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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der Flug des schwarzen Schwans

    Der Flug des schwarzen Schwans

    „Um ehrlich zu sein, hätte ich nicht erwartet, dass sich die Operation derart hinziehen würde.“ Das sagte Alexander Lukaschenko in einem Gespräch mit der US-amerikanischen Nachrichtenagentur AP in Bezug auf den Krieg, den Russland bereits seit dem 24. Februar gegen die Ukraine führt. Bevor der Kreml seine Truppen aus dem Norden des Landes in den Donbass und in den Süden der Ukraine verlagert hat, war der Krieg bekanntlich auch von belarussischem Staatsgebiet aus geführt worden. Die Monitoring-Gruppe Belaruski Hajun will herausgefunden haben, dass russische Truppen allein von Belarus aus über 630 Raketen in Richtung Ukraine abgeschossen hätten.

    Seit Wochen scheint der belarussische Machthaber eine zweigleisige Strategie gegenüber seinem Kollegen Wladimir Putin zu verfolgen: In der Öffentlichkeit unterstützt er den Krieg Russlands mit hehren Worten der Loyalität. So auch am Tag des Sieges, als Lukaschenko sagte, dass die Belarussen kein Recht hätten, Russland nicht zu unterstützen. Zudem bediente er das vom Kreml gesetzte Narrativ, indem er behauptete, der Westen würde den Nazismus in der Ukraine befördern. Immer häufiger aber mischen sich auch Töne der Kritik und der Distanzierung in Lukaschenkos Reden, was auf die schwierige innenpolitische Lage für den Langzeitautokraten hinweisen könnte. Ebenso auf den Versuch, sich neuen politischen Handlungsraum gegenüber Russland verschaffen zu wollen. Denn einige Belarussen bekunden ihren Unmut gegenüber der Unterstützung des Krieges durch zahlreiche Sabotageakte an den Eisenbahnstrecken in Belarus, was im Volksmund in Bezug auf den Partisanenmythos des Zweiten Weltkrieges bereits Schienenkrieg genannt wird.

    Was hat Lukaschenko vor? Wie steht es überhaupt um seine Unterstützung in der belarussischen Gesellschaft? Fürchtet sich der Autokrat vor einer Proteststimmung, die trotz scharfer Repressionen neu aufkeimen könnte? Der belarussische Politikanalyst Waleri Karbalewitsch versucht in einem Beitrag für das Online-Portal SN Plus Antworten auf diese und andere drängende Fragen zu finden. 

    Viel wurde darüber geschrieben, dass Lukaschenko versucht, seinen außenpolitischen Kurs von 2014 bis 2020 zu wiederholen. Dass er Russlands Krieg gegen die Ukraine und Moskaus Konflikt mit dem Westen nutzen will, um die Beziehung zu den USA und zur EU aufzutauen. Genauso ist anzunehmen, dass Lukaschenko während dieses neuen russisch-ukrainischen Krieges intuitiv versucht, die acht Jahre alte Erfahrung in Bezug auf die gesellschaftliche Stimmung zu nutzen.

    Noch 2014, als der russisch-ukrainische Konflikt begann, hatten unabhängige Meinungsforscher festgestellt, dass zwei Drittel der belarussischen Bevölkerung Russland unterstützen. Die Mehrheit der Belarussen hatte also eine stärkere prorussische Haltung als das offizielle Minsk, das Kurs auf eine (wenn auch nur bedingte) Neutralität nahm. Diese Situation war für die Machthaber sogar ein wenig unbequem, weil es Moskau zusätzliche Hebel zur Einflussnahme auf Belarus an die Hand gab. 
    2020 hat Lukaschenko die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit verloren. Sämtliche unabhängige Experten erklärten einhellig, dass er die Situation nicht ändern kann und bis zum Ende seiner Herrschaft lediglich der Repräsentant einer Minderheit bleiben wird.

    Stimmung in der belarussischen Gesellschaft anders als 2014

    Doch jetzt kam der „schwarze Schwan“ angeflogen: Russlands Krieg gegen die Ukraine, bei dem sich Moskau belarussisches Territorium zunutze machte. Dieses Ereignis hatte vorwiegend negative Folgen für das herrschende Regime: Es wurde zum Mit-Aggressor, es gab neue und härtere Wirtschaftssanktionen und es herrscht Antikriegsstimmung im Land und anderes mehr.

    Möglicherweise hat die aktive politische Unterstützung Lukaschenkos für Russland bei diesem Krieg neben den bekannten Faktoren (der starken Abhängigkeit vom Kreml) auch einen anderen Sinn. Lukaschenko hatte wohl gemeint, dass die Bevölkerung in Belarus – ganz wie 2014 – Russland auch in dem jetzigen Krieg unterstützen würde, dass also die prorussische Stimmung der Bevölkerungsmehrheit und die absolut prorussische Position der Staatsführung im Einklang stehen würden. Und dass Lukaschenko erstmals seit 2020 die Unterstützung der Mehrheit erhalten und der gesellschaftliche Rückhalt breiter wird. Dass er wieder „Präsident des Volkes“ wird, nicht länger ein „Präsident der OMON“. Sprich: Der Krieg würde das Regime legitimieren. Und die Opposition, die die Ukraine aktiv unterstützte, würde erneut marginalisiert und sich wie vor 2020 in einem Ghetto wiederfinden.

    Haben sich diese Hoffnungen erfüllt? Was sagt die Meinungsforschung?

    Laut den soziologischen Daten von Professor Andrej Wardomazki geben nur 24 Prozent der Belarussen Russland die Schuld an dem Krieg, und 52 Prozent meinen, dass die Ukraine und der Westen daran Schuld seien. Es scheint, als hätte Lukaschenko bekommen, was er wollte.

    Wobei die 52 Prozent auch nicht die zwei Drittel von 2014 sind. Und es wird noch interessanter: Es stellt sich heraus, dass nicht 52 Prozent, sondern nur 43 Prozent einen realen Krieg von Russland gegen die Ukraine unterstützen. Und 62 Prozent sprachen sich dagegen aus, dass die Russen belarussisches Territorium für den Angriff auf die Ukraine nutzen.

    Krieg in der Ukraine bringt Lukaschenko kaum politisches Kapital

    Das bedeutet, dass es Lukaschenko nicht gelungen ist, eine überzeugende gesellschaftliche Unterstützung für seine Position zum Krieg in der Ukraine zu erreichen. Ich glaube kaum, dass ihm eine Fortsetzung der Kriegshandlungen zusätzliches politisches Kapital einbringen wird.

    Eine andere Sache ist, dass der Krieg in der Ukraine neue Spaltungen in der Gesellschaft zutage förderte. Wie sich zeigte, hegt ein gewisser Teil der auf Proteste ausgerichteten Community prorussische Sympathien. Das bedeutet, dass nicht alle, die gegen Lukaschenko sind, demokratischen Werten anhängen. Das wurde schon 2020 klar. Aber die derzeitige Tragödie in der Ukraine hat diese Stimmungen an die Oberfläche gespült.
    Lukaschenko hat auf der Sitzung vom 19. April bekanntermaßen verkündet, den Kurs der politischen Repressionen zu verstärken. Dazu gehörte der Schritt, die repressive Gesetzgebung zu verschärfen.

    Mit Androhung der Todesstrafe gegen innere Feinde

    Am 27. April verabschiedete das belarussische Repräsentantenhaus einen Gesetzesentwurf, der für „den Versuch, einen terroristischen Akt zu verüben“ die Todesstrafe vorsieht. Hier muss man betonen, dass diese Gesetzesneuerungen im beschleunigten Verfahren durchgesetzt werden: Die Gesetzesvorlage zur Änderung des Strafgesetzbuches wurde bereits in zweiter Lesung angenommen.

    Bemerkenswert ist, dass die Todesstrafe nicht für den terroristischen Akt selbst, sondern schon für einen Versuch vorgesehen ist. Da der Begriff des Terrorismus in Belarus von der Obrigkeit sehr breit ausgelegt wird, lässt er sich mit jedweder oppositioneller Betätigung in Verbindung bringen. Hierzu gehört insbesondere die Teilnahme an Protestaktionen. Beispielsweise wurden gegen die Politiker Pawel Latuschko und Swetlana Tichanowskaja Anschuldigungen aufgrund von „Terrorismus“-Paragraphen erhoben. 

    Das Repräsentantenhaus verabschiedete darüber hinaus ein Gesetz, das es den Truppen des Innenministeriums erlaubt, zur Unterdrückung von „Massenunruhen“ großkalibrige Waffen einzusetzen. Friedliche Protestaktionen gelten in Belarus bekanntlich als „Massenunruhen“.

    Die Urteile in den „politischen Verfahren“, bei denen die Opposition Haftstrafen zwischen 10 und 18 Jahre erhielt, werden bereits als „stalinistisch“ bezeichnet. Solche Urteile ergingen gegen Bürger der UdSSR in den 1930er und 1950er Jahren. Wir können in Belarus jetzt vom Aufkommen einer „stalinistischen Gesetzgebung“ sprechen. Das Land kehrt konsequent in jene finsteren Zeiten zurück.

    Protest-Stimmung und Sabotageakte 

    Logischerweise stellt sich die Frage: Warum so plötzlich? Die Massenproteste sind zerschlagen. Es scheint keinerlei äußerlich sichtbare Bedrohungen für das herrschende Regime zu geben. Warum also so eine Hektik, den Druck auf die Silowiki zu erhöhen, solche drakonischen Gesetze zu verabschieden?

    Ich denke, neben dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb sieht die Staatsführung eine Zunahme radikaler Stimmung im protestbereiten Teil der Gesellschaft. Das zeigt sich in den Sozialen Netzwerken. Es wird diskutiert, ob die friedlichen Proteste 2020 nicht ein Fehler waren und man nicht entschlossener hätte vorgehen sollen. Auch die Sabotageakte an Eisenbahnstrecken und die Aktivität der Cyberpartisanen lassen die Machthaber zu stärkeren Repressionen greifen. Angst hat schließlich große Augen.

    Wenn aber die Kommunikation mit der Gesellschaft einzig und allein darin besteht, die Daumenschrauben immer fester anzuziehen, dann hat dieses soziale Modell keine Zukunft. Man raubt diesem Land jede Perspektive, wenn man im 21. Jahrhundert mitten in Europa ein Nordkorea errichtet.

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  • „Der Sport befindet sich nicht jenseits der Politik“

    „Der Sport befindet sich nicht jenseits der Politik“

    Der Fußball in der Ukraine ist nochmals verstärkt seit dem Beginn der Maidan-Revolution Ende 2013 eng mit den gesellschaftspolitischen Entwicklungen im Land verbunden. Die organisierten Fanszenen des Landes stellten sich bei den Demonstrationen nicht nur in Kiew schützend vor die protestierenden Menschen. Viele Fans aus den Ultra-Szenen schlossen sich mit dem Beginn des Krieges in der Ostukraine den Freiwilligenbataillonen an, wieder andere organisierten Netzwerke, um die damals schlecht ausgerüstete Armee und die Bataillone mit Waffen, Lebensmittel, Ausrüstung und medizinischer Hilfe zu versorgen. Der Fußball, der immer noch stark durch die Eigentümerschaft der Oligarchen geprägt ist, geriet auch aufgrund des Krieges in eine tiefe Krise, Zuschauerzahlen sanken dramatisch, zahlreiche Traditionsvereine wie beispielsweise der FK Dnipro gingen bankrott.

    Mit dem Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, finden sich Fußballer, Spieler, Trainer und Fans auch mitten in den dramatischen Ereignissen wieder. Stadien wie das Juri Gagarin-Stadion in Tschernihiw und Trainingsanlagen wurden zerstört. Viele Fans, aber auch Trainer, Profifußballer und ehemalige Spieler kämpfen in der Armee oder auf Seite der Territorialverteidigung. Wie beispielsweise Igor Belanow, 1986 als „Europas Fußballer des Jahres“ ausgezeichnet. Oder der aktuelle Trainer des in Transnistrien ansässigen Vereins Sheriff Tiraspol Jurі Wernidub. Auch unter den Sportlern gibt es bereits Verluste. Witali Sapylo and Dmytro Martynenko waren die ersten Opfer, sie wurden in der ersten Woche der Invasion getötet.

    Oleg Dulub ist Trainer des FK Lwiw, der in der höchsten Spielklasse des Landes vertreten ist. Der Belarusse ist ein bekannter Fußballcoach. Er führte den belarussischen Verein Krumkatschy (dt. Die Raben) – einer der wenigen Vereine in Belarus, die als Privatinitiative entstanden sind – 2016 zum Aufstieg in die höchste Spielklasse. In der Ukraine trainierte er Karpaty Lwiw und Tschornomorez aus Odessa und aktuell den Verein aus Lemberg. 

    In einem Interview für das belarussische Medium Nasha Niva berichtet Dulub, wie er die Ukraine infolge des Krieges verlassen hat, warum das Land sein zweites Zuhause ist und was er in Lwiw nach Beginn der russischen Invasion erlebt hat. Er erklärt auch, wie er zu den Sport-Sanktionen gegen Russland und seine Heimat steht und warum der Sport kein unberührter Ort abseits der Politik sein kann. 

    Nasha Niva: Ist Ihnen die Entscheidung schwer gefallen, das Land zu verlassen?

    Oleg Dulub: Die ist spontan gefallen, ich hatte nicht vor, die Ukraine zu verlassen. Ich kam wie gewöhnlich zum Platz, und dort wurde mir und Wassili Chomutowski [dem belarussischen Torwarttrainer des FK Lwiw] gesagt, dass wir schleunigst weg müssten, weil bald belarussische Truppen in die Ukraine einmarschieren. Wenn das passiert, würde uns die EU vielleicht nicht mehr reinlassen.

    Es gab gute Gründe, diesem Tipp zu vertrauen. Außerdem sahen wir ja, was rundum vor sich ging. Unsere ukrainischen Spieler mussten sich zum Beispiel bei bei der Einsatzleitung der Territorialverteidigung melden und sich dort eintragen. Wir haben gefragt, was wir Ausländer denn tun sollen? Die Leute vom Verein telefonierten herum und sagten uns dann: Fahrt schnell weg! Auch wenn ich es immer noch bedaure, dass ich die Ukraine verlassen habe, weil die Mannschaft dort geblieben ist und ich dort immer gut behandelt wurde.

    Wie sind Sie ausgereist?

    Der Club hat uns geholfen. Wir fuhren mit einem Auto mit belarussischen Kennzeichen. Vor uns fuhr ein Fahrzeug vom Verein zur Begleitung, und an allen Kontrollpunkten ging es durch den grünen Korridor.

    Was waren für Sie die stärksten Eindrücke?

    Vor allem die Menge an Menschen. Wir hatten im Voraus die Warteschlangen an den Grenzübergängen gecheckt; bis zwei Uhr nachmittags war niemand da, keine Autos, keine Flüchtlinge. Als wir aber ankamen, da hatte schon der Flüchtlingsstrom eingesetzt. Beeindruckt im positiven Sinne hat mich, wie der Grenzübertritt organisiert war, wie gut die ukrainischen und polnischen Grenzbeamten gearbeitet haben. Auf der anderen Seite der Grenze, in Polen, wollten viele Männer in die Ukraine fahren, um sie zu verteidigen.

    Es ist nur schwer zu vermitteln, was wir im Vorfeld der Grenze gesehen haben. Eine Schlange von fünf Kilometern, aus Frauen und Kindern, die von Männern begleitet waren. Sie haben die Frauen und Kinder zur Grenze gebracht und sind dann umgekehrt, um ihr Land zu verteidigen.

    Ich würde die Ukraine als mein zweites Zuhause bezeichnen

    In Warschau erlebte ich dann eine besondere Situation. Ich erreichte mein Hotel am Flughafen, „all inclusive“. Hinter mir saß ein älterer Mann, ihm war anzusehen, dass er die Kleider anhat, in denen er von zu Hause losgegangen war. Dieser Mann war sehr verwirrt, als ob er zum ersten Mal in einem solchen Hotel ist und nicht weiß, was er tun soll. Vom Aussehen her schien er Bauer zu sein. Der Hotelmanager ging zu ihm und bot ihm Kaffee oder Tee an, der Mann verstand ihn nicht. Eine junge Frau wird gerufen, die Russisch spricht und ihm nochmal Kaffee oder Tee anbietet. Der Mann schaut sie an und sagt: „Ich habe Hunger.“ Das heißt, da wurde jemand einfach aus seiner normalen Umgebung gerissen und über die Grenze gebracht. Das hat mich sehr ergriffen. Ich kann verstehen, was für ein Stress das für ihn ist.

    War die Ukraine für Sie ein Zuhause?

