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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Entweder man sucht ein Übereinkommen mit den Taliban oder man baut eine Mauer“

    „Entweder man sucht ein Übereinkommen mit den Taliban oder man baut eine Mauer“

    Die tragischen Bilder vom Flughafen Kabul machen viele Menschen weltweit fassungslos. Für den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier sind sie „beschämend für den politischen Westen“. Neben hämischen Kommentaren in russischen Staatsmedien fragen unterdessen auch vermehrt einzelne unabhängige Stimmen, inwieweit der Westen überhaupt noch Vorbild für Russland sein kann.

    Russland führt Gespräche mit den Taliban – die offiziell als Terrororganisation gelten –, belässt einen Teil seiner Diplomaten in Kabul und schickt gleichzeitig zusätzliches Militärgerät nach Tadshikistan, wo es einen Stützpunkt unterhält.

    Diese Haltung kommentiert der russische Journalist Michail Koshuchow, der von 1985 bis 1989 Kriegskorrespondent in Afghanistan war, im Interview mit Znak. Er greift tief in die Geschichte, um die heutigen Probleme Afghanistans zu erklären und dessen mögliche Zukunft zu vorhersagen. Dabei kommt er teilweise zu überraschenden Ergebnissen, betont gleichzeitig aber auch die Sinnlosigkeit von Kriegen. 

    Ignat Bakin/Znak: Als wäre es das Normalste der Welt führt Russland offizielle Gespräche mit den Taliban – die uns noch Anfang der 2000er Jahre den Krieg erklärt und diese Erklärung bis heute nicht annulliert haben. „Schizophrenie der gegenwärtigen russischen Diplomatie“ nennt das etwa Andrej Serenko, der Leiter des Zentrums zur Erforschung des modernen Afghanistan (ZISA). Noch viel ungeheuerlicher erscheinen diese Gespräche vor dem Hintergrund, dass in Russland Journalisten, Oppositionelle und Organisationen, die alles andere als terroristisch sind, zu „ausländischen Agenten“ erklärt und verboten werden.

    Michail Koshuchow: Das stimmt zwar, aber wir haben genau zwei Möglichkeiten: Entweder versucht man ein Übereinkommen zu erreichen, oder man folgt dem Traum von Ex-US-Präsident Donald Trump und baut an der Grenze zwischen Afghanistan und Tadshikistan eine Mauer. Einen dritten Weg sehe ich nicht.Der ehemalige Kriegskorrespondent Michail Koshuchow © Facebook Michail Koshuchow/Znak

    Außenminister Sergej Lawrow hat erklärt, Russland werde keine Truppen nach Afghanistan schicken. Es gibt aber schon Informationen, dass wir Kriegsgerät nach Tadshikistan verlegen, wo Russlands Militärstützpunkt Nr. 201 Dienst tut. In den sozialen Netzwerken erkundigen sich Leute nach den Bedingungen für eine Entsendung als Vertragssoldat nach Tadshikistan. Wie bewerten Sie diesen Feuereifer unserer Landsleute?

    Zu allen Zeiten wurden Ackerbauern, Dichter und sonstige Talente geboren, aber eben auch Krieger. Auch bei uns. Und dann gibt es welche, die gern in den Krieg ziehen, schließlich ist das leichter, als Felder zu bestellen. Wenn also irgendwo ein Schuss fällt, sammeln sich sofort die unterschiedlichsten Leute. Einige kämpfen vielleicht für eine Idee, doch denke ich, dass sich die meisten von profaneren Motiven leiten lassen.

    „Wenn irgendwo ein Schuss fällt, sammeln sich sofort die unterschiedlichsten Leute“

    Die Ereignisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass es vielen egal ist, auf wen sie schießen. Für Geld sind sie bereit, in jeden Krieg zu ziehen. Das ist 2014 mit dem Krieg im Donbass endgültig klar geworden.

    Könnte es passieren, dass die Taliban Tadshikistan angreifen und für die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien zu einer unmittelbaren Gefahr werden?

    Das ist nicht völlig unwahrscheinlich. Allerdings steht diese Frage heute nicht auf der Agenda. Die Menschen in Afghanistan haben vorläufig genug mit sich selbst zu tun. Wir müssen aber natürlich ernsthaft darüber nachdenken, was morgen passieren kann.

    Es hat sich historisch ergeben, dass beträchtliche Abschnitte der afghanischen Grenze zu Tadshikistan und Usbekistan unbewacht sind. Dort gibt es sehr hohe Berge, die man ohne Bergsteigerfähigkeiten und entsprechende Ausrüstung nicht überqueren kann. Die Einrichtung vollwertiger Grenzschutzanlagen würde unglaubliche Anstrengungen und Investitionen erfordern. Selbst zu sowjetischen Zeiten musste man sich damit begnügen, in diesen Abschnitten ab und zu mobile Grenzschutzbrigaden abzusetzen, um Flagge zu zeigen: Man konnte nur so tun, als würde man eine Staatsgrenze bewachen. In einigen Abschnitten der tadshikisch-afghanischen Grenze ist der Amu-Darja nur wenige Meter breit. Dort kann selbst ein Jugendlicher sein Bündel ans andere Ufer werfen. Das macht auch den Schmuggel von afghanischem Heroin möglich, der für viele Länder immer noch eine beträchtliche Gefahr darstellt.

    Pressekonferenz von Vertretern der Taliban in Moskau, Januar 2021. Foto © Igor Iwanko/Kommersant

    Wie wahrscheinlich ist ein neuer Krieg in Afghanistan unter Beteiligung der Supermächte dieser Welt?

    Wenn ein militärischer Konflikt ausbricht, finden sich immer und überall Generäle, die die Ärmel hochkrempeln, denen es in den Fingern juckt: Schließlich bedeutet Krieg für sie Orden, Karriere und neue Waffen. Das ist ihr Leben. Und sie finden meist Argumente, um die Politiker davon zu überzeugen, sie schießen zu lassen. Ich habe dennoch die Hoffnung, dass die kollektive Vernunft der Menschheit die Oberhand gewinnt und das Problem auf andere Weise gelöst wird.

    „Wenn ein militärischer Konflikt ausbricht, finden sich immer und überall Generäle, die die Ärmel hochkrempeln, denen es in den Fingern juckt“

    Was meinen Sie, belagern unsere Generäle bereits Wladimir Putin mit der Forderung nach einem Einmarsch in Afghanistan oder einer Beteiligung an einem Grenzkonflikt?

    Sollten sie noch nicht an die Tore des Erlöserturms des Moskauer Kreml klopfen, so hegen sie doch höchstwahrscheinlich solche Gedanken, grübeln und kratzen sich ihre Generalsnacken.

    Worum geht es Russland in Afghanistan? Um wirtschaftliche und politische Beziehungen, weil Afghanistan an der Grenze zu Zentralasien und dem Nahen Osten liegt? Oder ist das eine Region, in der kriegerische Auseinandersetzungen permanent zum Zerfall des Landes und zu Radikalisierung führen und in der immer wieder neue terroristische Gruppierungen entstehen?

    Sowohl als auch. Russland hat seit Jahrhunderten sehr enge Beziehungen zu Afghanistan. Natürlich mussten bestimmte Strukturen in letzter Zeit aufgegeben werden, aber es gibt auf beiden Seiten Menschen, die intensiv zusammenarbeiten und Handelsbeziehungen pflegen. Die geografische Nähe legt nahe, dass die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit solcher Verbindungen im Vordergrund steht. Außerdem grenzt Afghanistan an die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken, und alles, was dort passiert, betrifft auf die eine oder andere Art auch unsere Interessen.  

    „Alles, was dort passiert, betrifft auf die eine oder andere Art auch unsere Interessen“

    Es ist nicht auszuschließen, dass der Wind aus Afghanistan die Saat des religiösen Extremismus nach Tadschikistan, Usbekistan und sogar noch weiter trägt. Niemand kann garantieren, dass in Moskau nicht demnächst Gastarbeiter auftauchen, die solchen Ideen anhängen.  

    Wenn wir von Afghanistan sprechen, denken wir unweigerlich an den längsten Krieg in der sowjetischen Geschichte: den Afghanistankrieg von 1979 bis 1989. Ein Kontingent sowjetischer Truppen unterstützte damals die Streitkräfte der afghanischen Regierung im Kampf gegen die Mudschaheddin. Die militärische Präsenz der UdSSR ist bis heute umstritten, genauso wie die Sinnhaftigkeit der Unterstützung der USA für die Mudschaheddin. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen war der Bürgerkrieg in Afghanistan nicht beendet, sondern flammte mit neuer Kraft auf. Was meinen Sie, war der sowjetische Einmarsch ein Fehler?

    Man kann es drehen und wenden, wie man will, es gibt nicht den geringsten, nicht einmal einen mikroskopisch kleinen Anlass, das Urteil anzuzweifeln, das der Erste Kongress der Volksdeputierten 1990 über den Afghanistankrieg fällte: Er war ein tragischer und verhängnisvoller Fehler. Da gibt es keine Diskussion.

    „Der Afghanistankrieg war ein tragischer und verhängnisvoller Fehler. Da gibt es keine Diskussion”

    Als Sie für die Komsomolskaja Prawda arbeiteten, haben Sie sich aber freiwillig für Afghanistan gemeldet.

    Ich bin ein Vertreter einer romantischen Generation. Trotz unserer Enttäuschung durch das sowjetische Regime hatten sich viele von uns eine romantische Illusion bewahrt: Wenn sich die „lichte Zukunft“ bei uns nicht einstellt, heißt das noch lange nicht, dass die Sache hoffnungslos ist. Viele, vor allem Offiziere, sind freiwillig nach Afghanistan gegangen. Aber schon nach den ersten Tagen dort war von meinen Illusionen nicht mehr viel übrig. Und nicht nur von meinen – dieser Krieg war sinnlos. 

     „Die Jahre, die ich in Afghanistan verbrachte, waren die besten meines Lebens”

    Wobei die Jahre, die ich dort verbrachte, die besten meines Lebens waren, die Zeit, in der ich beruflich maximal gefordert war. Ich danke dem Schicksal für alle Menschen, denen ich in der Armee begegnet bin. Und alles, was ich jetzt über diesen Krieg sage und denke, beruht auf meiner Einschätzung seiner Sinnhaftigkeit und seiner Folgen, gilt aber keinesfalls für die Soldaten, ihre treuen Dienste und ihre Bereitschaft zur Selbstaufopferung.     

    Was sind die Ziele der Taliban, die Anfang des Jahrtausends von US-Truppen ja beinahe vernichtet worden waren? Wollen sie in Afghanistan nun einen islamischen Staat aufbauen, der auf den Gesetzen der Scharia basiert?

    Ich habe ihre Statuten, wenn man das so nennen kann, nicht gelesen. Aber eines weiß ich: Der Kampf um die Macht in Afghanistan, auch der bewaffnete, war schon vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Gange. Doch hat erst die Anwesenheit unserer Truppen aus diesen kleinen Streitereien einen heiligen Krieg des ganzen Volkes gemacht – einen Dschihad. Wir wissen nicht, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wäre unsere Armee nicht in Afghanistan einmarschiert. Fakt ist aber, dass diese unüberlegte Entscheidung des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU der Grund war, warum sich dieser Kampf zu einem Dschihad mit all seinen Folgen auswuchs. An vorderster Front standen die Glaubenskrieger, die Mudschaheddin oder, wie wir sie nannten, die Duschmany.

     „Erst die Anwesenheit unserer Truppen hat aus kleinen Streitereien einen heiligen Krieg des ganzen Volkes gemacht“

    Auf den Schultern der Mudschaheddin sind mit kolossaler Finanzierung der Amerikaner, mit chinesischer Hilfe und unmittelbarer Beteiligung Pakistans die Taliban entstanden. Aus den Taliban ging Al-Qaida hervor. Das Banner der Al-Qaida hat dann der IS übernommen. Die Kausalität ist für mich hier offensichtlich. Ohne das eine hätte es auch das andere nicht gegeben. 






     

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  • Alles auf Autopilot

    Alles auf Autopilot

    Autoritär und dennoch stabil? In Teilen der Autoritarismusforschung gab es lange eine Art Grundsatz, dass die Stabilität einer politischen Herrschaft ihre demokratische Legitimität voraussetzt. Tatsächlich muss Legitimität allerdings nicht immer demokratisch begründet sein: Schon der Soziologe Max Weber schrieb, dass die politische Herrschaft auch vom Legitimitätsglauben abhängt, also dem Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen. 

    Bei der Frage, wie man Menschen zu einem solchen Glauben bringen kann, nennt die Autoritarismusforschung viele Beispiele: Etablierung von Feindbildern etwa, Betreiben von Personenkult, oder generell Propaganda. Auch die gezielte Steuerung von Diskursen, das Stiften von Symbolen, Sinnangeboten oder Ideologien gehört demnach zum Arsenal autoritärer Technologien zur Herstellung von Legitimitätsglauben. 

    Was aber, wenn all das weitgehend wegfällt und nur noch Repressionen bleiben? Diese Frage – und Diagnose – stellt die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja kurz vor der Dumawahl im September auf Republic.

    Putin beim Besuch des Internationalen Luft- und Raumfahrtsalons MAKS-2021 / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

    2015, als das Land auf die anstehende Dumawahl vorbereitet wurde, hatte Wjatscheslaw Wolodin, der damalige innenpolitische Chefstratege, drei Prioritäten für den Wahlkampf genannt: Legitimität, Transparenz und Wettbewerbscharakter. Der Kreml hatte dazu aufgerufen, die Konkurrenz nicht „in den Würgegriff zu nehmen“, und zu Deals der Partei der Macht [Einiges Russland – dek] mit der Systemopposition ermuntert. Von all so etwas kann heute keine Rede sein: Die Vorbereitung auf die Wahlen läuft mechanisch. Niemand befasst sich mit der Suche nach Sinnangeboten. Legitimität scheint voreingestellt, selbstverständlich, ja automatisch gegeben. Intransparenz ist niemandem peinlich, und der gesteuerte Wettbewerb mit der Systemopposition steht unter dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns

    Es sind die ersten Wahlen, bei denen sich die Frage der Legitimität für die Präsidialadministration eigentlich nicht stellt. Man ist dort vielmehr überzeugt, das gewünschte Resultat ohne sonderliches Aufsehen und Kampagnengetöse erzielen zu können.

    Legitimität der neuen Art

    Im Grunde ist die Krim an allem schuld. Just nach dem Angliederung der Halbinsel hat die russische Staatsmacht – und in vielerlei Hinsicht auch Putin persönlich – ein neues Verständnis für ihre Legitimität entwickelt. 

    Hier sei – etwas vereinfacht – an die Typologie legitimer Herrschaft bei Max Weber erinnert: die traditionelle Herrschaft basiert auf Vertrauen in die Monarchie, die rational-legale Herrschaft auf Vertrauen in demokratische Prozesse und Gesetze und die charismatische Herrschaft auf Vertrauen in einen autoritären Führer. 

    Während der ersten beiden Amtszeiten Putins basierte die Legitimität des Regimes auf einer Mischung aus rational-legalem und charismatischem Herrschaftstyp. Damals gründete das neue System mit seiner machtvollen Vertikale auf der charismatischen Legitimität Wladimir Putins. Dieses neue System bestand darin, die reale Opposition vorsichtig (nach heutigen Maßstäben sanft) hinauszudrängen in den außersystemischen Bereich, die Gouverneure ihrer Autonomie zu berauben und die Oligarchen politisch zu kastrieren. Der Präsident erlaubte sich zudem ein begleitendes juristisches „Tuning“ der gesamten Parteien- und Wahlgesetzgebung, der Beziehungen zwischen den verschiedenen Haushaltsbereichen sowie der Regeln für öffentliches, politisches Engagement.

    Generalüberholung des Regimes

    Bis 2020 waren die Möglichkeiten dieses Tunings dann allerdings ausgeschöpft: Anstelle des ständigen Nachbesserns erfolgte nun eine Generalüberholung. Das „Putinsche Regime“ wurde „verfassungsmäßig“ verankert. Und zwar sowohl im Gesetzestext (der dem Präsidenten große Machtbefugnisse verleiht, der die Gewaltenteilung verschwimmen lässt und der traditionelle Werte gesetzlich festschreibt) als auch im Geiste: Nawalny wurde vergiftet und dann ins Gefängnis geworfen, die außersystemische Opposition ist zerschlagen und die unabhängigen Medien werden mundtot gemacht.

    Meritokratische Legitimität

    2020 wurde zum Jahr der verfassungsrechtlichen Neuaufstellung des Post-Krim-Russland, in dem sich Legitimität nicht mehr aus dem Vertrauen der Gesellschaft speist, sondern aus dem, was Putin persönlich als seine historischen Verdienste erachtet. Das könnte man als neuen Typus von Legitimität bezeichnen, als meritokratische Legitimität: Das Vertrauen der Menschen in die Staatsmacht verliert dabei seinen objektiven Wert, es wird zu etwas rein Subjektivem, zu einem Spiegelbild dessen, wie sich das Volk in der Vorstellung der Staatsmacht selbstverständlich zu verhalten hat. Es erfolgt eine Art „Selbstheroisierung“ des Leaders, für den das Vertrauen in ihn nurmehr ein Begleiteffekt seiner exklusiven Verdienste ist – und die Krim war da nur der Anfang. Nach der Krim folgten weitere für Putin bedeutende Verdienste wie der Feldzug in Syrien (und überhaupt die Außenpolitik im Nahen Osten), die Modernisierung der Armee und neue Waffensysteme, die geänderte Verfassung und sogar der Impfstoff Sputnik V.

