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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wer ist Ales Bjaljazki?

    Wer ist Ales Bjaljazki?

    Nasha Niva stellt den belarussischen Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki vor. Der Gründer der Menschenrechtsorganisation Wjasna hat sich bereits in den 1980er Jahren für Freiheit und Menschenrechte eingesetzt. Wjasna wurde 2003 die Registrierung entzogen, Bjaljazki selbst sitzt seit 2021 in Haft. Die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch mahnte an, „ein solcher Mensch darf nicht im Gefängnis sein, das ist eine Erniedrigung sowohl für das Volk als auch für die Staatsmacht selbst, falls sie das versteht“.

    Das Nobelkomitee aus Oslo hatte am Freitagmittag, 7. Oktober, seine Entscheidung verkündet: Der Friedensnobelpreis geht in diesem Jahr an den Belarussen Bjaljazki und an die Menschenrechtsorganisationen Center for Civil Liberties (Ukraine) und Memorial (Russland). 

    Der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki / Foto © Nasha Niva
    Der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki / Foto © Nasha Niva

    Ales Bjaljazki ist 60 Jahre alt [geboren am 25. September 1962 – dek]. Sein Vater kam aus dem Rajon Rahatschou in der Oblast Homel, seine Mutter aus Naroulja im gleichen Gebiet. Ales Bjaljazki wurde jedoch in Karelien geboren. Wie kam es dazu? Die Familie war 1940 dort hingezogen, gleich nach dem sowjetisch-finnischen Krieg. In Belarus herrschte damals große Armut, und in Karelien gab es praktisch keine Kolchosen, rundum viel Wald und Verdienstmöglichkeiten, es war fast ein Paradies. Bjaljazkis Großvater hatte deshalb das Angebot, dorthin zu gehen, angenommen. Letztlich ist die Familie erst 1964 nach Belarus zurückgekehrt, als Ales zwei Jahre alt war.

    Seine Eltern konnten sich lange nicht zwischen zwei Städten entscheiden, die damals aufgebaut wurden, zwischen Swetlahorsk und Salihorsk. Die Wahl fiel schließlich auf erstere, in Swetlahorsk verbrachte der Menschenrechtler seine Kindheit.

    Schließlich studierte Ales Bjaljazki belarussische Philologie an der Universität Homel. Dort bildete sich eine belarussischsprachige Gruppe, zu der auch Anatol Sys und Sjarhej Sys (sie sind nicht verwandt), Eduard Akulin und Anatol Kaslou gehörten. In jener Zeit reiste Bjaljazki viel in Belarus umher. Und die größte Entdeckung bestand für ihn darin, dass „die belarussische Sprache weiterlebt“. 

    Bjaljazki und die Band Baski / Foto © Nasha Niva/privat
    Bjaljazki und die Band Baski / Foto © Nasha Niva/privat

    Während des Studiums spielte er als Gitarrist in der Band Baski und lernte schließlich auch seine spätere Frau Natalja kennen, 1981 in der Stadt Lojeu, als Verwandte von Natalja heirateten. Natalja und Ales Bjaljazki schlossen 1987 den Bund fürs Leben. Bis dahin hatte Bjaljazki schon als Lehrer im Rajon Leltschyzy gearbeitet und seinen Wehrdienst in Jekaterinburg (damals Swerdlowsk) abgeleistet.

    Bjaljazki in jungen Jahren / Foto © Nasha Niva/privat
    Bjaljazki in jungen Jahren / Foto © Nasha Niva/privat

    Ales Bjaljazki war unter denjenigen, die die ersten offiziellen Demonstrationen in der Belarussischen Sowjetrepublik organisierten, darunter die berühmte Demonstration in Minsk am 30. Oktober 1988. Als die Demonstration auseinandergejagt wurde, zerissen sie seine Jackenärmel, Bjaljazki wurde aber nicht festgenommen.

    Lange Zeit entwickelte sich Bjaljazkis Karriere in Richtung Schriftstellerei: Er veröffentlichte zahlreiche literaturwissenschaftliche Beiträge und war einer der Begründer von Tuteischyja, einer Vereinigung junger Literaten. 1988 wurde er Direktor des Maxim-Bahdanowitsch-Literaturmuseums.

    Ales Bjaljazki war außerdem Mitglied des Organisationskomitees der Belarussischen Volksfront (BNF). 1991 wurde er Abgeordneter im Minsker Stadtrat. Am Tag des Putsches des Staatskomitees für den Ausnahmezustand (GkTschP) im August 1991 veröffentlichte er zusammen mit 28 weiteren Abgeordneten eine mutige Erklärung mit dem Aufruf, „der rechtmäßig gewählten Regierung die Treue zu halten“.

    Die Menschenrechtsorganisation Wjasna

    1996 gründet Bjaljazki das Menschenrechtszentrum Wjasna-96. Bereits damals, vor 25 Jahren, brauchten immer mehr Menschen, die unter dem Vorgehen der Regierung gelitten haben, Unterstützung – juristische, psychologische und jedwede andere Hilfe. 

    Wjasna war sogar offiziell registriert, auch wenn das heute schwer zu glauben ist, 2003 wurde diese Registrierung per Gerichtsbeschluss entzogen. Die Wahlbeobachtung bei den Präsidentschaftswahlen 2001 hatte das Faß zum Überlaufen gebracht. 
    Das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen befand, dass die belarussische Regierung mit der Auflösung von Wjasna internationale Abkommen verletzt hat. Offizielle Stellen in Minsk erwiderten darauf aber, dass solche Ansichten lediglich „Empfehlungen“ seien.
    2006 überreichte Václav Havel den Homo-Homini-Preis an Ales Bjaljazki und würdigte damit dessen Menschenrechtsarbeit. Von 2007 bis 2016 war Bjaljazki auch Vizepräsident der Internationalen Föderation der Menschenrechtsorganisationen (FIDH).

    Strafverfahren und Haft

    Das erste Strafverfahren gegen Bjaljazki wurde 2011 eröffnet, wegen angeblicher Steuerhinterziehung in besonders großem Umfang. Die belarussischen Behörden hatten damals von den Bankkonten erfahren, die Wjasna in Litauen hatte. Diese Gelder waren jedoch nicht in Bjaljazkis Taschen gewandert, sondern wurden für die Arbeit der Organisation verwendet. Bjaljazki wurde zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Seine Aussagen während der Ermittlungen und vor Gericht machte Bjaljazki auf Belarussisch, für ihn eine Frage des Prinzips.

    Seine Strafe verbrachte Bjaljazki in einer Haftanstalt bei Babruisk, wo er in einer Nähwerkstatt arbeitete. Während seiner Inhaftierung wurde der belarussische Menschenrechtler mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert, und der norwegischen Presse zufolge galt Bjaljazki immer wieder als einer der Favoriten.

    Bjaljazkis Haft dauerte knapp drei Jahre. Im Juni 2014 kam er aufgrund einer Amnestie frei. Pawel Schabeka, ein Oberstleutnant des Strafermittlungskomitees, bekannte später seine Schuld bei der politische Verfolgung Bjaljazkis. 

    Ales Bjaljazki pflegte während seiner Haft einen aktiven Briefwechsel, sämtliche Briefe nahm er bei seiner Freilassung mit. Es gelang ihm auch, Manuskripte für mehrere Bücher zu verfassen, die er nach seiner Freilassung veröffentlichte. Und er setzte seine Menschenrechtsarbeit fort. Er hatte vielfach die Möglichkeit auszuwandern oder nach Auslandsreisen nicht nach Belarus zurückzukehren. Doch ein ums andere Mal kam er nach Minsk zurück, obwohl er sehr genau wusste, was ihn dort erwarten könnte.

    Ales Bjaljazki nennt als seine Hobbys Pilze suchen und Blumenzucht. Auf der Datscha baut er Kartoffeln, Gurken und anderes Gemüse an. Er hat einen Sohn namens Adam, der 2021 wegen eines Einzelpikets für die verurteilten Journalistinnen von Belsat festgenommen, verprügelt und für 15 Tage ins Okrestina-Gefängnis kam.

    Erneute Festnahme 2021

    Am 14. Juli 2021 wurde Ales Bjaljazki erneut festgenommen. Er befindet sich derzeit im Gefängnis, ihm wird „Schmuggel“ (§ 228 des belarussischen Strafgesetzbuches) und die „Finanzierung von gemeinschaftlichen Handlungen, die die öffentliche Ordnung in grober Weise verletzen“ (§ 342 Abs. 2) vorgeworfen.

    Zusammen mit Bjaljazki mussten auch andere Mitarbeiter von Wjasna hinter Gitter: der stellvertretende Leiter Waljanzin Stefanowitsch und der Koordinator der Kampagne Menschenrechtler für freie Wahlen Uladsimir Labkowitsch.

    Weitere Themen

    Brief an die Ukraine

    Die Angst vor dem Klopfen an der Tür

    Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?

    „Für alle, die in Gefangenschaft sind“

    Zitat #16: „Bjaljazki ist für mich eine mythologische Figur des belarussischen Kampfes“

    Memorial

  • „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    An den Grenzübergängen Russlands zu Estland und Lettland bilden sich derzeit lange Schlangen von Flüchtenden, die teilweise tagelang bei Minusgraden ausharren müssen: Es sind ukrainische Bürgerinnen und Bürger, die aus den von Russland annektierten Gebieten kommen. 
    Meduza hat mit einzelnen von ihnen gesprochen – und auch mit Helferinnen und Helfern, die sich dort inzwischen eingefunden haben. Diese Augenzeugen schildern katastrophale Zustände auf russischer Seite und ein absichtliches Hinauszögern seitens der russischen Grenzbehörden. 

    Wie das litauische Portal Delfi informiert, wurden am Donnerstag, 6. Oktober, einzelne Wohnungen von freiwilligen Helfern in der Oblast Pskow durchsucht. Delfi sowie Spiegel Online berichten außerdem über zahlreiche Zurückweisungen ukrainischer Flüchtlinge aus den von Russland besetzten Gebieten auf estnischer Seite. 


    „Grenzübergang Kunitschina Gora (Bezirk Petschorski, Oblast Pskow). Ukrainer. Vermutlich sind warme Speisen und Getränke willkommen, ebenso Heizöfen.“ / © Telegram-Kanal Pskowskaja Realnost

    „Wir haben begriffen, dass sie uns für Vieh halten“

    Andrej, ukrainischer Flüchtling (Name auf seinen Wunsch geändert)

     

    Es gab für uns nur noch einen Weg [aus den russisch besetzten ukrainischen Gebieten] in die Ukraine – über Wassiliwka in der Oblast Saporishshja. Er wurde kurz vor dem 23. September und den Pseudoreferenden geschlossen. Männer zwischen 18 und 35 Jahren durften nicht mehr [aus der Oblast] ausreisen. Wir vermuteten, dass sie [die russischen Behörden] als nächstes anfangen würden, die Männer einzukassieren [zu mobilisieren], und beschlossen, lieber nicht darauf zu warten. Manche gehen auf die Krim, aber in Russland ist es unheimlich – da gibt es mehr Militärs als normale Menschen.

    Ich bin mit meiner Frau und unserem Kind am 25. September aus dem besetzten Gebiet [in der Oblast Saporishshja] auf die Krim ausgereist, von dort aus sind wir nach Sankt Petersburg und dann weiter nach Iwangorod [an der russisch-estnischen Grenze – dek], wo wir andere ukrainische Flüchtlinge kennengelernt haben.

    Wir mussten etwa zwei Tage warten. Jetzt lassen sie pro Tag schon 40 Menschen durch

    Am 30. September kamen wir am Grenzübergang an. [In der Schlange] standen ungefähr zehn Leute. Wir dachten: „Super, dann sind wir schnell durch.“ Dann stellte sich heraus, dass die Russen wollten, dass sich die Leute der Reihe nach in Listen eintragen und schon 60 vor uns draufstehen. Die Listen werden eingesammelt, die Personalien in eine Datenbank eingetragen und die Menschen der Reihe nach aufgerufen. Alle diese 60 Menschen waren am 29. September angekommen, nur acht waren an diesem Tag durchgelassen worden. Um es gleich zu sagen: Wir mussten etwa zwei Tage warten. Jetzt lassen sie pro Tag schon 40 Menschen durch, sechs bis acht Menschen alle vier bis sechs Stunden.

    Selbst wenn du mit einem kleinen Kind anstehst, wirst du nicht vorgelassen. Ich blieb an der Grenze, um Wache zu schieben – die Lage veränderte sich alle 15 Minuten. Meine Frau und unser Kind habe ich ins Hotel geschickt, in dem auch die anderen Familien wohnten.

    Sie ließen uns manchmal eine halbe Stunde vor der Tür stehen, dabei waren es draußen tagsüber sieben Grad

    Russen und Esten passieren die Grenze innerhalb von fünf Minuten. Einer [der Russen] stellte sich in die Schlange mit den Flüchtenden und regte sich auf: „Was ist denn hier los? Muss ich jetzt hier anstehen?“ Er fluchte. Die Grenzbeamtin zeigte auf die Schlange mit den Russen und sagte zu ihm: „Beruhigen Sie sich mal, da stehen die normalen Leute.“ Da begriffen wir, dass sie uns für Vieh halten. Außerdem waren alle, die [im Kontrollpunkt] saßen, durchgefroren und erkältet. Wir wurden [einfach so] nach draußen gejagt, zum Beispiel weil sie um vier oder sechs Uhr morgens die Böden wischen mussten. Sie ließen uns manchmal eine halbe Stunde vor der Tür stehen, dabei waren es draußen tagsüber sieben Grad. Es war kalt. Dazu [kommen] der Stress und die weite Reise.

    Sie nehmen dir das Handy ab, wollen deine PIN wissen, nehmen es mit und jagen es durch ein Programm

    Alle mussten durch die Filtration [auf russischer Seite]. Erst saßen wir im Kontrollpunkt und warteten, dass wir drankamen. Sie nahmen uns die Pässe ab, überprüften sie und holten uns [dann], um unsere Fingerabdrücke zu nehmen. Etwa alle vier Stunden wurden sechs bis sieben Leute aus der Liste [für die Filtration] abgeholt, nicht mehr. Um nicht getrennt zu werden, fragten [Familienangehörige, die nicht alle auf einer Liste standen], ob sie zusammen durchgehen können. Die Grenzbeamten verneinten und sagten, sie würden die vorlassen, die alleine anstehen. Also mussten die Familien Leute vorlassen und weitere vier bis sechs Stunden warten, bis sie an die Reihe kamen.