    Ich würde sie als mein zweites Zuhause bezeichnen, besonders jetzt, wo ich zum zweiten Mal gekommen bin, um in der höchsten ukrainischen Liga zu arbeiten. Die Haltung gegenüber uns [als Trainerteam – dek] ist jetzt eine ganz andere, denn die Leute haben gesehen, wie wir 2016/17 beim ersten Mal in der Ukraine gearbeitet haben. Sie haben für uns die besten Bedingungen geschaffen, im Alltag und fürs Training. Es versteht sich, dass es bei der Arbeit unterschiedliche Momente gibt. Aber so ist Fußball, alles gut.

    Ich will noch etwas zur Haltung der Menschen in der Stadt sagen, besonders bei unserer zweiten Ankunft. Ich war angenehm überrascht, dass mich die Leute in Lwiw erkannten; sie kamen auf mich zu, grüßten mich, wünschten viel Erfolg. Und das, obwohl die meisten in der Stadt Fans von Karpaty sind [der Verein hat sich 2021 aufgelöst – Anm. Nasha Niva]. Vielleicht kennen mich die Leute gerade deshalb, weil ich Karpaty 2016 von ganz unten hochgeholt habe.

    Wie steht es jetzt um Lwiw?

    Die ausländischen Spieler haben das Land verlassen, aber die Ukrainer sind alle in Lwiw. Sie sind verpflichtet, in der Territorialverteidigung zu arbeiten, beim Abladen der humanitären Hilfsgüter mitzuhelfen. Anschließend trainieren alle gut organisiert, gehen in die Trainingshalle und spielen Fußball.

    Was, du schläfst? Bei euch ist doch Krieg!

    Wie haben Sie den 24. Februar erlebt?

    Ich erinnere mich an den Abend davor. Wir waren mit dem Trainerteam im Hotel etwas essen und redeten über die Lage und den drohenden russischen Einmarsch. Wir waren uns einig, dass in einer solchen Situation kein normaler Mensch einen Krieg anfängt, weil der nicht zu gewinnen ist. Wir gingen ganz ruhig schlafen, und so gegen halb sechs kriege ich einen Anruf auf Viber. Die Jungs aus Belarus melden sich und fragen: „Was, du schläfst? Bei euch ist doch Krieg!“

    Ich geh‘ ins Internet, schau mir die Rede eines gewissen Genossen über den Beginn der sogenannten Spezialoperation an. Ich dachte sofort an die Zeilen aus dem Lied: „[Am 22. Juni] // Genau um vier Uhr // Wurde Kyjiw bombardiert // Uns wurde gesagt, // Dass jetzt Krieg ist“. Die Rede ging ja um fünf Uhr Moskauer Zeit raus, und in Kyjiw war es da vier. Ich sah sofort viele Parallelen zu jenem Krieg, zu 1941.

    Um 12 Uhr hatten wir eine Versammlung und danach ein Gespräch mit der Vereinsleitung. Rund drei Stunden saßen wir noch auf der Anlage rum, dann fuhren wir ins Hotel zurück.

    Wie sehr spürt man in Lwiw, dass jetzt Krieg ist?

    Lwiw ist im Hinterland, und alle Kampfhandlungen werden vom Hinterland aus unterstützt. Und was ich in dieser Stadt gesehen habe, hat mich verblüfft, zutiefst berührt. Zum einen sah ich lange Schlangen vor den Musterungsbehörden. Da standen Männer, die versuchten sich zur Armee zu melden, aber nicht genommen wurden. Es hieß, alle Einheiten seien schon komplett, es gebe aber nicht genug Waffen.

    Ein paar Tage später begann vor den Musterungsbehörden die Sammlung von Sachen für die Flüchtlinge. Ich erinnere mich an Berge von Essen und Kleidung. Und weitere fünf Tage später gab es in Lwiw die ersten Kontrollposten. Das kam sehr unerwartet: Du kommst abends von der Anlage und es ist nichts zu sehen. Morgens willst du dann zur Anlage und stehst plötzlich vor einem Kontrollposten. Gleichzeitig waren die Schlangen vor dem Militärkommissariat nicht verschwunden. Da standen sehr viele Männer, die nach Kyjiw wollten, um die Stadt zu verteidigen.

    Rund eine Woche nach Kriegsbeginn erklärte der Bürgermeister von Lwiw, dass sich alle Männer zwischen 18 und 60 für eine Beteiligung an der Territorialverteidigung registrieren lassen müssen, auch die Spieler des Vereins.

    Wie haben Sie die Zeit von Kriegsbeginn bis zur Ausreise verbracht?

    Ich musste mich irgendwie [vom Krieg] ablenken. Ich habe natürlich die Nachrichten geschaut, hauptsächlich CNN und ukrainische Sender. Ich sah jetzt weniger russische und belarussische Programme. Insbesondere nach den Beiträgen über den Angriff auf das Verwaltungsgebäude in Charkiw, als die Belarussen sagten, die Ukrainer hätten sich selbst in die Luft gejagt.

    Ich bekomme ja aus verschiedenen Quellen Informationen, was tatsächlich in der Ukraine vor sich geht. Der Manager unseres Vereins war in Butscha, im Zentrum der Kämpfe, eingeschlossen unter der Erde. Er hat erzählt, was die sogenannten russischen „Befreier“ getan haben, und das erinnert mich an das Vorgehen der Faschisten im Zweiten Weltkrieg.

    Bei der Menge an Informationen könnte man verrückt werden

    Vor rund drei Tagen gab es da den Jungen, dessen Vater vor seinen Augen erschossen wurde. Der Junge selbst wurde verletzt. Sie haben ihm in den Kopf geschossen. Dieser Junge war der Freund der Tochter unseres Managers, er kennt das Kind und die Eltern, die ums Leben kamen.

    Irgendwann am zweiten oder dritten Tag der Bombenangriffe rief ich diesen Manager an, und er schaltete auf Video. Ich sah, wie da die Leute im Luftschutzkeller saßen. Ziemlich schwer, jemanden in dieser Situation etwas zu fragen. Makarewitsch hat das gut gesagt: Wenn jemand im Krieg war, erinnert er sich nicht gern daran.

    Auch einer unserer Scouts war in Butscha. Andere Scouts waren in Charkiw und in Saporishshja und erzählten, wie dort die Häuser mit direktem Beschuss bombardiert werden, mit den Mehrfachraketenwerfern Grad, mit Granaten und so weiter.

    Nach all diesen Nachrichten und Telefonaten sind Wassili Chomutowski und ich zur Anlage gegangen und haben dort einiges erledigt. Bei der Menge an Informationen konnte man verrückt werden. So viel Negatives. Ich sah die Erschütterung der Menschen, ich weiß, dass der Sohn unseres Scouts seit den Bombenangriffen ständig Schluckauf hat, und wie sehr sich die Haltung dieses Mannes gegenüber Russen und Belarussen verändert hat.

    Haben Sie selbst irgendeine Anfeindung erlebt?

    Was Lwiw angeht, da gab es nichts. Weil man mich hier sehr gemocht hat. Der einzige Nachteil war, dass einige Tage nach Kriegsbeginn meine Geldkarte gesperrt wurde, weil die Konten von Russen und Belarussen eingefroren werden sollten. Das war für mich okay, schließlich ist das Land im Krieg, und da geht es zur Sache.

    Hat diese Zeit ihre Wahrnehmung von den Ukrainern verändert?

    Nur zum Positiven. Ich habe eine geeinte Nation gesehen. Für sie ist dieser Krieg so wie der Große Vaterländische Krieg für die Sowjetunion: Die Menschen sind durch das gemeinsame Ziel vereint, diesen Krieg zu gewinnen. Mich hat auch erstaunt, wie sich die ukrainischen Sportler verhalten haben. Sie standen mit wenigen Ausnahmen zusammen. Andrij Bohdanow, ein Fußballer von Kolos, legte den Eid ab, nahm die Maschinenpistole und zog in den Krieg; und es gibt noch mehr solcher Beispiele.

    Vor dem Krieg schienen die Ukrainer nicht sonderlich geschlossen hinter Selensky zu stehen. Aber wie er sich dann nach Kriegsbeginn verhalten hat! Die Lage ist kritisch, man müsste eigentlich weg, und er sagt: Nein, ich werde mit der Waffe in der Hand kämpfen. Und das hat sich auf die Bevölkerung übertragen. Die Nation hat sich um Selensky zusammengeschlossen.

    Hat sich Ihre Haltung zu Russland jetzt geändert?

    Ja, meine Beziehung zu Russland hat sich sehr verschlechtert. Wie sich die sogenannten Befreier verhalten … So kann man im 21. Jahrhundert nicht vorgehen. Sie vernichten ganze Städte zusammen mit der Zivilbevölkerung, einfach nur deshalb, weil diese Städte russischsprachig sind, aber die Menschen die Soldaten dort nicht mit Salz und Brot empfangen. Man muss verstehen, dass die Ukraine ein freies Land ist und die Ukrainer nur sehr schwer zu versklaven sind. Eher sterben sie, aber sie werden niemals mehr Sklaven sein.

    Ich denke nicht, dass sich der Sport jenseits der Politik befindet

    Was denken Sie über die Sanktionen gegen russische und belarussische Sportler?

    Ich verstehe überhaupt nicht, warum diese Sanktionen für Empörung sorgen. Diejenigen, die damit nicht einverstanden sind, sagen: Nun, der Sport steht jenseits der Politik. Wer hat sich bloß diesen Satz ausgedacht? Jeder Sport, und sei es im Kleinsten, spiegelt trotzdem das Geschehen in der Gesellschaft wider. Erinnern wir uns nur an die Olympischen Spiele 1936 in Deutschland. Wozu haben die Deutschen sie gebraucht? Um die Überlegenheit der arischen Rasse zu zeigen. Die Olympischen Spiele in Moskau und Sotschi haben dazu gedient, mit Hilfe des Sports die Überlegenheit der Sowjetunion bzw. Russlands zu zeigen.

    Meiner Meinung nach sollte ein Land, dass im 21. Jahrhundert im Herzen Europas einen Krieg entfacht hat, bestraft werden. Ich sage nicht, dass die Sportler am Krieg schuld sind: Die großen Markenfirmen verlassen das Land, den Banken wird der Zugang zu SWIFT gesperrt und so weiter. Der Sport steht hier an vorletzter Stelle.

    Ich denke nicht, dass sich der Sport jenseits der Politik befindet. Jeder Sportler ist auch Bürger seines Landes. Während der Proteste 2020 haben einige Sportler eine sehr bequeme Haltung eingenommen, nach dem Motto: Wir beschäftigen uns ausschließlich mit Sport und mischen uns nicht in die Politik ein. Dabei geht es doch gar nicht um Politik! Als die Menschen 2020 getötet wurden und wo jetzt Menschen umgebracht werden … Da geht es um menschliche Haltungen und nicht um Politik. Wir reden hier nicht davon, wen du wählst, ob die Roten, die Gelben, die Weißen oder die Grünen, sondern darum, ob du Mord gutheißt oder nicht.

    Die Ukraine hat gezeigt, dass je weiter ein Sportler oben steht, desto stärker die Einsicht in die Bedeutung der eigenen Persönlichkeit ist. Mir scheint, das hängt alles zusammen.

    Belarussische Sportler haben einen regimefreundlichen Brief unterzeichnet, russische Sportler sind zu regimefreundlichen Veranstaltungen gegangen. Haben sie alle die Sanktionen verdient?

    Für mich ist die Antwort klar: Sie haben es verdient. Natürlich können sie sagen, sie hätten sich nicht für sowas interessiert und hätten einfach nur trainiert … Wissen Sie, es gab da den tschechischen Schriftsteller Julius Fučik, den haben die Nazis 1944 hingerichtet. Als er im Gefängnis war, hat er das Buch Reportage unter dem Galgen geschrieben, in dem er beschreibt, was mit ihm geschah. Da gibt es einen guten Satz, den kenne ich auswendig: Fürchtet euch nicht vor Feinden, die können höchstens töten, fürchtet euch nicht vor Freunden, die können höchstens Verrat üben, fürchtet euch vor gleichgültigen Leuten, denn durch ihre schweigende Zustimmung geschehen die fürchterlichsten Verbrechen der Welt.

    Die schlimmsten Menschen auf der Welt, das sind wirklich die schweigenden Duckmäuser. Ich respektiere jede Position, verstehe das aber so, dass jeder zumindest eine haben sollte. Jeder Mensch ist einmalig, aber vor Gott sind alle gleich. Es ist ja nicht so, dass jemand als Präsident geboren wird. Nein, du wirst zunächst als Mensch geboren, erst dann erringst du ein Amt.

    Ist der Sport in Belarus noch am Leben?

    Amateursport, ja, der lebt. Der Profisport aber, die Wettbewerbe mit den besten Athleten der Welt, diese Möglichkeit wird es für belarussische und russische Sportler nicht mehr geben. Daher wird der Sport in diesen Ländern auf das Niveau von Freizeitsport absinken, wenn er nur wegen der Gesundheit betrieben wird. Erklären Sie mir doch bitte, wer den belarussischen Sport noch braucht, von dem sich nach 2020 die Fans abgewandt haben und dem die internationale Bühne versperrt ist?

    Die Ideologen.

    Die Ideologie muss demonstrieren, dass die belarussische Nation den anderen Nationen überlegen ist. Aber wie willst du das zeigen, wenn du dich nicht mit den besten Sportlern messen kannst? Du spielst nicht gegen Bayern München oder Liverpool, sondern gegen Mannschaften mit dem Niveau von Smolewitschi oder Mikaschewitschi. Das ist das Niveau von Betriebssportmeisterschaften. Was hat das mit Ideologie zu tun? Die verliert da den Sinn.

    Es wird gesagt: Hebt die Sperre auf, und wir zeigen euch, dass wir gute Sportler haben. Die Sperre wird aber nicht aufgehoben und man wird weiter im eigenen Saft schmoren. Es gibt einen guten Spruch: Wenn du ein Löwe sein willst, musst du auch mit Löwen kämpfen – nicht mit Katzen oder Mäusen, sondern eben mit Löwen! Die Löwen, das sind hier die besten Sportler der Welt, und wenn du gegen die spielst, dann wirst du besser.

    Fußball ist mehr als nur eine Sportart

    Glauben Sie an die Zukunft von Belarus?

    Ja. Die Genossen, die da jetzt am Ruder sind, die kommen und gehen. Ich hoffe, dass das Land bald frei sein wird.

    Machen Sie jetzt irgendwelche Pläne für Ihr Leben?

    Nun, ich versuche herauszufinden, wie ich die Mannschaft trainieren soll, wenn die ukrainische Meisterschaft weitergeht. Ich denke, wir werden nur ein paar Wochen zum Trainieren haben und dafür, wieder, zumindest teilweise Kondition zu kriegen.

    Gibt es eine Chance, dass die Meisterschaft schon bald weitergeht?

    Das hoffe ich sehr. Man muss wissen, dass Fußball in jedem Land mehr ist als nur eine Sportart. In Spanien wurde unter Franco versucht, den Fußball wiederzubeleben, um zu zeigen, dass im Land alles wieder normal sei. Ich denke, das erste, was die Ukraine machen wird, wenn sich alles wenigstens ein bisschen wieder eingerenkt hat, ist eine Fortsetzung der nationalen Meisterschaft.

    Als der Krieg begann, habe ich nachgeschaut, wann die sowjetische Meisterschaft nach dem Großen Vaterländischen Krieg weiterging. Und: Das erste Spiel fand am 13. Mai 1945 statt, wenige Tage nach Kriegsende. Da haben wir‘s.

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  • Lukaschenkos Rollenspiele

    Lukaschenkos Rollenspiele

    Fünf Stunden soll das Treffen zwischen dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin am vergangenen Freitag in Moskau gedauert haben. Was hinter verschlossenen Türen genau besprochen wurde, drang im Detail nicht an die Öffentlichkeit. Natalja Eismont, Sprecherin von Lukaschenko, ließ verlautbaren, dass man „sich auf gemeinsame Schritte zur gegenseitigen Unterstützung im Zusammenhang mit dem Sanktionsdruck, einschließlich der Energiepreise“ geeinigt habe. Zudem habe Russland „ernsthafte und noch nie dagewesene Schritte unternommen, um die Wirtschaft unseres Landes zu unterstützen“. Weiterhin soll Belarus moderne russische Militärtechnik erhalten.

