzen, die Annektierung von Teilgebieten (Polen, Rumänien, Finnland) oder ganzer Staaten (Litauen, Lettland, Estland) – für das alles stehen der Hitler-Stalin-Pakt und das Vorgehen der UdSSR bei dessen Umsetzung.

    Bedeutet nun, 80 Jahre später, die Verherrlichung des Paktes, dass Moskau auch heute solche Instrumente der Außenpolitik gutheißt und rundum entschlossen ist, sie zukünftig einzusetzen, wenn es dies für nützlich und den Augenblick für geeignet hält? Schließlich waren 2014/15 bei den Ereignissen in der Ukraine ähnliche Instrumente zum Einsatz gekommen. Zudem enthielt das zur Begründung dienende propagandistische Narrativ sogar direkte Parallelen (siehe den „Minderstaat Polen“ und den „Staatsstreich in der Ukraine“), die die vertraglichen Verpflichtungen Moskaus wegwischen sollten. Und auch in den Minsker Abkommen sind die bekannten Züge einer „künftigen politischen Neugestaltung“ zu erkennen.

    Es wäre jetzt, so scheint es, angebracht zu zeigen, dass die „Exzesse“ von 1939 und 2014 einmaliger Natur waren und derartiges von Russland nicht mehr zu erwarten ist. Die Tweets des russischen Außenministeriums behaupten jedoch das Gegenteil. Das Propagandasignal löscht wesentliche Interessen, nullt sie aus. Bei einer normalen außenpolitischen Planung wäre eine solche Diskrepanz zwischen propagandistischem Diskurs und prioritärer Agenda unmöglich. Bei uns scheint das jedoch anders zu sein.

    Das Propagandasignal löscht wesentliche Interessen

    Lawrows Wortklauberei soll den Unwillen Moskaus maskieren, eines der zentralen Prinzipien des Völkerrechts anzuerkennen, nämlich die Gleichheit souveräner Staaten. Dieses Prinzip legt fest, dass alle Subjekte völkerrechtlicher Beziehungen – Großmächte wie Kleinstaaten – über gleiche Rechte verfügen und ihre Souveränität in keiner Weise durch dritte Staaten eingeschränkt werden kann. Moskau hingegen vertritt fast schon offiziell ein Konzept von „Einflusssphären“ und einer „multipolaren Welt“, demzufolge nur einige „Großmächte“ über volle und uneingeschränkte Souveränität verfügen und auf der Basis eines auszuhandelnden „Gleichgewichts der Interessen“ Entscheidungen treffen und jene Spielregeln festlegen, die dann für die kleineren Staaten in den jeweiligen Zonen „privilegierter Interessen“ verbindlich sind. Das wird dann als Beispiel für „Realismus in der Weltpolitik“ dargestellt.

    Der Pakt ist ein Beispiel für die „Schaffung einer pseudorechtlichen Realität“ und den Aufbau „einer Welt, die auf Regeln basiert“, die nur einem engen Kreis von Staaten nützen, nicht aber der Stärkung eines universalistischen Ansatzes dienen, bei dem objektiv geltende Rechtsnormen für alle Subjekte völkerrechtlicher Prozesse verbindlich sind.

    Moskau gegen die Stärkung eines universalistischen Ansatzes

    Moskau lehnt einen universalistischen Ansatz ab. Es behauptet, wenn die USA die Normen des Völkerrechts nicht immer befolgen und zuweilen mit dem Recht des Stärkeren vorgehen, dann habe Russland genau das gleiche Recht, die Regeln zugunsten seiner Interessen zu verletzen. Regeln und Recht sind für Moskau heute das Produkt von Laissez-faire der beteiligten Seiten und konkreter Abmachungen. Und Russland müsse, wenn es darum geht, diese Regeln auf Moskau und seine Verbündeten anzuwenden, über ein Vetorecht verfügen (im UN-Sicherheitsrat). Daher rühren zum Beispiel auch die Versuche, im Rahmen des Sekretariats der OPCW einen unabhängigen Mechanismus zur Untersuchung und Schuldfindung beim Einsatz von Chemiewaffen zu blockieren. Gleiches gilt für die Nichtanerkennung der Zuständigkeit des Internationalen Seegerichtshofes bei den Vorfällen in der Straße von Kertsch. Die Glorifizierung des Hitler-Stalin-Paktes deckt diese versteckte Agenda auf, die durch Lawrows Erklärungen maskiert wird.

    Schließlich wäre da noch die Frage des Zielpublikums. Wen wollen wir eigentlich davon überzeugen, dass der Hitler-Stalin-Pakt die Krönung der Kunst der Diplomatie ist? 