    Durch die Selbstheroisierung ergibt sich eine Verantwortung nicht gegenüber dem Volk, sondern vor der Geschichte

    Durch die Selbstheroisierung und das Messiastum ergibt sich eine Verantwortung nicht gegenüber dem Volk, sondern vor der Geschichte. Und durch seine Verdienste sieht der Präsident die Möglichkeit, jedwede unpopuläre Entscheidung zu rechtfertigen und gesellschaftliche Stimmungen als politisch unreif und kurzsichtig zu missachten. Ist es etwa Zufall, dass Putin praktisch aufgehört hat, strategische, für das Land wichtige Entscheidungen öffentlich zu erörtern (nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch im sozialen und wirtschaftlichen Bereich)? Das, was ihm wichtig erscheint, wird von ihm im Spezialeinsatz erledigt. Alles andere wird der entpolitisierten Regierung überlassen. Putin kommuniziert mit der Bevölkerung und mit Journalisten nicht mal wie mit Jugendlichen, sondern eher auf Kindergarten-Niveau („Was man sagt, das ist man selber“ beziehungsweise die Vergleiche mit Shir Khan und dem Schakal Tabaqui aus dem Dschungelbuch).

    Die Krim-Euphorie als psychologische Falle

    Das Problem ist, dass die Putinsche meritokratische Legitimität ab einem bestimmten Punkt ein Eigenleben entwickelte und die legale beziehungsweise charismatische Legitimität, die mit ihr vereinbar ist und sie ergänzte, begann zusammen mit dem schwindenden Post-Krim-Konsolidierungseffekt dahinzuwelken. Kurz gesagt: Das Volk hat von der Krim-Euphorie wieder auf seine gewohnten sozialen und wirtschaftlichen Probleme umgeschaltet (und wünschte sich dasselbe auch von den Machthabern), während Putin in der psychologischen Falle der Jahre 2014 bis 2016 feststeckt, verhaftet in der Krim-Euphorie und berauscht vom Konzert in Palmyra. 

    Der erste heftige Störfall war die Rentenreform [2018], die die Zustimmungswerte für das Regime um 15 Prozentpunkte abstürzen ließ. Eine Erhöhung des Rentenalters ist in jedem Land der Welt eine unpopuläre Maßnahme, doch hier ging es darum, wie sie umgesetzt wurde. Sie kam aus heiterem Himmel, noch dazu kurz nach der Präsidentschaftswahl, so dass sich die Menschen doppelt betrogen fühlen mussten – eine direkte Folge des Widerspruchs zwischen den beiden Legitimitäten. In diesem Zusammenhang frappierend war Putins Auftritt im August 2018, als er sich in Verteidigung der Rentenreform persönlich an die Bevölkerung wandte und es so klang, als ginge es darum, die Schulden für die Krim, für gesellschaftlichen Wohlstand und wirtschaftliche Stabilität einzutreiben. 

    Zustimmungswerte, Erkennbarkeit, Sympathien und gesellschaftliche Prioritäten – all dies verliert Schritt für Schritt an Bedeutung

    Putin scherte sich dabei nicht im Geringsten um den Schaden für seine Zustimmungswerte – schließlich hängen Verdienste nicht von Zustimmungswerten ab! – und sprach damals zur Bevölkerung wie zu lebenslangen Schuldnern, die es in ihrem Leben nicht schaffen würden, ihre Schuld für die großartigen historischen Errungenschaften Putins zu begleichen. Es wurde erwartet, dass die Rentenreform als alternativlos akzeptiert würde. Hier sammelte das Regime erste Erfahrungen damit, seine Entscheidungen einfach durchzudrücken, da es das eigene Vorgehen als „selbstverständlich legitim“ auffasste. Überhaupt wurde Legitimität nun als etwas verstanden, das automatisch funktioniert, das systemimmanent ist, als ein stabiler und integraler Bestandteil. Als eine Art politische Konstante und natürliche Komponente des Putinschen Regimes nach der Annexion der Krim.

    „Wählbarkeit“, Zustimmungswerte, Erkennbarkeit, Sympathien und gesellschaftliche Prioritäten – all dies verliert für das Wahlprogramm der Machthaber Schritt für Schritt an Bedeutung. Jüngstes Beispiel sind die Spitzenkandidaten auf der Parteiliste von Einiges Russland bei der Dumawahl: Lawrow und Schoigu – Außenpolitik beziehungsweise Verteidigung sind Symbole für die persönlichen Errungenschaften Putins. Für die Gesellschaft jedoch rangieren geopolitische Themen auf der Prioritätenliste derzeit ganz unten (ganz oben stehen Inflation und Armut).

    Das System erblindet

    So erodiert die legal-rationale und charismatische Legitimität in schnellen Schritten, während die meritokratische Legitimität Putins einen immer dominanteren Ausdruck findet. Die Bevölkerung ist niedergeschlagen und versinkt in politischer Depression. Im öffentlichen Raum verdrängen hurrapatriotische Huldigungen an das Regime und die Logik einer „belagerten Festung“ die negative sozialökonomische Realität, wobei das Gefühl eines drohenden Krieges permanent genährt wird. Die Verärgerung gegenüber der Partei der Macht wächst. In Reaktion darauf muss der Kreml immer neue Stützen und Mechanismen finden, um die jetzige „selbstverständliche“ Legitimität in den Autopilot-Modus zu überführen.

    Im Laufe eines Jahres wurde in dieser Richtung viel getan: Die echte Opposition wurde vollständig vernichtet (das Instrumentarium ist dabei unglaublich breit gefächert: „ausländische Agenten“, Extremisten, unerwünschte Organisationen oder einfach Verbrecher); es gibt strenge Hürden für „falsche“ Kandidaten bei der Wahl; denn für den politischen Raum gilt das Prinzip: „Was nicht von der Präsidialadministration genehmigt wurde, ist verboten“; und die Medien wurden gesäubert.

    An die Stelle zaghafter Regenerierungsversuche sind Versuche zur Mumifizierung des Systems getreten

    Praktisch die gesamte Systemopposition, außer der Kommunistischen Partei, steht unter dem Einfluss und der Kontrolle durch die „Kuratoren“ der Innenpolitik. Ideen für eine gemäßigte Modernisierung von Einiges Russland wurden wieder verworfen. Ernsthafte Spielereien mit neuen Parteiprojekten sind beendet. Putin gefällt alles so, wie es ist: Es gibt eine starke Machtpartei [Einiges Russland – dek] und eine konstruktive parlamentarische Opposition. Selbst handgesteuerte neue, synthetische Parteiprojekte wie die Neuen Menschen erscheinen dem Präsidenten da nur als überflüssige Ansammlungen mit trüber Perspektive. An die Stelle zaghafter Regenerierungsversuche sind Versuche zur Mumifizierung des Systems getreten, so dass das lebende Sterbliche zum ewig Toten wird.

    Die selbstverständliche Legitimität geht über in den Autopilot-Modus: Das Regime reproduziert sich automatisch selbst, ohne Beteiligung der Gesellschaft oder komplizierte Sinnkonstruktionen. Eine Stimmabgabe für die Systemopposition ist gleichbedeutend mit einer Stimme für Putins Regime. Und jeder Versuch, das Vorgehen des Regimes in Zweifel zu ziehen, bringt „das Boot ins Wanken“ und wird zu einer „Gefahr für die nationale Sicherheit“. 

    Im Autopilot-Modus

    Die gesamte Innenpolitik besteht aus zwei großen Bereichen: Der erste – eine Art Personalabteilung – ist der Wettbewerb Russlands Führungskräfte von der Organisation Russland – Land der Möglichkeiten, über den die „richtigen“, „technokratischen“ Kandidaten rekrutiert, die Spielregeln für alles Systemrelevante festgelegt sowie Wort und Tat penibel und bis ins Detail reglementiert werden. 

    Der zweite Bereich sind die politischen Sicherheitsorgane, die nicht nur das außersystemische Feld vollständig beherrschen, sondern auch jedwede gegen das Regime gerichtete Aktivität unterbinden sollen: sei es eine Beteiligung an Protestaktionen oder das Reposten politisch inkorrekter Inhalte in den sozialen Medien.

    In dieser Situation der immer stärkeren Kontrolle spielen weder Zustimmungswerte noch der gesellschaftliche Unmut irgendeine Rolle, weder Parteipräferenzen noch die Wahlbeteiligung oder die Proteststimmung – sondern Putin braucht schlicht einen lautlosen Urnengang, ein überzeugendes Ergebnis, ein sauberes Prozedere. Live-Übertragungen aus den Wahllokalen wird es diesmal nicht geben, und zwar nicht, weil dort geschummelt wird (die größten Wahlfälschungen erfolgen schließlich jenseits des überwachbaren Bereichs), sondern um einen Aufschrei zu verhindern. Das größte Problem dieser selbstverständlichen Legitimität im Autopilot-Modus besteht darin, dass sie das System absolut blind und gefühlstaub dafür macht, wie sehr ihm die Gesellschaft tatsächlich überhaupt noch vertraut. Und das ist nicht mehr bloß ein Autopilot, sondern ein unbemannter Hochgeschwindigkeitstrip in eine ungewisse Richtung.

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    Auf dem Weg in die volle Kontrolle?

     „Ich möchte mitteilen, dass ich am Freitagabend, dem Tag, an dem die Zerschlagung von Radio Svaboda stattfand, Belarus verlassen habe.“ Dies teilte Waleri Karbalewitsch am gestrigen Sonntag auf Facebook mit. Der Politologe und Historiker schreibt für den belarussischsprachigen Dienst von Radio Liberty regelmäßig politische Analysen. Karbalewitsch befürchtete wohl, selbst festgenommen zu werden. Denn am Freitag hatten Silowiki die Wohnungen von Leuten durchsucht, die mit dem in Prag ansässigen Sender zusammenarbeiten, und zahlreiche freie Mitarbeiter festgenommen. Drei befinden sich aktuell immer noch in Haft. Die Razzien betrafen auch Mitarbeiter des Auslandsenders Belsat und zahlreiche bekannte NGOs im ganzen Land. Bereits seit dem 8. Juli lassen die belarussischen Machthaber die Büros von Medien, Journalisten, Menschenrechtsorganisationen, Parteien und Initiativen durchsuchen, Dokumente und Gerätschaften konfiszieren und Mitarbeiter festnehmen. Gegen vier Mitarbeiter des Online-Mediums Nasha Niva, das aus der ältesten belarussischen Zeitung hervorgegangen ist, wurde bereits ein Strafprozess eingeleitet. Der Vorwurf: „das Organisieren oder Vorbereiten von Aktionen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen, oder die Teilnahme daran”. Nasha Niva hat daraufhin die Arbeit vorerst eingestellt. Auch wurden weiter Telegram-Kanäle wie beispielsweise Strana dlja shisni (dt. Ein Land zum Leben) – den die Initiative des inhaftierte Videobloggers Sergej Tichanowski betreibt – als „extremistisch“ eingestuft.

    Wie ist die neuerliche Repressionswelle zu deuten? Wollen die Machthaber jegliche Form von Zivilgesellschaft, freie Meinungsäußerung und Dissens in Belarus zerstören und Belarus in einen totalitären Staat verwandeln? Ist die Aktion gar eine Antwort auf die EU-Sanktionen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Journalist Pawljuk Bykowski in seiner Analyse für Naviny.by.

    „Gegenwärtig erfolgt eine breit angelegte Operation zur Säuberung von radikal eingestellten Personen“, erklärte der stellvertretende Leiter der Verwaltung Strafermittlung des belarussischen KGB, Konstantin Bytschek.
    Liest man das Interview dieses Vertreters des KGB aufmerksam durch, dann spricht er zwar von den bekannten „destruktiven Telegram-Kanälen“, doch beziehen sich Bytscheks Worte auch auf einen breiteren Kontext und sind bezeichnend für die Reaktion eines autoritären Regimes, das ins Wanken geraten, aber noch nicht gestürzt ist. Es geht um die Beseitigung jeglicher Protestherde und jeglicher zivilgesellschaftlicher Strukturen, die sich mit diesen solidarisieren könnten, wie auch aller Medien, die zu einem Sprachrohr des Protests werden oder einfach weiterhin mit Empathie für die Opfer der Willkür über die Lage in Politik und Gesellschaft berichten könnten.

    Der „Schwarze Donnerstag“

    Nach Angaben des unabhängigen Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ) sind seit Jahresbeginn 87 Journalisten und Mitarbeiter von Medien festgenommen worden, von denen derzeit 29 hinter Gittern sitzen.

    Am 8. Juli wurden an nur einem Tag sieben Journalisten und die Buchhalterin von Nasha Niva festgenommen. Vier von ihnen sind feste Mitarbeiter der Zeitung. Sie werden in einem Strafverfahren der Organisation oder Vorbereitung von Handlungen verdächtigt, die die gesellschaftliche Ordnung grob verletzen. Zwei weitere Mitarbeiter der Redaktion blieben mit unklarem prozessualem Status in Freiheit, mussten aber eine Verschwiegenheitsverpflichtung unterschreiben.

    Am 8. und 9. Juli erfolgten auch in den Redaktionen und in den Wohnungen von Mitarbeitern der Brestskaja Gaseta, der Portale Orsha.eu, Media-Polessje, Intex-Press, Bobr.by sowie bei freischaffenden Journalisten, die mit dem aus Polen sendenden TV-Kanal Belsat zusammenarbeiten, Hausdurchsuchungen, bei denen Computer und Smartphones konfisziert wurden.

    Media-Polessje teilte mit, dass die Hausdurchsuchungen bei Redaktionsmitarbeitern in Luninzk und Pinsk von Ermittlergruppen des KGB im Rahmen eines Verfahrens wegen eines „terroristischen Aktes“ erfolgt seien.

    Darüber hinaus erging am 8. Juli „aufgrund einer Benachrichtigung durch die Generalstaatsanwaltschaft“ der Beschluss, den Zugang zum Portal nn.by (Nasha Niva) zu blockieren: Diese Domaine ist jetzt für belarussische wie auch für ausländische Nutzer gesperrt.

    Am gleichen Tag wurde der Nachrichtenredakteur des Portals Perschy rehijon, Oleg Suprunjuk, in einem Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „der Verbreitung von Informationserzeugnissen, die im Republiksverzeichnis extremistischer Materialien geführt werden“, zu einer Geldstrafe von 590 Rubeln [knapp 200 Euro – dek] verurteilt.

    Durch die Unterdrückung unabhängiger Medien wird die Gesellschaft Beiträge lesen, ,die nicht einmal minimalen professionellen Standards genügen‘

    Der Belarussische Journalistenverband (BAJ) forderte, „die Vernichtung des freien Wortes [in Belarus] zu stoppen“. „Unter dem Vorwand des Kampfes gegen Extremismus versucht die Regierung, die unabhängigen belarussischen Medien zu vernichten“, heißt es in einer Erklärung des BAJ.

    In dem Papier wird prognostiziert, dass durch die flächendeckende Unterdrückung unabhängiger Medien „die Gesellschaft anstelle verifizierter und im Einklang mit der journalistischen Ethik vermittelter Informationen Beiträge lesen wird, die nicht einmal minimalen professionellen Standards genügen“.

    Reden mit Kriegsrhetorik

    Gleichzeitig erklärte Alexander Lukaschenko am 8. Juli bei einer Zeremonie zu Ehren der Absolventen der Militärhochschulen und des höheren Offizierskorps, dass ein Krieg heute in der Regel nicht mehr durch eine Aggression von außen begänne: 
    „Er beginnt von innen, damit, dass die Hirne unserer Leute zerstört werden. Er beginnt damit, dass in unserem Land Chaos erzeugt wird, und erst danach werden, wenn nötig, ausländische Truppen hierher entsandt. Davon haben wir gesprochen. Hierin besteht der Kern unserer nationalen Sicherheitskonzeption“.

    Die Äußerungen fügen sich in ein propagandistisches Schema, in dem die Proteste keine tieferen Gründe im Land selber haben können

    Angesichts des Ortes und der Adressaten lag der Akzent des Auftrittes auf militärischen Aspekten, mit der Rhetorik eines Informationskriegs, der von außen geführt werde. Allerdings fügen sich die Äußerungen sehr wohl in ein propagandistisches Schema, in dem sowohl die Proteste als auch negative Informationen in den Medien keine tieferen Gründe im Land selber haben können, sondern allein als Umsetzung eines Auftrags aus dem Ausland gesehen werden. 

    In Russland war die Regierung in dieser Hinsicht offener, aber auch raffinierter. Dort wurden die Medien vor allem dadurch unter Kontrolle gebracht, dass die Zeitungen per Kauf übernommen wurden.

    Igor Nikolajtschuk, Mitarbeiter des Zentrums für Rüstungsforschung des Russischen Instituts für strategische Studien (RISI), bekannte in einem Interview für die Literaturnaja Gaseta: „Bevor die Krim angeschlossen wurde, erfolgte eine riesige, penible, schmerzliche und nahezu unsichtbare Arbeit, um im medialen Raum in Russland jene Medien auszuschalten, die dem Regime in den Rücken schießen könnten. Der Informationskrieg erfordert eine Übermacht von Medien, die für eine Umsetzung der staatlichen Idee arbeiten. Die propagandistische Katastrophe des ersten Tschetschenienkrieges, als die eigenen Leute [von den Medien] angegangen wurden, ist nicht vergessen und soll sich nicht wiederholen.“

    Es geht darum, den nicht loyalen Medien die unternehmerische Basis zu zerstören

    Etwas ähnliches versucht man auch in Belarus zu unternehmen, doch geht es hier nicht um die Übernahme von Medien, sondern darum, den nicht loyalen Medien die unternehmerische Basis institutionell zu zerstören, um deren Ausschluss aus dem monopolisierten System, über das Periodika vertrieben werden, und um ein Druckverbot in belarussischen Druckereien.

    Die verbleibenden Internet-Medien erhalten Besuch vom KGB oder der GUBOPiK, die Geräte werden konfisziert und die Mitarbeiter der Redaktionen zum Verhör vorgeladen oder in Untersuchungshaft gesteckt. Dadurch werden unabhängige Journalisten gedrängt, ins Ausland zu gehen.

    Wird jetzt das Urteil vollzogen, das Makei im April verkündete?