    Experten halten es für möglich, dass Putin Lukaschenko in die russische Hauptstadt gerufen hatte, um seinen Kollegen zum Eingreifen von belarussischen Truppen im Krieg gegen die Ukraine zu drängen. Auch vor dem Hintergrund, dass der Vorstoß der russischen Truppen bis jetzt möglicherweise nicht so verläuft, wie sich der Kreml das vorgestellt hat. Hinweise für strategische Fehler gibt es zahlreiche, zudem scheinen die Verluste unter russischen Soldaten unerwartet hoch zu sein. Auch aus Belarus gibt es Meldungen, dass nicht nur die dortigen Krankenhäuser und medizinischen Dienste an ihre Leistungsgrenze kommen, sondern auch die örtlichen Leichenhallen

    Während des Treffens kam es im belarussischen Luftraum, nahe der ukrainischen Grenze, zu einem Vorfall, bei dem russische Flugzeuge angeblich belarussische Dörfer beschossen haben sollen. Die ukrainische Führung witterte in dem Vorfall eine mögliche „False Flag“-Operation Russlands, um der belarussischen Staatsführung einen Anlass zu konstruieren, direkt in den Krieg einzugreifen. Daraufhin vermeldeten verschiedene ukrainische Medien, dass Lukaschenko um 21 Uhr (Kiewer Zeit) angreifen würde. Der Angriff blieb aus. Es gibt Anzeichen, dass Lukaschenko mitunter einer Hinhaltetaktik folgt und versucht, sich auch rhetorisch in dieser scheinbar für ihn ausweglosen Situation verschiedene Stoßrichtungen offenzuhalten.

    Ob er damit im Angesicht der Macht des Kreml überhaupt erfolgreich sein kann? Ob er nicht letzten Endes doch in den Krieg eingreift, was dies für Belarus bedeuten würde und was Lukaschenkos Versuch bedeutet, sich im Rahmen der russisch-ukrainischen Verhandlungen nach 2014 abermals als Friedensvermittler zu präsentieren – über all diese Fragen wird in den belarussischen Medien intensiv diskutiert. Wir bringen eine Auswahl an Stimmen.

    SN Plus: „Für alle Fälle und Lebenslagen“

    Bei seinem Treffen mit Wladimir Putin habe sich Alexander Lukaschenko für alle Fälle, die ihm der Krieg noch einbringen könnte, rhetorisch gewappnet, meint der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch in seiner Analyse für das belarussische Medium SN Plus

    Vor allem war es für Putin wichtig, sich zum ersten Mal seit Kriegsbeginn mit dem Leader eines Staates zu treffen, der ihn unterstützt. In der heutigen Zeit ist das eine ziemliche Seltenheit. Vor dem Hintergrund durchweg schlechter Nachrichten braucht selbst der russische Präsident eine positive psychologische Therapie.

    Doch ich denke, der Hauptsinn dieser Gespräche lag woanders: Putin hat Lukaschenko höchstwahrscheinlich antanzen lassen, um eine aktivere Teilnahme von Belarus am Krieg zu besprechen. Dafür spricht auch die Tatsache, dass der russische Präsident entschieden hat, 16.000 „Freiwillige“ aus dem Nahen Osten als Kämpfer anzuwerben. Das bedeutet, dass es Putin in diesem Krieg an menschlichen Ressourcen mangelt. Doch wozu Araber einladen, wenn hier um die Ecke Belarussen sind, und ein Lukaschenko, der oft versprochen hat, Russland mit voller Kraft zu unterstützen.

    Lukaschenkos Äußerungen im öffentlichen Teil des Treffens mit Putin waren ein Meisterwerk der politischen Mimikry. Alle erforderlichen Rituale wurden ausgeführt, um dem Verbündeten Ergebenheit zu demonstrieren. Man kann sie sowohl als Rechtfertigung für Russlands Angriff auf die Ukraine lesen oder auch als Grundlage für eine direkte Kriegsbeteiligung von Belarus. Doch seine Äußerungen waren wie immer widersprüchlich und konfus. […] 

    Lukaschenkos Geschichte über irgendwelche obskuren Söldner, die sich angeblich entlang der belarussisch-ukrainischen Grenze auf das Atomkraftwerk Tschernobyl zubewegen, klingt unheilvoll. Allem Anschein nach wurde die ganze Geschichte mit den schrecklichen Söldnern erfunden für den Fall, dass es [Lukaschenko] nicht gelingt, sich aus Forderungen Russlands nach einem Einmarsch belarussischer Truppen in die Ukraine herauszuwinden. Dann würde man sagen, dass die Belarussen dort eindringen, um das Atomkraftwerk zu schützen. So wäre es keine Aggression gegen den Nachbarn, sondern ein humanitärer Akt, um die Menschheit vor dem atomaren Armageddon zu schützen.

    So hat Lukaschenko schon vorab beliebigen gegensätzlichen Handlungsoptionen den Grund bereitet. Für alle Fälle und Lebenslagen. Wenn er nicht zu seinen Worten steht, dann lassen sich beliebige surreale Bilder zeichnen, ohne Sorge um den eigenen Ruf. 

    Bald erfahren wir, ob es Putin gelungen ist Lukaschenko breitzuschlagen, dass Belarus eine aktivere Rolle in diesem beschämenden Krieg übernimmt. 

    Original, 11.03.2022


    Zerkalo.io: „Die wichtigsten Fragen entscheidet Moskau“

    Für das belarussische Online-Portal Zerkalo.io beschäftigt sich unter anderem der Politikanalyst Rygor Astapenja mit der Frage, wie sich Lukaschenkos Verstrickung in den Krieg auf die Innenpolitik des Landes auswirken wird.

    Wenn Lukaschenko das Land früher noch mit Moskau im Blick regierte, so scheint es jetzt, als würden einige Dinge in Belarus direkt von Russland geleitet. Die Verlegung russischer Truppen auf unser Staatsgebiet etwa und der Beschuss der Ukraine von belarussischem Gebiet aus – das hat Lukaschenko nicht mehr unter Kontrolle. Die Beziehungen zu Russland erinnern an sowjetische Zeiten. Die wichtigen Fragen entscheidet Moskau.

    Dass die Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien in Belarus stattfinden, rettet unser Land nicht vor der Beschuldigung an der Mittäterschaft bei der Aggression. Der Schatten dieser Anschuldigung legt sich auf alle, auf jene, die zu dem Regime halten, wie auch auf jene, die gegen das Regime sind.

    Die belarussische Frage ist wegen des Krieges logischerweise von der internationalen Tagesordnung gerutscht. Die Opfer und die Zerstörungen lösen mehr internationales Mitgefühl und Teilnahme aus als die Opfer des Regimes in Belarus. Durch die Dimensionen des Flüchtlingsstroms aus der Ukraine droht eine humanitäre Katastrophe, vor deren Hintergrund das Problem der politischen Gefangenen und der Repressionen in Belarus an Gewicht verlieren.

    Original, 10.03.2022


    Salidarnasc/Gazeta.by: Lukaschenko als neuerlicher Friedensstifter?

    Pawel Mazukewitsch, belarussischer Politikanalyst und ehemaliger Mitarbeiter des Außenministeriums, erörtert in einem Beitrag für den Telegram-Kanal Puls Lenina, den das Online-Portal Salidarnasc/Gazeta.by in einem Auszug bringt, warum Lukaschenkos Versuche, sich neuerlich als Vermittler darstellen zu wollen, kaum von Erfolg gekrönt sein dürften.

    Es liegt auf der Hand, dass Alexander Lukaschenko Belarus als Verhandlungsort reanimieren will, um seine Reputation als Schurke und Aggressor durch etwas Anständiges aufzubessern.

    Die Tatsache allerdings, dass in Belarus bereits drei russisch-ukrainische Verhandlungsrunden stattgefunden haben (am 28. Februar sowie am 3. und 7. März), macht aus unserem Land noch keine Friedensplattform. Solange sich auf belarussischem Territorium russische Truppen befinden, wird Belarus nicht mehr als die Adresse sein, an dem die Treffen stattfinden.

    […]

    Keine geringe Rolle bei der Wahl dieser Adresse spielen logistische Überlegungen. Für die beteiligten Parteien ist es näher und bequemer nach Belarus zu fahren. Aus Kyjiw fliegen keine Flugzeuge, aus Moskau kommst du mit dem Flugzeug nicht weiter nach Westen als nach Belarus.

    Es gibt auch noch weitere Motive. Die Russen fühlen sich in Belarus wie die Hausherren, ihre Truppen stehen hier. Die Ukrainer haben ihre eigenen Motive. Ich teile die Ansicht, dass allein schon die Tatsache, dass die Verhandlungen in Belarus stattfinden, die Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens des belarussischen Militärs verringert. Obwohl diese Nichtbeteiligung eher auf die Interessen des Kreml zurückzuführen ist, der in dieser Phase ein vermittelndes Belarus nötiger hat als ein kriegführendes.

    Die Front ist mittlerweile eine echte Kriegsfront, die russischen Streitkräfte greifen seit zwei Wochen von Belarus aus die Ukraine an und beschießen sie, und Lukaschenko schafft weiterhin Munition herbei.

    Allen Anzeichen nach hat er nicht vor, sich aus dem Schatten des Kreml herauszubewegen und einen Abzug der russischen Truppen zu fordern. Auch wenn nur auf diesem Wege ein Friedenspferd zu satteln wäre, auf dem Belarus und womöglich die gesamte Welt aus dem Krieg herausgeführt werden würde, aus einem Krieg, der sich zu einem Weltkrieg entwickeln könnte.

    Original, 11.03.2022


    Salidarnasc/Gazeta.by: Nuancen in der Rhetorik Lukaschenkos

    Pawel Sljunkin, ehemaliger Mitarbeiter des belarussischen Außenministeriums, äußert sich in einem Kommentar für das belarussische Online-Portal Salidarnasc/Gazeta.by zur möglichen Taktik Lukaschenkos, die eigene Aggressorrolle abzuschwächen.

    Noch sieht es nicht so schlecht aus für Lukaschenko. Noch benötigt der Kreml keine Beteiligung der belarussischen Streitkräfte am Krieg. Noch übt er, also Putin, auf Lukaschenko nicht den Druck aus, den er ausüben könnte. 

    […]

    Allen ist klar, dass Lukaschenko weder Friedensstifter noch eine dritte Partei ist, noch eine neutrale Plattform. Er ist ebenso Aggressor wie Russland. Doch wichtig sind hier die Nuancen.

    Lukaschenko versucht mit seiner Unterstützung für Friedensverhandlungen das wegzuwischen, was er nicht verhindern kann, nämlich den Umstand, dass Russland das belarussische Staatsgebiet zum Überfall auf die Ukraine nutzt.

    Und das bringt ihm gewisse Früchte ein. Die Sanktionen gegen ihn sind nicht so heftig ausgefallen wie die gegen Russland. Wenn man vorgehabt hätte, die belarussische Wirtschaft abzuwürgen, dann hätte man das schneller geschafft als bei der russischen Wirtschaft. Noch allerdings geschieht das nicht. Und darauf wird Lukaschenko weiter spekulieren.

    Original, 08.03.2022


    Naviny.by: „Die Explosion des Unmuts in der Gesellschaft verhindern”

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski ist in seinem Stück für Naviny.by der Meinung, dass Lukaschenkos Hauptstrategie es sein könnte, die direkte Beteiligung am Krieg, also die Entsendung eigener Truppen, zu verhindern.

    2014 hatte sich Lukaschenko merklich von der Politik des Kreml distanzieren können, als dieser die Krim eroberte und den Aufruhr im Donbass anzettelte. Durch diese besondere Haltung konnte Minsk seinerzeit die Beziehungen zum Westen merklich korrigieren.

    Gibt es für Lukaschenko jetzt die Chance, einen ähnlichen geopolitischen Trick anzuwenden, damit er nicht zusammen mit dem Regime im Kreml untergeht?

    Man möchte meinen, dass eine solche Chance nahezu ausgeschlossen ist. Die Abhängigkeit von Russland ist heute ungleich stärker. Stellen wir uns nur einmal vor, Lukaschenko würde jetzt den Abzug der russischen Truppen aus Belarus fordern. Dann würde Putin ihn wohl einfach von der politischen Bühne fegen. Es besteht kein Zweifel, dass der Kreml hierfür brutal und rücksichtslos genug ist.

    […] Nach den Ereignissen von 2020, als offensichtlich wurde, dass Lukaschenko den Rückhalt eines riesigen Teils der belarussischen Bevölkerung verloren hat, hängt sein Verbleib an der Macht vollkommen von der Gnade des Kreml ab.

    Daher besteht das Maximum, das Lukaschenko jetzt erreichen kann, darin, nach Möglichkeit eine direkte Beteiligung der belarussischen Armee an den Kämpfen gegen die Ukrainer zu vermeiden. Um, wie er sich erhofft, seine Verantwortung für die Beteiligung an der Aggression und folglich die Härte der Sanktionen zu reduzieren. Und um eine Explosion des Unmuts in der Gesellschaft abzuwenden.

    Auf jeden Fall fehlt dem derzeitigen Anführer des belarussischen Regimes die Kraft, um jene Bande zu sprengen oder wenigstens zu lösen, durch die Minsk an Moskau gekettet ist.

    Original, 10.03.2022

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  • Krieg oder Frieden

    Krieg oder Frieden

    Rund 30.000 Soldaten aus Russland nehmen laut Kalkulationen der NATO an dem Militärmanöver mit Namen Entschlossenheit der Union 2022 teil, das noch bis zum 20. Februar in Belarus stattfindet. Eine für ein Manöver ungewöhnlich hohe Zahl an Kampftruppen, die sogar aus dem Fernen Osten Russlands verlegt wurden. Dazu Luftabwehrsysteme, Raketen, die mit Atomwaffen bestückt werden können, und Kampfjets. Die russische Führung bestätigte, dass die Übung an fünf Orten im Nachbarland abgehalten wird, betonte aber, dass man sich in Bezug auf die Truppenstärke an die internationalen Vorgaben halten werde. Diese erlauben maximal 13.000 Soldaten. Internationale Militärexperten und Kritiker äußern Sorge darüber, dass der Kreml Belarus als Aufmarschgebiet für eine etwaige Invasion der Ukraine nutzen könnte. So wurde ein großes russisches Militärlager in der Nähe der Stadt Retschiza errichtet, rund 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. In Belarus wird mitunter befürchtet, dass die russischen Truppen auch nach der Übung im Land stationiert bleiben könnten. Eine Angst, die Alexander Lukaschenko zu zerstreuen versuchte, indem er sagte, dass die russischen Truppen nach Ende des Manövers das Land verlassen würden. Den Abzug würde er zusammen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin entscheiden. Für Ende der Woche ist ein Treffen der beiden Staatsführer angekündigt.

    Der belarussische Politikanalyst Artyom Shraibman setzt sich in seinem Stück für die russische Online-Plattform Carnegie.ru mit möglichen politischen Konsequenzen des Manövers für Belarus auseinander. Dabei fragt er auch, welche Rolle die Staatsführung um Lukaschenko für den Kreml spielen würde, falls es zu einem Krieg kommen sollte.

    Für das Regime in Belarus sind zwei extreme Szenarien unangenehm, die sich im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen ergeben könnten: ein Krieg und ein Waffenstillstand. Käme es zum Krieg, wäre man zu riskanten und wohl auch selbstzerstörerischen Zugeständnissen an den Kreml genötigt. Im zweiten Fall würde es schwierig werden, im Kreml Interesse für die zur Schau getragene antiwestliche Haltung zu wecken.
    Um die USA zu Zugeständnissen bezüglich der Sicherheitsgarantien zu bewegen, hat Moskau eine reale Drohkulisse für die Ukraine geschaffen, indem das Land von allen Seiten mit Truppen umstellt wird. Eine der Fronten dieser militärischen Diplomatie ist mittlerweile das Staatsgebiet von Belarus.

    Vom Friedensstifter zum Vorposten

    Alexander Lukaschenko fällt in diesem Geschehen nicht einfach nur die Rolle eines Statisten zu, sondern vorgeblich die des Initiators dieser Manöver, die bis zum 20. Februar in Belarus stattfinden. Er hatte als erster bereits Anfang Dezember von den bevorstehenden außerplanmäßigen Manövern gesprochen. Anschließend unterstrich er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er selbst die russischen Streitkräfte eingeladen habe. Man müsse die Verteidigung der Südflanke üben, da von der Ukraine eine Gefahr ausgehe.
    Bereits vor ihrem Beginn haben die Manöver die neue Rolle von Belarus in der Region verdeutlicht und auch den Kontrast zu den Träumen von einer osteuropäischen Schweiz, von denen die belarussische Regierung vor ein paar Jahren noch sprach.

    Bis 2020 hatte Lukaschenko die Verschärfung der Krise zwischen Russland und dem Westen ausgenutzt. Minsk balancierte zwischen den beiden Seiten, indem es für die eine Seite Risiken feilbot und der anderen Seite Möglichkeiten offerierte. 2020 brach dann der westliche Vektor ab, und Minsk hat jetzt weder Raum für diplomatische Schachzüge noch eine Wahl, wie es sich im Falle einer Eskalation in der Region verhalten kann. Ein neuer Versuch, sich von Moskau zu distanzieren, würde im Westen wohl kaum honoriert werden, in Russland träfe er, milde gesagt, auf Unverständnis.