    In der Filtrationszone nehmen sie dir das Handy ab, wollen deine PIN wissen, nehmen es mit und jagen es durch ein Programm. Keine Ahnung, wo sie überall reingeguckt haben, vielleicht haben sie es auch verwanzt – es ist alles möglich. Wir bekamen unsere Handys nach 15 bis 30 Minuten wieder, andere erst nach mehreren Stunden.

    Sie sagen Dinge wie: ‚Wir bringen euch den Russki Mir, das gefällt euch wohl nicht?‘

    Nachdem dir das Handy abgenommen wurde, geht es zum Verhör. Sie wollen wissen: „Was ist bei Ihnen los? Wie war Ihr Leben in der Ukraine vor diesen ganzen Ereignissen? Warum wollen Sie nicht in Russland bleiben?“ Sie fragen nach den Eltern, Schwestern, Brüdern. Sagen Dinge wie: „Wir bringen euch den Russki Mir, das gefällt euch wohl nicht?“ Stellen provokante Fragen. Manche wurden gefragt: „Wie finden Sie unseren Präsidenten?“ Naja, diesen Putin. Am Ende wurden wir durchgelassen.

    Die estnische Grenze passierten wir innerhalb von 30 Minuten. Jetzt sind wir in Estland. In den Nachrichten lese ich, dass sie in Melitopol und Cherson schon die Männer einkassieren [im Zuge der Mobilmachung – dek]. In die Ukraine wollen wir erst zurück, wenn es wieder ruhig ist. Meine Familie hat Angst vor den Explosionen, bei uns [in der Stadt] wird täglich geschossen. Im Moment überlegen wir, wohin wir jetzt fahren.


    „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    Anna, freiwillige Helferin an den russischen Kontrollpunkten Kunitschina Gora und Schumilkino an der russisch-estnischen Grenze

    Die Menschen, nicht nur Flüchtlinge, fahren zwischen den Grenzübergängen hin und her, stellen sich in verschiedenen Schlangen an und schauen, wo die Umstände besser sind. Es gibt viele Autofahrer und Fußgänger. Ganze Busladungen kommen an. Die Anzahl der Menschen [an den Grenzübergängen] ändert sich ständig, aber es sind immer mindestens 300 bis 400. Es ist ganz unterschiedlich, [allein] in Schumilkino haben wir [einmal] etwa 1000 Menschen gezählt. Manchmal kommt zum Beispiel ein Bus von der Krim, setzt die Leute irgendwo im Nichts [an der Grenze] ab, und sie stellen sich alle auf einmal an.

    Diese Situation hat sich vor anderthalb Wochen angebahnt. Den Notruf bekamen wir am Mittwoch, 28. September: Es wurde von riesigen Schlangen berichtet, vor allem Fußgänger. Die Nächte werden kälter, tagelang in der Schlange auszuharren ist extrem schwierig. Als wir mit der ersten Partie humanitärer Hilfe ankamen, gab es unter den Wartenden bereits Menschen, die seit über drei Tagen anstanden.

    Die Nächte werden kälter, tagelang in der Schlange auszuharren ist extrem schwierig

    Manche kommen auch mit privaten Fuhrunternehmen. Einige mieten für einen Aufpreis einen Bus, der sie an die Grenze bringt und dann zwei Tage dort steht – da drin können sie sich wenigstens aufwärmen und schlafen. Auf der anderen Seite wartet entsprechend ein zweiter [Bus eines europäischen Unternehmens], aber wer [vorher] wie lange [an der Grenze] stehen muss, weiß niemand.

    Seit Donnerstag, 29. September, helfen wir den [Flüchtlingen] aktiv. Wir arbeiten in fünf Richtungen: warmes Essen und Heißgetränke, warme Kleidung, Schutz vor Regen, Übernachtungsmöglichkeit und Evakuierung auf anderem Weg.

    Als klar wurde, dass wir es nicht [allein als Freiwillige] schaffen, gingen wir an die Öffentlichkeit und riefen die Leute zur Mithilfe auf. Jetzt gibt es Menschen, die sich organisieren und [Lebensmittel an die Grenze] bringen. Viele von ihnen helfen schon lange, aber plötzlich waren viel mehr Ressourcen nötig als früher.

    Vor Müdigkeit und Kälte sind die Kinder in einem schlechten Zustand. Viele bekommen eine Mandelentzündung. Manche haben Fieber. Die Freiwilligen und andere Einwohner [der umliegenden Städte] nehmen die Menschen bei sich auf, damit sie sich aufwärmen können, in erster Linie Frauen mit Kindern. Aber auch wenn jemand anderes um Hilfe bittet, versucht man ihm zu helfen. Manche haben Angst, zu uns nach Hause zu fahren, um dort zu übernachten, aber dann beruhigen sie die Leute, die schon bei uns waren oder ihre Angehörigen mitgeschickt haben.

    Die Kinder sind in einem schlechten Zustand. Viele bekommen eine Mandelentzündung. Manche haben Fieber

    Ich habe das Gefühl, dass die [städtischen und regionalen] Behörden nicht wollen, dass die einfachen Bewohner zu viel von den Ereignissen mitbekommen. Nachdem von drei Todesfällen in der Schlange berichtet wurde, ist sichtlich mehr getan worden. Es handelte sich um ältere Menschen. Eine Frau starb in Petschory [Oblast Pskow, in der Nähe der estnischen Grenze – dek], den Tod einer anderen Frau meldete ein Mann aus der Schlange in Ubylinka [an der russisch-lettischen Grenze – dek]. Wo der dritte Fall war, weiß ich nicht mehr. Ein anderer Mann erlitt einen epileptischen Anfall und wurde mit dem Krankenwagen geholt. Und das sind nur die Fälle, von denen wir wissen.    

    Nachdem von drei Todesfällen in der Schlange berichtet wurde, ist sichtlich mehr getan worden

    Viele [Flüchtende aus der Ukraine] bedanken sich und sind verwundert, dass es in Russland Freiwillige gibt. Trotz der vielen Arbeit unterstützen wir uns gegenseitig. Wir umarmen uns oft. Wenn sie weinen, muss ich auch weinen. Die Möglichkeit, ihnen zu helfen, ist für mich das ganze halbe Jahr schon eine echte Rettung. Jetzt ist der Strom der Menschen dünner geworden und die Lage hat sich etwas stabilisiert. 

    Sehr oft arbeiten die Flüchtenden, denen wir hier helfen, später als Freiwillige, wenn sie auf der anderen Seite der Grenze sind. Angehörige von Leuten, die es herausgeschafft haben, fragen uns, wie sie für uns Geld spenden oder sonst helfen können. Es gibt Menschen, die nie gedacht hätten, dass jemand einen Unbekannten ins Haus lassen könnte, um zu helfen.

    Das ist ein Ozean aus Wahnsinn, in dem die Menschen sich verzweifelt abstrampeln. Plötzlich findet einer jemandes Hand und hält sie. Alle klammern sich aneinander und es bildet sich ein stabiles Floß. Dadurch helfen die Menschen, das Menschliche zu bewahren und sich im Kampf mit den Schrecken des Krieges über Wasser zu halten. Leider ist der Preis, der für eine solche Entwicklung und ein solches gegenseitiges Verständnis, für die Idee von Freiwilligenarbeit und gegenseitiger Hilfe gezahlt werden musste, viel zu hoch.


    „Ich habe mich noch nie im Leben an Freiwillige wenden müssen, und ich habe nicht einmal gewusst, dass es so weit kommen kann“


    Alina, Flüchtende. Aus dem von Russland besetzten Cherson hat sie ihr Weg über die Krim nach Sankt Petersburg geführt. Sie hat die russisch-estnische Grenze bei Iwangorod überquert.

    Wir [meine Familie und ich] konnten bis zuletzt nicht weg. Alle dachten, dass sich etwas ändern würde. Alle sagten mir: „Fahr doch, was sitzt du hier noch rum?!“. Wir konnten uns nicht durchringen. Das Entscheidende war dann das „Referendum“. Als es angekündigt wurde, waren die Abschiedstränen zweitrangig. Uns war klar: Wenn das Referendum stattfindet und so abläuft, wie es die andere Seite [Russland] will, dann wird hierher [nach Cherson] keiner [von uns] zurückkehren.

    Das Entscheidende war das „Referendum“. Als es angekündigt wurde, waren die Abschiedstränen zweitrangig

    [An der russisch-estnischen Grenze] versuchten wir herauszufinden, wer der letzte [in der Schlange] ist. Als Antwort wurden wir in eine Liste eingetragen. Dann fragten wir, wie viele abgefertigt werden. Sie sagten, dass heute bisher nur zwei durchgelassen wurden. Die Schlange ist hundert Menschen lang; es ist schon nach Mittag. Da wurde uns klar, wie lange wir hier stehen müssen.

    Es gibt sehr viele Kinder und Rentner. Das Einzige, was uns gefreut hat, war, dass Männer und Frauen über 60 außer der Reihe durchgelassen wurden. Wenn aber ein Mann oder eine Frau über 60 mit ihren Kindern unterwegs ist, die, sagen wir mal, 40 Jahre alt sind, dann bleiben sie bei ihren Kindern, weil sich niemand in einer solchen Situation trennen will. Ein weiteres Problem sind die Kinder, [an der Grenze] gibt es Winzlinge von drei Monaten.

    Ein Problem sind die Kinder, es gibt Winzlinge von drei Monaten

    Ich weiß nicht, warum das so ist, aber an Toiletten fehlt es am russischen Grenzübergang völlig. Die gibt es dort auf dem Gelände einfach nicht. Vielleicht gibt es im Gebäude eine; die Mitarbeiter brauchen sie wohl. Doch für Besucher, für Wartevolk wie uns, gibt es keine. Ich habe mitbekommen, wie eine Frau eine Mitarbeiterin danach fragte. Die antwortete: „Wir haben hervorragende Bio-Toiletten, gehen Sie zum Gewässer [beim Grenzübergang] oder in die Büsche.“ Nebenan steht noch ein verlassenes Gebäude, mit dem wir uns in dieser Hinsicht „vertraut“ gemacht haben; früher gab es dort irgendein Geschäft, doch hängt da jetzt ein Schild: „geschlossen“.

    Weil uns der Bus einfach abgesetzt hat [und wieder weggefahren ist], haben wir an der Grenze entweder auf der Straße gestanden oder waren im Gebäude. Vielen Dank an die Frauen, die dort arbeiten. Sie kamen und sagten: „Frauen und Kinder, kommen Sie und wärmen Sie sich auf. Die Männer bleiben auf der Straße, weil nicht genug Platz ist.“ In das kleine Zimmer passten aber nicht alle rein, die sich aufwärmen wollten; da gab es nur drei Bänke. Wir haben auf den Fensterbänken gesessen, auf dem Boden, auf den Koffern.

    In das kleine Zimmer passten nicht alle rein, die sich aufwärmen wollten; da gab es nur drei Bänke

    Eine Nacht mussten wir draußen verbringen. Auf der Bank konnte man nicht sitzen, da war der Wind zu kalt, der vom Wasser herüberwehte. Also versuchst du, dichter am Gebäude zu sitzen, dort ist es ein klein bisschen wärmer. Da störst du die Leute, die mit ihren Koffern herauskommen, denn du versperrst den Weg. Ich hätte natürlich [ab und zu] in dieses Zimmer gehen können, aber da gab es absolut keinen Platz. Ich stellte mich neben die Tür, um mir die Hände zu wärmen, dann ging ich wieder weg.

    Die Freiwilligen sind irgendwie Zauberer

    Es gab überhaupt kein Wasser [am Grenzübergang]. Wir haben es in der Stadt gekauft, als wir das, was wir mitgebracht hatten, leergetrunken hatten. Und die Freiwilligen haben geholfen; sie brachten Wasser in Plastikflaschen und heißes Wasser. Essen hatten wir zuvor schon bekommen, aber die Freiwilligen brachten auch Bouillon, Gebäck, Kuchen und Printen vorbei.

    Die Freiwilligen sind irgendwie Zauberer. Du weißt: Was auch passiert, sie helfen dir von A bis Z, selbst nachts. Ich habe mich noch nie im Leben an Freiwillige wenden müssen, und ich habe nicht einmal gewusst, dass es so weit kommen kann.


    „Die Lage hat sich seit Beginn der ‚Referenden‘ bis zum Anschlag zugespitzt“

    Iwan, Freiwilliger an der russisch-lettischen Grenze (Name auf seinen Wunsch geändert)

    Wenn es früher nur an zwei Grenzübergängen Schlangen gab (in Buratschki und Ubylinka), kommt es in den letzten zwei Wochen nun überall zum Kollaps. 

    Die Lage mit den Schlangen an den fünf Grenzübergängen im Gebiet Pskow hat sich seit Beginn der „Referenden“ bis zum Anschlag zugespitzt. Die fahren selbständig oder gegen Bezahlung mit Hilfe von privaten Fuhrunternehmen zu den Grenzübergängen für Fußgänger. Während Neue ankommen, sind ihre „Vorgänger“ noch nicht rüber [über die Grenze]. Die russischen Grenzübergänge sind wie Flaschenhälse, sie lassen einen dort stundenlang warten; manchmal werden [nur] drei, vier Autos pro Tag abgefertigt.

    Die russischen Grenzübergänge sind wie Flaschenhälse, sie lassen einen dort stundenlang warten

    In Iwangorod hat sich eine Zwei-Tage-Schlange aufgelöst, das bedeutet aber nicht, dass sich nicht wieder eine bildet. Anscheinend haben die Mitarbeiter des russischen Zolls nach dem Selbstmordversuch [eines ukrainischen Flüchtlings] dann schneller gearbeitet. Diejenigen, die Schlange stehen, sagen allerdings, dass die russischen Grenzer mit mehrstündigen Pausen arbeiten. Dabei warten viele dort, fast alles Flüchtende. Russen mit Touristenvisa werden nicht rausgelassen, wer aber aus geschäftlichen, familiären oder arbeitstechnischen Gründen oder wegen Immobilienangelegenheiten ein Visum hat, wird recht zügig abgefertigt. Sie kommen dabei vor den Flüchtenden an die Reihe.