    Angesichts der Zerschlagung unabhängiger Medien sind Meldungen über Repressionen gegen Aktivisten und die Zerstörung zivilgesellschaftlicher Strukturen in den Hintergrund getreten. Allerdings wird auch hier das Versprechen von Außenminister Wladimir Makei eingelöst. Der hatte am 10. April erklärt, eine Verhängung von Sanktionen gegen das herrschende Regime werde „zweifellos dazu führen“, dass es „jene Zivilgesellschaft, um die sich unsere europäischen Partner so sehr kümmern, nicht mehr geben wird“.

    Jetzt überprüft das Justizministerium auf nationaler Ebene eine Reihe von NGOs, während man sich jetzt schon einige von ihnen auf lokaler Ebene vorknüpft.

    So teilte die Staatsanwaltschaft am 8. Juli mit, dass auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft Brest die Einrichtungen Sa swoj gorod und Dsedsitsch durch die Verwaltung des Leninski-Stadtbezirks aufgelöst wurden.

    Allem Anschein nach werden sie vernichtet, „damit sie niemandem in den Rücken schießen“. Insbesondere in Bezug auf Dsedsitsch wurde festgehalten, dass diese Einrichtung „Wettbewerbe für Kunstwerke und Clips in sozialen Medien organisiert [hat], die die Herausbildung einer Haltung der Bürger propagieren, die rechtswidrige Handlungen gutheißt“.

    Eine „Normalisierung der Lage“ – wie sie vom herrschenden Regime verstanden wird – macht es erforderlich, dass aus dem öffentlichen Raum jede Kritik am Regime und jede abweichende Meinung verschwindet. Uniformierte führen die Befehle aus und werden für Pogrome gegen Andersdenkende belohnt.

    Es ist zwar von vornherein klar, dass man auf diese Weise die Belarussen nicht dazu bringen kann, Lukaschenko wieder lieb zu gewinnen. Doch ein taktisches Ziel ist durchaus erreichbar, nämlich bestimmte politische Veränderungen vorzunehmen, ohne dass der Unmut der Bevölkerung sichtbar wird. 

    Wir können nur mutmaßen, wann sie sich auf eine harte Landung werden vorbereiten müssen – im Vorfeld der für den Herbst angekündigten vertieften Integration mit Russland oder vor dem für Anfang 2022 angesetzten Verfassungsreferendum.

  • Wird Lukaschenko nervös?

    Wird Lukaschenko nervös?

    Das Goethe-Institut in Minsk und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) müssen auf Druck der belarussischen Machthaber ihre Arbeit im Land einstellen. Ein Schritt, der international vielfach kritisiert und als Reaktion auf das vierte Sanktionspaket der EU gedeutet wurde. Am 16. Juni 2021 hatten die EU-Außenminister beschlossen, massiv die Sanktionen gegen die belarussische Führung auszuweiten. In der vergangenen Woche sagte Alexander Lukaschenko auch, dass die Sicherheitsbehörden „terroristische Schläferzellen“ enttarnt und zerschlagen hätten. Diese stünden in Verbindung mit Deutschland, der Ukraine, den USA, Polen und Litauen. Daraufhin verfügte der Staat die Schließung der Landesgrenze zur Ukraine. Im Fokus der „antiterroristischen“ Operation stehen dabei Mitglieder des ehemaligen Telegram-Kanals Einheiten der zivilen Selbstverteidigung (blr. Atrady hramadsjanskai samaabarony), der von den Behörden als extremistisch verboten wurde. Dutzende Mitglieder des Kanals wurden festgenommen, einige stehen bereits vor Gericht.

    Zudem erschien am 3. Juli im staatlichen TV-Sender ONT ein Beitrag, der angeblich „terroristische Aktivitäten“ in Belarus beweist. Dies sorgte im Land für hitzige Diskussionen. In dem Beitrag wird ein offenbar inszeniertes Attentat auf Grigori Asarjonok gezeigt, einen der berüchtigsten Fernsehmoderatoren der Staatspropaganda, der für den Staatssender CTV arbeitet und regelmäßig gegen die Opposition hetzt. In dieser Atmosphäre beging die Staatsführung am 3. Juli den „Tag der Unabhängigkeit“ mit zahlreichen Veranstaltungen im ganzen Land.

    Wird Lukaschenko angesichts einer schwächelnden Wirtschaft nun doch nervös oder ist es bloß Säbelrasseln? Der politische Analyst Waleri Karbalewitsch erörtert in seinem Beitrag für das Medium SN Plus mögliche Folgen der Sanktionen und diskutiert verschiedene Szenarien, mit der die belarussische Führung auf die Strafmaßnahmen reagieren könnte. 

    Sei vorsichtig mit deinen Wünschen – sie könnten in Erfüllung gehen.
     

    Englisches Sprichwort

    Mögliche Folgen der Sanktionen

    Nach eingehender Betrachtung des von der EU erlassenen Papiers ist klar, dass die sektoralen Sanktionen, sagen wir mal, nicht in der radikalsten Form ergangen sind. Das wird zum Beispiel daran deutlich, dass das wichtigste Kaliprodukt, das nach Europa exportiert wird, nicht auf der schwarzen Liste steht. Und Belaruskali hat nicht darunter zu leiden, sondern unter dem blockierten Zugang zum litauischen Hafen Klaipėda, über den 97 Prozent der belarussischen Exporte von Kalidüngern abgewickelt werden. So muss eine neue Route über einen russischen Hafen im Leningrader Gebiet erschlossen werden.

    Außerdem treten die Sanktionen teilweise erst mit Beginn des kommenden Jahres oder sogar noch später in Kraft. Wenn es also um die Auswirkungen der Sanktionen geht, so sind die in den nächsten Monaten nicht zu erwarten.

    Nichtsdestotrotz beginnt das Land, mit den sektoralen Sanktionen zu leben. Diese unterscheiden sich von zielgerichteten (gegen einzelne Unternehmen oder Oligarchen gerichtete) Sanktionen dadurch, dass sie schwieriger zu umgehen sind. Ein Unternehmen kann man verkaufen, der Name oder Eigentümer kann sich ändern, mit ganzen Branchen lässt sich das jedoch nicht machen.

    Die Verluste für die belarussische Wirtschaft lassen sich nur schwer beziffern. Es gibt Schätzungen, nach denen Belarus 15 Prozent seines Exports verliert. Immerhin geht ein Viertel der belarussischen Exporte von Erdölprodukten in Mitgliedsstaaten der EU, im Jahr 2020 waren das rund 600 Millionen US-Dollar. Darüber hinaus wurden 10 Prozent der Kaliexporte, für rund 200 Millionen US-Dollar in die EU geliefert.

    Premierminister Roman Golowtschenko erklärte, die Verluste durch die Sanktionen würden nicht mehr als 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Unabhängige Wirtschaftswissenschaftler nennen Werte von 7 bis 14 Prozent. Diese große Schere ergibt sich durch unterschiedliche Berechnungsmethoden. Die einen zählen nur den unmittelbaren Schaden, andere berücksichtigen auch mittelbare Verluste (Kosten durch die Suche nach Wegen zur Umgehung der Sanktionen, ausbleibende neue Vertragsabschlüsse, den Umstand, dass ausländische Geschäftspartner Unternehmen meiden, die auf der Sanktionsliste stehen und so weiter).

    Die Sanktionspolitik des Westens ist jedoch ein Prozess – der wurde nun in Gang gesetzt, und es ist unklar, wo und wann er zum Halten kommt. So erklärte jüngst Victoria Nuland, Mitarbeiterin für politische Angelegenheiten im US-Außenministerium: „Die EU ist einen Schritt voraus, indem sie sektorale Sanktionen gegen die belarussische Wirtschaft und jene Bereiche verhängt hat, von denen Lukaschenko abhängig ist. Wir werden versuchen nachzuziehen“. 

    Die Sanktionen des Westens verstärken die Abhängigkeit des Landes von Russland. Allerdings könnte der Umstand, dass der russische Oligarch Michail Guzerijew auf der Sanktionsliste landete, Unternehmen aus Russland von Belarus abschrecken. Man könnte leicht auf der schwarzen Liste der EU und von den USA landen.

    Das gefährliche Thema Krieg

    Die Regierung in Belarus hat auf die Sanktionen mit aggressiver Rhetorik, Drohungen gegen den Westen und Erpressungsversuchen reagiert: So hat sich beispielsweise der Strom illegal einreisender Migranten aus Belarus nach Litauen drastisch verstärkt.

    Doch unsere Aufmerksamkeit weckt Folgendes: Seit dem 9. August 2020 schürt Lukaschenko in der Bevölkerung Angst vor einem möglichen Krieg mit dem Westen. Angesichts der sektoralen Sanktionen der EU und der USA erlangt diese Rhetorik einen neuen Sinn. 

    Bei einer Rede am 22. Juni 2021 in der Festung von Brest setzte Lukaschenko einen starken Akzent auf die Frage nach einem möglichen neuen Krieg. Er erklärte: „Im vergangenen Jahr haben wir die modernsten Technologien eines hybriden Krieges erfahren müssen. Die Belarussen fragen immer öfter: Was ist los, werden wir in den Krieg ziehen? Wie denn, Belarussen. Wir sind schon lange im Krieg. Der Krieg hat einfach andere Formen angenommen … 80 Jahre sind vergangen, und …? Ein neuer heißer Krieg … Und weiter? Eine Intervention?“

    Indem er in der Bevölkerung Angst vor einem Krieg schürt, versucht Lukaschenko, künstlich das Modell einer „belagerten Festung“ zu konstruieren, die politischen Repressionen zu rechtfertigen sowie die Nomenklatura und die eigenen Anhänger zur Verteidigung des Regimes zu mobilisieren.

    Eine solche Rhetorik könnte jedoch das Gegenteil bewirken. Das Volk will keinen Krieg und hat Angst davor. Die Gefahr, dass ein bewaffneter Konflikt entfesselt wird, weckt im historischen Gedächtnis des Massenbewusstseins traumatische Archetypen. Die Belarussen, sogar die Anhänger Lukaschenkos sind wohl kaum gewillt, für Lukaschenko in den Krieg zu ziehen. Dessen Figur wird zunehmend mit Kriegsgefahr assoziiert. Auch der Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung sollte nicht vernachlässigt werden.

    Der Normalbürger sieht, dass das Ausmaß der Probleme – und zwar nicht nur der wirtschaftlichen –, die Lukaschenko zu verantworten hat, größer und größer wird. Der Preis für Lukaschenkos Verbleib an der Macht wird mit jedem Tag höher. Auch für seine nähere Umgebung, einschließlich seiner Hof-Oligarchen.

    Aus der Geschichte sind diverse Beispiele bekannt, dass Wirtschaftssanktionen und äußere Konflikte Auswirkungen auf die Stabilität eines politischen Regimes hatten. Mitunter wird ein Regime dadurch gefestigt. Manchmal ist das Gegenteil der Fall.

    Es gibt einige Beispiele, dass autoritäre Regime sich in einem bewaffneten Konflikt mit einem äußeren Feind befinden, ihn verlieren und dann zusammenbrechen. So stürzte die Diktatur der Obristen in Griechenland 1974 nach der Niederlage im Zypern-Konflikt mit der Türkei. Die Militärdiktatur in Argentinien brach 1983 nach dem verlorenen Falklandkrieg gegen Großbritannien zusammen. Das Regime von Slobodan Milošević trat wegen des Kosovo einen Krieg gegen die gesamte Welt los, verlor ihn und wurde im Jahr 2000 nach Protesten der Bevölkerung gestürzt.

    Dies einfach als Anregung zum Nachdenken.

    Das Spiel mit Roman Protassewitsch

    Der Umstand, dass Roman Protassewitsch und Sofija Sapega in Hausarrest überführt wurden, ist ein Hinweis, dass das Regime eine Vielzahl von Schachzügen unternimmt und den oppositionellen Journalisten als wichtige Figur einsetzt.

    Die Regierung hat sich entschieden, angesichts der dramatischen Folgen von Protassewitschs Festnahme (Schließung des Luftraums und sektorale Sanktionen durch die EU) den Gefangenen vollends auszunutzen und aus der Affäre eine möglichst große politische Dividende herauszupressen. Romans Einwilligung „mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten“ eröffnete der Regierung die Möglichkeit, – an unterschiedliche Adressaten gerichtet – gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

    Aufgabe Nummer eins ist natürlich die Diskreditierung der Opposition. Die „entlarvenden“ Erklärungen von Protassewitsch sollten all das Negative über die politischen Opponenten unterfüttern, das ein ganzes Jahr schon wie ein Wasserfall aus den Kanälen des belarussischen Staatsfernsehens strömt. Hinzu kommt die Diskreditierung der westlichen Länder. Roman soll „Beweise“ geliefert haben, dass die Proteste von westlichen Geheimdiensten gesteuert worden seien. Das alles richtet sich an das inländische Publikum.

    Um den Skandal mit der erzwungenen Landung Russland gegenüber zu „verkaufen“, hat die belarussische Regierung betont, dass Roman im Donbass gekämpft habe. Das hat intensives Interesse bei den russischen Medien gefunden. Zur Lösung dieses Problems wurde die „Volksrepublik Luhansk“ ins Spiel gebracht – erfolglos, wie sich später herausstellte.

    Der Hausarrest für Sofija Sapega, die die russische Staatsangehörigkeit besitzt, ist ebenfalls eine Geste an Moskau, eine Demonstration des grenzenlosen „Humanismus“ der belarussischen Behörden.

    Eine andere aufdringliche Demonstration des Humanismus ist an das westliche Publikum gerichtet. In Europa wurde geschrieben, dass Protassewitsch möglicherweise gefoltert wurde. Und die Medien-Kampagne gegen Lukaschenkos Regime stützte sich unter anderem auf das Mitgefühl für ein Opfer des diktatorischen Regimes (und nicht nur auf die Verletzung der Flugsicherheit). Romans gesunde, muntere und lächelnde Auftritte vor der Öffentlichkeit sollten diese Thesen widerlegen. Auf gleiche Weise ist auch Romans Überführung in Hausarrest zu verstehen.

    Mit den öffentlichen Auftritten von Protassewitsch wollte das offizielle Minsk zudem versuchen, die Wirtschaftssanktionen des Westens, wenn nicht zu verhindern, so doch abzumildern.

    Ein weiterer Aspekt dieses endlosen belarussischen Dramas steht in Verbindung mit der Psychologie der einen Person: Das Phänomen eines reuigen, moralisch gebrochenen Feindes erklärt in der belarussischen Politik vieles. Unter Lukaschenko als Präsidenten wurden sämtliche politischen Häftlinge dazu gedrängt, Gnadengesuche zu schreiben. Das war für den Staatschef von grundsätzlicher Bedeutung.

    Nach den vom Regime inszenierten Auftritten Protassewitschs kann man nun auch Menschlichkeit walten lassen. Es gibt derzeit 515 politische Häftlinge in Belarus. Allerdings zeigt man sich nur gegenüber Juri Woskressenski und Roman Protassewitsch „menschlich“ (Sofija Sapega soll lediglich Protassewitsch Gesellschaft leisten). Diese politischen Gefangenen haben nicht nur öffentlich vor der Kamera Reue gezeigt, sondern stehen jetzt auf der anderen Seite der Barrikaden. Das ist das Handlungsmuster für alle politischen Häftlinge, die vorzeitig aus dem Gefängnis freikommen wollen.

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  • Am Ende der Fahnenstange?

    Am Ende der Fahnenstange?

    Am 21. Juni 2021 haben die EU-Außenminister neue Sanktionen beschlossen – und damit das vierte Sanktionspaket seit der Wahlfälschung und dem Beginn der Proteste gegen die belarussische Staatsführung am 9. August 2020. Grund für die neuen Maßnahmen war die erzwungene Landung des Ryanair-Fluges 4978 in Minsk, bei der der Journalist und Blogger Roman Protassewitsch und seine Freundin Sofia Sapega festgenommen wurden.

    Der Sanktionsliste, auf der sich bereits 88 Vertreter der belarussischen Machthaber befanden, wurden 78 weitere Personen hinzugefügt. Darunter auch hochrangige Silowiki wie der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow, Verteidigungsminister Viktor Chrenin, der Befehlshaber der Luftwaffe Igor Golub und der Verkehrs- und Kommunikationsminister Alexej Awramenko, aber auch Manager von Staatsunternehmen, Polizisten, Richter, Parlamentsabgeordnete und andere Vertreter des Systems Lukaschenko, die mit einem Einreiseverbot in die EU belegt wurden. Zudem sollen erstmals auch bedeutende Staatsunternehmen und Wirtschaftszweige sanktioniert werden, wie beispielsweise Unternehmen für Finanzdienstleistungen, aus dem Energiebereich oder auch das Unternehmen Belaruskali, einer der weltweit wichtigsten Hersteller von Kalidünger. Parallel verhängten auch die USA neue Sanktionen. 

    Scharfe Reaktionen aus Belarus folgten prompt. Alexander Lukaschenko wähnt sich bereits in einem neuen, heißen Krieg. An die Adresse des deutschen Außenministers Heiko Maas sagte er: „Wer sind Sie? Ein reuiger Deutscher oder der Erbe der Nazis?“ Der belarussische Staatschef drohte mit einer harten Reaktion auf die Sanktionen, ohne diese aber konkret auszuführen.

    Wie könnte solch eine Reaktion aussehen? Und was bedeuten die Sanktionen für die belarussischen Machthaber? Der Journalist Alexander Klaskowski geht diesen Fragen in einem Analysestück für das Medium Naviny.by nach.

    Der Westen betont, dass er mit den aktuellen Maßnahmen das Regime von Alexander Lukaschenko dazu bringen will, die Repressionen zu stoppen, die politischen Gefangenen freizulassen und faire Wahlen abzuhalten. Die Vertreter des Regimes geben jedoch deutlich zu verstehen, dass genau das Gegenteil der Fall sein wird.