    Unter Experten und Politikern gab es viele Jahre Diskussionen darüber, wie autonom Lukaschenko sein werde, wenn sich die Gefahr eines echten Krieges abzeichnet: Folgt er gehorsam dem Willen des Kreml oder geht er in Widerstand, um seine Souveränität zu bewahren und sie allen zur Schau zu stellen? 
    Anfang 2022 begann nun ein Experiment, das diese Debatte – und sei es vorübergehend – zugunsten der ersten These entscheidet. Niemand fragt sich jetzt noch, als was das belarussische Territorium zu betrachten ist: Es ist jetzt ganz und gar russisches Aufmarschgebiet. Und der Grad an Bedrohung von Seiten des belarussischen Hofes wird allein von einer Variablen bestimmt: ob der Kreml einen Krieg will.

    Lukaschenkos undankbare Rolle in dem Spiel

    Lukaschenko hat sich derweil keineswegs verändert. Es missfällt ihm, dass er nicht mehr als Herr der Lage im eigenen Land wahrgenommen wird. Es verletzt ihn allein schon der Gedanke, dass sowohl Kräfte im Ausland als auch die eigene Nomenklatura in ihm einen Vasallen Russlands und nicht des belarussischen Souveräns erkennen.
    Das ist schon an Kleinigkeiten erkennbar. Bei einer Sitzung mit den Silowiki fängt er plötzlich an, in Abwesenheit, aber sehr ausgiebig mit dem Anführer der vorletzten Oppositionsgeneration Senon Posnjak, zu streiten. Er argumentierte dabei, dass das derzeitige Regime keine Besatzung des Landes zulassen werde, woher die Gefahr auch kommen möge.

    Washington versteht diesen Charakterzug Lukaschenkos und ärgert ihn damit, dass es durch einen ungenannten Mitarbeiter des Außenministeriums erklären lässt, der belarussische Diktator habe allem Anschein nach die Situation nicht mehr im Griff. Und: Wenn sich Minsk in einen Krieg mit der Ukraine verstricken würde, könne das zu einer Spaltung der belarussischen Eliten führen. Das sieht nicht nach dem Wunsch aus, Lukaschenko in die Schranken zu weisen, sondern eher nach einem Versuch, die manipulativen Spekulationen des Gegners zu durchkreuzen und Lukaschenko zu Selbständigkeit zu ermutigen.
    Parallel drohen die USA Minsk mit neuen Sanktionen wegen der möglichen Beteiligung an einer russischen Aggression gegen die Ukraine. Das ist keine leere Drohung: Wegen der geringen Bedeutung von Belarus für die Weltwirtschaft und einer Reihe bereits verhängter Sanktionspakete wäre es politisch einfacher, Sanktionen gegen Belarus auf ein iranisches Niveau zu schrauben als in gleicher Weise gegen Russland vorzugehen.

    All diese Umstände, die Lukaschenko vielleicht erzürnen mögen, können jedoch nichts an einer weit unangenehmeren Tatsache ändern: Falls sich die Lage in der Region bis zum Äußersten eskaliert, dürfte der Kreml seine Pläne für das Territorium von Belarus nicht davon abhängig machen, was Lukaschenko dazu sagt.

    Weder Krieg noch Frieden

    Die Wahrscheinlichkeit eines echten Krieges in der Region abzuschätzen, ist eine undankbare Aufgabe. Doch selbst wenn es dazu kommen sollte, wird die belarussische Armee wohl kaum unmittelbar daran beteiligt sein.
    Die Ausnahme wäre hier, wenn es zu einem vollkommen apokalyptischen Szenario käme, bei dem die russischen Angriffe gegen die Ukraine von belarussischem Territorium aus geführt werden, und es als Antwort der Ukraine zu Raketenbeschuss und Sabotageaktionen kommt, von denen belarussische Militärangehörige oder Zivilisten betroffen wären.

    Auf eigene Faust wird Lukaschenko in dem Konflikt sicherlich keine belarussischen Truppen einsetzen. Darauf ist Moskau aus militärischer Sicht nicht sonderlich angewiesen, doch gibt es gewichtige politische Gründe. All die 27 Jahre an der Macht hatte Lukaschenko seinen Wählern Ruhe und Frieden als wichtigste Leistung versprochen, die alle anderen Entbehrungen und Probleme rechtfertigt.
    Eine Beteiligung an einem Krieg, insbesondere gegen die Ukraine, wäre selbst einem beträchtlichen Teil der Anhänger Lukaschenkos schwer zu erklären, und den übrigen Belarussen umso schwerer. Lukaschenko ist mittlerweile ohnehin zu weit vom Höhepunkt seiner Legitimität entfernt, um sein wichtigstes politisches Kapital zu riskieren, nämlich den Frieden seiner loyalen Wähler.

    Lukaschenkos jüngster Ansprache an das Volk und das Parlament zufolge ist ihm das sehr wohl bewusst. In seiner Rede fand sich viel militaristische Rhetorik, doch erklärte er auch auf die Frage einer Frau aus dem Saal, ob ihre Söhne im Ausland würden kämpfen müssen, dass die belarussische Armee dazu da sei, das Land auf dem eigenen Territorium zu verteidigen.
    „Wenn sie kommen, um uns umzubringen, werden wir uns volle Pulle wehren, auf unserem, wie auf fremdem Territorium. Von uns wird niemals ein Krieg ausgehen“, fügte er hinzu. Bei einer solchen Veranstaltung gibt es keine Fragen, die nicht vorab genehmigt wären, also wollte die Regierung, dass Lukaschenko die Gelegenheit für eine solche Antwort hat, um die zunehmenden Ängste in der Gesellschaft zu zerstreuen.

    Die Grauzone dieses gelenkten Konflikts ist ideal, um Moskau ohne größere Verluste seine rhetorische Loyalität zu verkaufen. Falls der Konflikt zwischen Russland und den USA ohne Krieg, aber auch ohne einen Frieden gelöst wird, wenn also die Differenzen diplomatisch breitgeredet werden, könnte Lukaschenko daraus sogar Kapital schlagen.
    Für das Verhältnis von Minsk zum Westen würde das allerdings nichts Neues bedeuten. Die Hoffnungen auf eine Autonomie Lukaschenkos sind eh zerstoben, und dieser Ansehensverlust lässt sich in absehbarer Zukunft nicht korrigieren.

    Im Verhältnis zu Moskau würde Lukaschenko allerdings zu einem Verbündeten, der in einem wichtigen Moment seine Pflicht in einem Bereich erfüllt hat, der für den Kreml von sakraler Bedeutung ist, nämlich bei der Sicherheit. Sollte das für Moskau nicht ein Anlass sein, bei den nächsten Kreditverhandlungen etwas großzügiger zu sein?


     

     

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  • Begeisterte Bulgaren

    Begeisterte Bulgaren

    „Bulgaren sind begeistert vom Lada Niva“, „Bulgaren sind Russland dankbar für Hilfe“, „Bulgaren lachen über Kiews Plan zur Einmischung in das Genehmigungsverfahren von Nord Stream 2“: Woher kommt diese Faszination der Bulgaren für alles, was mit Russland zu tun hat? Stehen die Bewohner der Balkanrepublik wirklich immer auf der Seite Putins, so wie es die Überschriften bei RIA Nowosti vermuten lassen? Und warum übersetzt eine staatliche Nachrichtenagentur eigentlich anonyme Leserkommentare? 

    Meduza-Investigativchef Alexej Kowaljow über einen bizarren Trend in staatlichen russischen Nachrichtenmedien – an dem er selbst nicht ganz unschuldig ist.

    „Bulgaren sind begeistert von russischem [hier etwas Beliebiges einsetzen]“. Dieses Mem ist derart hartnäckig, dass es jetzt kaum einen Tweet des offiziellen Accounts von RIA Nowosti gibt, bei dem sich der geneigte Leser nicht fragt, was denn mit den Bulgaren los ist.

    Angemerkt sei, dass Bulgaren sich nicht nur begeistern. Sie „äußern sich“ auch, sie „lachen über“ Dinge, sie „bewerten“ … Und zugegeben, auf den Internetseiten von RIA Nowosti zeigen auch Leser aus anderen Ländern Gefühle zu den Ereignissen in Russland unterschiedlichster Art.

    Die Briten beispielsweise, die einen Artikel des Daily Telegraph über mögliche Sanktionen der USA gegen Moskau kommentieren, „haben Angst“, dass sie frieren werden, wenn Russland vom Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen werden sollte.

    „Als ich eine blutjunge Reporterin war“, schreibt die Moskaukorrespondentin des Daily Telegraph und Mitautorin dieses Beitrags Natalja Wassiljewa auf Twitter, „da gab es bei uns diese Passantenbefragungen. Du gehst auf die Straße und fragst das Volk, was es denkt. Aber bei RIA sind wohl alle zu jung, um sich daran zu erinnern.“

    Das Format Anonyme Leserkommentare zu Artikeln ausländischer Medien über Russland gibt es auf der Website von Inosmi schon seit Mitte der 2000er Jahre. Das Portal übersetzt Artikel ausländischer Medien und gehört zur internationalen Mediengruppe Russia Today.

    Achtung, hier ein Hinweis auf einen möglichen Interessenkonflikt: Der Autor dieses Artikels und Investigativchef von Meduza, Alexej Kowaljow, schreibt im Weiteren über den damaligen Chefredakteur von Inosmi, Alexej Kowaljow. Es handelt sich hierbei um ein und dieselbe Person (Anm. Meduza).

    Der ehemalige Chefredakteur von Inosmi Alexej Kowaljow, zeichnet sich für die Schaffung dieser Rubrik voll verantwortlich. Unter seiner Leitung wurden im Rahmen einer allgemeinen thematischen Ausweitung des Online-Portals nicht nur Leserkommentare zu Artikeln über Russland aufgenommen, sondern auch zu allgemeineren Themen, etwa zum Gerichtsverfahren gegen Anders Breivik oder zum Tod von Margaret Thatcher. Seinerzeit war noch nicht allgemein bekannt, dass Internetseiten ausländischer Medien mit Kommentaren professioneller Kreml-Trolle zugemüllt werden. Und es war auch noch nicht so, dass Trolle Artikel kommentierten, in denen es überhaupt nicht um Russland ging.

    „Begeisterte Bulgaren“ und „in Furcht versetzte Briten“ gelangen auf die Internetseite staatlicher und regierungsfreundlicher Medien

    Vom Portal Inosmi gelangen die „begeisterten Bulgaren“ und „in Furcht versetzten Briten“ auf die Internetseite von RIA Nowosti und wandern dann weiter zu anderen staatlichen und regierungsfreundlichen Medien, die beginnen, das Format zu kopieren. Immerhin geht Inosmi bei der Auswahl anonymer Kommentare zu Artikeln aus dem Ausland relativ sorgsam vor: Es landen dort positive wie kritische Anmerkungen.

    Wenn die Kommentare von RIA übernommen werden, verschwinden gewöhnlich die negativen Anmerkungen. So erschien beispielsweise ein Beitrag von Inosmi vom 21. Mai 2021 unter der Überschrift Leser der Daily Mail über die neue „Putin-Rakete“: Die Russen sind Habenichtse, woher haben sie so viel Knete? Die hierfür ausgewählten Kommentare zum Artikel der Daily Mail über Tests der Hyperschall-Rakete unter der Codebezeichnung Ostrota spiegeln allgemein die Haltung der Leser dieser Zeitung wider: „Putin folgt dem niederträchtigen, von Despoten seit jeher ausgetretenen Pfad: Drohe dem eigenen Volk mit einem äußeren Feind, um es von den Misserfolgen im Innern abzulenken“, schreibt etwa der User Ravfox. Nachdem das Material zu RIA gewandert war, blieb dort nur eine Emotion übrig: „Das ist unser Ende“ – Briten in Angst vor supergeheimer russischer Rakete. Deshalb erschienenbei RIA – im Unterschied zu Inosmi – von den Kommentaren zum Artikel der Daily Mail nur die unpopulärsten Reaktionen mit den meisten Down-Votes. Übrigens ist dieser Artikel bei RIA eine weitere Variante dieses Genres über (angeblich) begeisterte Ausländer: „[Bewohner des Landes X, meist der USA] fürchten sich vor [russische militärische Erfindung].“

    Was Bulgaren über die „begeisterten Bulgaren“ denken

    Übersetzungen bulgarischer Kommentare, denen wir das Mem über die „begeisterten Bulgaren“ zu verdanken haben, gibt es erst seit 2020. Das ist wahrscheinlich auf eine Rotation bei den freischaffenden Übersetzern von Inosmi zurückzuführen. Im Juni 2021 schloss sich endlich der Kreis mit den „begeisterten Bulgaren“: Zu diesem Zeitpunkt berichtete das bulgarische Portal OFFNews von dem russischen Medienphänomen.

    „Diese Strategie, die Meinung einzelner (womöglich trolliger) Kommentatoren als Stimme des ganzen Volkes hinzustellen, das vermeintlich einhellig die russische Außenpolitik unterstützt, wird nicht nur bei den Bulgaren angewendet“, hebt das Portal hervor. „Auf gleiche Weise werden Kommentare der Amerikaner, der Chinesen, Briten, Franzosen, Japaner usw. aufgearbeitet. Unklar ist nur, warum bei dieser Medienkampagne so viel Meldungen ausgerechnet den Bulgaren gewidmet sind“.

    Die Strategie, einzelne womöglich trollige Kommentare als Stimme des ganzen Volkes hinzustellen, wird nicht nur bei den Bulgaren angewendet

    Unter den bulgarischen Medien, die RIA „begeisterte Bulgaren“ liefern, ist am häufigsten das Portal fakti.bg zu finden, das dem bulgarischen Unternehmen Rezon Mediya gehört. Zu dessen Konglomerat gehören auch die populärsten Internetportale Bulgariens zum Kauf und Verkauf von Immobilien und Gebrauchtwagen. Georgi Angelow, ein bulgarischer Journalist und Autor des Artikels über die „begeisterten Bulgaren“ auf OFFNews, erklärte gegenüber Meduza, warum gerade fakti.bg bei den Redakteuren von Inosmi und RIA beliebt ist: Diese würden sich vor allem Portale aussuchen, auf denen Kommentare nur wenig oder gar nicht moderiert werden. Wahrlich ein Grund für Begeisterung!

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und die MatKat-Stiftung

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  • Bystro #30: Warum ist Lukaschenkos Machtapparat derart stabil?

    Bystro #30: Warum ist Lukaschenkos Machtapparat derart stabil?

    Das Jahr 2021 in Belarus war geprägt von einer Radikalisierung des Machtapparats um Alexander Lukaschenko: Der hat die Medien, die Zivilgesellschaft, Aktivisten oder Andersdenkende mit scharfen Repressionen bekämpft. Mittlerweile ist kaum noch jemand sicher vor dem Zugriff der Silowiki, auch für Kommentare auf Facebook oder Reposts in den sozialen Medien werden mittlerweile mehrjährige Haftstrafen verhängt. Zusätzlich wurden wichtige Posten in Regierung, Wissenschaft oder Administration mit Leuten aus den Sicherheitsdiensten wie beispielsweise dem KGB besetzt.

    Warum arbeitet diese Repressionsmaschinerie derart konsequent? Wieso ist die Machtvertikale zu Beginn der Proteste nach dem 9. August 2020 nicht erodiert und weshalb zeigt sich der Apparat derart loyal gegenüber Lukaschenko? Auf diese und andere Fragen gibt der belarussische Politologe Waleri Karbalewitsch Antworten in diesem Bystro.
     

    1. Welche Rolle spielt der Machtapparat für Lukaschenko?

    Wie in jedem undemokratischen Staat spielen die Silowiki der Sicherheitsapparate und vor allem der Geheimdienste eine übergroße Rolle. Sie sind die zentrale Institution eines solchen Staates, das tragende Element des herrschenden Regimes und das wichtigste Instrument zum Machterhalt. Ihre Funktion ist in Belarus sehr viel weiter gefächert als in einem demokratischen Staat. Doch ihre Hauptfunktion besteht keineswegs im Schutz der Bevölkerung vor Verbrechern oder der Wahrung der öffentlichen Ordnung, sondern in der Verteidigung des Regimes gegen politische Opponenten. Wichtigste Aufgabe der Silowiki ist die Bekämpfung der Opposition. Sie sind an keinerlei Gesetze gebunden und ausgestattet mit dem Recht auf uneingeschränkte Macht. In Belarus gibt es keine zivile Kontrolle über das Militär und die Sicherheitsapparate.
    Die Leiter sämtlicher Sicherheitsorgane sind Lukaschenko persönlich unterstellt; sie werden von ihm ernannt und entlassen. Sie alle konkurrieren um die Gunst des Herrschers und belauern sich gegenseitig.

    2. Was hat sich innerhalb des zentralen Machtapparats durch die Proteste verändert?

    Nach den Massenprotesten von 2020 wurden politische Repressionen zum Hauptaspekt der staatlichen Politik. Deswegen nahm die Dichte und die Bedeutung der Silowiki erheblich zu. Die staatlichen Institutionen entwickeln sich in Richtung Militarisierung, Militärregime und Polizeistaat. Die Silowiki sind in Lukaschenkos Staat zum systembildenden Element geworden.