    Diejenigen, die Schlange stehen, sagen, dass die russischen Grenzer mit mehrstündigen Pausen arbeiten

    Neben dem Grenzübergang können keine Zelte oder Stellen zum Aufwärmen errichtet werden, weil das Grenzgebiet ist. Die Leute, die Mitgefühl haben, können sich nicht darum kümmern, weil das [Errichten solcher Stellen] verboten ist. Diejenigen, die den Flüchtenden helfen wollen, haben nicht genug Kraft, um „den Brand zu löschen“: Es gibt zu wenig Freiwillige und sehr viele Flüchtende. Nicht weit vom russisch-estnischen Übergang Kunitschina Gora gibt es wenigstens das Mariä-Entschlafungs-Kloster in Petschory. Es wird erzählt, dass die Flüchtenden dort mit Essen versorgt wurden, aber jetzt wohl nicht mehr. Im Großen und Ganzen gibt es nichts, wo die Menschen hinkönnen – all diese Grenzübergänge liegen praktisch auf der grünen Wiese.

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  • „Von einer Zeit, in der ein ganz neues Land entstand“

    „Von einer Zeit, in der ein ganz neues Land entstand“

    Sergej Bruschko (1958–2000) gehörte zu den bekanntesten Fotojournalisten seiner Heimat Belarus. Mit seiner Arbeit dokumentierte er nicht nur die Zeit des großen Umbruchs in der Zeit von Perestroika und Glasnost, er prägte sie mit seinen charaktervollen Fotografien, die Geschichten aus jener Zeit erzählen – Geschichten von Leid, Angst, Unabhängigkeit, Hoffnung und von der Kraft des Aufbruchs. Nikolaj Chalesin, der als Redakteur mit Bruschko zusammenarbeitete und später das Belarus Free Theatre gründete, urteilt: „Jede seiner Arbeiten ist eine komplette Geschichte, jedes Porträt ein Charakter, jedes Foto stellt eine ganze Epoche dar. Ich bin nicht prätentiös – es war unser Schicksal, an einem solchen Wendepunkt zu leben, an dem alles wichtig ist.“ 

    Bruschko prägte aber nicht nur den belarussischen Fotojournalismus, sondern auch den Lebensweg seines Sohnes. Dimitri Bruschko trat schließlich in die Fußstapfen seines Vaters und wurde selbst Fotograf und Bildredakteur. Er hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, die Arbeit seines Vaters nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So hat er aus dem umfangreichen Archiv ein Buch mit Fotos von Sergej Bruschko zusammengestellt, von denen dekoder eine Auswahl zeigt. Zudem haben wir Dimitri Bruschko befragt – über die Arbeit seines Vaters, über den Unabhängigkeitskampf der Belarussen, über Zeiten, die alles verändern können.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Fischverkäuferin auf dem Bahnhofsvorplatz. Minsk, Januar 1992 / Foto © Sergej Bruschko

     

    dekoder: Warum haben Sie das Buch, das dem fotografischen Werk Ihres Vaters gewidmet ist, Smena (dt. Wechsel) genannt?

    Dimitri Bruschko: Zunächst ist Smena ein Zeichen der Anerkennung für die Redaktion der belarussischsprachigen Zeitung Tschyrwonaja Smena, eine der progressiven und liberalen Redaktionen in Belarus zu Zeiten der Perestroika. Mein Vater hat in jenen Jahren, von denen in dem Buch erzählt wird, dort gearbeitet. Im Alltag wurde die Zeitung zwar Tschyrwonka, die Rote, genannt. Für den Kontext jener Zeit, für eine Erzählung über die Epoche, die Belarus die Unabhängigkeit schenkte, ist jedoch das Wort Smena wichtiger. Denn es bedeutet im Belarussischen wie im Russischen „Wechsel“, „Veränderung“ und bezeichnet den Zustand des Wandels, den es Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre im gerade neu entstandenen Belarus gab. Damals erfolgten Veränderungsprozesse im Aufbau des Staates, ein Generationswechsel in der Verwaltung des Landes wie auch im Wirtschaftssystem; das Land öffnete sich zum ersten Mal dem Westen. Diese Zeit lässt sich als eine Ära des Umbruchs bezeichnen, in der die belarussische Geschichte eine ganz neue Wendung nahm.

    Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?

    Ungefähr 2017 fingen die lukaschenkotreuen Propagandisten in den staatlichen Medien an, davon zu reden, dass das unabhängige Belarus 1994 aus den Ruinen der UdSSR entstanden sei. Aber niemand sprach von den Gründen für den Zusammenbruch des Imperiums und dass das Land die Unabhängigkeit schon 1991 erlangt hatte. Die Propagandisten versuchen bis heute, jede Erinnerung aus der Geschichte zu streichen, die nicht mit der Herrschaft Lukaschenkos verknüpft ist. 

    Ich habe versucht, Bücher und Projekte zu finden, die über die Jahre 1988 bis 1994 berichten könnten, habe aber kein einziges finden können. Ich fand da Ausschnitte aus alten Zeitungen und ein paar Kulturprojekte, aber damit lässt sich der Gesamteindruck nicht wiedergeben. Deshalb beschloss ich, einen Fotoband zu machen, und zwar kein Album aus wohlkomponierten Fotografien in perfektem Licht, sondern ein Buch über eine Zeit, in der ein ganz neues Land entstand und die mein Vater mit seinen Fotos dokumentiert hat. Ich wollte, dass die Sprache des Narrativs dem Zeitungsstil nahekam, weil die Zeitungen damals die Informationsquelle waren, die für die Menschen am leichtesten zugänglich war. Deshalb weist das Buch viele Gestaltungselemente einer Zeitung auf. Anstelle von Texten mit Erläuterungen zur Zeit der Perestroika wollte ich lieber eine Reihe von Interviews und Erinnerungen über die Ereignisse und den Geist jener Zeit. Selbst die Farbe des Papiers sollte an den warmen Ton von Zeitungspapier erinnern.

    Wie wurde Ihr Vater zum Foto-Chronisten einer Zeit, die nicht nur für Belarus so folgenreich war? Hatte das damals mit Glasnost zu tun?

    Mein Vater wollte, nachdem er die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, Geologe werden. Ihm fehlte bei den Zensuren lediglich ein einziger Punkt, um es auf die Universität zu schaffen, deshalb ging er auf eine Fachschule, um Fotograf zu werden. Später kam er zu einer regionalen Zeitung in Soligorsk, wollte aber unbedingt zu einer großen Zeitung und schickte seine Fotografien an überregionale Zeitungen in der Belarussischen SSR

    Man wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm bei der Tschyrwonaja Smena in Minsk eine Stelle an. Minsk war zwar die Hauptstadt, aber auch verschlossen: Man konnte dort nur dann arbeiten, wenn man Bewohner der Stadt war oder eine Genehmigung einer Komsomol-Organisation hatte, die den Neuankömmling dann mit einer Wohnung zu versorgen hatte. Mein Vater erhielt beim Komsomol eine Absage und musste sich mit Hilfe von Schmiergeldern eine Meldebescheinigung in Minsk besorgen. Danach erst konnte er eine Stelle als Fotokorrespondent antreten. 

    Als er seine Arbeit begann, war die Zeit von Perestroika und Glasnost schon angebrochen. Allerdings war es noch zu früh, von Meinungsfreiheit zu sprechen. Alle Zeitungen befanden sich im Besitz des Staates und unterlagen der Zensur. Man konnte nicht einfach mit einer Geschichte über Wohnungsprobleme von Arbeitern oder zu wenig Schuhen in den Geschäften kommen. Solche Berichte mussten mit den Gremien der Kommunistischen Partei abgesprochen werden, was nicht immer gelang. Mitunter konnte man sich selbst bei einem ideologisch abgesicherten Thema eine Rüge der Parteileitung einhandeln. Ich erinnere mich, wie mein Vater zum Gespräch mit den Parteibürokraten vorgeladen wurde. Und zwar wegen eines Fotos von den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai, auf dem ein mit Orden dekorierter Veteran zu sehen war, der Bier trank. Diese Aufnahme passte einfach nicht zum Bild des Siegers in der staatlichen Propaganda.

    Ihr Vater hat auch die menschlichen Folgen von Tschernobyl in den Vordergrund seiner Arbeit gestellt. War es damals womöglich etwas Neues, die Menschen als Individuen zu sehen?

    Mein Vater war ein logisch denkender Mensch und er verstand sehr wohl die Dimensionen der Tragödie, die die Republik ereilt hatte. Für ihn war das keine Katastrophe aus technischem Versagen, sondern ein menschliches Drama. Er hatte einen beträchtlichen Teil seines Lebens auf dem Land gelebt und kannte die Psychologie der Menschen dort recht gut. In Belarus waren [von Tschernobyl] vor allem Dörfer und ihre Bewohner betroffen. Das Schicksal wollte es, dass ihm gerade in dieser Zeit klar wurde, dass die Fotografie seine Berufung ist. Er verstand die Tragödie der Menschen, und er hatte die Möglichkeit, dieses Thema mit seinen Fotos zu bearbeiten, weil er damals einen Ausweis als sowjetischer Fotokorrespondent in der Tasche hatte. Als Anhänger humanistischer Fotografie hat er dieses Thema einfach aufgreifen müssen.

    War Ihr Vater jemand, der die Unabhängigkeit von Belarus unterstützt hat? 

    Natürlich hatte er seine Meinung zu den Ereignissen, die er fotografierte. Er war ein Verfechter der belarussischen Unabhängigkeit und dachte, dass nur die Bürger des eigenen Landes es zu einem prosperierenden Staat aufbauen können. Diese Ansicht mag vielleicht etwas naiv erscheinen, aber bei der Wahl zwischen Romantik und Pragmatismus hat er sich für das Erstere entschieden. Bei der Präsidentschaftswahl 1994 gab er seine Stimme Stanislaw Schuschkewitsch; er dachte, dass nur ein kluger und anständiger Mensch das Land lenken sollte. Die nächste Präsidentschaftswahl im Jahr 2001 hat er nicht mehr erlebt, war aber überzeugt, dass Lukaschenko entweder die Wahl verliert oder nach seiner zweiten Amtszeit abtritt. Die Wirklichkeit zeigt, dass es für den Willen zu herrschen keine Grenzen des Anstands gibt.

    Wurden Sie durch Ihren Vater dazu inspiriert, selbst als Fotograf festzuhalten, wie die Belarussen auch unter Lukaschenko für ihre politische Emanzipation gekämpft haben?

    Die Fotografien meines Vaters waren für mich ein Geschichtslehrbuch, in dem es keine Propaganda gab. In den Archiven befindet sich nicht nur eine Auswahl seiner besten Fotografien, sondern auch Arbeiten, durch die man verstehen kann, was während der Perestroika und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit tatsächlich vor sich ging. Im Grunde war sein Archiv eine Art Grundlage für meine Entwicklung, nicht nur als Fotograf, sondern auch als Mensch. Die Fotografien an sich geben noch keine direkte Antwort darauf, was gut und was schlecht ist. Sie bringen einen aber dazu, Fragen zu stellen und die Antworten in sich selbst zu suchen.

    Was haben Sie sonst von Ihrem Vater für die Arbeit als Fotograf gelernt?

    Ich erinnere mich an zwei Regeln meines Vaters, die ich auch bei meiner Arbeit zu beherzigen versuche. Erstens: Bei der Arbeit muss man einen kühlen Kopf bewahren, aber das Herz sprechen lassen – auf keinen Fall umgekehrt. Das hat mir geholfen, in den schwierigsten Situationen von 2020 zu überleben. Als ich nämlich nicht nur die dramatischen Ereignisse um mich herum fotografieren wollte, sondern auch sehen musste, wie ich mit meiner Ausrüstung heil aus den Demonstrationen in der Stadt herauskomme; die glichen eher Kämpfen, bei denen auch Jagd auf Journalisten und ihre Fotoausrüstungen gemacht wurde. Die zweite Regel lautete: Fotografiere die Gerüche. Damit die Bilder nach Gefühlen riechen, nach Freiheit, Angst oder nach Hoffnung.

     

    links: John Lennon-Mauer – eine öffentliche Gedenkstätte, die von Fans des Musikers errichtet wurde. Sie war Teil des Bauzauns am Palast der Republik. In Minsk, Platz des Oktober, 1990 / rechts: Teenager, 1992 / Fotos © Sergej Bruschko
    Kontaktabzüge von einigen Fotos, ausgewählt von Sergej Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko
    Juri Martynow, Inspektor für Jugendangelegenheiten der Polizeidirektion des Moskauer Bezirks in Minsk bei einem Rundgang durch seinen Bezirk, Februar 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Eine Schlange nach Milchprodukten. Minsk, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Eine Schlange nach Zigaretten an einem Zeitungskiosk. Rogatschow, 1990 / Foto © Sergej Bruschko
    Im Zentrum von Aschmjany, 1989 / Foto © Sergej Bruschko
    Streik von Minsker Fabrikarbeitern auf dem Lenin Platz gegen den starken Preisanstieg, organisiert von Gewerkschaften. Minsk, April 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Kundgebung der Partei BNF vor dem KGB-Gebäude anlässlich des Jahrestages der Hinrichtung belarussischer Schriftsteller im Jahr 1937. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Frauen-Strafkolonie in Gomel, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Das erste Treffen eines Häftlings in der Strafkolonie Mogiljow mit seinem Sohn. Mogiljow, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Aufnahmezentrum für jugendliche Straftäter. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten. Militärkommissariat der Oblast Minsk, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Ein Fahrer sammelt in einer Pfütze Wasser, um damit den Kühler seines LKW zu befüllen. Bezirk Slawgorod, 1994 / Foto © Sergej Bruschko
    Der alleinerziehende Vater Alexander Kalitenja und seine fünf Kinder. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Sommerliche Torfbrände in der Nähe von Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Umsiedlung von Einwohnern aus dem strahlenverseuchten Dorf Weprin, Bezirk Tscherikow, Oblast Mogiljow, April 1990 / Foto © Sergej Bruschko
    Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Kontaktabzüge von der besten Fotos, ausgewählt von Sergei Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko

    Fotos: Sergej Bruschko
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Übersetzung: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 04.10.2022

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  • „Jeder kämpft vor allem für sich, für seine eigenen Interessen“

    „Jeder kämpft vor allem für sich, für seine eigenen Interessen“

    Ein Internet-Meme zeigt folgende Szene: Wladimir Putin fragt: „Wie läuft es mit der Mobilmachung?“ Darauf antwortet Generalstabschef Gerassimow: „250.000 …“ und Verteidigungsminister Schoigu ergänzt: „… haben das Land verlassen.“
    Tatsächlich hatten sich nach der TV-Ansprache, in der Wladimir Putin eine „Teilmobilmachung“ von 300.000 Mann verkündet hatte, lange Schlangen an russischen Staatsgrenzen gebildet, etwa zu Georgien und Kasachstan. Flugpreise ins Ausland verzehnfachten sich, dennoch waren die Flüge komplett ausverkauft. Insgesamt sollen rund 250.000 Russen das Land verlassen haben.