    Die Erklärung von Außenminister Wladimir Makei im April ist mittlerweile ein Klassiker ihres Genres geworden: 

    „Jede weitere Verschärfung der Sanktionen wird zum Ende der Zivilgesellschaft führen.“

    Die Regierung untermauert diese rhetorische Drohgebärde durch ihr Vorgehen, indem sie die Zahl der politischen Gefangenen erhöht und die roten Absperrbänder um die protestierenden Teile der Gesellschaft enger zieht – die Oppositionsparteien, die Nichtregierungsorganisationen und die nichtstaatlichen Medien (in diesem Bereich war die Zerschlagung des äußerst populären Internetportals Tut.by ein schockierender Vorgang, 15 Mitarbeiter wurden verhaftet).

    Kann man zweimal in denselben Fluss steigen?

    In den letzten Wochen begannen über Verwandte der politischen Gefangenen Informationen durchzusickern, dass einigen in den Strafkolonien hartnäckig nahegelegt wird, Gnadengesuche zu stellen. Auch wurden in den Medien Überlegungen laut, dass es eine Amnestie für politische Häftlinge geben könnte. Auch von anderen regierungsfreundlichen Figuren wird diese Frage immer wieder durchgekaut.

    Man fühlt sich an das Jahr 2011 erinnert. Seinerzeit hatten sich die Beziehungen zwischen Minsk und dem Westen drastisch verschlechtert, nachdem eine Demonstration auf dem Unabhängigkeitsplatz auseinandergetrieben worden war und dutzende Regimegegner verhaftet wurden; damals wurden ebenfalls Sanktionen verhängt.

    Die belarussische Regierung hatte sich in der Defensive gefühlt, die politischen Gefangenen bedrängt, Gnadengesuche zu schreiben, und diejenigen freigelassen, die ein solches Papier unterschrieben. Später wurden sogar auch diejenigen freigelassen, die sich hartnäckig geweigert hatten, um Gnade zu bitten. In der Folge steuerten Minsk und der Westen allmählich auf eine Normalisierung der Beziehungen zu (wozu übrigens auch in erheblichem Maße die russische Aggression gegen die Ukraine 2014 beigetragen hat).

    Aber kann man zweimal in denselben Fluss steigen? Heute ist der Konflikt sehr viel schärfer. Die EU und die USA weigern sich, Lukaschenkos Legitimität anzuerkennen. Der wiederum befürchtet, dass ein Ende der Repressionen den protestbereiten Teil der Gesellschaft ermutigen könnte, nach dem Motto: Der Würgegriff des Regimes wird schwächer, der Führer gibt klein bei.

    Der Skandal wegen der erzwungenen Landung der Ryanair-Maschine in Minsk und der Festsetzung des Regimegegners Roman Protassewitsch, der sich an Bord befunden hatte, sprühte zusätzlich eine gehörige Menge Kerosin in den lodernden Konflikt. Jetzt neigt man in Brüssel und Washington dazu, das Regime in Belarus auch als Gefahr für die internationale Sicherheit zu betrachten. Wie soll es da einen Dialog geben? Zumal in der Minsker Rhetorik keinerlei Kompromissbereitschaft zu erkennen ist. Der Ton ist weiterhin angriffslustig und drohend. 

    Die Regierung ist nicht bereit, einen Rückzieher zu machen

    Doch selbst wenn man westliche Politiker als Halunken bezeichnet, ist die belarussische Führung prinzipiell nicht gegen eine Befriedung, weil dieser höllische Zwist, so sehr man auch den Dicken markiert, die wirtschaftlichen Interessen bedroht. Unter die neue Sanktionen fallen jetzt auch Michail Guzerijew, Alexander Saizew, Alexej Olexin, Sergej Teterin und Alexander Schatrow, die als „Lukaschenkos Brieftasche“ gelten.

    Minsk möchte sich allerdings lediglich zu den eigenen Bedingungen versöhnen und nichts von demokratischen Ultimaten hören.
    „Zum jetzigen Zeitpunkt ist die belarussische Regierung nicht zu einem Rückzieher bereit“, meint Andrej Fjodorow, Experte für internationale Politik.

    Er vermutet in einem Kommentar für das Nachrichtenportal Naviny.by, dass die Regierung einen Teil der politischen Häftlinge freilassen könnte, um ein Signal an den Westen zu senden. Der Druck auf die Zivilgesellschaft dürfte aber aufrechterhalten werden. Man werde wohl einige Organisationen schließen, werde aber, „anders als bei Tut.by, ohne Verhaftungen vorgehen“.

    Waleri Karbalewitsch, ein Experte des Minsker Thinktanks Strategija, befürchtet, dass nach der Verhängung wirklich harter Sanktionen „von einer Amnestie nicht mehr die Rede sein wird“. Seine Prognose lautet, dass das Regime auf diese Schritte des Westens mit einer Verschärfung der Repressionen antworten wird, insbesondere gegen Medien.

    Bezeichnend sei hier die Absicht des Innenministeriums, durchzusetzen, dass sämtliche Inhalte des zerschlagenen Portals Tut.by per Gericht als extremistisch eingestuft werden, erklärt der Experte in einem Kommentar für Naviny.by. Einen derartigen Ansatz könnte die Regierung dann auch auf andere unabhängige Medien ausweiten, meint Karbalewitsch.

    Dadurch bliebe den Journalisten nur, „entweder das Land zu verlassen oder ins Gefängnis zu wandern oder den Beruf zu wechseln“.

    Mit der Verschärfung der Sanktionen gerät der Westen in ein moralisches Dilemma, da das Regime in Belarus sich kaltblütig und systematisch an jenen rächt, die es für eine Fünfte Kolonne seiner Feinde im Ausland hält.

    Wobei laut einiger Experten das Regime aufgrund zu großer Anspannung müde ist und unweigerlich versuchen wird, wenigstens für den Anfang die Spannungen an der Westfront zu reduzieren.

    Minsk erhöht den Einsatz 

    In nächster Zeit werde ein „Prozess in zwei Richtungen“ zu beobachten sein, meint Igor Tyschkewitsch, Experte am Ukrainski institut buduschtschego (dt. Ukrainisches Zukunftsinstitut) in einem Kommentar für Naviny.by. Einerseits werde der Druck auf die Zivilgesellschaft weitergehen, andererseits sei eine Amnestie für politische Häftlinge zu erwarten – wenn nicht zum Unabhängigkeitstag am 3. Juli, dann vielleicht zum 17. September (an diesem Datum wurde ein neuer Feiertag eingeführt, der „Tag der Einheit des Volkes“).

    Nach der Vorstellung des Entwurfs für eine neue Verfassung, die „irgendwann zum September hin“ erfolgen werde, werde die Regierung mit dem Westen „herumhandeln“, lautet Tyschkewitschs Prognose. Er glaubt, dass über diplomatische Kanäle „bereits die ersten Beratungen [in dieser Richtung] laufen“.

    Was die Repressionen betrifft, so hat die Regierung „ihre Arbeit im Wesentlichen getan“, jetzt „werden die Reste erledigt“. Heute sorgt einfach jeder Fall von Repression für besonderes Aufsehen, doch habe es im Februar beispielsweise mehr solcher Fälle gegeben, meint der Experte.

    Die Fortführung der Repressionen lasse sich unter anderem dadurch erklären, dass Minsk „den russischen diplomatischen Traditionen folgt: Vor dem Beginn wichtiger Verhandlungen wird der Einsatz maximal erhöht“.

    Die Opposition soll aus einem Dialog mit dem Westen herausgehalten werden

    Tyschkewitsch ist der Ansicht, Minsk werde die westlichen Akteure mit der Aussicht auf Veränderungen im politischen System und auf die Einführung gewisser demokratischer Elemente locken. „Der Westen wird sich auf die eine oder andere Weise auf einen Dialog einlassen. Vielleicht nicht sofort, aber er wird reagieren müssen“, meint er gegenüber Naviny.by. Dem Westen sei klar, dass er „in der heutigen Konfiguration [des politischen Systems] Lukaschenko durch Sanktionen nicht wird stürzen können“.

    „Die Blockade“ im Dialog mit der EU und den USA könnte Anfang des kommenden Jahres „gelöst werden“. Dabei werde Minsk „auf seinem eigenen Algorithmus beharren“ – eine etwas demokratischere Verfassung, ein neues Wahlgesetzbuch und dann Wahlen, lautet seine Prognose.

    Werden sich die ausländischen Teams von Lukaschenkos Widersachern  in diesen Prozess einschalten können? Tyschkewitsch meint, sie müssten ihren Politikstil und den Kommunikationsansatz ändern, wenn ihre Anführer nicht das gleiche Schicksal ereilen soll, wie Juan Guaidó (der venezolanische Oppositionsführer, der nach einer Reihe politischer Misserfolge von der EU nicht mehr als rechtmäßiges Staatsoberhaupt anerkannt wurde).

    Für die ausländischen Teams der Opponenten des Regimes in Belarus sei es wichtig „zu versuchen, auf die Schlüsselfrage zu antworten: Was werdet ihr mit Belarus machen?“

    Stand heute gebe es „eine Reihe von Parolen und Erklärungen, dass der Westen uns Geld geben wird. Doch wo sind die Vorschläge für die Vertreter der Agrarwirtschaft, des Maschinenbaus, der Sicherheitsbehörden, der Mitarbeiter im Bildungswesen? Da geht es darum, was man öffentliche Politik nennt. Bislang allerdings arbeiten die Widersacher Lukaschenkos im Modus „revolutionäre Propaganda“. Und hierbei sind sie in starkem Maße ein Spiegel von Alexander Lukaschenko“, meint Tyschkewitsch.

    Brisante Mischung mit möglicherweise heftiger Wirkung

    Wenn wir von Versuchen sprechen, auf das Regime einzuwirken, müssen wir auch den Faktor Russland berücksichtigen. Die belarussische Führung erklärt, sie werde den Schaden durch die westlichen Sanktionen über eine verstärkte Zusammenarbeit mit Russland und der Eurasischen Wirtschaftsunion ausgleichen.

    Moskau hat es offensichtlich nicht eilig, einfach so Geld zu geben und verbilligte Energieträger zu liefern. Es wäre aus Sicht des Kreml dumm, die beklagenswerte Lage des Verbündeten nicht für seine Interessen und eine stärkere Anbindung von Belarus auszunutzen.

    Sollte der Kreml – und auch der Westen – starken Druck ausüben und das Regime in Belarus in die Zange nehmen, dann dürfte es den „Weg nach Osten“ wählen. Es würde seine Abhängigkeit von Russland verstärken und Teile seiner Souveränität aufgeben, erläutert der internationale Politikexperte Andrej Fjodorow.

    Auch diese wahrscheinliche Wirkung der verschärften Sanktionen stellt für die EU und die USA ein Problem dar. Derzeit sieht es so aus, als würden sie nach dem Prinzip vorgehen: „Tue, was du tun musst, komme, was wolle“.

    Die Verfechter von Sanktionen bauen darauf, dass die Sanktionen das Regime niederringen werden, bevor das Land seine Souveränität an Moskau opfert. 

    Und wenn man die Variante bedenkt, dass die Volksrevolution in irgendeiner Form das geschwächte Regime besiegt, so bedeutet das ebenfalls ein Risiko: Wenn Moskau plötzlich mit Panzern vorfährt, um – im eigenen Verständnis – rettend die Lage zu klären.

    Heute lässt sich nur eines prognostizieren, nämlich dass die Sanktionen einen kumulativen Effekt haben werden. An einem bestimmten Punkt wird sich Quantität in Qualität verwandeln. Die Stabilitätsreserven der belarussischen Wirtschaft sind nicht allzu groß, die Schwachstellen nehmen zu, und der Teufel weiß, wann die Wirtschaft des Landes zusammenbricht.

    Gleichzeitig wächst in der Gesellschaft der Grad der Unzufriedenheit, wobei sich zur politischen Unzufriedenheit jetzt auch die wirtschaftliche gesellt – und dies in zunehmendem Maße. Und an einem bestimmten Punkt könnte diese brisante Mischung hochgehen.

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  • Warum am 22. Juni 1941 auch der Holocaust begann

    Warum am 22. Juni 1941 auch der Holocaust begann

    Die Geschichte der Ausgrenzung, Enteignung, Vertreibung und schließlich Vernichtung der europäischen Juden kennt viele wichtige Daten und Ereignisse: Boykotte jüdischer Geschäfte ab 1933, Berufsverbote, die diskriminierenden Nürnberger Rassegesetze 1935 oder Gewalttaten wie die Reichspogromnacht 1938. Sie betrafen zunächst die deutschen Juden, ab 1938 auch die Juden Österreichs und des Sudetenlandes. Mit Kriegsbeginn vergrößerte sich jedoch sprunghaft die Gruppe derer, die von der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten betroffen war. Allein in Polen gerieten etwa 1,8 Millionen Juden unter deutsche Besatzung. Ab Herbst 1939 wurden dort hunderte Ghettos eingerichtet und bis Ende des Jahres fielen etwa 7000 polnische Juden deutscher Gewalt zum Opfer.

    Zu den wichtigen Daten zählt auch der 22. Juni 1941. Denn erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion begann die massenhafte und systematische Ermordung der Juden Europas, aus Terror wurde Genozid. Besonders auf den Gebieten der heutigen Ukraine und Belarus sowie der heutigen baltischen Staaten sowie Moldaus und Rumäniens ermordeten mobile Tötungskommandos innerhalb weniger Wochen und Monate Hunderttausende Juden. Hinter den vorrückenden Truppen drangen sie auch auf das Gebiet des heutigen Russlands vor, wo sie ebenfalls zahlreiche Massenmorde an Juden begingen. Insgesamt fanden auf den von Deutschland besetzten Gebieten der Sowjetunion bis 1944 etwa 2,6 Millionen Juden den Tod.

    Erst ab Ende 1941 bzw. im Laufe des Jahres 1942 wurden im besetzten Polen jene Vernichtungslager errichtet, in die schließlich Millionen Juden aus Polen und ganz Europa deportiert und ermordet wurden und die bis heute zu den zentralen Erinnerungsorten des Holocaust zählen.

    Der russische Jurist und Publizist Lew Simkin hat unter anderem Monographien zu Friedrich Jeckeln, dem Vernichtungslager Sobibor und zur juristischen Aufarbeitung des Holocausts vorgelegt. In einem Kommentar für gazeta.ru geht er anhand der Aussagen der Täter der Frage nach, warum gerade der 22. Juni 1941 den Übergang zu unvorstellbaren Massakern an den Juden markiert.

     

    An dem Tag, als die deutsche Armee und in deren Gefolge die Mörderbrigaden der Einsatzgruppen die sowjetische Grenze überschritten, begann das, was mit dem griechischen Wort Holocaust (dt. „vollkommen verbrannt“) bezeichnet wird. Bis zu diesem Tag waren die Juden in Europa zwar verfolgt, aus ihren Häusern verjagt und ihres Besitzes beraubt worden, aber sie wurden nicht umgebracht, zumindest nicht in diesen Dimensionen.
    Die Phase des offenen Massenmordes begann in den besetzten Gebieten der Sowjetunion.

    „Bereits während des Kampfes um die Macht hatte die Führung der Nationalsozialisten den Kampf gegen die Juden obenan gestellt“

    Einer derjenigen, die von nun an in bisher ungekanntem Maße mordeten, war SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, der am 23. Juni 1941 seinen Dienst als Höherer SS- und Polizeiführer Russland-Süd antrat. Jeckeln wurde vor 75 Jahren von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt und gehängt. Die Unterlagen zu seinem Verfahren habe ich vor mir. Ich konnte sie im Zentralarchiv des FSB einsehen.

    „Bereits während des Kampfes um die Macht hatte die Führung der Nationalsozialisten den Kampf gegen die Juden obenan gestellt“, berichtet Jeckeln bei der Gerichtsverhandlung. „Mit Erlass der Nürnberger Gesetze wurde dieser Kampf rechtlich untermauert. Da hatte man noch nicht vor, die Juden umzubringen. Sie sollten aber ins Ausland umgesiedelt werden, insbesondere nach Palästina“.
    Es ist möglich, dass in den ersten Jahren des Dritten Reiches niemand in der NS-Bewegung, auch der „Führer“ nicht, eine feste Vorstellung hatte, wie die Lösung der „jüdischen Frage“ aussehen sollte.

    Nun gehört aber neben Mein Kampf auch der Brief an den Soldaten Gemlich zu den Quellen des Nationalsozialismus, geschrieben vom „Bildungsoffizier“ Adolf Hitler am 16. September 1919. Dort heißt es: „Das letzte Ziel [des Antisemitismus] muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein." Sein Weg zu diesem „letzten Ziel“ war allerdings ein recht langer.

    In den ersten Jahren hatte niemand in der NS-Bewegung eine feste Vorstellung davon, wie die Lösung der „jüdischen Frage“ aussehen sollte

    Es muss wohl kaum jemandem erklärt werden, dass sich hinter dem Euphemismus „Endlösung“ die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas verbarg. Allerdings weiß niemand, ob dieser Begriff von Beginn an eben diese Bedeutung hatte, und ob er im Dritten Reich jene große Verbreitung fand, die heute gemeinhin angenommen wird. In historischen Dokumenten begegnet man ihm nur äußerst selten.
    In den 1980er Jahren hatte der „Nazijäger“ Simon Wiesenthal Hitlers ehemaligen Minister Albert Speer gefragt, wann dieser das erste Mal diesen Begriff gehört hat. Speer antwortete, dass es erst nach dem Krieg gewesen sei – weder Hitler noch Himmler hätten ihn verwendet.