    Für eine Wirkung auf die westlichen Eliten ist die derzeitige Apologetik des Paktes vollkommen kontraproduktiv. In den europäischen Eliten ist niemand bereit, unserer Logik zur Rechtfertigung des Paktes zu folgen. Wem gilt also die Botschaft vom „diplomatischen Triumph“? Bleibt allein die russische Gesellschaft. Es wäre also ein Instrument, mit dem eine Delegitimierung des Stalin-Regimes verhindert werden soll. Warum aber muss das alles dann auf höchster diplomatischer Ebene präsentiert werden?

    Die wichtigste historische Lehre aus dem Abkommen lautet: Ein Pakt mit dem Teufel, mit dem absoluten Bösen lässt sich durch keinerlei rationale Argumente oder Verweise auf das amoralische Vorgehen anderer Mächte rechtfertigen. Bei einem langfristigen „Investitionshorizont“ bringt moralische Relativierung niemals Gewinn.

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  • Warum die USA den Zerfall der UdSSR nicht wollten

    Warum die USA den Zerfall der UdSSR nicht wollten

    Um den Zerfall der Sowjetunion ranken sich in Russland heute viele Mythen. Die Schuldfrage für das, was Wladimir Putin 2005 als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat, erhitzt in Russland immer noch viele Gemüter. 

    Für die einen war Gorbatschow der „Totengräber der Sowjetunion“. Für die anderen haben die USA den Sargnagel eingeschlagen: Während des Kalten Krieges hätten sie alles daran gesetzt, die Sowjetunion zu vernichten. 

    Steile These, meint Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin, die keiner Prüfung standhalte. In der Serie Mythen in Russland unter Putin in der Novaya Gazeta argumentiert er auch gegen diesen Mythos.

    Kurz vor Silvester 1991 ist Michail Gorbatschow zurückgetreten, und damit war der Schlusspunkt unter die Geschichte der UdSSR gesetzt. Viele sind der Ansicht, dass es Amerika war, das unser Land damals zugrunde richtete. Es sind zwar bis heute keine Belege aufgetaucht, dass die CIA oder das US-Außenministerium Gorbatschow und Jelzin bezahlt hätten, doch das stört die Anhänger dieser Verschwörungstheorie nicht. Der Untergang der Sowjetunion aufgrund der Konfrontation der Großmächte erscheint ihnen vollauf logisch. Schließlich weiß ja jeder, dass wir uns mit Washington im Kalten Krieg befanden. Dass der wichtigste und gefährlichste Gegner die USA waren. Dass die Amerikaner daran interessiert waren, den Gegner zu schwächen. Und wenn es darum geht, ihn zu schwächen, dann heißt das nach Möglichkeit auch: ihn zu zerstören. Wenn nun die UdSSR zerfallen ist, bedeutet das also: Die in Übersee gesponnenen Intrigen haben schließlich gefruchtet.

    Es sind bis heute keine Belege aufgetaucht, dass die CIA Gorbatschow und Jelzin bezahlt hätte, doch das stört die Anhänger dieser Verschwörungstheorie nicht

    Einen überzeugten Verschwörungstheoretiker kann man nicht umstimmen. Aber mit vernünftig denkenden Menschen kann man über die Logik solcher Gedankengänge sprechen, weil ja das Bestreben, den Gegner zu schwächen, in der Tat kein Mythos ist. Das Vorhaben jedoch, die UdSSR vollständig zu Grunde zu richten, ist Mythos par excellence. Ein Zusammenbruch der UdSSR war nicht das Bestreben der USA. Gorbatschow war der amerikanischen Führung sympathisch. Sie hätte es lieber gesehen, dass er unser Land weiter regiert anstatt dass da, wo einst die Sowjetunion war, eine große Anzahl selbständiger Staaten mit unberechenbaren Herrschern entsteht. Natürlich gab es in den USA unverbesserliche Hardliner, die unser Land derart hassten, dass sie bereit waren, selbst dann dagegen vorzugehen, wenn es zum Schaden ihres eigenen Landes ist. Diese Leute haben aber keine Entscheidungen auf staatlicher Ebene getroffen und keinen Einfluss auf die praktische Politik gehabt.

    Es hat womöglich einen Moment gegeben, an dem die USA tatsächlich einen Zerfall der UdSSR gewollt haben könnten, nämlich 1962, während der Kubakrise. Damals hatte Washington etliche Gründe anzunehmen, dass die Regierung in Moskau unberechenbar und die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges sehr groß ist. 