    Gleichzeitig lief die Mobilmachung laut Beobachtern vor allem in Regionen mit ethnischen Minderheiten auf vollen Touren, in Jakutien, Burjatien und auch im Nordkaukasus. In Dagestan etwa kam es dabei zu lokalen Protesten, bei denen die Polizei zum Teil Warnschüsse abgab, Protestierende skandierten Parolen wie „Nein zum Krieg“. Der Menschenrechtsorganisation OWD-Info zufolge wurden bei russlandweiten Protestaktionen gegen die „Teilmobilmachung“ zwischen 21. und 26. September insgesamt über 2400 Menschen festgenommen.

    Doch eine landesweite Protestwelle bleibt aus. Warum gehen die Russen derzeit nicht auf die Straßen, sondern eher an die Front oder verlassen das Land? Fehlt für Massenproteste eine Führungsfigur wie der inhaftierte Oppositionspolitiker Alexej Nawalny? Und können Massenproteste überhaupt etwas bewirken, solange es keine Spaltung der Elite gibt? Diese und weitere Fragen beantwortet der Politikwissenschaftler Wladimir Gelman im Gespräch mit Meduza.

    Wie lässt sich die erste Reaktion der russischen Gesellschaft auf die Mobilmachung einordnen? Warum hat sie keine Massenproteste ausgelöst?

    Albert Hirschman [ein Wirtschaftswissenschaftler und Politökonom] hat beschrieben, wie einzelne Menschen, Firmen und ganze Staaten auf Krisen aller Art reagieren. Es gibt zwei grundlegende Strategien: Zum einen aktiver Widerstand, Protest – in seinen Begriffen „voice“, also Widerspruch –, und zum anderen alle möglichen Arten der Flucht vor dem Unbill, „exit“, Abwanderung.

    Die Russen ziehen natürlich den „exit“ vor. Aktive Proteste gibt es nach wie vor nur in Einzelfällen. Denn diese erfordern nicht nur individuelles Handeln, sondern auch Koordination und Kooperation verschiedener Leute. Und das funktioniert nicht gut.

    Es gab doch durchaus einzelne, lokale Proteste, wie ist das zu erklären? Liegt es daran, dass diese Regionen stärker von der Einberufung von Wehrpflichtigen betroffen waren? Oder weil es dort schon eine gewisse Koordination auf Graswurzel-Ebene gab?

    Ich denke, es ist wohl das eine wie das andere. Einerseits war man dort übereifrig, die Planvorgaben für Einberufung zu erfüllen. Andererseits hat es dort regional, nehme ich an, auch früher schon Koordinationserfahrung gegeben. Also sehen wir dort Ausbrüche ziemlich aktiver Proteste.

    Allerdings ist es so, dass das Protestpotenzial nicht über solche einzelnen Aktionen hinausgeht. Jene Frauen, die sich in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala mutig Zusammenstöße mit der Nationalgarde lieferten, haben wohl in erster Linie erreicht, dass ihre Männer, Kinder und Angehörigen nicht eingezogen werden. Bestenfalls wird das dazu führen, dass die Männer und Kinder von anderen eingezogen werden – nämlich dort, wo das Widerstandspotenzial geringer und weniger Aufruhr zu erwarten ist.

    Wer sich mit gesellschaftlichen Bewegungen befasst, dem sind solche Phänomene wohlbekannt. Da gibt es etwa die Abkürzung NIMBY, not in my backyard, „nicht in meinem Hinterhof“. Das heißt, dass jeder vor allem für sich selbst kämpft, für seine eigenen Interessen. Das haben wir schon früher beobachten können; die Proteste gegen die Mobilmachung sind da keine Ausnahme.

    Und dieses „nicht in meinem Hinterhof“ ist etwas, was für Russland oder Gesellschaften in autoritären Regimen spezifisch ist?

    Das ist keineswegs eine Besonderheit Russlands. Es gibt viele Länder mit einem repressiven autokratischen Regime, in denen es ähnliche Probleme gibt. In einigen Ländern bestehen aber andere Organisationsstrukturen, die eine Koordinierung erleichtern. Die autoritären Regime in Lateinamerika hatten es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ständig mit dem Widerstand der Gewerkschaften zu tun, die eine wichtige Basis für die Koordinierung waren.

    Die Regierung hatte die Gefahren erkannt, die von jeder organisierten Struktur ausgehen, und sie hat versucht diese auf jede erdenkliche Art zu schwächen

    In Russland hat das Team von [Alexej] Nawalny versucht, etwas Ähnliches aufzubauen, doch das wurde zerschlagen: Die einen wurden Opfer von Repressionen, andere mussten aus dem Land fliehen, und das Koordinationspotenzial war schon vor dem Februar 2022 geschrumpft. Die Regierung hatte die Gefahren erkannt, die von jeder organisierten Struktur ausgehen, und sie hat versucht, diese auf jede erdenkliche Art zu schwächen. Und das ist ihr auch gelungen.

    Und wenn man Proteste aus dem Ausland koordiniert, oder online? Die Mitstreiter von Alexej Nawalny haben jetzt beispielsweise versucht, die Menschen zu Protesten aufzurufen.

    Online-Koordinierung kann die Koordination vor Ort ergänzen, aber nicht ersetzen. Außerdem ist die Gefahr von Repressionen ernstzunehmen, die verhindert, dass Menschen sich an Massenprotesten beteiligen. Sie wägen bewusst, vielleicht auch intuitiv, die Risiken einer Bestrafung ab und die Chancen auf Erfolg. Und sie wissen, dass die Risiken, wenn sie sich an Massenprotesten beteiligen, recht hoch sind. Insbesondere jetzt, wo es nicht mehr nur um Verwaltungsstrafen, sondern auch um eine strafrechtliche Verfolgung geht. Die Chancen, dass die Ziele erreicht werden, erscheinen dagegen sehr gering, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Da ist es nur natürlich, dass dies die Russen dazu bringt, nach individuellen Lösungen zu suchen und kein kollektives Vorgehen anzustreben.

    Für viele sind die Ereignisse in Dagestan weniger ein Vorbild als vielmehr ein Beleg dafür, dass die Behörden auf Protestierende einprügeln

    Für viele sind die Ereignisse in Dagestan zudem weniger ein Vorbild als vielmehr ein Beleg dafür, dass die Behörden bei einer Konfrontation mit den Bürgern auf Protestierende einprügeln. Eine Entwicklung [von Massenprotesten] auf gesamtrussischer Ebene wäre nur dann möglich, wenn die Repressionsmaschine Schwäche zeigt und der Staat einer Menge kollektiver Aktionen – in mehr als nur einer Stadt – schlichtweg nichts entgegenzusetzen hätte.

    Sie sagen trotzdem, dass Sie diese Möglichkeit nicht ausschließen. Unter welchen Umständen?

    Dann, wenn der Staatsapparat im Zuge der Kriegshandlungen geschwächt würde, und sobald die Motivation schwindet, diesen Staatsapparat zu verteidigen.

    Und die Unzufriedenheit muss sehr viel größer sein als jetzt. Im Augenblick ist das nicht zu beobachten. Ich denke, dass das Stocken des Kriegsgeschehens einen Einfluss auf die Situation hat, aber welchen genau, können wir jetzt noch nicht wissen.

    Ist für eine Protest-Koordinierung eine markante, populäre Führungsfigur erforderlich? Oder könnte eine solche Struktur auch aus einer horizontal organisierten sozialen Bewegung erwachsen?

    Darauf gibt es keine allgemeingültige, eindeutige Antwort. Es gibt Staaten, in denen Graswurzelbewegungen entstehen, etwa im Sudan, wo sich lokale Proteste gegen das Regime von Omar al-Baschir auf das gesamte Land ausgeweitet haben. Anderswo gibt es neue Führungsfiguren, die diese schwierige Aufgabe übernehmen, beispielsweise Corazon Aquino in den Philippinen nach dem Tod ihres Mannes.

    Russland aber ist neben vielem anderen ein sehr großes Land. Viele Proteste waren und sind lokaler Natur. Das ist für die Regierung sehr günstig, weil deshalb eine Politik des „teile und herrsche“ verfolgt werden kann. In Russland ist es so, dass die Mütter aus Dagestan nicht bis nach Moskau kommen werden.

    Könnte eine koordinierende Organisation oder ein Anführer aus dem Nichts entstehen?

    Auch das wissen wir nicht. Es gibt keinerlei Gesetzmäßigkeit, die besagen würde, dass bei einer bestimmten Reihe von Faktoren dies oder jenes geschehen wird.

    Deshalb können wir oft keine Prognosen anstellen, sondern bestenfalls im Nachhinein Erklärungen liefern. Wir können von einer größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit einer Entwicklung sprechen; wir können aber unmöglich sagen, dass diese und jene Umstände eine Führungsfigur hervorbringen werden.

    Studien zu autoritären Regimen besagen, dass Massenproteste an und für sich keineswegs immer zum Sturz eines Regimes führen. Voraussetzung dafür sind vielmehr auch Konflikte innerhalb der Elite. Dennoch geht aus der Studie auch hervor, dass seit dem Zweiten Weltkrieg in immerhin rund einem Drittel der Fälle ein autoritäres Regime durch massenhafte Unzufriedenheit und Proteste in der Gesellschaft zusammenbrach. 

    Ja, es gibt Beispiele dieser Art. Wir können aber nicht sagen, dass es eine Liste von Zutaten und ein sicheres Rezept gibt, weil sehr viel davon abhängt, wie die Gruppen, die an der Macht sind, für sich das Risiko [eines Machtverlusts] einschätzen, und über welche Ressourcen sie verfügen.

    Hier sind die Unterschiede zwischen verschiedenen Typen autoritärer Regime wichtig. Für einige ist eine kollektive Führung charakteristisch. Das bedeutet, dass es dort verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Positionen und unterschiedlichem Potenzial gibt. Manchmal führen Konflikte innerhalb dieser Elite zu einem Umsturz.

    In personalistischen Regimen jedoch, zu denen auch das Regime in Russland gehört, ist kein Mechanismus für kollektive Entscheidungen vorgesehen. Hier ziehen Angehörige der Eliten den individuellen „exit“ einem kollektiven Widerspruch, „voice“, vor. Mehr noch: Für sie sind die Risiken nicht geringer, sondern sogar höher als für gewöhnliche Bürger. Sie haben, grob gesagt, mehr zu verlieren.

    Wir sollten heute nicht erwarten, dass es zu einer Spaltung innerhalb der Elite kommt. Ich schließe eine solche Entwicklung nicht aus, doch wird sie nicht spontan, von selbst eintreten, nicht einfach nur, weil jemand mit irgendetwas nicht einverstanden ist. Wer nicht einverstanden ist, wird sich vielmehr bedeckt halten und womöglich abwarten, dass sich die Lage in eine günstigere Richtung entwickelt. 

    Das ist ein rationales Verhalten, wenn man sich anschaut, wie diejenigen an der Macht und die einzelnen Bürger das Risiko ihrer Schritte einschätzen. Wenn Sie davon ausgehen, dass weder kollektiver Widerspruch, „voice“, noch individueller „exit“, Abwanderung, Sie retten wird, was können Sie dann noch tun?

    Die Frage ist doch, wie solche Vorstellungen über die eigenen Risiken und Möglichkeiten zustandekommen.

    Sie stützen sich auf reale Erfahrungen, von denen die Menschen, wenn sie sie nicht unmittelbar selbst gemacht haben, durch Medien, soziale Netzwerke und so weiter wissen. Es ist durchaus logisch, dass viele Menschen angesichts einer Krise beschließen, sich entweder gehorsam zu fügen oder gar nichts zu tun. Das mag für sehr viele Beobachter, die eine größere Aktivität sehen wollen, unangenehm sein. Menschen verhalten sich aber so, und nicht anders; und zwar nicht nur dann, wenn eine Mobilmachung ansteht.

    Und diese Logik ist besonders für Russland typisch?

    Diese Logik gibt es in vielen Gesellschaften. Es ist allerdings so, dass es in einigen Ländern Institutionen gibt, die die Menschen dazu anregen, sich anders zu verhalten, während solche Institutionen anderswo eben fehlen. Wenn in einer Demokratie die Regierung einen derart monströsen außenpolitischen Fehler begeht, einen unpopulären Krieg entfesselt[, dann gibt es Möglichkeiten, darauf Einfluss zu nehmen].

    Der US-amerikanische Einmarsch in den Irak zum Beispiel fand schon bald nach seinem Beginn kaum noch Zustimmung, und als es in den USA einen Regierungswechsel gab, zogen sich die Amerikaner aus dem Irak zurück. Die Verluste waren hoch, aber es gab eine Aufarbeitung der Fehler. Das wurde unter anderem durch die Haltung der amerikanischen Wähler und gleichzeitig der amerikanischen Eliten möglich.

    In autoritären Regimen aber fehlt dieser Mechanismus. Es ist nicht vorstellbar, dass sich die Eliten in Russland jetzt zusammentun und Putin stürzen. Zumindest erscheint das heute sehr unwahrscheinlich. Und die Bürger in Russland haben derzeit keine Möglichkeit, mit ihren organisierten Protesten die Außenpolitik zu ändern.

    Die russische Gesellschaft ist so strukturiert, dass ihre Reaktion auf die wegen der Mobilmachung entstandene Krise für sie durchaus logisch und begründet ist. Unter anderen Bedingungen aber würden die Russen und auch die Eliten sich anders verhalten.

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  • Lukaschenkos Furcht vor der Mobilmachung

    Lukaschenkos Furcht vor der Mobilmachung

    Auch beim neuerlichen Treffen in Sotschi demonstrierte Alexander Lukaschenko wieder einmal laut seine Loyalität gegenüber Russland. Wie bei den letzten Aufeinandertreffen folgte der belarussische Machthaber dabei auch den gängigen Narrativen des Kreml. Er forderte „Respekt“ von den westlichen Staaten. Zudem sagte er: „Niemand hält Erniedrigungen aus.“ Was die beiden Staatsführer besprochen oder womöglich beschlossen haben, blieb hinter verschlossenen Türen.