    Hatte es denn überhaupt einen Beschluss über die Vernichtung der Juden gegeben?
    Niemand hat jemals einen schriftlichen Befehl zur Ermordung jedes einzelnen Juden gesehen. Keiner der wichtigsten Helfer Hitlers hat in den Verhören nach dem Krieg einen solchen Befehl erwähnt. Einige Historiker gehen davon aus, dass es ihn nicht gegeben hat. Aber in welchem Sinne nicht gegeben? In schriftlicher Form? Oder hat es ihn überhaupt nicht gegeben?
    Der britische Holocaust-Forscher Martin Dean hat mir gegenüber argumentiert, es habe keine einheitliche „Endlösung“ gegeben, die Entscheidung sei schrittweise getroffen worden, zwischen Frühjahr 1941 und Sommer 1942, und sie sei schrittweise umgesetzt worden: Die Juden wurden in verschiedenen Phasen über die gesamte Dauer des Krieges ermordet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die „Endlösung“ anfänglich eine Andeutung Hitlers war, die von jenen verstanden wurde, an die sie gerichtet war. Schließlich waren sie alle – und Himmler an erster Stelle – moralisch bereit; alles Weitere hing allein von ihrer Initiative ab.

    Die Vernichtung aller sowjetischen Juden, einschließlich der Frauen und Kinder, begann mit dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion

    All dem könnte man soweit zustimmen, wäre da nicht Folgendes: Die Vernichtung der sowjetischen Juden, und zwar aller Juden, einschließlich der Frauen und Kinder, begann praktisch sofort mit dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion. Dies wird allerdings für gewöhnlich damit erklärt, dass nach Hitlers Ansicht den sowjetischen Juden der Kommunismus eigen war, weswegen die Juden in der UdSSR als Kommunisten ermordet wurden. Dem war jedoch nicht ganz so – vielmehr keineswegs so.
    Allgemein wird angenommen, dass die sowjetischen Juden aufgrund des „Kommissarbefehls“ ermordet wurden, der am 6. Juni 1941 von Generalfeldmarschall Keitel unterzeichnet wurde und die Anweisung enthielt, „politische Kommissare […] nach durchgeführter Absonderung zu erledigen“. Doch von Juden ist in dem Befehl keine Rede. Diese tauchen erst in einer Weisung Reinhard Heydrichs auf, dem Leiter des Reichsicherheitshauptamtes (RSHA), die er am  2. Juli 1941 bezüglich der Umsetzung des Kommissarbefehls an die Höheren SS und Polizeiführer richtete: „Zu exekutieren sind […] Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstige radikale Elemente [].“

    Zunächst versuchte Jeckeln auf dem Papier, seine Opfer unter diese Kategorien zu fassen. Und später wunderte sich niemand, dass sämtliche Juden zu den „Kommissaren“ gezählt wurden, auch Frauen und Kinder. Der erste Massenmord geschah im August 1941 in der Stadt Kamjanez-Podilsky, wo auf Befehl von Jeckeln im Laufe von drei Tagen 23.600 Menschen ermordet wurden. Allein, weil sie als Juden geboren worden waren. Das Massaker von Babyn Jar folgte einen Monat später.

    „Ich war da der gleichen Ansicht, wie die meisten Deutschen.”

    Aus dem Verhör von Jeckeln:
    Frage: „Aus welchem Grund wurden Bürger jüdischer Nationalität umgebracht?”
    Antwort: „Laut Propaganda mussten die Juden erschossen werden, weil sie nicht produktiv arbeiten konnten und wie ein Parasit im deutschen Volkskörper lebten.“
    In seiner Antwort an den Staatsanwalt folgte Jeckeln somit Himmler, der Juden als „Parasiten“ bezeichnet hatte, die „zu vernichten sind“. 
    Doch, wie Stanislaw Lem in seinen Provokationen treffend schrieb: „Himmler hat […] gelogen, […] denn Parasiten vernichtet man nicht mit der Absicht, ihnen Qualen zuzufügen.” […] „Die nach Geschlechtern getrennten Juden wären in spätestens vierzig Jahren ausgestorben, wenn man dabei in Rechnung stellt, wie rasch die Ghettobevölkerung vor Hunger, Krankheiten und durch die infolge der Zwangsarbeit bedingte Entkräftung zusammenschmolz. […] – es sprachen also keine anderen Faktoren für die blutige Lösung außer dem Willen zum Mord.”

    Frage Staatsanwalt: „Sie waren natürlich in Bezug auf die Juden der gleichen Ansicht?”
    Antwort Jeckeln: „Ich war da der gleichen Ansicht, wie die meisten Deutschen.” Hannah Arendt bezeichnete in ihrem 1945 erschienenen Artikel Organisierte Schuld die Deutschen als ein Volk, „in welchem die Linie, die Verbrecher von normalen Menschen, Schuldige von Unschuldigen trennt, effektiv verwischt worden ist […].”
    Und trotzdem heuchelte Jeckeln, als er auf die Frage des Staatsanwalts antwortete. Er teilte nicht einfach nur diese kannibalischen „Ansicht“.

    Der Führer habe sich geäußert, die Liquidierung der Juden während des Krieges werde kein großes Aufsehen in der Welt erregen.

    Verteidigung (Anwalt Milowidow). Frage an den Zeugen Blaschek:
    „Als Jeckeln von den Plänen zur Vernichtung der Juden sprach, was meinen Sie als Zeuge – war das der persönliche Plan von Jeckeln oder Programm jener Partei, in der der Angeklagte Mitglied war?“
    Antwort: „Wir hatten kaum eine persönliche Meinung. Jeckeln war aber einer derjenigen, die Meinung machten. Unter diesen Meinungsmachern war es sehr schwer, eine eigene Meinung zu haben. Das betrifft nicht nur mich, sondern im Grunde das ganze deutsche Volk.“
    Milowidow: Ich habe keine weiteren Fragen.“

    Für mich bleibt aber noch die Frage: Gab es nun einen Beschluss zur Vernichtung der Juden oder nicht? Ich habe in den Archivunterlagen über SS-Gruppenführer Bruno Streckenbach, der zu Beginn des Krieges als Chef des Amtes I des Reichsicherheitshauptamtes einen der höchsten Posten in der SS-Hierarchie innehatte und der zum Ende des Krieges in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war, einen neuen Beleg für die Existenz eines Beschlusses entdeckt. Anders als Jeckeln ist er nicht hingerichtet worden. Als ihm der Prozess gemacht wurde, galt bereits der Erlass des Präsidiums der Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. Mai 1947 „Über die Abschaffung der Todesstrafe“. Streckenbach kehrte 1955 zusammen mit den anderen deutschen Kriegsgefangenen wohlbehalten nach Deutschland zurück.

    In Streckenbachs Ausführungen, die er im Laufe der Vorermittlungen gemacht hat , habe ich folgende Passage gefunden: „Mit Beginn des Russlandfeldzugs erreichten die Maßnahmen gegen Juden ein neues Stadium. Es erging der Befehl zur breitangelegten Liqudierung der Juden. Mir ist nicht ganz klar, von wem die Initiative ausging. Einem Bericht von Heydrich zufolge hatte sich der Führer auf einer der Besprechungen dazu geäußert und erklärt, er habe die Absicht, die Judenfrage in Europa endgültig zu lösen, und die Liquidierung der Juden während des Krieges werde kein großes Aufsehen in der Welt erregen. Dieser Befehl wurde zwar geheim gehalten, war aber dennoch bald allseits bekannt und sorgte für große Aufregung, weil es viele gab, die damit nicht einverstanden waren“.

    Dass viele nicht einverstanden gewesen seien, ist ein rhetorisches Mittel der Übertreibung, das sich durch den Ort erklären lässt, an dem die Aussage niedergeschrieben wurde, nämlich im Gefängnis der Lubjanka. Alles Übrige entspricht wohl der Wahrheit. Bis zur Wannseekonferenz am 20. Januar 1942, die allgemein mit der „Endlösung der Judenfrage“ verbunden ist, war es noch weit. Zu jener Zeit war aber bereits die erste Million der sechs Millionen Opfer des Holocaust ermordet worden.

     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von:

    Sie entstand mit der Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

     

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  • Der Crowdsourcing-Protest

    Der Crowdsourcing-Protest

    In der dritten Nacht in Folge ist es in Minsk zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gekommen. Der österreichische Osteuropa-Korrespondent Stefan Schocher berichtet auf Facebook, dass schwere Armee-Einheiten ins Zentrum verlegt worden sind: „Ob das eine Eskalations-Stufe ist oder eine Machtdemonstration auf verlorenem Posten, ist unklar“, so Schocher. „Es gab bereits starke Anzeichen, dass die Loyalität der Armee zum Regime in Frage steht. Die Armee einzusetzen, könnte sich für Lukaschenko also als Bumerang erweisen – die meisten Soldaten sind Präsenzdiener, Jungs aus dem Volk.“ So wie Schocher berichten auch zahlreiche Augenzeugen, dass die Sicherheitskräfte bemüht waren, kleinere Protestansammlungen immer wieder schnell zu zerschlagen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen, die Menschenrechtsorganisation Viasna zeigt Bilder von Menschenmassen vor einem Minsker Gefängnis, die versuchen, etwas über den Verbleib von Angehörigen herauszufinden.

    Wie organisiert oder unorganisiert sind die Proteste – auch im Vergleich zum Protest nach der Wahl 2010? Und haben die Demonstranten wirklich eine Chance – wie lange wird Lukaschenko noch an der Macht bleiben? 

    Meduza hat darüber mit verschiedenen belarussischen und russischen Experten gesprochen. Und zeigt außerdem Fotos von der ersten Protestnacht in Minsk.

    Foto © Maxim S.
    Foto © Maxim S.

    Auch 2010 war die Opposition nach der belarussischen Präsidentschaftswahl zu Protesten auf die Straße gegangen, die aber von den Sicherheitskräften schnell niedergeschlagen wurden. Warum ging es dieses Mal nicht genauso glatt?

    Rygor Astapenja, Politologe, Stipendiat der Robert-Bosch-Stiftung bei Chatham House (London) und Forschungsdirektor am Zentrum für neue Ideen (Belarus)
    Seit 2010 hat sich die Protestplanung stark verändert. Jetzt sind die Proteste unorganisiert, autonom, man könnte sagen, wie Crowdsourcing. Das Regime wiederum musste plötzlich erkennen, dass seine Ressourcen begrenzt sind und es nicht alle Kräfte zusammen einsetzen kann. Es war genötigt, erst auf den einen Protestherd zu reagieren, dann auf den nächsten, dann wieder den nächsten … Die Regierung war einfach nicht auf diese Art von Protesten vorbereitet, bei denen die Sicherheitskräfte über ganz Minsk verteilt werden müssen; und außerdem muss man sich nicht nur um Minsk kümmern, sondern um viele Städte in ganz Belarus.

    Jetzt sind die Proteste unorganisiert, autonom, man könnte sagen, wie Crowdsourcing

    Daher fiel die Reaktion des Regimes in mehrfacher Hinsicht sogar noch brutaler aus als früher. Wasserwerfer, Blendgranaten, Gummigeschosse – das hat es früher nicht gegeben. Doch letztendlich hat das den Unterschied zur Situation 2010 nur deutlicher gemacht: Lukaschenko ist nicht mehr der allgemein anerkannte, populäre Führer, vor allem seit gestern [dem Wahltag 9.8.2020 – dek] nicht mehr.

    Foto © Maxim S.
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    Foto © Maxim S.
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    Artyom Shraibman, politischer Beobachter aus Minsk
    2010 hatten es die Sicherheitskräfte einfacher, weil sich die Unzufriedenen alle an einem Ort im Minsker Stadtzentrum versammelt hatten, neben dem Parlamentsgebäude. Als die Demonstration aufgelöst werden sollte, hatten zwei Drittel der Menschen den Ort schon verlassen. 

    Diesmal waren die OMON-Einheiten und anderen Sicherheitskräfte nicht nur über Minsk verteilt, sondern im ganzen Land. Viele waren damit beschäftigt, die Menschen von den Wahllokalen wegzujagen, die dort eine ehrliche Stimmauszählung forderten. Der Widerstand war diesmal stärker: Ich kann mich nicht erinnern, dass 2010 ernsthaft versucht wurde, sich zu widersetzen. Jetzt liegen einige Dutzend Angehörige der OMON-Einheiten im Krankenhaus, auf vielen Videos ist zu sehen, wie Demonstranten andere Protestierende verteidigten oder sie den Sicherheitskräften wieder entrissen. Und wenn es mehr Demonstranten als OMON-Leute gab, gingen erstere zum Gegenangriff über: Als Antwort auf die Schlagstöcke flogen Flaschen.

    Foto © Maxim S.
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    Die organisierte Opposition steht nur in mittelbarer Verbindung zu diesen Protesten. Die meisten Oppositionsführer sind schon vor den Wahlen hinter Gitter gewandert, der Wahlkampfstab von Swetlana Tichanowskaja nahm nicht Teil, koordinierte nicht, organisierte nicht und hat sich den Protesten jetzt nicht direkt angeschlossen. Wenn die Unzufriedenen auf die Straße gehen, dann folgen sie vor allem Aufrufen von Bloggern über Telegram. Die meisten Autoren dieser Kanäle haben das Land verlassen, also ist es nur schwer vorstellbar, dass sich diese Opposition neu organisiert, weil es eben keine Organisation gegeben hat. Es gibt Menschen, aber keine Strukturen. Also kein Szenario wie in der Ukraine.

    Insofern wird jetzt alles davon abhängen, wie und mit welcher Brutalität sich die Ereignisse weiter entwickeln werden, davon, ob es zu [weiterem] Blutvergießen kommt oder nicht. Wenn ja, könnte das dem Verhalten der Nomenklatura und der Radikalisierung der Bürger eine neue Dynamik geben. Bislang sieht es so aus, dass das Regime genügend Kraft hat. Und wenn die Opposition nicht noch einen beträchtlichen Erfolg erringt (schwer zu sagen, was das sein könnte, außer vielleicht der Besetzung eines Verwaltungsgebäudes), dann werden die Proteste wohl einfach allmählich niedergeschlagen.

    Foto © Maxim S.
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    Margarita Sawadskaja, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Europäischen Universität in Sankt Petersburg
    Das Wichtigste ist, dass es jetzt über Minsk hinaus Proteste gibt. In diesem Jahr gibt es ein Crowdsourcing, die Proteste stehen für sich, ohne Anführer. Selbst der gute Herr Lukaschenko hat eingestanden, dass er nicht versteht, wer hier gegen ihn kämpft. 2010 hatten die Proteste noch ausschließlich in der Hauptstadt stattgefunden und waren enger auf einen belarussischen Nationalismus ausgerichtet. 

    Jetzt ist es eine breitere Koalition, die aktiv ist, und alles wird davon abhängen, wie sehr der Oppositionsstab das Vorgehen erfolgreich koordiniert und wieviele Menschen auf der Straße sein werden. In den kleineren Städten waren Erfolge zu beobachten, als die OMON vor den Protestierenden zurückweichen musste. Das ist ein wichtiges Signal, dass vielleicht noch nicht alles entschieden ist, selbst wenn die Prognose der Experten dahin geht, dass das Regime sich noch eine gewisse Zeit halten wird.

    Das ist eine einzigartige Situation, Netflix sollte eine Serie darüber drehen

    Der Begriff Opposition ist jetzt weit gefasst und unscharf. Die Infrastruktur der Opposition ist potenziell sehr machtvoll: Es gibt die Telegram-Kanäle und das Bedürfnis der Menschen nach neuen Oppositionsführern. 2010 musste man sich um das Vertrauen der Bürger bemühen, musste Programme schreiben – 2020 ist das nicht mehr nötig. Jetzt muss man standfest und überzeugt sein und offen sagen, dass man einen Regimewechsel will. Das hat [Swetlana] Tichanowskaja getan: Sie hat kein Programm, keine politische Erfahrung, ist aber zu einem Symbol geworden. Wahrscheinlich haben am Wahltag die meisten Belarussen für sie gestimmt. Wir können das zwar nicht mit Sicherheit sagen, aber wenn wir davon ausgehen, dass in einigen Wahllokalen ehrlich ausgezählt wurde und Tichanowskaja dort gesiegt hat, hat sie wahrscheinlich überall gesiegt. Das ist eine einzigartige Situation; Netflix sollte eine Serie darüber drehen.

    Foto © Maxim S.
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    Wird Lukaschenko noch lange an der Macht bleiben?

    Margarita Sawadskaja
    Viele Experten sind sich einig, dass dies Lukaschenkos letzte Amtszeit sein wird, auch wenn die Statistik darüber, wie lange autoritäre Regime überleben können, bislang für ihn spricht. Solche Regime sind gewöhnlich langlebig. Politologen unterscheiden drei Typen moderner autoritärer Regime: Militärjuntas, Einparteiensysteme und personalistische Diktaturen. Letztere stellen in der jüngsten Geschichte die überwiegende Mehrheit, und sie leben am längsten, weil die Eliten koordiniert werden im Umfeld einer Person, der sie alle vertrauen. Es kommt nicht so sehr darauf an, über welche individuellen Fähigkeiten diese Person verfügt, die Qualitäten ändern sich mit der Zeit oder verlieren ihre Bedeutung. Für die Eliten ist es wichtig, Gewissheit über die Zukunft zu haben, insbesondere in autoritären Regimen, in denen formale Regeln keine sonderlich große Rolle spielen.

    Diese Regime sind in der Regel auf die Lebenszeit des Diktators beschränkt. Für den Diktator und seine Umgebung ist das alles sehr unsicher, da das Regime für sie praktisch die einzige Option darstellt. Selbst wenn der Diktator sehr amtsmüde werden sollte, wird er sich bis zum Schluss an seine Macht klammern, weil sonst niemand für seine persönliche Sicherheit garantieren kann. Kommt es dann zu einem Regimewechsel, geht die Gefahr von der Elite aus. Sogar in Belarus gibt es ein Urbild hiervon: Schließlich sind [Waleri] Zepkalo und [Viktor] Babariko ihrem Profil nach typische systemtreue Liberale und keineswegs Revolutionäre, sondern Menschen, die sehr wohl wissen, wie das Regime funktioniert. Es wäre verfrüht, das aktuelle Geschehen in Belarus als Spaltung innerhalb der Eliten zu betrachten, aber: Solche Regime beginnen zusammenzubrechen, wenn sich Teile jener Elite abspalten, auf die sich die Diktatoren stützen.