    Silowiki besetzen unterdessen Schlüsselposten im Staat. So ist etwa der Leiter der Präsidialadministration, Igor Sergejenko, ein General des KGB. Zum Katastrophenschutzminister wurde Wadim Sinjawski ernannt, ein General der Miliz. Justizminister ist der General der Miliz Sergej Chomenko. Selbst der Posten des stellvertretenden Vorsitzenden des Präsidiums der Nationalen Akademie der Wissenschaften wird von Oleg Tschernyschow, dem ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des KGB, besetzt. Als Initiator für Gesetzesänderungen tritt in letzter Zeit vor allem das Innenministerium auf. Mal will das Ministerium Abonnenten „extremistischer“ Telegram-Kanäle zu Mitgliedern extremistischer Organisationen erklären. Mal will es Belarussen, die ins Ausland gegangen sind und es wagen, die Zustände im Land zu kritisieren, die Staatsbürgerschaft entziehen.

    3. Der KGB gilt als eine der wichtigsten Säulen des politischen Systems Lukaschenkos. Wie mächtig ist er wirklich?

    Sehr mächtig. Lukaschenko hat den Geheimdiensten jene Funktionen wiedergegeben, die sie in der UdSSR hatten. Laut Gesetz ist der KGB wie zu sowjetischen Zeiten zugleich Geheimdienst, Polizei- und Justizorgan sowie staatliche Verwaltungsbehörde. Er ist berechtigt, Verordnungen zu erlassen, die für andere staatliche Stellen verbindlich sind. Er kann seine Vertreter in eine Reihe mit den staatlichen Behörden stellen, und er kann in bestimmten Fällen die Truppen und Mittel der Armee, des Innenministeriums und des Grenzschutzes nutzen. Das Gesetz berechtigt den KGB, sich uneingeschränkt in die Tätigkeit aller (auch nichtstaatlicher) Wirtschaftssubjekte, Parteien, gesellschaftlicher Organisationen und in das Privatleben der Bürger einzumischen. Nach 2020 hat der KGB an Bedeutung gewonnen. Seine Aufgabe besteht jetzt darin, den Staatsapparat intensiv zu säubern und illoyale Verwaltungsbeamte aufzuspüren.

    4. Warum konnten die Proteste dem Machtapparat nichts anhaben?

    Für die Stabilisierung des Systems war es wichtig, dass Lukaschenko nach dem Beginn der Massenproteste 2020 die Leiter der Sicherheitsorgane ausgetauscht hat. Und zwar, weil er an deren Loyalität zweifelte. Wir können davon ausgehen, dass es dort anschließend gehörig anfing zu brodeln, denn in solch kritischen Momenten sind derlei Personaländerungen in den Sicherheitsbehörden nicht üblich. 
    Die Proteststimmung in der Bevölkerung und der „Aufstand der Massen“ führten jedoch nicht zu einer Krise der Obrigkeit und nicht zu einer Spaltung der Eliten, was allen Theorien zufolge unabdingbare Voraussetzung für den Sieg einer Revolution ist. Die Erwartung, dass der Staatsapparat unter dem moralischen und psychologischen Druck der Bevölkerung auseinanderfällt und auf die andere Seite der Barrikaden wechselt, hat sich schlichtweg nicht bewahrheitet.

    5. Warum sind die Fundamente dieser sehr loyalen und einflussreichen Machtvertikalen derart stabil?

    Der Machtapparat blieb hinter Lukaschenko, weil das autoritäre Regime in Belarus mächtig und konsolidiert ist. Keine einzige staatliche Institution wird vom Volk gewählt, ist der Bevölkerung gegenüber verantwortlich oder wird vom Volk kontrolliert. Der Staatsapparat ist absolut frei von Dissens. Für Regimegegner gibt es dort und in diesem politischen System keinen Punkt, an dem man den Hebel ansetzen könnte. Die Opposition bewegt sich seit einem Vierteljahrhundert außerhalb des Systems. Es herrscht eine strenge Machtvertikale, die von oben, von Lukaschenko persönlich gestaltet wird. Der Staatsapparat ist nicht von der Bevölkerung abhängig und reagiert deshalb nicht auf deren Forderungen, sondern bleibt demjenigen gegenüber loyal, der ihn geschaffen hat.

    Gleichzeitig ist der Staat in Belarus in allen Bereichen des öffentlichen Lebens ganz massiv präsent. Der Staat dominiert nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den sozialen Bereich (Wohnungswesen, Gesundheit, Bildung), die Medien, die Kultur, den Sport und so weiter. Der Staat ist der wichtigste Arbeitgeber. Dadurch kann die Regierung die Gesellschaft unter die Kontrolle des Staates nehmen. Die politischen Repressionen werden nicht nur von den Polizei- und Justizbehörden und den Geheimdiensten vorgenommen, sondern von allen staatlichen Stellen. Die Arbeit sämtlicher staatlicher Einrichtungen ist jetzt weniger auf deren eigentliche Funktion ausgerichtet, sondern vor allem auf Repressionen.

    Vor den Wahlen und auch danach hat Lukaschenko die Finanzierung der Polizei- und Justizbehörden erheblich aufgestockt. Bis zum August 2020 wurden jedem Milizionär, der an der Unterdrückung von Protesten teilnahm, rund 400 US-Dollar pro „Arbeitstag“ gezahlt. In Belarus ist das fast ein durchschnittlicher Monatslohn. Das Monatsgehalt von Angehörigen der Sondereinheit OMON betrug während der Massenproteste nach unterschiedlichen Berechnungen zwischen 2000 und 6000 US-Dollar.

    6. Man hört immer wieder den Vorwurf, dass die Proteste zu friedlich waren, um den Machtblock zum Einsturz zu bringen. Hätte Gewalt gegen diesen hochgerüsteten Apparat überhaupt etwas ausrichten können?

    Erstens zeigt die internationale Erfahrung, dass gewaltsame Auseinandersetzungen auf der Straße die Zahl der Protestierenden auf ein Viertel schrumpfen lässt. Zweitens wurde gegen die Protestierenden das Militär mit Maschinenpistolen in Stellung gebracht, also Truppen mit Kampfbewaffnung, und nicht nur mit Wasserwerfern und Gummigeschossen. Die Kräfteverhältnisse waren absolut zu Ungunsten der Protestierenden. Und der Versuch eines großen gewaltsamen Widerstands hätte zu sehr vielen Opfern geführt. Drittens hätte ein gewaltsames Vorgehen der Protestierenden eine militärische Intervention Russlands bedeutet; Putin hatte die ja angekündigt. Dann hätte sich das ukrainische Szenario wiederholt. Viertens würde ein Sieg über die Diktatur, der mit Gewalt errungen wird, diese Gewaltkomponente in die Politik eines neuen Regimes weitertragen. Die gewaltsame Konfrontation zwischen verschiedenen politischen Kräften würde sich dadurch verstetigen.

    7. Wie sieht es mit der Zusammenarbeit zwischen den russischen und belarussischen Silowiki-Strukturen aus und hat der Kreml irgendeinen Einfluss auf den zentralen Machtapparat Lukaschenkos?

    Die Zusammenarbeit der russischen und belarussischen Militär- und Sicherheitsapparate ist ziemlich eng und hat sich nach 2020 verstärkt. An erster Stelle stehen vom Umfang her die Streitkräfte und die Verteidigungsministerien der beiden Länder. Ein beträchtlicher Teil der belarussischen Offiziere wird an der russischen Militärakademie ausgebildet. Auch die Geheimdienste, der KGB in Belarus und der FSB in Russland, arbeiten intensiv zusammen. 

    Was den Einfluss Russlands auf die Silowiki und den Militär- und Sicherheitsapparat in Belarus angeht, der ohne Lukaschenkos Wissen oder über seinen Kopf hinweg erfolgt, so ist der nicht groß. Die jetzige Offiziersgeneration hat ihre Karriere im unabhängigen Belarus gemacht. Außerdem bespitzeln sich die belarussischen Geheimdienste und Sicherheitsbehörden gegenseitig. In den letzten Monaten wurden Aufzeichnungen von Gesprächen und Telefonaten einiger Generäle und Offiziere verschiedener Behörden ins Internet gestellt. So stellte sich heraus, dass die Telefone des Innenministers und seiner Stellvertreter abgehört wurden.

    8. Hat die demokratische Staatenwelt irgendwelche Möglichkeiten, Lukaschenkos Machtgefüge unter Druck zu setzen?

    Es ist unwahrscheinlich, dass der Westen oder die Opposition politischen Druck auf diesen Apparat ausüben könnten. Im letzten Jahr gab es eine radikale Säuberung sämtlicher Sicherheitsbehörden, und sie wird fortgesetzt. Alle Mitarbeiter, die der Illoyalität verdächtigt wurden, wurden entlassen. Die verbliebenen stehen unter sorgsamer Kontrolle. Ihre Telefone werden überwacht (damit sie keine oppositionellen Telegram-Kanäle abonnieren), ihre Loyalität wird mit Hilfe von Lügendetektoren geprüft und Auslandsreisen sind ihnen verboten. Jede Illoyalität wird streng bestraft. Die wenigen Offiziere, die 2020 aus Protest gegen Lukaschenkos Politik ihre Entlassung einreichten, sitzen im Gefängnis. Das sind die Gründe, warum der Staatsapparat und vor allem der Militär- und Sicherheitsapparat nun monolithischer und gefestigter auftreten.

    9. Was müsste passieren, damit die Machtvertikale ihre Stabilität einbüßt?

    Es braucht eine heftige politische Krise, die das herrschende politische Regime bedroht, damit diese Vertikale ins Wanken gerät. Das könnte durch neue Massenproteste der Bevölkerung erfolgen, durch heftigen Druck aus Russland, einen sozialen oder wirtschaftlichen Zusammenbruch aufgrund von Sanktionen durch den Westen und so weiter. Es könnte auch durch einen Rückzug Lukaschenkos vom Präsidentenamt erfolgen, durch eine Doppelherrschaft. Solche Situationen sind aber nur schwer zu prognostizieren.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Waleri Karbalewitsch
    Übersetzung: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 16. Dezember 2021

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  • Streikkrepierer

    Streikkrepierer

    Für den Machtapparat von Alexander Lukaschenko sind die Staatsunternehmen, die über 60 Prozent des jährlichen Gesamtumsatzes und fast 50 Prozent der Beschäftigten des Landes auf sich vereinen, von essentieller Bedeutung. Denn, so urteilt der Politologe Waleri Karbalewitsch: „Der Staat ist der größte Arbeitgeber. Das ermöglicht der Regierung eine staatliche Kontrolle der Gesellschaft.” Entsprechend hat die Oppositionsbewegung seit dem Ausbruch der Proteste mit dem 9. August 2020 immer wieder versucht, Streiks zu initiieren, die sich allerdings zu keinem Zeitpunkt zum erhofften Generalstreik im ganzen Land ausweiteten. Ein neuerlicher Streik sollte am 1. November beginnen. Warum dieser mehr oder weniger versandete und damit weit davon entfernt war, die Wirkung zu entfalten, die sich die Organisatoren erhofft hatten, analysiert der Journalist Alexander Klaskowski für das belarussische Online-Medium Naviny.by.

    „Siehst du das Erdhörnchen?“. „Nö.“ „Ich auch nicht. Es ist aber da!“

    Ungefähr so, im Stil alter Filmkomödien mit schwarzem Humor, streitet derzeit ein engagiertes Publikum über die Symptome des am 1. November in Belarus ausgerufenen Streiks. Betrachtet man die Tatsachen, ist das Regime nicht in seinen Grundfesten erschüttert. Analytiker meinen (und haben das bereits vor dem 1. November deutlich erklärt), dass die Lage jetzt nicht dazu geeignet sei, Menschen massenweise zu Aktionen zu bewegen, die das Regime zu Zugeständnissen nötigen könnten.

    Kopf der Initiative ist der Chef der Belarussischen Arbeitervereinigung (BOR), Sergej Dylewski, der aus politischen Gründen emigriert ist. Zu seinen Unterstützern gehören Waleri Zepkalo, ein prominenter Gegner von Lukaschenko, Dimitri Bolkunez, der Russland aus Angst verlassen hat, dass er in die Fänge des belarussischen Regimes gerät, Andrej Sannikow, der fast schon in Vergessenheit geratene Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen 2010 mit seiner Kampagne Europäisches Belarus und dem Medienportal Chartija 97. Sie kritisieren heftig diejenigen, die die Idee nicht aufgegriffen haben. Und das sind wohl die meisten Anführer und Strukturen der Opposition.

    Dylewski erklärte, am ersten Streiktag hätten zwischen 10 und 30 Prozent der Arbeiter in Belarus aus unterschiedlichen Gründen bei der Arbeit gefehlt. Wobei die Initiatoren einräumen, dass diese Zahlen schwer zu prüfen sind. Ebenso schwer ist zu unterscheiden, wer einfach krank war oder aus ernsthaften medizinischen Gründen in Quarantäne saß, und wer dem Aufruf gefolgt ist und damit dem Regime den Kampf angesagt hat (oder ihm wohl eher insgeheim den Stinkefinger zeigte).

    Mit anderen Worten: Wir können nur rätseln, wie viele von diesen angeblichen 10 bis 30 Prozent siechende Jabatkas waren, und wie viele ideelle Gegner Lukaschenkos.

    Die Idee wird auf einen Flashmob reduziert

    Die unbequemste Frage ist hier allerdings die nach den Zielen der Aktion und nach dem tatsächlichen Effekt. Es sieht so aus, als hätte man gewaltig Anlauf genommen und dann nur ganz schwach geschossen.

    Dylewski verkündete bereits am 30. August eine Streikwarnung und formulierte dabei zehn Forderungen an die Regierung. Unter anderem das Ende der Repressionen und die Freilassung aller politischen Gefangenen und rechtswidrig Verhafteten. Außerdem sollten die Gehälter, Stipendien und Renten „an die tatsächliche wirtschaftliche Lage im Land angepasst“ werden (eine unglückliche Formulierung – man könnte sarkastisch einwenden: Ihr kläglicher Zustand entspricht eben genau der miesen wirtschaftlichen Lage). Schließlich war eine der Forderungen „die Aufnahme direkter Verhandlungen zwischen dem Regime und den demokratischen Kräften unter unbedingter Beteiligung der Arbeiterführer über Neuwahlen des Präsidenten und des Parlaments zur Überwindung der politischen und wirtschaftlichen Krise“.

    Oho! Da wird sich Lukaschenko aber sowas von in Bewegung setzen! Über diese Forderungen verlieren jetzt selbst die Initiatoren kein Sterbenswörtchen mehr. Und die ursprüngliche Idee von einem Streik und einem Ultimatum an das Regime versucht man nun auf eine Art Volksquarantäne zu reduzieren, eine Aktion „Bleib zuhause“, auf einen Flashmob. So nach dem Motto: Wenn wir die Zahl der Corona-Toten reduzieren, kann das schon als Erfolg gelten.

    Klingt edel, ist aber eine klare Profanisierung der ursprünglichen Idee. Ein Versuch, trotzdem gute Miene zu machen. Pawel Ussow, Leiter des Zentrums für politische Analysen und Prognosen in Warschau, meint hierzu ironisch: Man hätte das ganze Vorhaben nicht Generalstreik, sondern Anti-Corona-Aktion nennen sollen. „Einen Streik in dem Sinne, wie er angekündigt wurde, hat es nicht gegeben“, erklärte Ussow gegenüber Naviny.by.

    „Proteste geschehen nicht auf Anweisung von Komitees“

    Ganz ähnlich bewertete der Politologe Waleri Karbalewitsch in einem Kommentar für Naviny.by die Lage: „Offensichtlich hat es keinen landesweiten Streik gegeben.”

    Er erinnerte daran, dass Swetlana Tichanowskaja im Oktober vergangenen Jahres versuchte, der Regierung ein Ultimatum zu stellen, und dazu einen Streik organisierte. Damals habe es zumindest einige Anzeichen gegeben, dass man dem Aufruf mit Aktionen folgte. Unter anderem hatten Dutzende privater Handels- und Dienstleistungsunternehmen geschlossen. Jetzt kam es nicht einmal dazu.

    Zu ergänzen wäre, dass der Streikaufruf auch damals eine klare Fehlkalkulation der Regimegegner war. Er erfolgte nämlich, als die politische Aktivität bereits abnahm, und er lieferte der Regierung einen Vorwand, die Repressionen zu verstärken und nichtloyale Unternehmen „niederzumetzeln”, wie Lukaschenko sich ausdrückte.