    Klar dürfte sein, dass Putin weiterhin versucht, Druck auf Lukaschenko auszuüben, Russland noch aktiver im Angriffskrieg gegen die Ukraine zu unterstützen. Bisher konnte sich Lukaschenko erfolgreich dagegen wehren, eigene Truppen in den Krieg zu schicken. Mit der „Teilmobilmachung“, die Russlands Führung vollzieht, dürfte der Druck auf den belarussischen Machthaber jedoch nochmals zunehmen. 

    Wie realistisch ist eine Mobilmachung in Belarus? Würde diese Lukaschenko nicht in seiner eigenen Macht gefährden? Welche Möglichkeiten hat Putin noch, Lukaschenko in die Verpflichtung zu nehmen? In einem Beitrag für das Online-Medium Naviny gibt der Journalist Alexander Klaskowski auf diese und andere Fragen Antworten.  

    Lukaschenko konnte es auch diesmal nicht lassen, seinen politischen Opponenten eins auszuwischen, die versuchen, „eine Brücke zu schlagen“ zwischen der Mobilmachung in Russland und der Möglichkeit, dass etwas Ähnliches in Belarus geschehen könnte.

    „Wir planen keine Mobilmachung. Das ist eine Lüge“, sagte der Führer des Regimes am 23. September in der Gedenkstätte Chatyn.

    Tatsächlich sind die Belarussen nicht wegen der Rhetorik der Oppositionsführer alarmiert, sondern wegen der offensichtlich engen Bindung zwischen Kreml und Minsk im militärischen Bereich. Und das umso mehr, da Lukaschenko noch vor ein paar Tagen betont hatte: „[…] wir haben gemeinsame Streitkräfte, faktisch“.

    Belarussische Eliteeinheiten hätten kaum eine Chance gegen ukrainische Kämpfer

    Die Frage, ob Lukaschenko mit seinen Truppen in den Krieg gegen die Ukraine eintritt, wird mittlerweile wie ein Sakrament behandelt. Noch weicht der Führer des Regimes dem geschickt aus, was verständlich ist.

    Die August-Umfrage von Chatham House ergab: Nur drei Prozent der Befragten meinen, Belarus solle sich auf der Seite Russlands an den Kriegshandlungen beteiligen. Das ist weniger als die statistische Fehlerwahrscheinlichkeit der Stichprobe (3,5 Prozent). Und das bedeutet, dass sogar eine Mehrheit von Lukaschenkos Kernwählerschaft eine solche Idee nicht unterstützt.

    Die Belarussen glauben auch nicht an eine starke Moral ihrer Armee, falls diese in die Ukraine geschickt wird. Nur 18 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass sich ihre Landsleute in Uniform aktiv an dem Krieg gegen die Nachbarn im Süden beteiligen würden. Hier einige andere Antworten: „würden sich weigern zu kämpfen oder Befehle auszuführen, würden die Waffen niederlegen“ (20 Prozent), „würden auf jede erdenkliche Weise aus dem  Kriegsgebiet fliehen“ (17 Prozent), „würden ihren Armeedienst quittieren“ (14 Prozent), „würden sich den ukrainischen Soldaten ergeben“ (8 Prozent).

    Die Stimmung in der Armee selbst können wir nur indirekt beurteilen. Da aber, wie es in einer landläufigen Redewendung heißt, Armee und Volk eins sind, können wir annehmen, dass es unter den Militärs nicht allzu viele gibt, die bereitwillig den Kopf hinhalten würden, wenn die ukrainischen Geschosse fliegen (oder wenn einen die Rakete eines amerikanischen HIMARS in Stücke reißen kann).

    Diese Umfragewerte werden sicherlich auf Lukaschenkos Tisch landen. Die nicht veröffentlichten Befragungen „seiner“ Soziologen, davon können wir ausgehen, liefern wohl ähnliche Zahlen. Außerdem funktioniert der Instinkt des Regimeführers. Er versteht sehr gut, dass eine Beteiligung seiner Armee an diesem Krieg ein äußerst hartes Schicksal für ihn als Politiker besiegeln würde.

    Die Zinksärge, die aus der Ukraine zurückkommen, könnten selbst jene zu Protesten motivieren, die solchen stets ferngeblieben waren. Und selbst die „Prachtkerle“ des Führers (so hatte er liebevoll die Sicherheitskräfte genannt, die die Proteste von 2020 niederschlugen), die sich wie der Terminator vorkommen, wenn sie ungestraft unbewaffnete Bürger mit anderen Ansichten zusammenprügeln, werden kaum von der Rolle als Kanonenfutter begeistert sein.

    Für die ukrainischen Krieger, die im realen Kampf abgehärtet wurden und dabei auch ihre Häuser, ihre Mütter, ihre Frauen und Kinder verteidigen, dürfte es nur eine Frage der Technik sein, Eliteeinheiten der belarussischen Streitkräfte, von denen es nur wenige gibt und die kaum echten Pulverdampf gerochen haben, zu zermalmen. Lukaschenko würde so die Kräfte verlieren, die er unter anderem für den Einsatz gegen Aufstände [im eigenen Land] getrimmt hat. Seine Wählerschaft würde noch stärker zusammenschrumpfen, und die Lage im Innern wäre so wackelig wie ein alter Hocker.

    Putin kann es sich nicht leisten, seinen letzten Verbündeten unter Druck zu setzen

    Lukaschenko dürfte wissen, dass es für Russland in diesem Krieg wohl keinen glänzenden Sieg geben wird. Im Großen und Ganzen zeichnet sich für Russland ein kapitaler, historischer Reinfall ab. Und jetzt ist es wohl höchste Zeit, für den mit dem Imperium verstrickten Verbündeten darüber nachzudenken, wie man dieser Titanic entkommen kann.

    Wladimir Putin ist sichtbar außer Rand und Band; er versucht va banque zu spielen. Dabei lautet die Prognose vieler Experten, dass die Mobilmachung wenig Wirkung zeigen wird: Zum einen könnte die nötige Anzahl der Eingezogenen nicht erreicht werden (viele Russen mögen zwar das Imperium mit einem Gläschen vor dem Fernseher unterstützen, entziehen sich aber, wie wir jetzt deutlich sehen, auf jede erdenkliche Weise der „heiligen Pflicht“). Zweitens ist die Kampffähigkeit der eilig zusammengewürfelten Einheiten sehr fraglich.

    Also könnte für Putin die Versuchung, auf die Kräfte des Verbündeten zurückzugreifen, größer werden. Allerdings ist es nicht sicher, dass es gelingen wird, den Verbündeten in dieser Hinsicht derart unter Druck zu setzen. Und es ist unklar, ob solch ein starker Druck überhaupt erzeugt werden kann.

    Zum einen betont Lukaschenko als Ausrede die Notwendigkeit, mit seinen Streitkräften einen Schutzschild gegen die NATO zu gewährleisten. Ansonsten könnte die NATO schließlich den russischen Brüdern in den Rücken fallen. Und Putin, der in Verschwörungsnarrativen denkt, könnte dieser Mythenerzählung zumindest teilweise Glauben schenken.

    Zweitens dürften die Strategen im Kreml schon rein rechnerisch erkennen, dass der einigermaßen kampffähige Teil der belarussischen Armee nicht groß ist (die Eliteeinheiten der Sondereinsatzkräfte zählen nur einige Tausend Kämpfer). Diese Handvoll wäre nicht in der Lage, einen wesentlichen Einfluss auf den Kriegsverlauf zu bewirken.

    Drittens könnte Putin (noch) nicht gewillt sein, seinen letzten Verbündeten übers Knie zu brechen. Und dass sich Lukaschenko wiederum noch stärker vor einer direkten Kriegsbeteiligung drücken wird, ist offenkundig.

    Jeder ist sich selbst der Nächste

    Im Zusammenhang mit den „Referenden“ in den besetzten Gebieten der Ukraine entwickelt sich allerdings ein neuer Kontext. Es ist offensichtlich, dass diese Territorien zu russischen Gebieten erklärt werden. Und dann könnte der belarussische Verbündete aufgefordert werden, die Grenzen des „Unionsstaates“ zu schützen.

    Allerdings ist dies im Vertrag von 1999 über die Gründung des Unionsstaates, dieses dünnen Scheingebildes einer „brüderlichen Integration“, sehr vage formuliert: „Die Mitgliedsstaaten gewährleisten die territoriale Integrität des Unionsstaates“. Wie genau das gewährleistet wird, lässt sich unterschiedlich auslegen. Und Minsk wird es wahrscheinlich vorziehen, diese Verteidigung als Bereitschaft zu definieren, einen Dolchstoß in den Rücken der russischen Brüder durch die NATO zu verhindern. Einfacher gesagt: Unsere Truppen sitzen sicher auf ihrem Allerwertesten.

    Natürlich gibt es auch die Verpflichtungen im Rahmen der OVKS. Doch erstens sind auch die Regelungen im Vertrag über kollektive Sicherheit schwammig formuliert: Im Falle einer Aggression gegen einen der Vertragsstaaten „gewähren [die anderen] diesem die notwendige Hilfe, einschließlich militärische“. 

    Lukaschenkos Regime leistet aber jetzt schon, wenn man es genau betrachtet, eine solche militärische Hilfe: Die Russen können für den Krieg belarussisches Territorium, die Infrastruktur, Krankenhäuser und so weiter nutzen. Und damit reicht es. Wie hieß es doch in jenem alten Lied: Auf mehr solltest du nicht hoffen.
    Zweitens hat die OVKS bereits bei den Ereignissen in Kirgistan und Armenien ihre Kraftlosigkeit offenbart. Und im Falle Armeniens hatte beispielsweise vor allem Moskau eine Willenslähmung gezeigt. Und auch Minsk hat es nicht eilig, sich hinter Jerewan zu stellen, weil es mit Baku lukrative Geschäftsbeziehungen unterhält. Kurzum: Alles loser Tabak. Das postsowjetische Bündniswesen erweist sich bei genauerer Prüfung als verfault, prinzipienlos und opportunistisch.
    Auch wenn sich Lukaschenko im Kontext dieses Krieges immer unwohler fühlt, ist es also alles andere als sicher, dass die belarussischen Truppen noch in den Krieg eintreten. Der listige Fuchs wird vor allem sein politisches Überleben im Sinn haben.

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  • Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

    Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

    Knapp acht Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine eskaliert Russland die Situation weiter: In einer TV-Ansprache hat Wladimir Putin am 21. September eine „Teilmobilmachung“ verkündet. Offiziell 300.000 Reservisten will der Kreml in den Krieg schicken. Der Begriff „Teilmobilmachung“ ist im Gesetzestext allerdings dehnbar, was die Drohkulisse noch zusätzlich verstärkt. 

    Hinzu kam aus Moskau am Dienstag die Ankündigung, die russisch (teil)besetzten Gebiete der Ukraine durch sogenannte „Referenden“ quasi zu annektieren. Damit würde Russland insgesamt rund ein Fünftel des ukrainischen Territoriums zum eigenen Staatsgebiet erklären. Sollte die NATO (durch ihren Helfershelfer Ukraine) das selbsterklärte russische Territorium angreifen, würde Russland sich notfalls auch mit Atomwaffen verteidigen, warnte Putin in seiner TV-Ansprache – das, so der Kreml-Chef, sei kein Bluff.

    Manche Beobachter bewerten diese Schritte als Bereitschaft zu einem „totalen Krieg“, andere verweisen auf militärische Erfolge der Ukraine und sehen Putin in die Ecke gedrängt: Die Eskalation sei eigentlich ein Signal zur Verhandlungsbereitschaft und der Versuch, eine für Russland möglichst günstige Position zu schaffen. 

    Auf dem Portal Carnegie politika fragt der Analyst Alexander Baunow, warum Putin die neue Eskalationsstufe zündet und welche Folgen sie womöglich nach sich ziehen wird.

    Innerhalb eines Tages hat die Duma [am 20. September] ohne jede Vorbereitung oder Ankündigung in zweiter und dritter Lesung Änderungen im Strafgesetzbuch eingeführt. Diese sehen harte Strafen während einer Mobilmachung vor, falls sich jemand dem Wehrdienst entzieht, sich nicht meldet, sich dem Feind ergibt oder Befehlen verweigert.

    Gleichzeitig haben alle ganz oder teilweise durch russische Truppen besetzten ukrainischen Gebiete die Bitte geäußert, umgehend „Referenden“ über eine Angliederung an Russland durchzuführen. Bereits jetzt – ebenso rasant – werden konkrete Daten genannt: schon Ende dieser Woche.

    Die inoffiziell für den Abend [des 20. Septembers] angekündigte Ansprache von Wladimir Putin wurde auf den Morgen verschoben. Dahinter könnten die letzten Zuckungen eines Apparat-internen Tauziehens gestanden haben, oder die letzten diplomatischen Bemühungen der westlichen Regierungschefs angesichts des Übergangs in ein neues Stadium – nächtliche Anrufe aus Berlin, Paris, Washington. Oder bloß die Arbeit an der Rede [ausgestrahlt am Morgen des 21. Septembers], die Putin für historisch hält und die dennoch förmlich und trocken geriet, bedrohlich und beschwichtigend zugleich – mit einem Feind, der vor den Toren steht, einer Mobilmachung, die nur in Teilen stattfindet, und einem Verteidigungsminister Schoigu, der schon alles irgendwie erklären wird.

    „Referenden“ und „Teilmobilmachung“: Wozu?

    Die Kombination aus all dem ist eine Botschaft an den Westen: Ihr habt es gewagt, in der Ukraine gegen uns zu kämpfen, dann versucht jetzt mal, in Russland selbst gegen uns zu kämpfen (besser gesagt, in dem Gebiet, das wir zu russischem Gebiet erklären). In der Hoffnung, dass er es nicht wagen wird.

    Gleichzeitig ist es ein Angebot, den Konflikt dort oder in etwa dort zu beenden oder einzufrieren, wo die Frontlinie jetzt verläuft: Ihr wolltet die alten, milderen Bedingungen nicht akzeptieren, also müsst ihr nun mit den harten leben, und die, die dann folgen, werden noch härter sein. In der Hoffnung, dass sie Angst bekommen.