    Foto © Maxim S.
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    Jedes autoritäre Regime muss sich zur Stabilitätssicherung auf eine breite Basis in der Gesellschaft stützen; Lukaschenko selbst hat diesen Rückhalt jetzt geschmälert. Man darf das Volk nicht als „Völkchen“ bezeichnen, insbesondere dann, wenn der Wohlstand breiter Gesellschaftsschichten immer weniger garantiert wird. Allem Anschein nach stützt sich Lukaschenko jetzt allein auf die Sicherheitskräfte und die Bürokratie. Das ist keine allzu breite Basis, auch wenn der staatliche Sektor in Belarus sehr umfangreich ist. Doch auch dort sind Lebensstandard und Karriereaussichten in Gefahr.

    Das nennt sich Lahme-Enten-Syndrom, wenn nämlich von einem Diktator das Signal ausgeht, dass er politisch handlungsunfähig ist. Erscheint er mit einem Katheter, ist das ein direkter Hinweis auf gesundheitliche Probleme. Für personalistische Regime ist es extrem wichtig, einen gesunden politischen Führer zu haben, der Tatkraft zeigt und angemessene Entscheidungen trifft. Das bedeutet eine Erleichterung für die Eliten, die ja wissen wollen, auf wen sie sich zu stützen und mit wem sie sich zu arrangieren haben.

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  • „Nur nicht Lukaschenko!“

    „Nur nicht Lukaschenko!“

    Knapp zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August 2020 protestieren Tausende in belarussische Städten. Sie folgen dem Aufruf von Swetlana Tichanowskaja. Ihr Mann, der bekannte Blogger Sergej Tichanowski, sitzt derzeit in Haft. Tichanowski sei unter fadenscheinigen Vorwürfen verhaftet worden, sagt seine Frau. Zuvor hatte er bekanntgeben, bei der Präsidentschaftswahl kandidieren zu wollen. 

    Tichanowski ist nicht der einzige Kandidat, der unter Amtsinhaber Alexander Lukaschenko im Vorfeld der Wahl ins Gefängnis wanderte. So hat Tichanowskaja kurzerhand die Kandidatur ihres Mannes übernommen und ein Bündnis gebildet mit Veronika Zepkalo – deren Mann Waleri von der Wahlkommission nicht zugelassen wurde und sich inzwischen mit zwei Kindern nach Moskau abgesetzt hat – und Maria Kolesnikowa. Letztere hatte den Wahlkampf des Ex-Bankiers Babariko organisiert – bis der aussichtsreiche Kandidat wegen Vorwürfen der „Geldwäsche und Korruption“ im Juni 2020 ebenfalls in Haft kam. Tichanowskaja verspricht im Fall eines Sieges die Freilassung aller politischen Gefangenen – sowie freie und faire Neuwahlen. Die OSZE etwa hatte bereits die vier vergangenen Präsidentschaftswahlen in Belarus wegen Betrugs und Einschüchterungen nicht anerkannt. 

    Egal wer – Hauptsache, nicht Lukaschenko: Nach Jahren der organisierten Alternativlosigkeit dreht sich derzeit die Wählerstimmung in Belarus. Warum ausgerechnet jetzt? Eine Analyse von Dimitri Nawoscha.

    Swetlana Tichanowskaja (Mitte) ist die einzige verbliebene unabhängige Kandidatin / © Pressestelle Viktor Babariko
    Swetlana Tichanowskaja (Mitte) ist die einzige verbliebene unabhängige Kandidatin / © Pressestelle Viktor Babariko

    Maidan, Orange Revolution und anderes mehr. Wenn von den Ereignissen in Belarus die Rede ist, wird allenthalben zu oberflächlichen Analogien gegriffen. Besonders häufig macht das Präsident Alexander Lukaschenko, der im Schnitt jeden zweiten Tag an den Maidan erinnert. Diese Analogien sind jedoch ungenau.

    Vielmehr ähnelt alles dem Abgang der Sowjets. Lukaschenko hat nämlich ein eben solches Sowjetsystem errichtet, mit Planwirtschaft, mit unfreien Wahlen und Medien, mit Paternalismus und sogar mit den Symbolen der Belarussischen Sowjetrepublik BSSR (Flagge, Wappen und Hymne), die er 1996 wieder eingeführt hat. Im Grunde ist Belarus von den Kommunisten direkt zu Lukaschenko übergegangen. Jenes Jahrzehnt [die 1990er Jahre], das Russland zufiel, sodass wenigstens irgendeine Art Zivilgesellschaft, Parteien und Institutionen entstehen konnte, hatten die Belarussen nicht. Angesichts der Unterdrückung haben sie sich nur langsam herausgebildet; jeglicher Keim wurde zertrampelt und mit der Wurzel ausgerissen. Repressionen gegen die Opposition (auch gegen Herausforderer Lukaschenkos bei den Wahlen) – von gewaltsam aufgelösten Demonstrationen und Gefängnisstrafen bis hin zu Exmatrikulationen und Entlassungen – haben die Oppositionellen zu Dissidenten sowjetischer Art degradiert. 

    Im Unterschied zur UdSSR sind die Grenzen in Belarus offen, und für einen belarussischen Aktivisten oder eine Person des öffentlichen Lebens führt der Weg aus den Repressionen typischerweise nach Europa. Jenen, die nicht bereit sind auszuwandern, bleibt innere Emigration und Anpassung.

    Zwangsweise entpolitisiert

    Die belarussische Gesellschaft wurde zwangsweise entpolitisiert. 2020 ist das verbrannte Feld plötzlich wieder aufgeblüht: Der belarussische Autoritarismus ist über das Internet gestolpert.

    Am uninteressantesten und leichtesten vorauszusagen ist bei den belarussischen Wahlen gewöhnlich ihr Ausgang: In der Nacht zum 10. August wird Lidija Jermoschina, Vorsitzende der belarussischen Zentralen Wahlkommission und langjährige Mitstreiterin Lukaschenkos, sich anschicken, einen weiteren Wahlsieg Alexander Lukaschenkos mit einem Ergebnis im Bereich von 75 bis 85 Prozent zu verkünden (und die Regierung scheint eindeutig auf solche Werte abzuzielen – koste es, was es wolle). Doch dieser Prozess ist jetzt ziemlich spannend geworden.

    Um das nötige Ergebnis zu erzielen, kommen eine Reihe primitiver, aber reibungsloser Mechanismen zum Einsatz, etwa die vorzeitige Stimmabgabe (mit der man sich jetzt auch in Russland vertraut macht – wie auch mit vielen anderen in Belarus eingeübten autoritären Praktiken). Hinzu kommen das Verbot von Wählerbefragungen und die Untergrabung der Institution der Wahlbeobachter: Die dürfen im Wahllokal fast gar nichts mehr, die Stimmauszählung etwa bekommen sie nicht zu sehen.

    Nichtzulassung von Kandidaten und Repressalien

    Lukaschenko steht ein großes Repertoire bewährter Mechanismen zur Verfügung, um das Feld möglicher Herausforderer zu bereinigen: Nichtzulassung von Kandidaten und Repressalien aller Art. Bei den Wahlen sind nacheinander Nikolaj Statkewitsch, Sergej Tichanowski, Viktor Babariko, Waleri Zepkalo entweder nicht zugelassen worden oder ihre Registrierung als Kandidat ist widerrufen worden. Ersterer gehört zu den langjährigen dissidentischen Oppositionellen. Die anderen drei – ein Blogger, ein Banker und ein ehemaliger Bürokrat – sind erst kürzlich in die Politik gegangen und haben umgehend die seit Langem angestauten Hoffnungen der Menschen auf einen Wandel absorbiert.

    Lukaschenko war gezwungen, in kürzester Zeit alle vorhandenen Mechanismen zugleich in Gang zu setzen, um das vom Regime geplante Szenario zu wiederholen, das den Titel trägt: „Das politische Schwergewicht fährt einen triumphalen Sieg gegen die Liliputaner der Opposition ein“. Es wurden sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt: der KGB, das Ermittlungskomitee [belarussische Strafverfolgungsbehörde – dek], die Propaganda, alle erdenklichen Aufsichtsbehörden und die vielen Sondereinheiten der Miliz, und hunderttausende Unterschriften für Herausforderer, die ohne viel Federlesen im Papierkorb landen.

    Drei der genannten vier Kandidaten sitzen jetzt hinter Gittern (Statkewitsch, Tichanowski, Barbariko); Zepkalo wird vom Innenministerium überprüft [inzwischen hat er zusammen mit seinen beiden Kindern das Land verlassen – dek]. Gegen mehr als 40 Personen, die während des Wahlkampfes festgenommen wurden, laufen Strafverfahren. Über tausend Personen sind während der im ganzen Land aufflammenden Protestaktionen wegen Ordnungswidrigkeiten verhaftet worden.

    Repressions-Quote eiligst abgearbeitet

    Die gewöhnlich für rund fünf Jahre geltende Repressions-Quote, wurde eiligst innerhalb von zwei Monaten abgearbeitet. Das bedeutet sogar für eine so eingespielte Polizeimaschinerie Turbulenzen und verhindert, dass alles zumindest den Anschein von Rechtmäßigkeit bewahrt.

    Jede Hausdurchsuchung und Verhaftung, jedes Strafverfahren hat anscheinend einem taktischen Ziel gedient: Lukaschenkos Herausforderer sollten aus dem Weg geräumt werden – und überhaupt alle Menschen, die in der Lage sind, Straßenproteste zu konsolidieren und ihnen eine Stoßrichtung zu geben. Doch die strategische Aufgabe bleibt ungelöst: Es ist nämlich nicht so, dass diese Maßnahmen den Rückhalt für Lukaschenko in der Gesellschaft stärken würde, eher umgekehrt. 

    Die einzige bislang „überlebende“ unabhängige Kandidatin ist Swetlana Tichanowskaja, die Frau des Bloggers Sergej Tichanowski, eine ganz normale Mutter und Hausfrau. 

    Als sie zu den Wahlen zugelassen wurde, war das für die Regierung Anlass zum Hohn, dass „bei uns eine Frau nicht gewählt wird“ (als Lukaschenko das sagte, hat er ganz bestimmt daran geglaubt). 

    Ihr Team ist zerschlagen und über diverse Gefängnisse verteilt. Nachdem aber die anderen Kandidaten von den Wahlen ausgeschlossen wurden, verkündete Tichanowskaja, dass sich deren Wahlkampfteams mit ihr zusammengeschlossen haben – und zwar ohne dass jemand untergebuttert würde: Tichanowskaja hat vor, im Falle eines Sieges sofort Neuwahlen anzusetzen, bei denen jeder Anwärter zugelassen werde (den derzeitigen „elektoralen Prozess“ erkennt sie nicht als Wahlen an). 

    Es ist nicht so, dass diese Maßnahmen den Rückhalt für Lukaschenko in der Gesellschaft stärken würden, eher umgekehrt

    „Wer, wenn nicht Lukaschenko?“ Es liegt auf der Hand, dass die Ausschaltung jedes seiner Herausforderer die Antwort auf diese Frage erschweren soll. Doch stattdessen hat Lukaschenko den Verfechtern eines Wandels die Antwort darauf nur leichter gemacht: „Wer auch immer, nur nicht Lukaschenko!“

    Bislang ist weiterhin unklar, was die Zentrale Wahlkommission daran hindern sollte, die traditionellen 75 bis 85 Prozent herzustellen. Doch diese Ziffern sind das Einzige, dessen sich Lukaschenko sicher sein kann. Mehr Gewissheiten hat er nicht.

    In früheren Jahren haben Gefängnisstrafen, zerschlagene Demonstrationen und andere Formen der Repression dafür gesorgt, dass in der belarussischen Gesellschaft schnell wieder Angst und Apathie herrschten, oder – wie die belarussischen Machthaber diesen Zustand bezeichnen – die „verfassungsgemäße Ordnung“. Jetzt nimmt das Engagement und die Politisierung der Belarussen jedoch zu. Was hat sich in der Gesellschaft getan?

    Aus dem künstlichen politischen Koma erwacht

    Das verbreitete Narrativ „sie ist aufgewacht“ vereinfacht die Dinge. Natürlich haben Viele keineswegs geschlafen und ihnen war seit langem bewusst, dass mit dem autoritären Regime etwas nicht stimmt. Belarus hält prozentual den Weltrekord bei der Anzahl an Schengen-Visa in der Bevölkerung – wobei viele in Europa keine neuen Eindrücke suchen, sondern zum Studium oder zur Arbeit dorthin fahren. Es handelt sich um eine urbane Bevölkerung – entgegen aller Stereotypen. Nach Angaben der UNO leben 78 Prozent der belarussischen Bevölkerung in Städten; das übertrifft sämtliche Werte in den Nachbarländern; nur neun Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Zugang zum Internet ist stark verbreitet (über 80 Prozent), auch unter Personen im Rentenalter.

    Die Entpolitisierung dieser Bevölkerungsgruppe, die Lukaschenko gegenüber keine Hochachtung hegt oder ihm gegenüber deutlich negativ eingestellt ist, jedoch nicht zu Dissidenten werden wollte, war erzwungen. Um die Metapher des Schlafs fortzuführen: Dieser fortschrittliche Teil der Gesellschaft wurde in ein künstliches Koma versetzt.

    Spirale des Schweigens gebrochen

    Als die Gesellschaft mit dem Beginn des Wahlkampfes aus dem Koma erwachte, geschah das in der Tat abrupt und für alle unerwartet. Der Grund war, dass man sich plötzlich bewusst wurde, dass es eine klare Mehrheit gibt, die Veränderungen will. Das ist ein interessanter Umstand, zu dem die Psychologen, die sich mit der Macht der vermeintlichen Mehrheit oder mit der Schweigespirale befassen, vieles erzählen können. Wenn die Spirale des Schweigens gebrochen wird, kann man zusehen, wie sich Konformismus und das Gefühl der Machtlosigkeit verflüchtigen.

    Als Reaktion auf das repressive Vorgehen der Behörden kam es zu Straßenprotesten. Darauf folgten weitere Repressionen, was wiederum eine neue Welle von Protestaktionen auslöste, die jetzt noch massiver ausfiel. Eine derartige geographische Ausbreitung von Protesten hat es in Belarus noch nie gegeben: In 20 Städten kam es zu Verhaftungen und Gerichtsverfahren. Die Protestwelle [nach der Nicht-Zulassung einzelner Oppositionskandidaten am 14. Juli – dek] wurde zwar unterdrückt, wobei Minsk nahezu unter Kriegsrecht gestellt wurde (im Stadtzentrum wurden zwei Tage lang Straßen abgesperrt, U-Bahneingänge geschlossen, das Internet blockiert und es wurden mit äußerster Härte Verhaftungen vorgenommen). Sie war aber auch von ersten Versuchen eines gewaltsamen Widerstandes gegen die OMON geprägt. So etwas hatte man in Belarus seit den 1990er Jahren nicht mehr gesehen.

    Zustrom Unzufriedener

    Wie kam es zu diesem Zustrom Unzufriedener, durch den das Blatt sich gewendet hat? Einer der wichtigsten Gründe ist sicher der immer rapidere Niedergang der Wirtschaft. Die Mankos des belarussischen Modells vom Sowjetstaatsplan wurden eine gewisse Zeit lang durch versteckte oder offene Subventionen aus Russland sowie durch Anleihen aus Europa und China verschleiert. Diese Mängel lassen sich jetzt nicht mehr verhehlen. Das belarussische Bruttoinlandsprodukt ist heute geringer als vor zwölf Jahren. Die Auslandsverschuldung ist um fast das Dreifache gestiegen (und das zu hohen Zinsen, die belarussischen Euro-Obligationen sind auf „Trash-Niveau“). Unter Lukaschenko gibt es keinerlei Aussichten auf Reformen oder eine Umkehr dieser Tendenzen.

    Die versprochene ‚Ruhe und Sicherheit‘ hat sich als Fiktion herausgestellt

    Ein anderer offensichtlicher Grund war, dass Lukaschenko die Corona-Epidemie ignoriert oder gar verlacht hatte. Dadurch ist Belarus jetzt in Europa das Land mit den zweithöchsten Fallzahlen pro Million Einwohner. Und das laut den offiziellen Statistiken, die, wie es aussieht, nach unten „korrigiert“ wurden. Die Dysfunktionalität der Regierung ist für einen zu großen Teil der Bürger spürbar geworden; die versprochene „Ruhe und Sicherheit“ hat sich als Fiktion herausgestellt.

    Interessant ist auch, dass es die gleichen Mechanismen sind, die früher die Diktatur gestärkt haben, die nun dem tektonischen sozialen Umbruch diese Kraft und Geschwindigkeit verleihen. Zum einen ist da die langjährige Unterdrückung unabhängiger Medien. Sie hat eine massive Nachfrage nach unzensierten Informationen und Meinungen erzeugt, die jetzt von YouTube– und Telegram-Kanälen befriedigt wird. Letzten Endes ist deren Nutzung nicht mehr nur eine Frage des Geschmacks, sondern auch ganz banal des physischen Überlebens. Das belarussische Agitprop hat das ganze Frühjahr über Lukaschenko folgend den Leuten weiszumachen versucht, dass das Coronavirus „nicht schlimmer als eine Grippe“ und überhaupt eine „Psychose“ sei. Und nach dem Unfall, durch den das Wasser in Minsker Leitungen vergiftet wurde, wurde behauptet, dass es trotzdem trinkbar sei. YouTube und Telegram sind in Belarus noch populärer als in Russland und haben letztlich die Wirksamkeit der Propaganda drastisch reduziert. Daher konzentriert sich die repressive Maschinerie auf Blogger: Bereits sieben Blogger sitzen wegen fingierter Strafverfahren in Haft und noch mehr wegen Ordnungswidrigkeitsverfahren; zwei Blogger versuchen sich der Verfolgung zu entziehen und konnten ins Ausland fliehen.