    Danach allerdings gestaltete sich die Lage besser und besser. Für sie wie auch für uns. Zuerst gelang es, die Kubakrise zu bewältigen. Die UdSSR stationierte keine Raketen auf Kuba. Danach beseitigte die Parteiführung der UdSSR Nikita Chruschtschow, der unglaublich impulsiv war und imstande, mit dem Schuh auf das Rednerpult der UNO zu schlagen und zu verkünden, dass wir Amerika erledigen. An der Spitze des Sowjetregimes stand nun Leonid Breshnew, der den Zweiten Weltkrieg durchlebt hatte und daher dem Frieden zugeneigt war. 1972 setzten ernsthafte Kontakte zwischen Washington und Moskau ein. 1975 haben wir die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet, in der die Unverletzlichkeit der Nachkriegsgrenzen in Europa anerkannt wurde. Es gab intensive Gespräche über Rüstungsbeschränkung für bestimmte Waffentypen. 

    Wir können also sagen: Wenn die Amerikaner Anfang der 1960er Jahre noch wirklich an die Möglichkeit eines Atomkrieges geglaubt und Luftschutzräume eingerichtet hatten, so war in den 1980er Jahren beiden Seiten  bewusst, dass es keinen globalen Krieg geben wird.

    In den 1980er Jahren war beiden Seiten  bewusst, dass es keinen globalen Krieg geben wird

    Die Führer der beiden Staaten beschimpften einander, und die Propagandisten verbreiteten ideologische Klischees, die einen Teil der Normalbürger beunruhigen sollten, die meisten ließen sich aber keine Angst mehr machen. 

    Und als Gorbatschow mit seinem Konzept des neuen Denkens kam und dann in ein Ende der sowjetischen Kontrolle über die Länder Mittel- und Osteuropas einwilligte, sank die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges nahezu gegen null. Es sei denn, jemand hätte versehentlich den Roten Knopf gedrückt.

    Eben jener Knopf führt uns vor Augen, dass die USA 1991 keineswegs einen Untergang der UdSSR wollten. Jeder noch so antiamerikanisch eingestellte Mensch wird nach einigem Nachdenken zugeben, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand versehentlich den Knopf drückt, größer wurde, nachdem der zugängliche und berechenbare Gorbatschow abgetreten war. Außerdem stieg die Wahrscheinlichkeit eines ungewollten Krieges gar nicht so sehr wegen der Führungswechsel, sondern aufgrund des Zerfalls des Staatsapparates, der mit dem Untergang der Sowjetunion einher ging. Es kamen in den unterschiedlichen Republiken unterschiedliche neue Leute an die Macht. Mitunter ganz zufällig. Und die Atomwaffen hätten schlicht außer Kontrolle geraten,  für Geld in die Hände von Terroristen oder Banditen gelangen können. Es gibt übrigens eine ganze Reihe amerikanischer Filme, die so anfangen, dass Privatleute in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen wollen, um die ganze Welt zu erpressen. Hier werden in der Kunst recht genau tatsächlich bestehende Ängste abgebildet.

    Die USA wollten allein wegen ihrer eigenen Sicherheit keinen Zerfall der UdSSR

    Die USA wollten also allein wegen ihrer eigenen Sicherheit keinen Zerfall der UdSSR. Und nachdem dieser dennoch eingetreten war, wollten sie ein starkes, verlässliches Russland, das die Atomwaffen aus den anderen postsowjetischen Staaten übernimmt. Die verbreitete Vorstellung, dass der Kalte Krieg unbedingt auf einen Zweikampf der Kontrahenten hinauslaufen müsse, und zwar bis zur Vernichtung des Gegners, hält keiner Prüfung stand, weder der Fakten noch der Logik.

    Es ist wichtig, dass uns das klar wird. Nicht, um Amerika zu rechtfertigen. Amerika kratzt das sowieso kein bisschen. Wichtig ist es, damit wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Wenn nämlich die Massen meinen, Amerika habe die UdSSR zugrunde gerichtet, dann wird die Gesellschaft nicht in der Lage sein, die wirklichen Gründe dafür zu verstehen, wie diese Großmacht tatsächlich in den völligen Niedergang glitt. Und diese Massen sind leicht zu manipulieren. Wenn wir uns die Köpfe nicht mit lauter Quatsch vollstopfen, werden wir bald verstehen, wie viele Probleme es in der sowjetischen Politik und Wirtschaft gegeben hat. Und genau sie waren es, die die UdSSR in den Untergang getrieben haben.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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    Zitat #1: „Wir haben eine neue Kubakrise“