    Innenpolitisch bewirken diese drei Ereignisse, dass aus einer „Spezialoperation“ auf fremdem Territorium die Verteidigung russischen Bodens wird. Das verleiht den Machthabern traditionell fast unbegrenzte Rechte gegenüber der Bevölkerung. Auch wenn dieser Abklatsch von einem allumfassenden Volkskrieg, für den es keinen ersichtlichen Grund gibt, ein riskantes Unternehmen bleibt, wird man die entsprechenden Instrumente zunächst nur sparsam einsetzen.

    Rechtfertigung für die nächste Eskalationsstufe

    Das Überschreiten der russischen Grenze durch ausländische Truppen, wo immer sie verläuft (auch wenn sie morgen woanders verlaufen sollte als gestern), gibt Putin sicherlich das formale Recht und quasi die moralische Rechtfertigung für die nächste Eskalationsstufe. Die „Spezialoperation“ zum Krieg zu erklären, Maßnahmen zur Mobilmachung zu ergreifen, ukrainische Objekte zu attackieren, die man vorher nicht zu attackieren gewagt hat, und überzeugender mit Atomwaffen zu drohen.

    Diese Entscheidung führen viele auf die angebliche Unterstützung und Zustimmung zurück, die Putin von den großen nicht-westlichen Ländern beim Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand bekommen habe. Wahrscheinlich war es jedoch eher umgekehrt: Putin hat von den größten nicht-westlichen Ländern das Signal bekommen, [den Krieg] möglichst schnell zu beenden. Und aufzuhören, in ihrem Namen zu sprechen, da er sie damit mit jener Schwäche und Inkompetenz beschmutzt, die Russland demonstriert hat, das sich zur militärpolitischen Avantgarde der nicht-westlichen Welt erklärt.

    Wenn ein Ende unmöglich ist, dann schiebt man die Schuld auf die anderen und verwandelt den eigenen Überfall in einen Verteidigungskrieg

    Alles deutet darauf hin, dass die zeitlichen, personellen, materiellen und diplomatischen Ressourcen der „Spezialoperation“ zur Neige gehen. Putin unternimmt nun einen entschlossenen Schritt, um alles schnell zu beenden, indem man Gewinne und Verluste festhält. Und wenn ein Ende unmöglich ist, dann schiebt man die Schuld auf die anderen und verwandelt den eigenen Überfall in einen Verteidigungskrieg, in der Hoffnung, dass die Bürger diesen für legitimer halten und man freie Hand für alle weiteren Entscheidungen hat. Das Problem ist, dass Russlands Gegenspieler nicht finden, dass Russland aus diesem Krieg überhaupt mit einem Gewinn hervorgehen sollte.

    „Spezialoperation“ vs. Krieg

    Seit Anbeginn des Krieges wurde der wesentliche Konflikt innerhalb der russischen Staatsmacht nicht zwischen einer Friedens- und einer Kriegspartei ausgetragen – die Stimmen gegen den Krieg und sogar die zugunsten eines Kompromisses wurden schnell zum Schweigen gebracht. Der Konflikt bestand zwischen der Kriegspartei und der Partei der Spezialoperation. Man könnte auch sagen, die Parteien des kleinen vs. großen Erfolgs, oder die Parteien des professionellen Kriegs vs. die Parteien des Volkskriegs.

    Die Partei der Spezialoperation orientierte sich an den Erfahrungen Russlands in Südossetien, der Krim und Syrien und richtete sich darauf, das Kämpfen um den Erfolg den Profis zu überlassen. Der Krieg sollte an der Peripherie des nationalen Lebens verbleiben, während das Leben innerhalb des Landes insgesamt so weitergehen sollte wie zuvor.

    Lange Zeit erschien es der russischen Führungsriege günstiger, den Anschein des normalen Lebens zu wahren und die Marktwirtschaft und die Konsumgesellschaft als beste Garanten für die Überwindung der Sanktionen anzusehen. Das könnte sich nun ändern.

    Russische Offizielle sagen recht häufig, was sie tatsächlich denken. Wenn Putin behauptet, Russland führe gegen die Ukraine keinen Krieg, sondern unternehme dort eine begrenzte „Spezialoperation“, hat er im Rahmen seines Koordinatensystems nicht gelogen. Russland hat mit einem Teil seiner Streitkräfte Kriegshandlungen unternommen, nicht durchweg alle Ziele angegriffen, hat Flächenbombardements vermieden und vor allem nicht seine Wehrpflichtigen-Armee hinzugezogen.

    Beim Wort Krieg erscheinen in den Köpfen der Durchschnittsrussen, zu denen auch Putin gehört, Bilder aus den Filmen und Wochenschauen über den Zweiten Weltkrieg. Daher dachte die russische Führung nach wie vor, dass sie etwas anderes macht, auch wenn die Folgen der Spezialoperation immer mehr an jene Bilder erinnern.

    Das ist die grundlegende Vorgehensweise der Geheimdienste: Während die Bevölkerung friedlich vor sich hinlebt, machen die Profis ihren Job

    Bis vor Kurzem noch konnte man Putin als Vertreter, wenn nicht gar als Chef der Partei der Spezialoperation bezeichnen. Nachdem er sämtliche früheren Gleichgewichte zerstört hat, sorgt er jetzt, auf den Ruinen der Apparate, für ein Gleichgewicht zwischen denen, die übrig blieben. Sein ganzer Hintergrund als ehemaliger Geheimdienstler hat ihn zu einer „Spezialoperation“, und nicht zum Krieg greifen lassen. Schließlich ist das die grundlegende Vorgehensweise der Geheimdienste: Während die Bevölkerung friedlich vor sich hinlebt, machen die Profis ihren Job.

    Die Invasion in die Ukraine wurde auch deshalb nicht als Krieg, sondern als „Spezialoperation“ bezeichnet, weil sie nicht auf mehrere Jahre angelegt war. Wir haben gesehen, dass Putin in den verschiedensten Situationen nicht in Jahren denkt, sondern in „Spezialoperationen“, gewöhnlich mit einem Zeitrahmen von maximal ein paar Monaten. Da gab es die „Spezialoperation“ um seinen Einzug in den Kreml 1999/2000, die Operationen zur Vernichtung von NTW und YUKOS, die „Operation Nachfolger“ 2008, die Rückkehr an die Macht 2011/12, die „Nullsetzung“ seiner früheren Amtszeiten sowie der Zweite Tschetschenienkrieg und die Annexion der Krim. All diese „Spezialoperationen“ fanden in einem Zeithoritonz von höchstens einem halben Jahr statt. Es gibt keinerlei Zweifel, dass der Zeitraum für die Invasion in die Ukraine ähnlich geplant war; das haben Regierungsvertreter offen angedeutet.

    Im Sommer war ein halbes Jahr vorbei, der Erfolg jedoch ausgeblieben. Das hat ganz von selbst eine Suche nach neuen Lösungen in Gang gesetzt, die über eine „Spezialoperation“ hinausgehen. Doch selbst in dem Moment, da die Schwierigkeiten an den Fronten offensichtlich wurden, hatte es Putin nicht eilig, den Krieg ganz nach oben auf die Agenda des russischen Staates zu setzen und ihn auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten – und hat ihn der operativen Peripherie überlassen.

    Die Niederlage gegen die ukrainische Armee bei Charkiw gab den Anstoß zum Sieg der Partei einer allgemeinen Mobilmachung und eines Volkskriegs. Diese Niederlage hätte dazu nötigen können, die „Referenden“ über eine Angliederung der eroberten Gebiete an Russland aufzuschieben oder gänzlich abzusagen. Schließlich ist der Verlust eines Teils des eigenen Landes eine sehr viel größere Schmach als der Verlust fremder Gebiete mit unbestimmtem Status.

    Putin hat sich aber für das Gegenteil entschieden. Die allgemein verbreitete Sicht der Bevölkerung in Russland auf die eigene Geschichte besagt, dass Russland zwar einen militärischen Misserfolg erleiden könnte, wenn es mit begrenzten Kräften jenseits seiner Grenzen kämpft, dass es aber in einem Volkskrieg auf eigenem Boden stets siegreich ist. Das ist der Kerngedanke dieses simplen Kniffs: Wir machen die eroberten Gebiete juristisch zu unserem Land, es war ja eh einst unser Land, und der Sieg wird unser sein.

    Nicht die Beute ist das Hauptziel, sondern vielmehr die Möglichkeit und die Entschlossenheit, Beute zu machen

    Russische Stimmen haben verkündet – und je militanter sie sind, desto häufiger war das der Fall –, dass die Ziele der „Spezialoperation“ auf jeden Fall erreicht werden. Diese Formulierung ist deshalb bequem, weil die genannten Ziele derart schwammig und unbestimmt sind, dass man sie flexibel ändern kann. Wenn es nicht gelingt, die ganze Ukraine einzunehmen, kann man sich auch mit dem Süden und Osten begnügen. Wenn es dort nicht klappt, kann man sich auf das Territorium der Gebiete Donezk und Luhansk beschränken. Gelingt auch das nicht, und so stellt sich die Lage gerade dar, muss man das nehmen, was man hat, indem man den Status seiner Beute anhebt und sie zu neuen Regionen Russlands erklärt. Schließlich ist nicht die Beute das Hauptziel, sondern vielmehr die Möglichkeit und die Entschlossenheit, Beute zu machen, also zu demonstrieren, dass mit Russland nicht zu scherzen ist und dass Russland darauf ein Anrecht hat.

    In den letzten Wochen ist selbst diese fiktive Errungenschaft verloren gegangen. Um sie wiederzuerlangen, legt Putin wieder einmal die Latte höher und hofft, dass die anderen aussteigen und nicht so hoch gehen. Wenn er damit wiederum falsch liegt, wird er beweisen müssen, dass er auch dieses Mal nicht geblufft hat. Das könnte er möglicherweise auf noch zerstörerischere Weise tun.

     

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  • Wenn die Raketen fliegen – Fußball im Krieg

    Wenn die Raketen fliegen – Fußball im Krieg

    Als die erste Schockstarre nach Beginn des russischen Angriffskrieges überwunden war, fragte man sich in der Ukraine, wie es mit dem Fußball weitergehen könnte. Die Meisterschaften der Saison 2021/2022 wurden bekanntlich eingefroren. Die Entscheidung, den Ball trotz des Krieges wieder rollen zu lassen, begann im späten Frühjahr zu reifen. Die Entscheidung wurde auf höchster Ebene vorangetrieben. Wolodymyr Selensky sprach sich persönlich dafür aus, neue Meisterschaften anzusetzen. Am 23. und 24. August, dem Tag der Unabhängigkeit der Ukraine, ist es nun soweit, mit dem Start der höchsten Spielklasse des Landes.

    Allerdings gibt es viele Zweifel, Skeptiker und natürlich wichtige Fragen: Wie spielt man Fußball, wenn russische Raketen fliegen? Darf man in einem Krieg überhaupt Fußball spielen? Oder muss man sogar? Werden Fans zu den Spielen zugelassen? Was passiert, wenn es während des Spiels Luftalarm gibt? Haben die Vereine überhaupt noch genügend finanzielle Mittel, um das millionenschwere Fußballgeschäft aufrechtzuerhalten?

    All diesen Fragen und anderen widmet sich der ukrainische Sportjournalist Yuriy Konkevych in diesem Beitrag. Er erklärt, welche Debatten rund um den Wiederanpfiff geführt wurden und wie die Meisterschaft in der Zeit des Krieges sicher und reibungslos ablaufen soll. 

    Der Artikel entstand in einer Kooperation mit dem österreichischen Fußballmagazin ballesterer, in dessen September-Ausgabe eine kürzere Version dieses Beitrags erscheint. Er gehört zu unserer Reihe Platforma, in der russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen liefern. Die Texte werden weitgehend von Journalistinnen und Journalisten geschrieben, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Am 23. August beginnt – trotz allem – die neue Saison der Premjer Liha, der höchsten Spielklasse im ukrainischen Fußball. Die Spiele werden in den heimatlichen Stadien ausgetragen. Die Zusammensetzung der Liga wie auch der Teams wird allerdings eine andere sein. Und die Spielbedingungen wurden an die Realitäten des Krieges angepasst.

    „Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie wir spielen werden. An jedem Ort der Ukraine kann jederzeit eine Rakete einschlagen. Kann gut sein, dass du losläufst und es nicht in den Luftschutzkeller schaffst.“ Diese Bedenken des Fußballers Olexandr Kutscherenko sind berechtigt. Den ganzen Sommer saß er am Steuer eines Transporters und fuhr in den Osten der Ukraine, um humanitäre Hilfsgüter zu verteilen, die Freunde, Fans und Fußballer gesammelt haben. „Aber ohne Fußball geht es auch nicht. Ich habe zwei Träume: Dass die Saison losgeht, und dass wir die Besatzer aus unserem Land jagen“, ergänzt Kutscherenko.

    Der Trainer Juri Wernydub ist der gleichen Ansicht. Sein Team von Sheriff Tiraspol aus Moldau spielte am 24. Februar in der Europaliga gegen Braga in Portugal. Als er vom Kriegsbeginn erfuhr, packte er seine Sachen, fuhr in die Ukraine zurück und ging als Artillerist an die Front. Im Juni nahm er seine Arbeit als Trainer wieder auf, nun allerdings in der Ukraine.

    Spieler sammeln Geld, Fans kämpfen an der Front 

    Kutscherenko ist einer der wenigen Fußballer, die der Front und den zivilen Stellen nicht nur mit Geld helfen, sondern sich auch in die Bewegung der Ehrenamtlichen eingeklinkt haben. Selbst als sich sein Team von Inhulez Petrowe, einem Premjer Liha-Verein aus der Zentralukraine, auf die Saison vorbereitete, versuchte Olexsandr noch, der Armee zu helfen.

    Erst der Schock, dann wird gehandelt, so leben die Ukrainer seit dem 24. Februar. Den Fans hat gefallen, wie fast alle prominenten Fußballer auf den Krieg reagierten. Namhafte Legionäre von europäischen Spitzenklubs: Ruslan Malinowski von Atalanta Bergamo, Andrij Jarmolenko von West Ham United, Olexandr Sintschenko, der jetzt bei Arsenal London spielt, oder Roman Jaremtschuk von Benfica Lissabon, sie alle sammelten Millionen Euro für die Ukraine und die Armee.