    Die gleichen Mechanismen, die früher die Diktatur gestärkt haben, verleihen nun dem tektonischen sozialen Umbruch diese Kraft und Geschwindigkeit

    Der zweite Faktor ist das zwar nicht formale, doch faktische Verbot von unabhängigen Umfragen. Das hat jahrelang die schwindende reale Unterstützung für das Regime verschleiert. Und so haben die Beliebtheitswerte der Präsidentschaftskandidaten, die auf den größten Internetportalen veröffentlicht wurden, den Herausforderern wieder Hoffnung gemacht: Lukaschenko hatte dort nur rund drei Prozent. Sie sind zu einem nationalen Meme geworden. Allerdings sind nun auch diese Umfragen verboten. Es gibt keine anderen unabhängigen Zahlen. Lukaschenko selbst hat sie unmöglich gemacht. Und ganz gleich, welche Ergebnisse die Zentrale Wahlkommission schließlich zusammenrechnen mag – eine Mehrheit wird diesen Ziffern keinen Glauben schenken.

    Als drittes ist die Hürde von 100.000 Unterschriften zu nennen, die eine Voraussetzung für die Nominierung eines Präsidentschaftskandidaten sind und die man in sehr kurzer Zeit zusammentragen muss. Früher hatte diese Praxis Lukaschenko ermöglicht, sich seine Herausforderer quasi auszuwählen. Jetzt ist dieses Werkzeug detoniert, dank der Mobilisierung von Wählern, die Veränderung wollen: Es haben sich in vielen Städten kilometerlange Schlangen von Menschen gebildet, die für einen der Herausforderer unterschreiben wollen.

    Die Menschen haben mit eigenen Augen gesehen, wie viele es sind. Selbst in verschlafenen Kreisstädten.

    Empörung und Solidarität statt Angst

    Der neue gesellschaftliche Konsens sorgt für eine Gegenreaktion auf die unverhältnismäßige, fast barbarische Gewalt, die chaotischen Festnahmen und die absurden Strafverfahren. Anstelle der gewohnten Angst zeigen sich Empörung und Solidarität. Früher bedeutete fehlende Loyalität den Verlust des Einkommens und eine Marginalisierung. Jetzt verliert man zwar immer noch sein Einkommen, aber man gehört zur Mehrheit und das eigene Handeln wird rundum gutgeheißen. Das ist eine für Belarus neue Situation.

    Lukaschenko setzt auf Charisma und Silowiki

    Lukaschenko hofft auf sein Charisma, dem er einst seinen Aufstieg verdankte, und hat seine Reisen in die belarussischen Regionen verstärkt. Zugleich überschüttete er die Wähler mit der doppelten Menge an Versprechen, etwas zu erhöhen, umzusetzen, sicherzustellen oder zu lösen. Zudem ist er in Bezug auf Russland aktiver geworden, das sich bei ihm zugleich zum wichtigsten Schreckbild („die russischen Oligarchen wollen Belarus destabilisieren“, „die Strippenzieher von Gazprom und weiter oben“, „Bedrohung für die Unabhängigkeit“) wie auch zur wichtigsten Hoffnung entwickelt (zwei Besuche bei Wladimir Putin innerhalb einer Woche, sein schmeichlerisches „Ich bin in die Hauptstadt der Heimat gefahren“). 

    Am meisten achtet er jedoch auf den Block der Silowiki. Die Hälfte seiner Treffen, die im Fernsehen gezeigt werden, sind mit Leuten in Uniform. Und auch der vor einem Monat neu ernannte Ministerpräsident Roman Golowtschenko ist ein Silowik. Beim KGB und bei den Inlandstruppen sind sämtliche Urlaube gestrichen worden, bei den Silowiki wurde ein spezielles Regime der Dienstausübung ausgerufen und sogar die Militärdoktrin der belarussischen Armee ist eilig um einen Passus über die Bekämpfung innerer Gefahren erweitert worden.

    Ich habe selbst in der belarussischen Armee gedient und eine recht gute Vorstellung davon, wie sie zerfällt. Ich glaube nicht, dass es dem Präsidenten irgendwie helfen würde, Rekruten in einen Kampf gegen jene hineinzuziehen, die mit ihm nicht einverstanden sind. Eher im Gegenteil. Der KGB, die OMON und die anderen Spezialeinheiten aber sind unter Hochdruck tätig – obwohl jeder ihrer Schläge gegen Unzufriedene einen Schlag gegen Lukaschenkos Umfragewerte bedeuten könnte. Nach Einschätzung von Experten liegt Belarus hinsichtlich der Zahl an Sicherheitskräften pro 100.000 Einwohnern weltweit mit an der Spitze. In Minsk hat es zwar nie Barrikaden gegeben, dafür aber mehr als genug Spezialgeräte, um Barrikaden zu durchbrechen. Hätte es in der späten UdSSR eine derartige Unterdrückungsmaschinerie gegeben und die entsprechende Bereitschaft, diese einzusetzen, hätte sich der Kommunismus wohl noch ein paar Jahre länger über Wasser halten können.

    Lukaschenko könnte wohl dazu in der Lage sein.

    Falls seine neuen Versprechungen nicht verfangen (und so wird es kommen), dann wird er sich nur und ausschließlich auf Gewalt stützen können.
    Allerdings hängt die gesamte jahrelang gehegte und gehätschelte Maschinerie der Silowiki jetzt schon in der Luft. Ihr fehlt jede Stütze.

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    „Für jeden Russen eine Medaille“

    Es regnet Auszeichnungen, noch mehr als zu Zeiten der Sowjetunion: Eine Recherche von Projekt darüber, wer in Russland heute eigentlich alles wofür ausgezeichnet wird. Warum das oft keiner weiß. Und was das mit Land und Gesellschaft eigentlich macht.

    Am 21. Mai 2015 wurden im Katharinensaal des Kreml staatliche Auszeichnungen verliehen. Als erster trat der verdiente Physiker Jewgeni Welichow vor, der Präsident des Kurtschatow-Instituts; er wurde mit dem Orden Für Verdienste am Vaterland 1. Klasse ausgezeichnet. Danach erhielten aus den Händen Putins der hundertjährige Volkskünstler Wladimir Seldin und Außenminister Sergej Lawrow den gleichen Orden. In dem Beschluss über die Auszeichnungen fanden sich noch über 200 weitere Namen. Allerdings wurden nicht alle öffentlich verliehen, die meisten erhielten ihre Auszeichnung ohne großes Aufsehen. Darunter war der 25-jährige Iwan Setschin, der stellvertretende Leiter der Abteilung Offshore-Projekte von Rosneft und Sohn von Igor Setschin, dem Chef desselben Unternehmens. Setschin der Jüngere erhielt den Orden Für Verdienste am Vaterland 2. Klasse.

    Hochdekorierte Kinder hochrangiger Staatsbeamter

    Setschin ist keineswegs das einzige Kind eines hochrangigen Staatsbeamten oder staatlichen Managers, das hoch dekoriert wurde und nicht einmal das jüngste. Übertroffen wurde er von Aischat Kadyrowa, der 21-jährigen Tochter Ramsan Kadyrows: Die erhielt am 7. März 2020 aus den Händen ihres Vaters die Medaille Für Verdienste vor der Tschetschenischen Republik – für ihre Teilnahme an der Paris Fashion Week.

    Die Auszeichnung von Verwandten ist übrigens nicht die wichtigste Besonderheit der heutigen, überaus verwickelten Auszeichnungspolitik in Russland.

    Nach dem Zerfall der UdSSR hatte das sowjetische Ehrungssystem seine Wirkung eingebüßt: Das neue Land brauchte neue Helden. 1994 erging ein Erlass, der die Grundlage für das jetzige System von Auszeichnungen schuf. Darin waren 29 Orden, Medaillen und Ehrenabzeichen sowie eine Reihe beruflicher Ehrentitel aufgeführt. Die höchste Auszeichnung war der Helden-Stern Russlands. Ein Merkmal der Epoche des „freien Marktes“ bestand darin, dass in dem neuen System keinerlei sowjetische Orden und Medaillen für berufliche Erfolge auftauchten.
    Mehrmals gab es Abänderungen in dem Erlass für Ehrentitel. 2013 hat Putin eine zweite höchste Auszeichnung eingeführt: den Held der Arbeit. Insgesamt übertrifft Russland mit seinen unterdessen 102 staatlichen Auszeichnungen sogar die späte UdSSR (95 Auszeichnungen).

     

    Überaus verwickelte Auszeichnungspolitik

    Von 1948 bis 1991 sind 660 Personen zu Helden der UdSSR geworden. Das heutige Russland hat in nur 30 Jahren rund 1100 Helden hervorgebracht.

    Putin selbst trägt nicht sonderlich viele Orden. Von den hochrangigen hat er nur den Orden der Ehre erhalten. Daneben hat er drei präsidentielle Belobigungen von Jelzin, einen Ehren-Pallasch [eine Säbelart – dek] der Marine und einen Verdienstorden der Republik Dagestan. Sehr viel zahlreicher sind hingegen seine ausländischen, religiösen und gesellschaftlichen Auszeichnungen, unter anderem aus Europa. Die hat Putin vor 2009 erhalten. Nachdem sich die Beziehungen zum Westen abgekühlt haben, überwiegen in der Liste der Staaten, die Putin Auszeichnungen verliehen, ehemalige Sowjetrepubliken sowie asiatische und afrikanische Länder. 

    Großes Geheimnis

    Heute ist es oft unmöglich zu erfahren, wer wofür ausgezeichnet wurde. Die Erlasse sind unter Verschluss und Angaben zu den Helden werden nirgends veröffentlicht. Geheime Auszeichnungen wurden zur Norm, seit Russland in eine Anzahl militärischer Konflikte eingriff und die heftige Konfrontation mit dem Westen begann. Mit Hilfe geheimer Erlasse werden oft Auszeichnungen für nicht erklärte Kriege gestiftet, für Militärs, Vertreter der Bürokratie und Journalisten, die im Sinne des Staates arbeiten. Im Mai 2014 hatten über 300 Journalisten der staatlichen Fernsehsender Orden und Medaillen verliehen bekommen „für ihre Professionalität und die objektive Berichterstattung über die Ereignisse auf der Krim“. Doch ein Erlass über die Auszeichnungen ist nicht auffindbar.

    Auf dem Höhepunkt des Krim-Frühlings tauchte auch eine spezielle behördliche Auszeichnung des Verteidigungsministeriums auf, die Verdienstmedaille für die Rückholung der Krim. Auf der Webseite der Firma, die mit dem Entwurf der Medaille befasst war, erschien eine Mitteilung über einen Eilauftrag für die Medaille und deren Beschreibung. Bald schon hatten ukrainische User sozialer Netzwerke auf der Rückseite der Medaille ein Datum für den Beginn der Krim-Operation entdeckt, nämlich den 20. Februar, und zwar noch lange vor dem Referendum über die Rückholung der Krim. Nach vielzähligen Berichten zu diesem Thema wurden die Anordnung des Ministeriums und die Webseite mit der Beschreibung der Medaille entfernt.

    Als erste erhielten Militärs und das ernannte Oberhaupt der Republik [Krim] Sergej Aksjonow die Verdienstmedaille für die Rückholung der Krim. Später kam die Medaille in den freien Verkauf, sie kann jetzt zusammen mit einer Urkunde für rund 500 Rubel erstanden werden.

    Per Geheimerlass zum Helden erklärt

    Putin verleiht zudem Auszeichnungen für Kriege, an denen Russland, seinen eigenen Worten zufolge, gar nicht beteiligt ist. In dieser Atmosphäre äußerster Geheimhaltung erweisen sich Sammler als diejenigen, die am besten informiert sind. Es ist zwar verboten, staatliche Auszeichnungen zu verkaufen, doch es geschieht trotzdem. Und anhand der Ordnungsnummern lassen sich Rückschlüsse ziehen. So belegen 60.000 Kampfauszeichnungen, die innerhalb kurzer Zeit verliehen wurden, dass Krieg geführt wird – selbst wenn im Fernsehen kein Wort darüber verloren wird. Die Sammler verzeichnen eine Reihe solcher Momente: Anfang der 2000er Jahre (Tschetschenienkrieg), 2014 (die Ereignisse in der Ukraine) und seit 2016 der Einsatz in Syrien.

    Geradezu ausgeschüttet wurden Auszeichnungen an Kämpfer privater militärischer Einheiten anlässlich des Krieges in Syrien. Am 9. Dezember 2016 fand zu Ehren des Tages der Helden des Vaterlandes im Kreml ein Empfang statt. Auf einer der Fotografien erkannten Journalisten Dimitri Utkin (den Kommandeur einer Einheit, die als TschWK Wagner bekannt wurde) – anhand seiner Rekrutierungsnummer. Seit 2015 sind Wagnerianer an militärischen Einsätzen in Syrien und sogar in Libyen und anderen afrikanischen Staaten beteiligt. Utkin hatte vier Tapferkeitsorden an der Brust. Auf dem gleichen Foto wurde Andrej Troschew identifiziert, mit einem frischen Stern als Held Russlands am Revers. Troschew ist Direktor eines privaten Militär- und Sicherheitsunternehmens. Zum Helden wurde er durch die Eroberung von Palmyra 2016, per Geheimerlass.

    Den derzeitigen Ansatz bei Auszeichnungen beschreibt Andrej Chasin, Mitglied von Einiges Russland und Berater des Chefs der Präsidialadministration, in einer öffentlichen Vorlesung: „Kein Auszeichnungssystem ist objektiv. Es wird nie wirklich alle auszeichnen, die es verdient haben – und auch nicht ausschließlich diejenigen, die es verdient haben. Das System muss so geartet sein, dass die Menschen angesichts eines äußeren Symbols der Tapferkeit oder der Verdienste verstehen, dass derjenige, der es trägt, mit riesiger Wahrscheinlichkeit etwas Wichtiges und Notwendiges getan hat.“ In den meisten Fällen ist dieses Wichtige und Notwendige schlicht die Loyalität gegenüber dem Regime.

    Auszeichnung als Dankeschön

    Die Erlasse über eine Auszeichnung enthalten verschwommene Formulierungen: „für mehrjährige Gesetzgebungstätigkeit“, „für Verdienste um Staat und Volk durch heldenhafte Taten“. In Wirklichkeit aber wissen die Ausgezeichneten selbst, dass es sich wohl aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Dankeschön handelt. Oft werden die Auszeichnungen sofort nach Ereignissen verliehen, die für das Regime wichtig sind.
    Peinlich wurde es, als der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Sergej Kirijenko den Heldenstern Russlands erhielt – unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl 2018 und womöglich dafür, dass dabei für Putin ein sehr gutes Ergebnis gewährleistet worden war. Die Regierung hatte auf eine offizielle Bekanntmachung dieser Auszeichnung verzichtet. Allerdings erfuhr die Zeitung Kommersant davon. Bald nach der Veröffentlichung verlor Sergej Jakowlew, Chefredakteur des Kommersant, seinen Posten.

    Überhaupt sind erfolgreiche Wahlen ein hervorragender Anlass, loyale Weggefährten auszuzeichnen. Der Anfang war 2008 gemacht, als Putin einigen Männern aus der Politikwissenschaft, Anführern kremlfreundlicher Jugendorganisationen und den Leitern dreier landesweiter Fernsehkanäle Auszeichnungen verlieh. Nach Angaben des Kommersant geschah das aus Dankbarkeit für deren Beitrag im Wahlkampf von Einiges Russland und des von Putin nominierten Präsidentschaftskandidaten Dimitri Medwedew.

    Vorsitzende von Wahlkommissionen erhielten von jetzt an regelmäßig Orden und Medaillen. 2012 wurde Wladimir Tschurow, dem damaligen Leiter der Zentralen Wahlkommission, der Alexander-Newski-Orden verliehen, per Geheimerlass. Einige Monate zuvor war Tschurow zu jener Person geworden, die im Internet am heftigsten diskutiert wurde: Nach den massiven Wahlfälschungen hatten sämtliche Vertreter der Opposition seinen Rücktritt gefordert.

    Auch die neue Zentrale Wahlkommission wurde vielfach ausgezeichnet Nach der Wahl von 2018, bei denen die Nichtzulassung von Alexej Nawalny für einen Skandal gesorgt hatte, verlieh der frisch wiedergewählte Präsident Putin der Leiterin der Wahlkommission, Ella Pamfilowa, den Orden Für Verdienste um das Vaterland 3. Klasse. 

    Neue Stagnation

    Betrachtet man die Gesamtzahl der Auszeichnungen – und hierzu gehören neben den staatlichen auch regionale und behördliche Auszeichnungen –, so hat Russland die Sowjetunion bei weitem überholt. Und zusammen mit den religiösen und gesellschaftlichen Ehrenzeichen geht die Zahl in die Hunderte.

    Der Historiker Alexander Spiwak bezeichnet das heutige System der Auszeichnungen als Chimäre. Das sowjetische System hatte sich über Jahrzehnte hinweg herausgebildet und war gegen Ende der UdSSR recht vernünftig organisiert. Im heutigen Russland hingegen hängen die Kriterien, nach denen die Helden bestimmt werden, nicht selten einfach vom Willen der Chefetage ab.

    Das wichtigste Prinzip, durch das das System in Russland dem sowjetischen ähnelt, sind die unerlässlichen Auszeichnungen für jene, die dem ersten Mann im Staate Dienste erweisen. 

    Im Naturschutzgebiet von Sawidowo, wo die sowjetische Nomenklatura gern Erholung suchte, arbeiteten unter Breshnew zwei bemerkenswerte Menschen, der Generalleutnant Iwan Kolodjaschny und der Jäger Wassili Schtscherbakow. Neben ihrem Arbeitsort verband die beiden, dass sie vollwertige Träger des Ordens waren, der in der Sowjetunion am seltensten verliehen wurde, nämlich des Ordens Für den Dienst am Vaterland in den Streitkräften der UdSSR. Das ließ sich einfach erklären: Kolodjaschny und Schtscherbakow kümmerten sich darum, dass die sowjetische Führungsspitze und ausländische Delegationen in Sawidowo jagen konnten. „Sie haben einfach die Wildschweine und Elche getrieben, und schon hatten sie die Brust voller Orden“, scherzt Historiker Spiwak.