    „Revolutionen, landesweite Streiks und Ausbrüche von Protest geschehen nicht auf Anweisung von Komitees. Da müssen eine Reihe von Umständen zusammenkommen“, meint Karbalewitsch. Im August 2020 waren diese Umstände zusammengekommen. Aber auch damals seien nicht Proletarier die wichtigste Triebkraft der Proteste gewesen, sondern Angehörige der Mittelschicht, IT-Spezialisten, Unternehmer oder Mitarbeiter im nichtstaatlichen Sektor, betont er. „Die Epoche der proletarischen Revolutionen ist vorbei, weltweit schwindet das Gewicht der industriellen Produktion.“ Die Situation in Belarus ist zudem auch deshalb eine besondere, weil viele Arbeiter in Staatsunternehmen angestellt sind, die nicht effizient sind und Subventionen erhalten, also von der Gnade der Regierung abhängig sind. Das sei „ebenfalls ein Hemmfaktor“ für aktive Proteste, meint Karbalewitsch. Insgesamt gebe es jetzt in Belarus  derzeit „eine Phase der Entpolitisierung“ der Bevölkerung, so der Experte.

    Der Misserfolg hat „negative Folgen für die gesamte Opposition“ 

    Die Initiative der Belarussischen Arbeitervereinigung war eindeutig nicht durchdacht. Dylewskis Gruppe sei es nicht gelungen, ihre Agenda durchzusetzen, erklärt Ussow. Mehr noch, es sei das Regime, das hier in gewissem Maße die Initiative ergriffen hat.

    „Das Regime hat das unabhängige Kommunikationsnetzwerk in Belarus zerstört und macht das auch weiterhin“, sagt der Politologe. Heute haben viele Figuren und Gruppierungen, die im Kampf gegen das Regime eine Führungsrolle beanspruchen, eindeutig Probleme, den Zustand der Gesellschaft richtig einzuschätzen.

    Gleichzeitig setze „die neue Opposition teilweise völlig unnötigerweise auf Populismus“. Im Vordergrund stehe die Bewegung, unabhängig von den Ergebnissen. Obwohl „die historische Erfahrung zeigt, dass unüberlegtes Handeln großen Schaden anrichten kann“, erklärt Ussow. Manche aus der neuen Opposition in Belarus würden gerade Fehler der alten Opposition wiederholen und ihr Ansehen stark gefährden. 

    Allerdings haben längst nicht alle Akteure und Strukturen der Opposition die Idee von Dylewski und seinen Mitstreitern (oder Ideengebern) unterstützt. Mitarbeiter von Tichanowskajas Team und auch sie selbst haben sich zurückhaltend zu der Idee geäußert (weswegen sie umgehend heftige Kritik der Befürworter einstecken mussten). Auch Pawel Latuschko, Leiter des Nationalen Anti-Krisen-Managements, ging zum Streikaufruf auf Distanz.

    Der Misserfolg des Streiks habe aber „negative Folgen für die gesamte Opposition“, erklärt Ussow. Die erbitterte Debatte (um nicht zu sagen: das heftige Gezänk) um dieses Unterfangen bedeute eine „innere Entkonsolidierung der Opposition“, die de facto schon erheblich früher eingesetzt habe. Dabei „wird auch Tichanowskajas Autorität offen in Frage gestellt“, betont Ussow.

    Hat Lukaschenko das Referendum schon gewonnen?

    Über die Motive der Initiatoren des Streiks können wir nur rätseln. Leiden sie derart unter Realitätsverlust? Haben sie aus Ehrgeiz und mit Blick auf Konkurrenten beschlossen, Tichanowskajas Monopol zu erschüttern? Böse Zungen verweisen auf Fristen für Fördermittel. Dylewski und seine Mitstreiter sagen, sie würden sich um das schwere Los der Belarussen sorgen, die unter dem Joch des Regimes ächzen, und sie würden lieber handeln als ewig palavern.

    Gleichzeitig betont Dylewski immer wieder, dass er kein Politiker sei, sondern ein echter Malocher. Dabei ist eine solche Initiative Politik, sogar große Politik. Naiv-Tun bringt einen hier nicht weiter. Politik ist bekanntlich die Kunst des Möglichen. Unbedachte Schritte können da schlimmer sein als durchdachte Pausen (allerdings wäre da noch die Frage, worum es sich bei den anderen handelt – um eine wohlüberlegte Pause oder elementare Ohnmacht?).

    Jedenfalls ist offensichtlich, dass das Scheitern des Streiks unter Führung der Belarussischen Arbeitervereinigung dem Regime propagandistische Trümpfe an die Hand gibt und der gesamten Bewegung für Veränderungen im Land schadet.

    Die Regimegegner klären jetzt also anhand des Streiks ihre Konflikte, auch wenn das letztendlich eher ein Zersägen von Sägespänen ist. Mit dieser Geschichte ist alles klar.

    Unterdessen rückt das Referendum näher. Und dazu ist bei denen, die im Kampf gegen das Regime Führung beanspruchen, nicht nur keine überzeugende Strategie, sondern nicht einmal eine ernsthafte Diskussion zu erkennen.

    Ussow schätzt, dass derweil allein das Regime mit seinem unvorhersehbaren Vorgehen – erinnert sei nur an die erzwungene Landung der Ryanair-Maschine – dafür sorgen könnte, dass es zu kritischen Situationen rund um das Referendum kommt. Sollten Erschütterungen aber ausbleiben, dann „wird das System nach dem Referendum noch härter und noch verschlossener“, betonte Ussow gegenüber Naviny.by.

    Von all dem mal ganz abgesehen könnte es ein Referendum auf ein Tor werden ohne aktive Spielbeteiligung der gegnerischen Mannschaft. Und dann kann Lukaschenko damit trumpfen, um Wladimir Putin endgültig zu überzeugen: Alles Okay, nicht nur beim Eishockey, die Mauer steht, niemand und nichts in Belarus muss ausgewechselt werden.

  • Belarus bin ich!

    Belarus bin ich!

    Am heutigen 4. November findet in Minsk die lang erwartete Sitzung des Obersten Staatsrates statt, des höchsten Gremiums des Unionsstaates zwischen Russland und Belarus. Dort sollen die 28 Programme unterschrieben werden, die die beiden Länder auf dem Weg zur Integration vereinbart haben. Dabei geht es um bis dato nicht im Detail bekannte „Harmonisierungspläne“ in den Bereichen Währung, Steuern, Finanzmarkt und makroöknomische Rahmenbedingungen. Zudem soll der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus gestärkt werden. 

    Aufgrund der drastischen Corona-Situation in beiden Ländern findet die Sitzung im Online-Format statt, sodass auch kein persönliches Treffen von Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin vorgesehen ist. Zwischen den beiden Autokraten scheint es seit einer langen Zeit der demonstrativen Harmonie wieder einmal zu kriseln, man provoziert sich gegenseitig mit Sticheleien – wie schon häufig in den vergangenen 15 Jahren. So nahm Putin, obwohl dies angekündigt war, nicht an der Sitzung der Eurasischen Wirtschaftsunion Mitte Oktober in Minsk teil. Im Gegenzug gewährte Lukaschenko dem angereisten russischen Außenminister Sergej Lawrow keine persönliche Audienz. Der aber ließ durchblicken, wie schon häufiger im vergangenen Jahr, wie wichtig Russland das Verfassungsreferendum anscheinend ist, das für das Jahr 2022 in Belarus angekündigt ist. 

    Am 22. Oktober tauchten in russischen Medien die Ergebnisse einer scheinbar geheimen Umfrage auf, die das russische, im Staatsbesitz befindliche Meinungsforschungsinstitut WZIOM in Belarus durchgeführt hat, obwohl es über keine offizielle Lizenz für solche Umfragen im Nachbarland verfügt. Die Ergebnisse sind für Lukaschenko, gelinde gesagt, wenig schmeichelhaft. Denn 55 Prozent der Befragten geben an, Lukaschenko überhaupt nicht zu vertrauen, während 50 bzw. 48 Prozent der Befragten die inhaftierten Oppositionellen Maria Kolesnikowa und Viktor Babariko als beliebteste Politiker des Landes nennen. Zudem sprechen sich 66 Prozent der Befragten gegen eine stärkere Integration mit Russland aus. Unbekannt ist, wie die brisanten Ergebnisse den Weg an die Öffentlichkeit finden konnten und ob die Umfrage möglicherweise ein Fake ist. In jedem Fall sorgte sie in den sozialen Medien für genügend Gesprächsstoff und Spekulationen um die Stoßrichtung eines solchen Manövers. Dabei wurde vielerorts um solcherlei Fragen debattiert: Inwieweit meinen es die beiden Staaten ernst mit der Integration? Inwieweit ist Lukaschenko dem Kreml nützlich, die Integration voranzutreiben? Oder ist die Integration – wie auch andere Schritte, so beispielsweise die Verfassungsreform – eine Strategie, um Lukaschenko von mehreren Seiten unter Druck zu setzen und ihn letzten Endes strukturell soweit einzukreisen, dass er seine Macht aufgeben muss? Dies könnte Russland den Einfluss in Belarus ermöglichen, den es abseits des mitunter launischen und schwer zu kontrollierenden Lukaschenko schon lange sucht. Jedenfalls ermöglichte der Radiosender Echo Moskwy, der sich überwiegend im Besitz der Gazprom-Media Holding befindet, am 26. Oktober auch noch ein Interview mit Swetlana Tichanowskaja. Darin sagte sie, dass der Kreml ihrer Meinung nach als Mittler bei der Machtübergabe in Belarus infrage käme. 

    Die Anspannung vor dem heutigen 4. November ist also groß. Der politische Beobachter Paulyk Bykowski hält es für möglich, dass die Papiere letztlich unterzeichnet werden, aber dass sich Lukaschenko bei der Umsetzung der Vereinbarungen nicht drängen lässt. Denn sein größter Trumpf sei das Versprechen einer Integration, um den Kreml immer wieder zu Krediten und billigem Öl und Gas zu drängen. Eine tatsächliche Integration, mit Strukturen außerhalb seiner Kontrolle, würde Lukaschenko in Gefahr bringen, seine Macht einzubüßen. Wieder andere wie Alexander Klaskowski meinen, dass es durchaus möglich sei, dass es erst gar nicht zu einer Unterzeichnung kommt – wie schon am 8. Dezember 2019, als ebenfalls eine neue Vereinbarung in Sachen Unionsstaat anstand, die Entscheidung aber vertagt wurde. 

    Währenddessen verstärkt Lukaschenko in Belarus weiter seine Kontrolle auf unterschiedlichen Ebenen, was der Politologe Waleri Karbalewitsch in einem Stück für das Medium SN Plus vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse analysiert. Dabei hinterfragt er auch die Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit zwischen Russland und Belarus, die immer deutlichere Formen annimmt. 

    Der Staat wird militarisiert

    Da staatliche Politik mittlerweile vor allem aus politischen Repressionen besteht, wächst natürlich das relative Gewicht der Sicherheitsbehörden, der Silowiki. Die staatlichen Institutionen entwickeln sich in Richtung Militarisierung, Militärregime und Polizeistaat. Die Silowiki sind in Lukaschenkos Staat zum systembildenden Element geworden.

    Die Personalentscheidungen vom 18. Oktober illustrieren diese Entwicklung auf drastische Weise. Justizminister ist nun nicht mehr ein Jurist, sondern ein Generalmajor der Miliz, nämlich der ehemalige stellvertretende Innenminister Sergej Chomenko. Bei seiner Ernennung erläuterte Lukaschenko den Grund für diesen Wechsel. Die Erklärungen lassen sich wie folgt interpretieren: Vom Justizminister werden Tempo und Entschlossenheit bei repressiven Maßnahmen verlangt, also besteht keine Notwendigkeit eines peniblen juristischen Prozedere.

    Ein noch markanteres Beispiel dafür, wo das Land hinsteuert, ist die Ernennung von Oleg Tschernyschow zum stellvertretenden Präsidiumsvorsitzenden der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Der ist ehemaliger Kommandeur der Spezialeinheit Alfa beim Komitee für Staatsicherheit (KGB) und ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des KGB, In den unabhängigen Medien wurde jüngst viel darüber geschrieben, dass die Schulen in Kasernen umgewandelt würden und die Miliz dort die Kontrolle übernimmt. Es scheint, als sei nun die Akademie der Wissenschaften an der Reihe. Eine verstärkte Kontrolle des KGB über die Akademie der Wissenschaften bedeutet, dass dem Regime jetzt die politische Loyalität der Mitarbeiter dort wichtiger ist als wissenschaftliche Erkenntnisse.

    Am 11. März 2021 wurde Wadim Sinjawski, General der Miliz, zum Minister für Katastrophenschutz ernannt. Er erklärte in einer Mitteilung an die Mitarbeiter des Ministeriums, dass das Ministerium im Falle eines Ausnahmezustands die Aufgabe hat, mit der Waffe in der Hand Unruhen im Land zu unterbinden. Schließlich sei ein Offizier des Katastrophenschutzministeriums ein „Vermittler der Ideologie des Staates“. Aus dieser Erklärung geht hervor, dass die Bekämpfung von Bränden und Überschwemmungen nur zweitrangig ist.

    Die staatlichen Institutionen ändern sich also in ihrer Funktion. Anstatt ihren eigentlichen Pflichten nachzugehen, beschäftigen sie sich immer stärker mit der Bekämpfung von Regimegegnern und der Sicherstellung politischer Loyalität.

    Unterstützung für das Regime wird jetzt zur Einstellungsvoraussetzung für eine Arbeit in einer staatlichen Einrichtung. Das soll auch im Arbeitszeugnis vermerkt werden. Berufliche Qualitäten der Mitarbeiter sind da zweitrangig.

    Als Initiator für Gesetzesänderungen tritt in letzter Zeit vor allem das Innenministerium auf. Mal will das Ministerium Abonnenten „extremistischer“ Telegram-Kanäle zu Mitgliedern extremistischer Organisationen erklären. Mal will es Belarussen, die ins Ausland gegangen sind und es wagen, die Zustände im Land zu kritisieren, die Staatsbürgerschaft entziehen.

    In einem normalen Land liegt das Recht für Gesetzesinitiativen vor allem beim Parlament. In Belarus wird dies bislang von der Präsidialadministration und der Regierung übernommen. Jetzt tritt die Miliz in den Vordergrund. Symbolisch verdeutlicht es wieder einmal, welche Zeiten in Belarus angebrochen sind.

    Dissidententum in Sachen Corona

    Am 19. Oktober hielt Lukaschenko eine Sitzung zur epidemiologischen Lage im Land ab. Der Schwerpunkt seiner Rede bestand darin, dass zur Eindämmung von Corona-Infektionen keine außerordentlichen Einschränkungen vonnöten sind. Er verbat der Miliz, die Maskenpflicht zu kontrollieren und diejenigen zu bestrafen, die im öffentlichen Raum keine Maske tragen.

    Lukaschenko ließ eine sehr eigenartige Einstellung zum Impfen erkennen:

    „Ich kann nicht verbieten, dass Menschen geimpft werden, aber Sie werden bitteschön keinen Druck auf die Menschen ausüben.“

    Und der wichtigste Hinweis an die Adresse der höheren Beamtenschaft: „Wem spielt ihr denn damit in die Hände?“ Ein kleiner Wink, dass es eben Feinde sind, die strenge Einschränkungen vorschlagen.

    Daraufhin hob das Gesundheitsministerium am 22. Oktober die Maskenpflicht im Land auf. Sie hatte nur 13 Tage bestanden. Und das vor dem Hintergrund steigender Corona-Zahlen.

    Dieses eigenartige Dissidententum ist eine Fortsetzung der Politik, die die belarussische Regierung 2020 verfolgt hatte. Also ein Kleinreden der Gefahr und die Weigerung, wie in anderen Ländern Einschränkungen zu erlassen.

    Der Starrsinn Lukaschenkos hat den gleichen Ursprung wie seine Anstrengungen, in der Konfrontation mit der protestierenden Bevölkerung zu beweisen, dass er Recht hat. Nach dem Motto: Ich habe die Präsidentschaftswahl wirklich mit 80 Prozent gewonnen, und alle, die anderer Meinung sind, sind vom Westen gekaufte Banditen, Extremisten und Terroristen.

    Ganz ähnlich ist Lukaschenkos Covid-Dissidententum gelagert. Er gibt selbst zu, dass seine Haltung zu Covid-19 einer der Gründe für den massenhaften Unmut in der Gesellschaft war. Umso schlimmer für die Menschen: Der Führer des Volkes, kann nicht irren. Niemals und nirgendwo. Selbst wenn man sich dafür der ganzen Welt entgegenstellen und einen sehr hohen Preis bezahlen muss.

    Lukaschenkos Argument, die ganze Welt habe erkannt, dass der belarussische Ansatz zur Bekämpfung des Virus richtig sei, und er werde deshalb keinen weiteren Lockdown einführen, hält keiner Kritik stand. Schließlich ist in den europäischen Ländern die Bevölkerungsmehrheit bereits geimpft oder ist auf dem Weg dorthin.