    Fußballlegende Andrij Schewtschenko ist aktuell Botschafter der Präsidentenstiftung United24, die im Ausland Spenden sammelt. Dynamo Kyjiw und Schachtar Donezk haben Dutzende internationale Benefizspiele veranstaltet, um Geld für die Armee zu sammeln, und dabei gleichzeitig die Spieler der ukrainischen Nationalmannschaft für die Playoff-Qualifikationsspiele zur WM 2022 fitgemacht.

    Viele Ultras kämpfen seit dem 24. Februar an der Front, einige sind gefallen. Beim Benefizspiel von ehemaligen Spielern des FK Wolyn aus Luzk in der Westukraine, dem ersten Spiel überhaupt seit November 2021, waren im Block der Ultras nicht mal zehn Fans anwesend. Bei diesem Spiel wurden Gelder zum Kauf von Kampfdrohnen gesammelt.

    Am emotionalsten waren die Spiele der Nationalmannschaft im Ausland. Die Blau-Gelben konnten zwar Schottland bezwingen, scheiterten dann aber im Finale um den letzten Platz für das Teilnehmerfeld bei der der WM in Katar an Wales. Es folgten drei Spiele in der Nations League. Überall dominierten die Nationalfarben in den Stadien, ukrainische Lieder wurden gesungen, und die Fans reisten aus ganz Europa an.

    Das Juri Gagarin-Stadion in Tschernihiw, zerstört durch russische Raketen / Foto © Facebook/desnafc

    Angesichts dieser einmütigen Reaktion ist das Verhalten einiger ukrainischer Spieler, die in Russland geblieben sind, besonders auffällig. Iwan Ordez, ein ehemaliger Spieler von Schachtar Donezk, verlängerte seinen Vertrag bei Dynamo Moskau, nahm allerdings eine Leihoption beim deutschen Bundesligisten VfL Bochum in Anspruch. Der ukrainische Rekordnationalspieler Anatoli Tymoschtschuk (144 Einsätze) hat sich mit keinem Wort zum Krieg geäußert, lebt weiterhin in Sankt Petersburg und arbeitet dort für Zenit. Der U-19-Europameister Wytali Wyzenez wurde wegen „antiukrainischer“ Äußerungen beim ukrainischen Krywbas Krywyj Rih gefeuert; fand aber schnell einen neuen Arbeitsplatz beim russischen Erstligisten Arsenal Tula. Jaroslaw Rakyzkyj, der immer wieder aufgrund seines mangelnden Patriotismus kritisiert wurde (er hatte bei Spielen der Nationalmannschaft prinzipiell nicht die Hymne mitgesungen), packte einige Tage nach Kriegsbeginn seine Sachen und ging nach Russland.

    Spiele unter Bomben: unterbrochen wegen Luftalarms 

    Als der erste Schock überwunden war, fragte man sich in der Ukraine, wie es mit dem Fußball weitergehen soll. Die Profiligen in der Ukraine waren stets mit Geldern von Oligarchen verquickt, und angesichts der riesigen Zerstörungen und des finanziellen Zusammenbruchs weigerten sich viele Klubpräsidenten, ihre Mittel für Fußball auszugeben.

    Aufgrund ihrer zerstörten Heimspielstätten haben sich Desna Tschernihiw und der FK Mariupol aus der ukrainischen Premjer Liha zurückgezogen. In Mariupol haben die Russen Asowstal zerbombt, das Stahlwerk, das Rinat Achmetow gehörte, dem Eigentümer und Präsidenten des großen FK Schachtar Donezk.

    Aufgrund der finanziellen Probleme der Vereinsbesitzer oder der zerstörten Infrastruktur fehlen der zweit- und dritthöchsten ukrainischen Liga (dem Namen nach die Erste und Zweite Ukrainische Liga) 20 bis 30 Prozent der Klubs. Einige Besitzer erklärten, sie würden ihr Engagement im Profifußball aussetzen, aber den Jugendfußball weiter unterstützen. Nach dem Sieg im Krieg würde man eine Rückkehr der Professionellen Fußballliga (PFL) der Ukraine, die die Erste und Zweite Liga organisiert und verwaltet, oder der Ukrainischen Premjer Liha (UPL) ermöglichen.

    Die Meisterschaft 2021/22 wurde bekanntlich abgebrochen, der Meistertitel nicht vergeben Die Entscheidung über einen Wiederbeginn der Premjer Liha reifte Ende März 2022 heran, als die russische Armee aus dem Kyjiwer Umland und dem Norden der Ukraine vertrieben wurde. Ein Teil der Vereinsbesitzer, die an den europäischen Wettbewerben teilnehmen wollten, erhoben die Forderung, die Meisterschaft in Polen oder der Türkei auszutragen. Es gab auch Stimmen, die kein Verständnis dafür zeigten, dass für Fußball Geld ausgegeben wird, wo doch die Armee dringend die Mittel benötige. Der Präsident von Agrobisnes Wolotschysk aus der Zweiten Liga hat sein Team sogar aufgelöst – „bis zum Sieg“. Bis zu zehn Spieler und Mitarbeiter des Klubs dienen in den ukrainischen Streitkräften.

    Ihor Dedyschyn, Geschäftsführer Sport von Ruch Lwiw, ist da weniger kategorisch. Er verweist die Gegner eines „Fußballs unter Bomben“ auf die Erfahrungen in Kroatien. „Anfang der 1990er Jahre, als sich das Land im Krieg befand, haben sie dort vier Jahre Fußball gespielt. Das war ein Weg, Zusammenhalt zu zeigen, sein Land zu unterstützen, Kroatien moralisch zu stärken“, erklärte Dedyschyn.

    Präsident Wolodymyr Selensky bestand bei einem Treffen mit Andrij Pawelko, dem Chef des Ukrainischen Fußballverbands, darauf, dass die Meisterschaft ausschließlich aus patriotischen Motiven in der Ukraine veranstaltet werden solle. Er gab zu verstehen, dass er die massenhafte Abwanderung von Spielern – Männern im wehrfähigen Alter –, ins Ausland nicht dulden werde. Pawelko erklärte: „Wir haben darüber gesprochen, welche Kraft der Fußball hat, indem er den Menschen hilft, an die Zukunft zu denken. Daher haben wir gemeinsam mit dem Präsidenten beschlossen, dass wir im August die ukrainische Meisterschaft wieder aufnehmen werden.“

    Für den Saisonstart der Ukrainischen Premjer Liha (UPL) wurde ein symbolisches Datum gewählt: der 24. August, der Tag der Unabhängigkeit der Ukraine. In der Premjer Liha treten wie vor dem Krieg 16 Teams an. Der Klub Mynaj aus dem westukrainischen Ush‘horod, der eigentlich hätte absteigen müssen, zog eine Wild Card und blieb in der UPL, während die Ligaplätze von Desna Tschernihiw und FK Mariupol an Metalist Charkiw (das von dem Milliardär Olexandr Jaroslawskyj wiederbelebt wurde), und an Krywbas Krywyj Rih gingen, das von der Verwaltung und Firmen in Krywyj Rih unterstützt wird. Es ist die Geburtsstadt von Präsident Selensky.

    Doch der Beschluss zu spielen und in einem Land, das sich im Krieg befindet, den Ligabetrieb tatsächlich wieder aufzunehmen, sind zwei unterschiedliche Dinge: Das Stadion von Desna Tschernihiw etwa wurde bei Angriffen der russischen Armee getroffen, das Stadion von Metalist Charkiw erlebte eine Welle von Explosionen und auch in Stadien in der Nähe von Kyjiw (in Hostomel und Borodjanka) gab es einige Einschläge. Die Russen haben die Fußballarena in Mariupol zerbombt, in Bachmut und Wolnowacha sind alle Sportanlagen zerstört. Die Liste ließe sich lange fortführen.

    In zehn Stadien haben die Behörden nun einen Spielbetrieb ohne Zuschauer genehmigt, so in den relativ sicheren Gebieten Kyjiw, Lwiw und Transkarpatien; für die Spiele gelten besondere Sicherheitsauflagen. Alle Personen, die am Ligabetrieb beteiligt sind, werden vom Wehrdienst freigestellt. Die Spiele müssen in Stadien stattfinden, die sich höchstens 500 Meter von einem Luftschutzraum entfernt befinden. Pro Spiel werden höchstens 280 Zuschauer zugelassen. Im Fall eines Luftalarms wird das Spiel unterbrochen und alle begeben sich in den Luftschutzkeller. Hält der Luftalarm länger als 60 Minuten an, wird die Begegnung am nächsten Tag zu Ende gespielt. Ist der Alarm relativ schnell vorbei, bekommen die Mannschaften zehn Minuten, um sich wieder warmzumachen, bevor das Spiel fortgesetzt wird.

    Fußball in Kriegszeiten: mehr Chancen für junge Spieler

    Zum zweiten Mal nach 2014 haben im Sommer dieses Jahres sehr viele Ausländer die UPL verlassen. Nicht nur ausländische Spieler, sondern auch Ukrainer, die zu Kriegsbeginn in Trainingslagern im Ausland waren und nicht mehr zurückgekehrt sind. Wer Glück hatte, kam bei einem europäischen Klub unter. Andere gingen in Länder, die fußballerisch eher exotisch anmuten, in asiatische Staaten, nach Kanada oder Indien. Einige beschäftigen sich statt mit Fußball nun mit Kryptowährungen.

    Skeptiker sagen dem ukrainischen Fußball vor allem eines voraus: seinen Zusammenbruch. Optimisten sehen in der aktuellen Situation eine Chance, sie prognostizieren einen Aufschwung im Kinder- und Jugendbereich.

    Die Wahrheit liege wohl eher in der Mitte, sagt Jaroslaw Wyschnjak, der Trainer von Kolos Kowaliwka. Nach 2014 haben einige Vereine eine sehr starke Jugendarbeit aufgebaut. Viele junge Spieler sind in Vereinen der UPL Stammspieler geworden oder ins Ausland gegangen. Ein Beispiel ist der 18-jährige Jehor Jarmoljuk, der beim englischen Klub Brentford FC einen Vertrag für die Premier League erhielt. „Viele haben zwar die Ukraine verlassen“, meint Wyschnjak, „aber schauen Sie nur, was für Trainer geblieben sind: Juri Wernydub, Roman Hrygortschuk, Mircea Lucescu, Igor Jovićević, Wiktor Skrypnyk. Die wissen, wie man mit jungen Spielern arbeiten muss, deshalb wird es bald neue Spieler geben, auf die wir stolz sein können.“

    Wyschnjak ist Cheftrainer des FK Kolos aus dem Dorf Kowaliwka im Kyjiwer Gebiet. Das Team rangiert in der Premjer Liha im Mittelfeld. Experten schätzen, dass die Spiele von Kolos und sieben bis acht weiterer Vereine entscheidend dafür sein werden, wie sich das Fußballinteresse der Ukrainer in Zeiten des Krieges entwickelt. Die Qualität des Fußballs könnte nachlassen, daher rücken nicht Preise und das Niveau der Spieler in den Vordergrund, sondern die Entscheidungen von Trainern und Managern. „Die Gehälter sind erheblich zurückgegangen, die Nachfrage nach guten ukrainischen Spielern ist gestiegen, und die Manager mit der größten Weitsicht könnten zu dem Schluss kommen, dass man selbst in Kriegszeiten neue Spieler aufbauen kann, die nach dem Krieg Ablösesummen einbringen“, meint der Fußballkommentator Wiktor Wazko.

    Meisterschaft der Skandale

    Eine Eigenheit aus früheren Zeiten hat der ukrainische Fußball allerdings auch jetzt noch beibehalten: die Skandale.

    Im März richtete sich die Wut der Fans gegen die Brüder Ihor und Hrygori Surkis, die Bosse von Dynamo Kyjiw. Medien hatten berichtet, dass sie 17 Millionen US-Dollar, eine russische Staatsangehörige und zwei Männer im wehrfähigen Alter mit dem Kleinbus außer Landes gebracht hatten. Hrygori Surkis kam daraufhin zurück, allerdings nur, um seine Uhrensammlung abzuholen.

    Im Sommer sorgte dann Schachtar Donezk Aufregung: Anstelle des Italieners Roberto De Zerbi übernahm der Kroate Igor Jovićević das Team, obwohl letzterer zuvor mehrfach seine Treue gegenüber Dnipro-1 verkündet hatte. Zusätzlich entschied sich Schachtar, gegen die FIFA vors Sportgericht zu ziehen, um 50 Millionen Euro Entschädigung einzufordern. Der Grund seien die neuen Transferregeln für die UPL: Die FIFA hatte es nach dem 24. Februar ausländischen Spielern in der UPL erlaubt, die Verträge mit ihren Klubs auszusetzen und auch mitten in der Saison den Verein zu wechseln. Das war ein Schlag für jene Vereine, die vor allem auf ausländische Spieler setzen, zu denen eben auch Schachtar gehört. Der Verein aus Donezk hatte im Februar 14 Ausländer unter Vertrag, von denen er sich nun trennen musste und dabei erhebliche Geldsummen verlor. „Wir hatten keine Zeit, die Spieler zu verkaufen. Die potenziellen Käufer und auch die Agenten der Spieler mussten einfach nur den 30. Juni abwarten, um keine Ablöse an den Verein zahlen zu müssen“, erklärt Serhij Palkin, Generaldirektor von Schachtar, den Grund für die Klage.

    Der neue Mannschaftsbus von Schachtar Donezk / Foto ©  facebook.com/fcshakhtar
    Der neue Mannschaftsbus von Schachtar Donezk / Foto © facebook.com/fcshakhtar

    All diese Herausforderungen, die der Krieg mit sich bringt, könnten den ukrainischen Fußball um Jahrzehnte zurückwerfen. Dringender denn je ist jetzt eine schnelle Reaktion des Ukrainischen Fußballverbands (UAF) gefragt. Dem steht seit 2015 Andrij Pawelko vor. Er übernahm das Amt unter dem Eindruck unzufriedener Fans, die forderten, den Fußball zu reformieren, die Korruption zu beseitigen und den Einfluss der Oligarchen einzuhegen. 

    Stattdessen ist es Pawelko gelungen, vor allem seine Macht zu zementieren. Neben der Leitung des ukrainischen Fußballs hatte er lange auch den Vorsitz im Haushaltsausschuss des Parlaments inne, und zwar für die Partei von Ex-Präsident Petro Poroschenko. In dieser Zeit hat er die Vorsitzenden der Fußball-Regionalverbände abgesetzt und dort seine Vertrauten installiert. Nach dem Sieg von Wolodymyr Selenskyj zeigte er sich auch dem neuen Präsidenten gegenüber loyal.