    Eine derart zweckgebundene Haltung zu Auszeichnungen erfährt jetzt auch in den Regionen eine Blüte. Die Gouverneure können die Auszeichnungen nach eigenem Gutdünken verleihen, ohne sich mit der Zentralregierung abzusprechen.

    Gold mit Rubinbesatz

    Die Region mit dem größten Reichtum an Auszeichnungen – im direkten wie im übertragenen Sinne – ist die Republik Tschetschenien. Die höchsten Auszeichnungen in Tschetschenien – die Achmat Kadyrow-Orden und -Medaillen – sind aus Gold gefertigt und mit Brillanten, Smaragden und Rubinen verziert.

    Der größte Ordensträger in Tschetschenien ist das Republikoberhaupt selbst. Seine erste staatliche Auszeichnung hat Kadyrow mit 28 Jahren erhalten – gleich den höchsten Ehrentitel des Landes: Putin heftete ihm den Heldenstern an die Brust. Auch sein Vater Achmat Kadyrow wurde zum Helden erklärt – posthum.

    Darüber hinaus ist Kadyrow der Jüngere Träger zahlreicher tschetschenischer Orden und Medaillen. Nach vorsichtigsten Schätzungen trägt er mindestens 39 Auszeichnungen.

    In Tschetschenien gibt es zudem eine paradox anmutende Auszeichnung, nämlich die Medaille Für die Verteidigung der Menschenrechte. Sie wurde 2007 gestiftet und als erstes Ibragim Dsubairajew verliehen, dem stellvertretenden Apparatsleiter des Menschenrechtsbeauftragten in der Republik Tschetschenien. Dsubairajew hat Memorial und ähnlich ausgerichtete Organisationen 2009 beschuldigt, sie würden sich „zu Menschenrechts- und Informationsterroristen wandeln“. Er hat der von Unbekannten ermordeten Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa vorgeworfen, sie wolle die positiven Veränderungen in der Republik nicht wahrnehmen und lasse sich bei ihrer Tätigkeit ausschließlich von PR-Überlegungen leiten. Unter denjenigen, die mit dieser Medaille ausgezeichnet wurden, heißen mindestens drei Personen Kadyrow mit Nachnamen. Es sind Ramsan Kadyrow selbst, dessen Frau Medni und Islam Kadyrow, Bürgermeister von Grosny und ein Neffe dritten Grades von Ramsan Kadyrow. Er hat die Medaille 2013 erhalten; 2019 veröffentlichte die staatliche Rundfunkanstalt Grosny ein Video, das Islam Kadyrow zeigt, wie er Menschen mit einem Elektroschocker malträtiert, um von ihnen Geständnisse zu erzwingen.

    Ministerium verleiht Einmal-Medaillen

    Bei der Verleihung behördlicher Auszeichnungen hat es eine vollständige Rückkehr zur sowjetischen Praxis gegeben. Es gibt sehr viele dieser Auszeichnungen und viele von ihnen existieren allein zu dem Zweck, sie an einem Gedenktag an Staatsbeamte zu verleihen. 

    Dabei nimmt das Verteidigungsministerium traditionell den Spitzenplatz ein. Das geht so weit, dass sogar „Einmal“-Medaillen des Verteidigungsministeriums geschaffen wurden, etwa für den Panzerbiathlon 2014 oder die Teilnahme an einer Siegesparade.

    Die Behörden zeichnen nicht nur ihre eigenen Mitarbeiter aus, sondern es ergeben sich mitunter erstaunliche Konstellationen: Die Weltraumbehörde Roskosmos etwa zeichnete einen Mönch des Dreifaltigkeits-Klosters von Sergijew Possad, der in der Sternenstadt die Raumschiffbesatzungen segnet, mit dem Gagarin-Ehrenzeichen aus („für den aktiven Beitrag zur Umsetzung des Föderalen Weltraumprogramms“). Und der Kosmonautik-Verband verlieh Priestern, die in Baikonur arbeiten den Titel eines Verdienten Erforschers.

    * * *

    Heute kann jeder Bürger Russlands eine Medaille erhalten. Im staatlichen russischen Fernsehen wurde ein Werbeclip mit dem Slogan „75 Jahre Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Für jeden Russen eine kostenlose Gedenkmedaille“ geschaltet. In dem Video ist eine Medaille mit Staatssymbolen zu sehen, dem äußeren Anschein nach aus billigen Legierungen. Die Behauptung, dass die Medaille jedem Bürger kostenlos übergeben wird, ist zumindest ungenau. Die Lieferanten berechnen mindesten 299 Rubel [rund 3,80 Euro – dek] „für Zusatzoptionen“ sowie „für Verpackung und Lieferung“. Auch eine Firma mit dem schönen Namen Kaiserliche Münzstätte macht Geschäfte mit dem Kriegsgedenken. Nutznießer dieser Geschäfte ist letztendlich Dimitri Sobnin, der König des russischen „Sofashoppings“, der über seine Sendungen alles Mögliche verkauft, von der Ikone bis zur Ausstattung für die Datscha.

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  • Wo ist Superman Putin?

    Wo ist Superman Putin?

    Nur zögerlich, erst Ende März 2020, ist Wladimir Putin öffentlich gegen die Corona-Epidemie eingetreten: Am Montag, 23. März, zeigte er sich im Schutzanzug in einem Infektionskrankenhaus, am Mittwoch, 25. März, hielt er die erste Fernsehansprache, zwei weitere folgten inzwischen. 
    Kremlkritische Beobachter – wie etwa der Politologe Gleb Pawlowski – bemängeln, der Präsident wirke derzeit wenig überzeugend. So ist es vor allem der Moskauer Bürgermeister Sobjanin, der mit Maßnahmen gegen das Coronavirus auffällt. Sobjanin sei es gewesen, schreibt etwa Iwan Dawydow, der Wladimir Putin am Tag vor der ersten Fernsehansprache erklärte, dass die „Ansteckung hochdynamisch“ ist. 

    Auf Republic formuliert der Oppositionspolitiker Leonid Gosman seine Kritik am Auftreten Putins und die mutmaßlichen Gründe dahinter. Gosman ist unter anderem Präsident der liberalen politischen Bewegung Union der Rechten Kräfte. Gerade seine Schlussthese mag manchem Leser etwas zu steil erscheinen. Weil er viele Beobachtungen und Kritik, wie sie in den letzten Wochen von unterschiedlichen Seiten geäußert wurde, aber sehr pointiert zusammenfasst, ist sein Text jedoch unbedingt lesenswert.

    Beobachter kritisieren, er wirke wenig überzeugend – Putin bei seiner ersten Fernsehansprache zur Epidemie am 25. März 2020 / Foto © kremlin.ru
    Beobachter kritisieren, er wirke wenig überzeugend – Putin bei seiner ersten Fernsehansprache zur Epidemie am 25. März 2020 / Foto © kremlin.ru

    Was steht uns bevor? Die Epidemie wird abflauen – bisher haben alle Epidemien ein Ende gefunden. Es werden leider noch Menschen sterben, einige von uns werden Angehörige oder Freunde verlieren, doch die meisten werden überleben. Wir werden zu unserem normalen Leben zurückkehren. Das wird dann aber in einem anderen Land sein. In einem politisch veränderten Land.

    Vertrauen in das System vs. Vertrauen in die Person

    Das politische System kann schwere Zeiten überstehen, wenn eine der folgenden zwei Bedingungen gegeben ist: Vertrauen in die Institutionen oder Vertrauen in die Personen. 
    Vertrauen in die Institutionen, das ist die Variante der USA. Die Universitäten, die größten Städte, die gebildeten Bevölkerungsschichten, die Beamten – alle sind gegen Präsident Trump. Und alles ist in Ordnung, alles stabil. Viele meinen, dass der Präsident zu nichts taugt, aber sie glauben an das System, an die Abläufe.

    Das entgegengesetzte Beispiel war Kuba unter Fidel. Es gibt keinerlei Institutionen, aber es gibt Fidel Castro, den Glauben an ihn, die Kraft, die von ihm ausgeht. Natürlich wird das alles noch durch Repressionen unterfüttert, aber es beruht nicht auf diesen allein. Das Regime kam nicht wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten in die Bredouille, oder weil (wie in dem alten sowjetischen Witz) sie keine Patronen mehr hatten , sondern weil der gealterte Fidel nur noch ein Schatten seiner selbst war: Der Glaube an ihn war Geschichte.

    Unser System dagegen beruht nicht auf Institutionen. Putin ist nicht Präsident, weil er gewählt wurde – er wurde gewählt, weil er Präsident ist. Seine Legitimität, wie sie sich in den ersten Monaten seiner Regentschaft herausbildete, beruhte auf seinem Charisma, dem Glauben an ihn. Er ist ein Sieger, er steht für die einfachen Leute, solche wie du und ich. Meine Feinde sind seine Feinde. „Ich will so einen wie Putin“, „Sein Gang ist so sexy“, „Geht doch allen gut!“. Gibt sogar einen Wodka Putinka. Und wenn Sie selbst diese Gefühle nicht gehegt haben, egal – es gibt genug andere, die so fühlten.

    Das Bild vom Superman

    Putin und sein Team haben zielstrebig das Bild eines Supermans geschaffen: Er flog einen Düsenjäger, demonstrierte seine Wurftechnik auf der Judomatte und ließ sich mit nacktem Oberkörper fotografieren. Mitunter kam es zwar zu albernen Übertreibungen, wie mit den griechischen Amphoren oder den sibirischen Kranichen, aber insgesamt hat es erstmal funktioniert.

    Putin wird dafür kritisiert, dass er sich um Umfragewerte kümmert. Es ist Unsinn, ihn dafür zu kritisieren, Er macht das völlig richtig. Schließlich beruht seine Macht gerade auf seinen Umfragewerten. Und was passiert, wenn die abstürzen, das weiß niemand.

    Jetzt sind sie allerdings abgestürzt. Das wird nicht nur aus den Meinungsumfragen deutlich (die Umfragewerte sind zwar wieder besser, allerdings ganz offensichtlich frisiert), sondern auch in den Geschäften, auf dem Markt, im Bus – trotz aller sozialer Distanzierung. Das ist offensichtlich, nicht, wenn man nicht die ganze Zeit fernsieht, sondern wenn man bloß mal aus dem Fenster schaut.

    Die große Enttäuschung

    Das hat nicht gerade erst jetzt begonnen. Und das Vorgehen der Opposition – enthüllen und die Inkompetenz der Regierung herausstellen – spielt dabei längst nicht die wichtigste Rolle, vielleicht sogar gar keine. Zu merken ist natürlich der Ermüdungsfaktor: Ein und dasselbe alternde Gesicht, ein und dieselben Worte, Scherze, Versprechungen. Doch das Wichtigste ist die Enttäuschung. Die Enttäuschung über die Staatsmacht, und da die Macht personifiziert ist, ist man eben enttäuscht von dieser Person. 

    Die Anhebung des Rentenalters etwa hat die Regierung nicht ohne Verluste überstehen können. Hätte sich der Präsident allerdings sofort ans Volk gewandt, hätte er Verständnis für die Wucht des Schlages gezeigt, den Millionen zu spüren bekommen, hätte er mit den Bürgern auf Augenhöhe gesprochen und nicht versucht, sie mit kleinen Vergünstigungen abzulenken, hätte er sich wie ein Mann verhalten, dann wären die Umfragewerte nicht so stark zurückgegangen.

    Damals haben ihm seine Anhänger zum ersten Mal etwas übel genommen: Mit seinem langen Schweigen hat er ihre Erwartungen enttäuscht. Der mit dem nackten Oberkörper und auf dem U-Boot, der, der die Russophoben in aller Welt zurechtweist, hätte sich anders verhalten sollen.

    Und jetzt die Epidemie.

    Die Maßnahmen, die der Präsident verkündet und die er nicht verkündet hat, wurden eingehend analysiert. Ich spreche aber von Erwartungen und Enttäuschungen. Man wartete auf seine Rede, fragte sich: Warum schweigt er? Von seiner zweiten Rede dann erwartete man sich schon nichts mehr. Sie hat niemanden beruhigt und keine Hoffnung gegeben. Sie hat nur für noch mehr Zorn gesorgt.

    Das Ausmaß dessen, wie unpassend er in den letzten Tagen vor das Volk tritt, wie sehr er nicht dem entspricht, zu dem er durch sein Amt verpflichtet ist, ist für die Bürger einfach nur unfassbar und beleidigend. Und natürlich ist es mittlerweile schwer, wenn nicht gar unmöglich, noch jemanden zu finden, der auf diesen Präsidenten hofft und glaubt, dass er ihm helfen wird. Das lässt sich auch nicht durch außenpolitische Siege kompensieren, die man sich vielleicht weiter zurechtdenken könnte. Angesichts der Epidemie, der Angst, ohne Geld und Arbeit dazusitzen, können solche Siege nicht mehr ablenken und bringen keine Freude – Putin hat sich demonstrativ geweigert, die tatsächlichen Probleme der Menschen zu lösen.

    Der Kommandeur im Bunker statt auf dem Pferd

    Kann die Staatsmacht Staatsmacht bleiben, wenn sie nicht respektiert wird? Intuitiv wird einem klar: Ein System, das bei den Menschen keinen Respekt und kein Vertrauen genießt, kann sich zwar in ruhigen Zeiten halten. Es übersteht aber keine Erschütterungen, ein träges Verhalten reicht nicht aus, wenn von der Regierung erwartet wird, den Rahmen üblicher Standards zu verlassen und wenn von der Bevölkerung ein Verhalten verlangt wird, das alles andere als Routine ist. In einem autoritären System muss der Kommandeur auf einem feurigen Pferd voranreiten. Sitzt er jedoch im Bunker, zerfällt die Machtvertikale und hinterlässt den unangenehmen Geruch dessen, woraus sie bestand.

    Die Einstellung vieler Bürger zur Regierung verändert sich – und gleichzeitig geschieht vor unseren Augen noch etwas anderes. Die oberste Staatsmacht und der Präsident persönlich sind objektiv in einen Konflikt mit jenen geraten, die Stütze und Auge des Herrschers sein sollten – mit den Gouverneuren. Ihnen für alles die Verantwortung zu übergeben, versetzt sie in eine fast ausweglose Lage.

    Die Gouverneure sind sich selbst überlassen

    Sie haben weder die finanziellen noch andere Mittel, um ihre Regionen in einer Situation zu verwalten, die zwar nicht erklärtermaßen, aber faktisch einen Ausnahmezustand darstellt. Die meisten sind eh nicht für ein Gouverneursamt geeignet – das Auswahlkriterium war in ihrem Fall persönliche Ergebenheit. Sie sollen keineswegs regieren, sondern die Kommandos von oben weiterleiten und im Gegenzug Geld und Stimmen nach oben liefern. Und diesen Gouverneuren wurde jetzt gesagt, dass sie es sind, die im Falle eines Misserfolgs aufgespießt werden.

    Drei sind zurückgetreten, aber wie viele verhehlen ihre Kränkung? Und die wenigen, die nun plötzlich in sich die Kraft finden, Mittel zu sichern (sie etwa den Oligarchen vor Ort aus der Tasche ziehen) und diese Situation würdig meistern, werden die bereit sein, in den Stall zurückzukehren? Wie auch immer die Epidemie sich entwickelt, das Verhältnis der Gouverneure zur obersten Staatsmacht wird sich ändern und ganz sicher auch ihre Bereitschaft, dieser ergeben zu dienen. Die Einheit und Geschlossenheit der herrschenden Gruppe ist drastisch geschwächt.

    Sie hatte 20 Jahre darauf beruht, dass Putin – für viele unerwartet – in der Lage war, „seine Leute“ aufzubauen und ein tatsächlicher Anführer des Teams zu sein. Die Angst, dass man ohne Putin dastehen könnte, die sie dem behördenhörigen Volk jahrelang eingetrichtert haben, war ihre Angst.

    Natürlich hat sich der Unmut seit Jahren angesammelt, schon mit Beginn der Sanktionen, als das geregelte bequeme Leben ins Stocken geriet. 

    Und jetzt hat sich Putin zurückgezogen. Man kann nur vermuten, was mit ihm los ist: Vielleicht ist er krank, hat Angst wegen der Epidemie oder hat sich wegen der Krise erschossen?! Man könnte das mit Stalin in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges vergleichen. Wichtig ist jedoch, dass er vielen Anzeichen nach nicht nur von den Bildschirmen verschwunden ist, sondern auch nicht mehr jene oberen Tausend im Griff hat, die das Land verwalten.

    All das bedeutet, dass das Virus unser Land – es hat ja schon ganz anderes überstanden – nicht auslöschen wird, das politische System eventuell aber schon. 

    Kommt eine Palastrevolte?

    Eine Palastrevolte schien mir stets unwahrscheinlich, doch nun ändert sich die Situation. Putin ist praktisch weg, das Land schliddert in den Abgrund, es gibt keine Institutionen und vor allem keine Zusammenarbeit zwischen ihnen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir in nächster Zeit das gleiche erleben, was viele, viele andere Länder durchgemacht haben: „Wegen der schweren Erkrankung des Präsidenten und angesichts der aus dem Ausland drohenden Gefahr für die Unversehrtheit des Landes, und im Sinne der Sicherheit der Bürger …“ Ganz vorübergehend, versteht sich. Und wer kommt zur Rettung? Die Gouverneure, die er gerade erst bloßgestellt hatte? Die Unternehmen, die er ruiniert hat? Das Volk, dem angeraten wurde, aus eigener Kraft zu überleben? Bleiben die Nationalgarde und OMON-Kräfte aller Art. Die können zwar auf den Straßen und Plätzen wirksam werden, aber nicht innerhalb des Palastes.

    Das kann natürlich vorübergehen. Doch in jedem Fall wird das Land ein anderes sein. Ich denke, gleich nach dem Abflauen der Epidemie wird etwas von grundlegender Bedeutung geschehen. Oder sogar schon früher. 

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