    Doch es gibt hier noch eine weitere Erklärung. In anderen Staaten, selbst in denen mit einer liberalen Ideologie, übernahmen die Regierungen während der Zuspitzung der Coronakrise die Aufgabe, das Leben und die Gesundheit der Bürger zu schützen. Und das war der Grund für die strengen Maßnahmen, die die Kontakte zwischen den Menschen auf ein Minimum reduzieren sollten.

    In Belarus hingegen enthebt Lukaschenko den Staat eines Teils seiner Aufgabe, die ja darin besteht, das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Er bürdet diese Verantwortung den Bürgern auf: „Jeder soll über seine Geschicke so bestimmen, wie er es für nötig hält … Keinerlei Druck auf die Leute … Alles freiwillig … Masken, Schutzmaßnahmen und Impfungen sind ganz allein eine freiwillige Angelegenheit eines jeden einzelnen“.

    Das heißt, der Staat befreit sich teilweise von Pflichten, wie auch in anderen Bereichen, entledigt sich einer weiteren Aufgabe. Als ob die Aufgabe der Behörden lediglich sei, die Menschen im Krankheitsfall zu behandeln. Vorsorgemaßnahmen zur Reduzierung der Kontakte? Das ist nicht unsere Aufgabe.

    Militärische Zusammenarbeit mit Russland

    Im Rahmen der Sitzung von Vertretern der Verteidigungsministerien von Belarus und Russland am 20. Oktober gab es hochtrabende Erklärungen.

    Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu verkündete, dass Belarus und Russland als Antwort auf die Bedrohung durch den Westen eine neue Militärdoktrin des Unionsstaates verabschieden würden. Das Dokument solle demnächst auf einer Sitzung des Hohen Rates des Unionsstaates beschlossen werden, die um den 4. November herum angesetzt wird.

    Diese Neuigkeit ist allerdings drei Jahre alt. In Wirklichkeit ist die Militärdoktrin keineswegs neu: Das Dokument lag schon vor drei Jahren vor und sollte am 13. Dezember 2018 auf einer Sitzung des Ministerrates des Unionsstaats verabschiedet werden. Minsk hatte jedoch die Unterzeichnung der Doktrin blockiert, als Zeichen des Protests gegen ein „Ultimatum“ des russischen Premierministers Dimitri Medwedew, der eine Politik des „Zwangs zur Integration“ verkündet hatte. Am 19. Dezember 2018 hat Wladimir Putin die Doktrin dann einseitig verabschiedet. Minsk sabotiert den Vorgang bis heute.

    Desweiteren, so Schoigu, hätten die Verteidigungsminister von Russland und Belarus Dokumente unterzeichnet, die den Betrieb zweier russischer Militärobjekte in Belarus verlängern. Es handelt sich um die Radarstation des Raketenfrühwarnsystems bei Baranowitschi und das Fernmeldezentrum der Kriegsmarine in Wileika.

    Doch es fehlen jegliche Einzelheiten zu diesen Papieren: Unter welchen Bedingungen werden diese Objekte weiterbetrieben? Um welchen Zeitraum wurde verlängert?

    Interessant ist auch, dass Informationen über die Unterzeichnung allein von russischer Seite verbreitet wurden. Auf der Internetseite des belarussischen Verkehrsministeriums heißt es, die Minister hätten eine Verlängerung des Abkommens lediglich „erörtert“, was die Einrichtung der Radarstation bei Baranowitschi und des Fernmeldezentrums Wileika „zu den bestehenden Bedingungen angeht“(!).

    Und das bedeutet, dass die Frage noch nicht endgültig geklärt ist. Die Unterzeichnung ist für die Sitzung des Hohen Rates am 4. November vorgesehen.

    Wie dem auch sei, die militärische Zusammenarbeit von Belarus und Russland ist jedenfalls intensiver als die Integrationsprozesse in anderen Bereichen des Unionsstaates. Die militärische Präsenz Russlands auf belarussischem Territorium wird stärker. Mit allen negativen Folgen für die Souveränität von Belarus. 

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  • Muratows Krawatte und der Friedensnobelpreis

    Muratows Krawatte und der Friedensnobelpreis

    Als unangenehm empfindet es Dmitri Muratow, dass der Friedensnobelpreis 2021 ganz persönlich an ihn geht. Nicht an die Novaya Gazeta insgesamt, die auch früher schon mehrfach für den Preis vorgeschlagen gewesen sei – das sagte der Chefredakteur nach Bekanntgabe der Preisträger in einem Interview. Muratow gilt als jemand, der sich nicht gern in den Vordergrund spielt: Den Preis widmet er den sechs getöteten Kolleginnen und Kollegen seiner Zeitung und der gesamten Redaktion.

    In der unabhängigen Medienöffentlichkeit des Landes fielen zuvor andere Namen, die man sich als Kandidaten gewünscht hatte: der inhaftierte Kremlkritiker Alexej Nawalny etwa, dessen landesweite Organisation zerschlagen am Boden liegt. Oder Swetlana Tichanowskaja – die belarussische Oppositionsführerin, die im Exil ebenfalls jede Aufmerksamkeit und Unterstützung gebrauchen könnte.

    Den Preis bekommt aber ein Journalist, Muratow. Viele im Land feiern ihn und werten die Entscheidung als Stärkung des Kampfs für Meinungsfreiheit in Russland. Doch werden in der Opposition und in Kreisen der unabhängigen russischen Medien auch Zweifel laut, ob Muratow denn tatsächlich ein würdiger Preisträger sei.

    Wie kann das sein? Wovon lässt sich die Freude über die erste Preisvergabe für einen russischen Journalisten überhaupt so trüben? Woher rühren Zweifel an einem Mann, der bald ein Vierteljahrhundert lang das Flaggschiff des unabhängigen Journalismus in Russland verantwortet? Der politische Analyst Andrej Kolesnikow sucht für Carnegie nach Antworten – auch an die Adresse der Kritiker.

    Die Portraitzeichnung auf der Website des Nobelkomitees lässt den Charakter des Nobelpreisträgers Dmitri Muratow nur bis zu einem gewissen Grad erkennen: Die verstrubbelten Haare sind eine starke künstlerische Übertreibung und die zur Seite gerutschte Krawatte – nun, in echt habe ich Dmitri Muratow wohl nur ein einziges Mal mit Krawatte gesehen, nämlich auf einem der Jubiläen der Novaya Gazeta, an deren Spitze er seit vielen Jahren steht. Und auf Fotos, auf denen er internationale Preise entgegennimmt – weniger für sich selbst als für die Zeitung.

    Muratow und Krawatten sind unvereinbare Dinge, wie Genie und Verbrechen. Der Chefredakteur der Novaya Gazeta verkörpert den russischen Journalismus: und zwar sowohl den spät- und den postsowjetischen, als auch den in Zeiten der Verhärtung des politischen Regimes. Also einen Journalismus, der Features, Reportagen, investigative Recherchen, gehaltvollen Sprachwitz und Menschenrechtsarbeit mit absolut praktischer Hilfe für die Erniedrigten und Beleidigten verbindet.

    Dmitri Muratow ist ein Schwergewicht, und zwar ein politisches Schwergewicht

    Der Nobelpreis für Muratow ist zweifellos auch eine Auszeichnung für jenen Teil des russischen Journalismus, der sich all die postsowjetischen Jahre für Menschenrechte und in erster Linie für die Verteidigung der Meinungsfreiheit eingesetzt hat. Im allerpraktischsten Sinne. Es ist ein Preis für eine Zeitung, die diesen Typ Journalismus verkörpert und auf erstaunliche Weise in einer absolut feindlichen Umgebung überlebt. Sie hat in der papierlosen Medienwelt Russlands ihre Papierausgabe bewahrt, während ihre Online-Leserschaft in allen Altersgruppen wächst.

    Der Preis ist aber auch eine Anerkennung für das Charisma des Chefredakteurs – eines Graubärtigen in Turnschuhen mit Rucksack auf dem Rücken, der kaum wie jemand wirkt, den Bürokraten, Politiker und Oligarchen achten und fürchten könnten.

    Die häufigste Frage, die derzeit zur Novaya Gazeta gestellt wird – mit Untertönen und Anspielungen – ist die, warum sie als einer der wichtigsten Widersacher des Regimes noch immer nicht ausländischer Agent sei. Das ist angesichts der klischeehaften Vorstellungen über die vom Regime unterdrückte russische Presse nur sehr schwer in klischeehaften Begriffen zu erklären. Für mich – ich habe viele Jahre im täglichen Kontakt mit dem Preisträger in der Zeitung gearbeitet – gibt es nur eine Erklärung: Dmitri Muratow ist ein Schwergewicht, und zwar ein politisches Schwergewicht.

    In dem stark eingeschränkten Bereich der unabhängigen russischen Medien gibt es zwei Menschen die von den Machthabern tatsächlich geachtet und daher bislang nicht angerührt wurden: Das sind Dmitri Muratow und der Chefredakteur von Echo Moskwy, Alexej Wenediktow. Zwei Menschen, mit denen sehr gewichtige Personen bereit sind zu reden und deren Meinung zu berücksichtigen. Muratow und Wenediktow sind Schwergewichte, weil sie für die Biografie und die gesamte Geschichte des postsowjetischen Journalismus stehen: des stürmischen, konfliktfreudigen, kompromisslosen Journalismus, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie stehen auch für die Dialogerfahrung mit den Machthabern in einer Sprache, die sie verstehen und die nicht ignoriert werden kann. 

    Ein Beispiel zum besseren Verständnis: Die Freilassung des Investigativreporters Iwan Golunow im Sommer 2019, der grundlos von der Polizei verhaftet worden war, war selbstverständlich das Ergebnis des massiven öffentlichen Drucks. Vor zwei Jahren funktionierte so etwas noch, anders als heute. Die Rolle von Wenediktow und Muratow bei der Rettung von Golunow ist jedoch auch nicht zu unterschätzen. Auf einen anderen hätten diejenigen, die letztendlich die Entscheidung trafen (Golunow freizulassen und dann gar die Polizisten zu bestrafen), wohl kaum gehört.

    Im Grunde ist auch Anna Politkowskaja, zusammen mit Muratow, Trägerin dieses Preises

    Die Auszeichnung für Muratow mit dem Friedensnobelpreis kommt gerade während eines Konflikts im – nennen wir es – demokratischen Milieu: Der Chefredakteur der Novaya Gazeta stellte sich vor den Chefredakteur von Echo Moskwy, als die oppositionelle Öffentlichkeit buchstäblich eine Hetzjagd gegen Wenediktow gestartet hatte – weil dieser mit der Zentralen Wahlkommission zusammenarbeitet und blindwütig für die elektronische Stimmabgabe eintritt. Wobei Wenediktow tatsächlich glaubte und glaubt, dass dieses System fortschrittlich sei und dabei helfen könne, Wahlfälschungen abzuwenden. 

    Ob er damit recht hat oder nicht, ist eine andere Frage. Die Unnachsichtigkeit gegenüber einem Opponenten innerhalb des demokratischen Milieus ist aber haarsträubend. Das zeigte sich während der Parlamentswahl, als man alle, die Jabloko ihre Stimme gaben und sich nicht an den Kanon des Klugen Wählens hielten, entweder zu Idioten oder Fieslingen erklärte. Das Ergebnis war ein öffentlicher Konflikt zwischen Muratow und Wolkow, dem Stabschef von Alexej Nawalny. Also ein Streit – und zwar ein sehr grundsätzlicher – zweier Menschen, die eigentlich für eine gemeinsame Sache arbeiten.

    In Muratows Logik bedeutete die Hetze gegen Wenediktow und Echo einen Suizid des engagierten demokratischen Journalismus: Weil dieser nicht auf soziale Netzwerke und Videoformate reduziert werden kann, sondern auch landesweit in klassischen Medien vertreten sein muss. Und es ist falsch, den Machthabern dabei zu helfen, die noch lebenden Oasen, solche ohne Agenten-Status, zu vernichten – zu denen auch die Novaya Gazeta gehört.

    Muratow hat auch einen politischen Standpunkt: Für ihn ist die Unterstützung für das Kluge Wählen Herdenverhalten, das nichts mit einer bewussten Wahlentscheidung zu tun hat, sondern lediglich den Kommunisten und dem von ihnen geliebten Stalin Punkte bringt. Außerdem macht Muratow keinen Hehl daraus, dass er mit Grigori Jawlinski befreundet ist.

    Und dann der dritte Punkt: Da die Zeitung [Novaya Gazetadek] Menschen aus schwierigen Lebenslagen herausholt und unter anderem Menschen mit seltenen Erkrankungen hilft, ist in diesem Bereich eine Zusammenarbeit mit dem Staat möglich und sogar notwendig. Und auch hier steht Muratow in einem harten Konflikt mit jenen, die meinen, dass man nicht einmal für ein gerettetes Menschenleben eine Zusammenarbeit mit dem Regime eingehen sollte, etwa mit dem Bankier Andrej Kostin. Der Chefredakteur meint aber, dass man es doch sollte.

    Diejenigen, die beschlossen haben, den Friedensnobelpreis an Muratow zu vergeben, kennen natürlich all diese Nuancen nicht und müssen das auch nicht. Das sind unsere Streitereien, die sich zugespitzt haben durch die Demoralisierung der Protest-, Oppositions- und einfach der Bürgerbewegung nach den Repressionswellen und dem massenhaften Einsatz restriktiver Gesetzgebung. Gerade dieser Umstand ist dem Nobelkomitee gleichwohl klar: In Russland braucht vor allem die Meinungsfreiheit Unterstützung. Für deren Einstehen Menschen ins Gefängnis kommen und ermordet werden.

    In einem Redaktionsraum der Novaya Gazeta hängen Fotografien jener Redaktionsmitglieder an der Wand, die für die Ausübung ihrer beruflichen Pflicht und den Einsatz für Menschenrechte getötet wurden. Wenn Tag für Tag eine solche Mahnung über deinem Kopf hängt, dann verstehst du besser als andere, welchen Preis diese Art von Journalismus hat. 

    Die Gallionsfigur der Novaya Gazeta ist Anna Politkowskaja. Sie ist ein Symbol dafür, wie der Staat seiner Pflicht nicht nachkommt, seine Bürger und die ihnen garantierte Meinungsfreiheit zu schützen. Einen Tag vor der Bekanntgabe der Friedensnobelpreisträger wurde in der Zeitung an Politkowskaja erinnert, am 15. Jahrestag ihrer Ermordung und im Zusammenhang mit der abgelaufenen Verjährungsfrist für die Untersuchung dieses Verbrechens. Im Grunde ist auch Anna Politkowskaja, zusammen mit Muratow, Trägerin dieses Preises.

    Während seiner gesamten Karriere hat Muratow die unbequemsten Wahrheiten über die Staatsführung und jene Menschen ans Tageslicht gezerrt, die unrechtmäßig von ihr genährt werden. Er hat endlos Menschen aus den schwierigsten Lebenslagen herausgeholt, unter anderem, als man seine Mitarbeiter direkt vor dem Redaktionsgebäude verhaftet hatte. Manchmal ist schwer zu verstehen, wo für ihn die Verteidigung von Menschenrechten aufhört und wo Journalismus anfängt, und umgekehrt.

    Nobelpreis für Muratow, Schutz für Nawalny

    Er ist ein Mensch, der sich mit einem Minister mit Schulterklappen an einen Tisch setzen und ihn davon überzeugen kann, dass er, Muratow, Recht hat. Oder an einen Tisch vis-a-vis Wladimir Putin, um ihm eine Frage zur Sache zu stellen – und nicht „Wie lange noch?“ und nicht im Format des Direkten Drahtes. Sondern eine, die der erste Mann im Staate nicht erwartet. Weil diese Frage gehaltvoll ist, nach Entscheidungen verlangt und gewisse Neuigkeiten in sich birgt.

    Diese Eigenschaften Muratows und seiner Zeitung blieben nicht unbemerkt. Der Preis wurde einem Journalisten verliehen, zusammen mit einer weiteren Journalistin, auch aus einem Land, in dem die Meinungsfreiheit in Gefahr ist. Er wurde dem Chefredakteur einer Zeitung verliehen, die sich stets der Staatsmacht entgegenstellt, sich für Menschenrechte einsetzt und in Russland das Genre des investigativen Journalismus begründet hat. Ja, er wurde nicht Alexej Nawalny verliehen, sondern einem Menschen, der im Land die personifizierte Meinungsfreiheit ist. Und diese ist höchst bedeutend dafür, dass Nawalny – der wichtigste Widersacher der Staatsmacht – nicht in einem Informationsvakuum bleibt, also nicht ohne Schutz durch die Öffentlichkeit.

    Das ist die Logik. Sowohl aus Sicht des Westens als auch nach unserem eigenen Verständnis.

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    Lavieren in Nahost

    Kein einziges globales oder regionales Problem könne ohne Russland gelöst werden, verkündete schon 2003 Wladimir Putin. In der Tat hat Russland eine außenpolitische Sonderstellung: Durch die guten Beziehungen zu verfeindeten Parteien ist der Kreml oft in der Lage, als Vermittler aufzutreten. Moskau verhandelt nicht nur mit den Taliban, sondern auch mit der Hamas oder Hisbollah. Gleichzeitig pflegt es gute Beziehungen zu Israel, aber auch wiederum zum Iran; zur PYD – syrische Schwesterpartei der kurdischen PKK –, aber auch zum türkischen Präsidenten Erdoğan. 


    Eigentlich hat Russland damit sehr gute Voraussetzungen für eine konstruktive Friedenspolitik. Auch das Potential für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit ist enorm. Trotzdem sei die Nahost-Strategie des Kreml ineffektiv, kritisieren die Nahost-Experten Anton Mardassow und Kirill Semjonow auf Riddle. Der Kreml betreibe in der Region oft nur Effekthascherei – „mit roten Teppichen und Lobeshymnen“.

    Der russische Außenminister Lawrow (rechts) in Syrien, September 2020 / Foto @ Flickr/MID Rossii CC BY-NC-SA 2.0

    Viele sind der Ansicht, dass Russlands Rückkehr in den Nahen Osten mit der militärischen Intervention in Syrien begann. Dadurch konnte es Stärke demonstrieren und seine Spielregeln in den Ländern der Region durchsetzen, die wegen ihrer Differenzen mit den USA ohnehin nicht abgeneigt waren, eine Zusammenarbeit einzugehen und ihre Kontakte zu diversifizieren. 


    Moskau hat tatsächlich die Müdigkeit der syrischen und ausländischen Akteure in diesem Konflikt genutzt, deren unterschiedliche Interessen und Positionen ihnen beim Aufbau einer starken Opposition gegen Assad im Weg standen. Russland hat in dieser Krisensituation gehandelt, während seine Widersacher zauderten. Und seine unzureichende wirtschaftliche und militärische Stärke in der Region kompensierte Moskau durch eine Kette von Bündnissen, um so seine Vorstellungen von einer multipolaren Weltordnung voranzutreiben. 


    Der Auslöser: Krise um die Ukraine 

    Russlands Rückkehr in den Nahen Osten und später nach Afrika hat nichts damit zu tun, dass Moskau geduldig auf den geeigneten Moment gewartet hätte, sich als Akteur ins Spiel zu bringen, ohne den kein einziges globales oder regionales Problem gelöst werden könne (wie Putin es schon 2003 verkündet hatte). Die Intervention in Syrien und die anschließende Umwandlung des Landes in ein Drehkreuz, über das Moskaus Stärke nach Libyen und Afrika projiziert wurde, wäre ohne die Krise um die Ukraine nicht möglich gewesen. 


    Diese hatte den Kreml vor einige Fragen gestellt: 
    Wie kann man verhindern, dass das Land mit einer sich verteidigenden „belagerten Festung“ assoziiert wird und wie kann man sich am globalen Wettbewerb beteiligen? 
    Wie lässt sich angesichts der verhängten Sanktionen ein Dialog auf Augenhöhe mit dem Westen erreichen? Wie kann Moskau bei Abstimmungen in den Vereinten Nationen für seine Interessen eintreten (die 54 afrikanischen Mitgliedsstaaten machen fast ein Drittel aller Stimmen in der UN-Vollversammlung aus)?


    In dem Bemühen, die Folgen ihres Vorgehens auf der Krim und im Donbass zu überwinden, richtete die russische Regierung ihre Anstrengungen neu aus und gab der Nahostpolitik eine neue Bedeutung. Sie entschied sich für eine flexible Politik, deren wichtigste Triebkraft der Export von Sicherheitsdienstleistungen war – so auch die Rekrutierung von Söldnergruppen mit Kampferfahrung in der Ukraine. 

    Zeitlich begrenzte Wirkung

    Dieser Ansatz ist für autoritäre Staatsführer verständlich und wichtig für die Stabilisierung ihrer Lage. Er ist nicht an Menschenrechte oder eine wirtschaftliche Liberalisierung geknüpft. Wie stimulierend diese Akzentuierung auch sein mag, so sehr ist sie in ihrer Wirkung zeitlich begrenzt. Die russische Führung wird nun so lange Geisel dieses Ansatzes bleiben, bis ein Weg gefunden wird, wie man die Dividenden einstreichen und die eigene Position in der Region weiter stärken kann – ohne allerdings in irgendeine Krise verwickelt zu werden.


    Es ist kein Geheimnis, dass es bei Russlands Vorgehen auf dem Öl- und Gasmarkt – insbesondere bei Projekten in der Türkei, im kurdischen Teil des Irak und im Libanon – mehr um Politik als um wirtschaftlichen Nutzen geht. Die Vorstellung jedoch, dass Russland beständig und präzise einer ausgeklügelten Strategie folge, ist nichts als ein Mythos, der hartnäckig von der Propaganda befeuert wird.

    Ausgeklügelte Strategie? Ein Mythos

    Die heutige Nahostpolitik Russlands muss durch das Prisma des gegenwärtigen Verhältnisses Moskaus zum Islam und zur islamischen Welt gesehen werden. Das Problem dabei ist: Der Kreml wird immer dann in dieser Richtung aktiv, wenn es Konflikte gibt oder wenn es gilt, schärfste Differenzen in den Beziehungen zu den führenden islamischen Staaten auszubügeln.
    Die erste Phase, in der eine Annäherung Russlands an die islamische Welt erfolgte, war der Zweite Tschetschenienkrieg. In diese Phase fällt der Auftritt von Wladimir Putin beim Gipfeltreffen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, Russlands Erlangung des dortigen Beobachterstatus. Zu dieser Zeit fand auch der erste Staatsbesuch eines russischen Präsidenten in Saudi-Arabien statt. Russland hat es dennoch nicht vermocht, die Zusammenarbeit mit der islamischen Welt zu festigen oder sie vertrauensvoller zu gestalten.


    Den zweiten Annäherungsversuch Russlands an die islamische Welt können wir aktuell beobachten. Er erfolgte aufgrund der Konfrontation mit den Anti-Assad-Kräften, von denen viele Ideen des Islam anhingen. Hier können wir von einer gewissen Institutionalisierung dieser Rückkehr Russlands in den Nahen Osten sprechen. Dadurch ist unter anderem der Beginn von Verhandlungen mit dem Iran und der Türkei in Astana möglich geworden. Ebenso konnte in den Beziehungen zu Saudi-Arabien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die den Einfluss der Türkei in Syrien und Libyen zurückdrängen wollen, eine neue Phase eingeläutet werden.

    Das Tschetschenien-Syndrom

    Der Tschetschenienkrieg war Anlass für eine Weiterentwicklung der Beziehungen Russlands zu den Staaten des Nahen Ostens [um durch Bündnisse den radikalislamischen Einfluss einzudämmen – dek], gleichzeitig schwebt über Moskaus Beziehungen zu vielen staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren im Nahen Osten nach wie vor das „Tschetschenien-Syndrom“:
    So sieht der Kreml in verschiedenen islamischen Kräften, die gewöhnlich als „islamistisch“ bezeichnet werden, potenzielle Sponsoren eines Aufruhrs in Russland, an dem sich Muslime aus Russland beteiligen könnten.


    Der Ansatz der Nahostpolitik Russlands könnte jedoch auch ein ganz anderer sein, wenn Moskau von der im russischen politischen System verwurzelten Islamophobie Abstand nehmen würde. Die lässt sich – ungeachtet der offiziellen Haltung, die diesen Umstand leugnet – längst nicht immer verheimlichen. Ab und zu kommt sie in der Rhetorik des Kreml zum Vorschein.

    Der Ansatz der Nahostpolitik Russlands könnte jedoch auch ein ganz anderer sein, wenn Moskau von der im russischen politischen System verwurzelten Islamophobie Abstand nehmen würde

    Selbstverständlich hat Moskau seine Bereitschaft zu einem gewissen Pragmatismus demonstriert. Das gilt für seine Beziehungen und Kontakte zu Kairo, als dort die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei [der Muslimbrüder – dek] und die Regierung Mursi an der Macht waren. Es war auch im Verhältnis zum ehemaligen sudanesischen Präsidenten Al-Baschir der Fall, der direkte Verbindungen zu sudanesischen Islamisten und der palästinensischen Hamas hatte. Vertreter der letzteren sind seit 2006 regelmäßig in Moskau zu Besuch. Russlands Einladung an die Hamas wurde im Westen logischerweise als Beginn einer Rückkehr Moskaus in die große Politik wahrgenommen. Die damals aktiven tschetschenischen Kämpfer gaben prompt ihren Unmut zu verstehen, dass „die Mudschahedin Palästinas, Brüder der Tschetschenen, sich entschieden haben, Putin die Hand zu reichen“. 

    Spiel mit Widersprüchen statt durchdachte Strategie

    In Wirklichkeit hat der Kreml damals keineswegs eine Schritt für Schritt durchdachte Politik betrieben: Vielmehr machtе Wladimir Putin seinerzeit genau das, was er heute immer noch macht – er spielte mit Widersprüchen und demonstrierte seine Unabhängigkeit gegenüber den Partnern im Nahost-Quartett (EU, UNO und USA): So hat Putin etwa den Wahlsieg der Hamas als „schweren Schlag“ für die Friedensinitiativen Washingtons im Nahen Osten bezeichnet und neun Tage später Vertreter der Hamas nach Moskau eingeladen. Seitdem sind die russischen Diplomaten genötigt, in jedem Interview zu lavieren, wenn es zu erklären gilt, weshalb die Hamas, die aus den seit 2003 in Russland verbotenen Muslimbrüdern hervorgegangen war, wenige Jahre nach diesem Verbot die russische Hauptstadt besucht. Oder warum Russland die Hamas nicht als Terroristen einstuft (offiziell deswegen, weil sie für die russische Bevölkerung keine Gefahr darstellt).

    Gilt es zu entscheiden zwischen islamisch orientierten Politikern und anderen Akteuren, dann sind letztere die Gewinner – Hauptsache, sie verkünden eine säkulare Haltung und erklären allen Formen des Islamismus den Kampf. Kaum verkündet ein Akteur eine solche Haltung, schon ändert Moskau seine Richtung, oft nur als Reaktion und ohne klar definierte Position.

    Dieses Vorgehen ist nicht allein der russischen Politik eigen, sondern in gewissem Maße auch der französischen. Der libysche Kommandeur Haftar hat dies intensiv ausgenutzt, indem er eine antiislamistische Agenda verfolgte und sagte, was man in Moskau und Paris von ihm hören wollte. Dabei waren seine antiislamistischen Parolen hauptsächlich an die Außenwelt adressiert. Für den internen Gebrauch verfolgte er einen durchaus fundamentalistischen islamischen Ansatz, instruiert von radikalen salafistischen Predigern. Zu seinen Truppen gehören auch salafistische Einheiten. Gleichwohl reichen öffentliche Bekenntnisse der eigenen Säkularität und deklarative Aufrufe zur Bekämpfung des Islamismus aus, die Gunst des Kreml zu erlangen.

    Die Folge ist, dass Moskau im Nahen Osten einem breiten Spektrum politischer Kräfte gegenübersteht, die gemäßigt islamische Positionen vertreten. Das Regime in Russland ist genötigt, mit ihnen umzugehen und Gespräche zu führen, wobei es weiterhin Groll hegt und Medienkampagnen gegen die Betreffenden fährt. Allerdings verheddern sich die russischen Medien des Öfteren, wenn sie über Gespräche russischer Offizieller mit Politikern aus dem Nahen Osten berichten, die sie gestern noch als anrüchig bezeichnet haben. Dabei hätten diese Kräfte durchaus an einer langfristigen Zusammenarbeit interessiert sein können, wenn die russische Seite sich unter gewissen Umständen nicht gescheut hätte, auf sie zu setzen, und wenn Russland seine Nahostpolitik wirklich effektiv und nicht effekthascherisch gestaltet hätte.

    Die russische Seite hat es aufgrund ihres stereotypen Denkens nicht vermocht, in den Beziehungen zu Assad eine rote Linie zu ziehen

    Das Eingreifen in den Syrienkonflikt hat Moskau trotz der offensichtlichen geopolitischen Gewinne keine wesentliche Dividende gebracht. Vielmehr haben die enorme Konzentration auf eine Unterstützung des syrischen Regimes und die Bildung eines faktischen Militärbündnisses mit dem schiitischen Iran, der es ebenfalls vorzog auf einem Grat zwischen Krieg und Frieden zu wandeln, die Flexibilität Russlands im Nahen Osten eingeschränkt. Die russische Seite hat es aufgrund ihres stereotypen Denkens nicht vermocht, in den Beziehungen zu Assad eine rote Linie zu ziehen.

    2015 hatte es für Moskau die Möglichkeit gegeben, zu Damaskus auf Distanz zu gehen, um nicht mit dem syrischen Regime in einen Topf geworfen zu werden. Man hätte sich auf die offiziell verkündeten Ziele der militärischen Operation in Syrien konzentrieren können, also darauf, den in Russland verbotenen „Islamischen Staat“ zu bekämpfen und das Angriffspotenzial der al-Nusra-Front (Dschabhat an-Nusra, heute Hai‘at Tahrir asch-Scham; die Organisation ist in Russland verboten) zu begrenzen. 2015 hatte die syrische Opposition nicht die Absicht, auf die Seite der Türkei zu wechseln und im syrischen Grenzgebiet für ihre Interessen zu kämpfen. Moskau hätte in diesem Bürgerkrieg die Rolle eines Vermittlers nicht nur imitieren, sondern wirklich übernehmen können – wenn man Schläge gegen Terrorzellen geführt und Assad zu Kompromissen gedrängt hätte. Trotzalledem wäre Assad zu einer russischen Militärpräsenz in diesem Format bereit gewesen.

    Unter solchen Voraussetzungen hätte Moskau das syrische Regime womöglich allmählich „zähmen“, es vom Iran losreißen sowie einen vollwertigen Friedensprozess in Gang setzen können, durch den beträchtliche Investitionen ins Land geholt würden. Diese hätten auch von russischen Firmen kommen können, ohne dass sie hätten befürchten müssen, unter die westlichen Sanktionen zu geraten. Zudem hätte Russland seine Positionen behauptet und das Vertrauen des gesamten Kräftespektrums im Nahen Osten bewahrt. Vor allem hätte ein solches Szenario eine mögliche „Afghanisierung“ des Konflikts ausgeschlossen und die Kosten für die Intervention begrenzt.

    Eine einzige Empfehlung 

    Russland hat als Rechtsnachfolger der UdSSR eine einzigartige Möglichkeit: Es ist in der Lage, parallel und durchaus offiziell einen Dialog mit verfeindeten Seiten zu führen. Heute mit Israel und dem Iran, morgen mit den USA und der Hisbollah, übermorgen mit der Türkei und der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD). Gleichzeitig hat Moskau nicht die wirtschaftliche Macht der Sowjetunion, um sich eine Großzahl subventionierter und für gewisse Ideale kämpfender Bewegungen zu halten. Ebenso wenig ist Russland in der Lage, den Seiten einen vermittelten Dialog zu seinen Bedingungen aufzuzwingen und sich der Konkurrenz zu stellen. Daher ist der Kreml genötigt, sich in militärische Konflikte im Nahen Osten hineinziehen zu lassen, wodurch er den Status eines unabhängigen Vermittlers verliert.

    Die Erfahrung, dass man erfolglos nach verbündeten Regimen gesucht hat, und die ständigen Versuche, als Mentor aufzutreten, sind für Moskau das Haupthindernis für eine Weiterentwicklung der Beziehungen zu den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas in der so sehr beschworenen multipolaren Welt. Und der Kurs auf eine Militarisierung der Außenpolitik sowie die Suche nach einem äußeren Feind zur Erhaltung des bestehenden Systems schließt die Beteiligung russischer Firmen an „politikfreien“ Projekten aus: Schließlich wissen die russischen Diplomaten sehr wohl, dass viele russische Wirtschaftsprojekte im Nahen Osten und Nordafrika nicht deshalb gescheitert sind, weil Washington da Knüppel zwischen die Beine geworfen hat, sondern durch die Schuld russischer Politiker und Unternehmer. Für Moskau sind vor allem rote Teppiche und Lobeshymnen wichtig und erst dann Realpolitik.


    Für den Kreml ist es an der Zeit, sich von dem sowjetischen Paradigma der Nahostpolitik zu verabschieden, bei dem die Blockkonfrontation im Zentrum stand. Außerdem muss die offizielle Haltung revidiert werden, dass Säkularität der wichtigste Indikator für die „Zurechnungsfähigkeit“ der politischen Kräfte im Nahen Osten ist. Zudem sollte die Reichweite der Kontakte in der Region ausgedehnt werden, und zwar ohne Säbelrasseln. Da Russland selbst einen Kurs in Richtung Unterdrückung Andersdenkender und der Medienfreiheit verfolgt, sind große Zweifel angebracht, ob Moskau zu einer solchen Neujustierung bereit ist. 

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