    Am 5. März sollte ein neuer Präsident des ukrainischen Verbandes gewählt werden, doch wegen der Kriegsereignisse wurde der Verbandskongress abgesagt. Eine spannende Wahl war eh nicht zu erwarten: einen Gegenkandidaten zu Pawelko gab es nicht. Aufgrund einer Satzungsänderung ist für eine außerordentliche Neuwahl des Verbandspräsidenten oder die Nominierung eines Kandidaten eine Zweidrittelmehrheit der Teilnehmer erforderlich. Die ist derzeit schlicht unrealistisch.

    „Pawelko ist unser Lukaschenko“, scherzt der ukrainische Journalist Michail Sliwakowskyj. Sein Kollege Roberto Morales ist überzeugt, dass Pawelko deshalb eine Wiederwahl braucht, damit er im Exekutivkomitee der UEFA bleiben kann. Wenn er bis Dezember nicht wiedergewählt wird, könnte er seinen Posten verlieren.

    Unterdessen nutzt Russland den Fußball, um seine imperialen Ideen zu verfolgen. Im Juli sprach Odes Bajsultanow, stellvertretender Sportminister Russlands, über Pläne, einen Ligawettbewerb mit Vereinen von der besetzten Halbinsel Krim, aus den sogenannten Volksrepubliken im Donbass, den besetzten Teilen der Gebiete Cherson und Saporishshja sowie aus Abchasien und Südossetien zu veranstalten. Den Russen ist klar, dass sie sich damit weitere Sanktionen der UEFA einhandeln könnten, daher wird diese Sonderliga für „befreundete Republiken“ in einem Format angekündigt, das keine russische Beteiligung vorsieht. Die Liga soll 2023 starten, doch zuvor haben sie mit dem Widerstand der ukrainischen Armee zu rechnen.

    Autor: Yuriy Konkevych
    Übersetzer: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 23.08.2022

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    Der belarussische Fußball ist mit seinen Vereinen, Verbänden und Sportfunktionären tief in das politische System des autoritären Staates verstrickt. Ein System, das in den vergangenen zwei Jahren wiederholt sowohl Fans als auch die Sportler selbst repressiert hat. 

    Im Gegensatz zu den russischen Fußballvereinen, die von der UEFA wegen des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine suspendiert wurden, können die belarussischen Vereine an den Qualifikationsrunden der europäischen Wettbewerbe teilnehmen. Übrig geblieben ist allerdings nur noch der aktuelle belarussische Meister Schachzjor Salihorsk, der in der dritten Qualifikationsrunde der Conference League am heutigen Donnerstag ein Heimspiel gegen den rumänischen Verein CFR Cluj bestreitet. Allerdings hat der europäische Fußballverband den Belarussen untersagt, ihre Heimspiele in Belarus auszutragen, also findet das Spiel im türkischen Adazpan statt. In der Gruppenphase könnte Salihorsk auf den 1. FC Köln treffen. Die Klubführung des Fußball-Bundesligisten hatte kürzlich in einem Brief an UEFA-Präsident Aleksander Čeferin den Ausschluss aller belarussischen Teams gefordert, weil die belarussischen Machthaber den russischen Angriffskrieg unterstützten.

    Der Sportjournalist Jegor Chawanski analysiert in diesem Beitrag die politische Verstrickung, dazu den aktuellen Zustand des belarussischen Fußballs und seine sportlichen Missstände, die zu einer historischen Krise geführt haben.

    Dieser Artikel gehört zu unserer Reihe Platforma, in der russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen liefern. Die Texte werden weitgehend von Journalistinnen und Journalisten geschrieben, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    „Man könnte denken, dass ich die Nationalmannschaft Brasiliens trainiere.“ So lautete die Reaktion von Georgi Kondratjew, dem Cheftrainer der belarussischen Fußballnationalmannschaft, auf die Kritik nach einer weiteren Pleite seines Teams. Vor zehn Jahren noch hatte Kondratjew die belarussische U-21 zum dritten Platz bei der Europameisterschaft geführt und das Ticket zu den Olympischen Spielen geholt. Jetzt ist er ein passives Element in einem System, das die Nationalmannschaft in Europa zu einem Außenseiter werden ließ, und durch das der belarussische Fußball jetzt geächtet ist. Wie ist es dazu gekommen?

    Eine Pyramide der Loyalität

    Seit 28 Jahren schon ist es Alexander Lukaschenko, der in Belarus praktisch jeden ernennt, vom Premierminister bis zu den Landräten. In dieser Nomenklatur-Pyramide ist für Illoyalität kein Platz: Die Bürokraten sind nicht den Bürgern gegenüber verantwortlich, sondern dem, der sie auf ihren Posten gesetzt hat.

    Auch im Sport werden die wichtigsten Posten nicht ohne Absegnung von ganz oben besetzt. Von 1997 bis 2021 war Lukaschenko höchstpersönlich Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, bis er mit Sanktionen belegt wurde und den Posten abgab – an seinen ältesten Sohn Viktor. Im Sessel des Sportministers sitzt ein ehemaliger Sicherheitsbeamter Lukaschenkos, und die formal unabhängigen Sportverbände werden von Funktionären geleitet. Nahezu alles im belarussischen Sport wird vom Staat finanziert. Viele Einzelsportler gehören den Sicherheitsbehörden an und dienen offiziell in der Armee, in der Miliz oder im KGB

    Der Fußball ist in dieser Pyramide keine Ausnahme: Der belarussische Fußballverband ABFF ist noch nie von Sportlern geleitet worden. Sein aktueller Vorsitzender, Oberst Wladimir Basanow, war zuvor Militärkommissar und Abgeordneter des belarussischen Parlaments. Basanow hatte versprochen, dass die Nationalmannschaften unter seiner Führung in die Endrunden der großen internationalen Turniere einziehen und die Klubs regelmäßig die Gruppenphase der Europapokale erreichen würden. Diese Vorgabe wurde bald korrigiert: Die Nationalmannschaft solle sich erst 2028 für die EM qualifizieren. Unterdessen macht der belarussische Fußball, der ohnehin keine Höhenflüge erlebt, unter Basanows Führung auch noch durch ständige Pleiten und Skandale von sich Reden.

    Sonderweg während der Corona-Pandemie 

    Die Startbedingungen für die neue Führung des ABFF waren 2019 nicht schlecht. Das Image des belarussischen Fußballs hatte sich gebessert, die Spiele wurden jetzt live übertragen, die Nationalmannschaft erhielt mit den „Weißen Flügeln“ ein Markenzeichen und schöne neue Trikots mit nationalem Ornament. Auch sportlich gab es Anlass zur Freude: Die Nationalmannschaft erreichte die Playoff-Spiele der Nations League und hatte eine realistische Chance, sich erstmals für die EM zu qualifizieren. Und der einstige Dauermeister BATE Baryssau erreichte in der Saison 2018/19 das Playoff der Europaliga. Von Wladimir Basanow wurde erwartet, dass er diese Lage nicht verspielt, und tatsächlich besuchte er anfangs viele Spiele und demonstrierte sein Engagement als Verbandschef.

    Das alles änderte sich im März 2020. Die Führung des ABFF ließ während der Corona-Pandemie die belarussische Meisterschaft beginnen, und so wurde Belarus zum einzigen Land in Europa, in dem noch Fußballspiele stattfanden. Auf staatlicher Ebene wurden die Gefahren durch das Coronavirus geleugnet, und so war es die Aufgabe des Funktionärs Basanow, eines zu zeigen: Der belarussische Weg bei der Bekämpfung des Virus ist derart effektiv, dass das gewohnte Leben weitergehen kann. Also mussten die Fußballer Fußball spielen und die Fans ins Stadion kommen.

    Die Fans der meisten belarussischen Klubs erklärten allerdings einen Boykott der Spiele und die Besucherzahlen brachen um 70 Prozent ein. Dieser „Sonderweg“ hatte allerdings auch etwas Positives: In Russland, der Ukraine, in Israel und anderen Ländern wurden die Übertragungsrechte für Spiele der höchsten belarussischen Spielklasse, der Wyscheischaja Liha, gekauft (um wenigstens irgendwas zu zeigen). Medien schrieben weltweit über den belarussischen Fußball, und es bildeten sich internationale Fanklubs. Als der Sport in die europäischen Stadien zurückkehrte, erlosch das Interesse an der Wyscheischaja Liha jedoch wieder.

    Spieler von Krumkatschy Minsk in Trikots mit der Aufschrift „My supraz gwaltu“ (dt. „Wir sind gegen Gewalt“). Alexander Iwulin, ein Spieler des Teams und zugleich Blogger, wurde wegen Beteiligung an der Protestaktion zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt. / Foto © nashaniva.com

    Die Wahlen 2020, die Proteste und der Fußball

    Im August 2020, wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl, tauchte in Social-Media-Kanälen des ABFF ein Werbeclip für Alexander Lukaschenko auf, und Basanow wurde bei Veranstaltungen zur Unterstützung des Regimes aktiv. Politik war nun gefährlicher als das Coronavirus: Aus Angst, dass die Fans die Stadien zu Protesten nutzen könnten, fanden die Spiele ohne Zuschauer statt oder wurden verlegt.

    Nach der Wahl und der brutalen Unterdrückung der Proteste blieben die Fans den Stadien endgültig fern, während Hunderte belarussische Fußballer, Trainer und Schiedsrichter sich gegen die Gewalt aussprachen. „Ich weigere mich, die Interessen der Nationalmannschaft zu vertreten, solange das Regime Lukaschenko herrscht“, schrieb der junge Stürmer Ilja Schkurin auf Instagram. Seitdem spielt er nicht mehr für die Nationalmannschaft und ist nicht mehr nach Belarus zurückgekehrt.

    Basanow hatte anfangs versprochen, dass Spieler oder Vereine nicht für ihre Haltung bestraft würden. Als die Proteste jedoch immer weiter unterdrückt wurden, erreichten die Repressionen auch den Fußball. In die Nationalmannschaft wurden keine Spieler mehr berufen, die sich gegen die Gewalt geäußert hatten. Um der ideologischen Reinheit Willen opferte der Verbandschef sogar die Chance, sich für die EM zu qualifizieren.

    Die Säuberungen erfassten auch die Sportpresse, und Klubs wurde empfohlen, keine Verträge mit unliebsamen Spielern und Trainern abzuschließen. Die Verträge werden letztendlich im Sportministerium bestätigt, und viele Profis, die eine „falsche“ Meinung haben, erhalten dort eine Absage. Dem Fußballclub Krumkatschy Minsk, der sich offen gegen die Gewalt ausgesprochen hatte, wurde erst der Weg in die Wyscheischaja Liha verwehrt, dann folgte der erzwungene Abstieg in die dritte Liga.

    Im Herbst 2020 kam Wladimir Basanow auf die Sanktionslisten von Litauen, Lettland und Estland. Die Belarusian Sport Solidarity Foundation (BSSF) hatte die UEFA mehrfach auf Fälle von Diskriminierung im belarussischen Fußball hingewiesen, was allerdings ergebnislos blieb. Dabei wird die Tätigkeit Basanows, der sich superloyal gibt, sogar vom Regime und der Propaganda nicht sonderlich hoch geschätzt. Sportminister Sergej Kowaltschuk bezeichnete das Niveau des belarussischen Fußballs als „Saustall und Sumpf“ und auch Lukaschenko hat den Fußball kritisiert.

    „Herzensangelegenheit auf Pause gestellt“. Die Lage der Fans

    Die Fußballfans in Belarus waren früher keine relevante politische Kraft. Die Ereignisse in der Ukraine 2014 haben jedoch alles verändert. Die Fans, von denen ein Teil früher mit russischen imperialen Vorstellungen sympathisierte, interessierten sich nun für die nationale Kultur und pflegten verstärkt das Belarussische. Sowohl beim Euromaidan wie auch im Donbass-Krieg spielten ukrainische Ultras eine wichtige Rolle. Das inspirierte die belarussischen „Kollegen“ und alarmierte die Sicherheitsbehörden im Nachbarland.

    Bereits bei der Präsidentschaftswahl 2015 hatte es immer mehr Meldungen über Festnahmen junger Menschen gegeben, bei denen eine Zugehörigkeit zur Ultra-Kultur hervorgehoben wurde. Mit diesen „Säuberungen“ war die Hauptverwaltung für den Kampf gegen organisierte Kriminalität und Korruption (GUBOPiK) des Innenministeriums befasst. Gegen Ultras wurden Strafverfahren angestrengt, die zum Teil absurd waren: Vitali, Pseudonym „Puma“, ein bekannter Fan von Dynamo Minsk, wurde 2017 zu zwei Jahren und vier Monaten verurteilt, weil er im Internet eine Kondomwerbung geteilt hatte – das Gericht hatte hierin Pornographie ausgemacht.

    2020 hat sich die GUBOPiK endgültig in eine politische Polizei verwandelt und stand bei der Unterdrückung der friedlichen Proteste gegen die gefälschte Wahl an vorderster Front. Die Sicherheitsbeamten bliesen zur Jagd auf Ultras, Anarchisten und Anhänger anderer Subkulturen, auf alle, die ihrer Ansicht nach dem Regime Lukaschenko gegenüber nicht loyal waren. Am 22. August 2020 wurde in Minsk Nikita Kriwzow, ein Fan des FK Maladsetschna, erhängt aufgefunden. Am Tag der Präsidentschaftswahl war er vor einer Kette von Milizionären mit der weiß-rot-weißen Protestflagge gesehen worden. Die Ermittlungen kamen zu dem Schluss, dass Kriwzow Selbstmord begangen habe, doch glaubt das kaum jemand.

    Nach Einschätzung von Menschenrechtlern gab es in Belarus mit Stand vom 10. Juli 1236 politische Gefangene. Unter ihnen sind Dutzende Ultras, wobei in Mosyr, Soligorsk, Molodetschno, Minsk und Orscha besonders viele verhaftet wurden. Muss da noch erwähnt werden, warum die Fans den Stadien fernblieben? „Ohne aktive Unterstützung ist es nur ein Spiel mit einem Ball. Wir haben unsere Herzensangelegenheit auf Pause gestellt. Für einen echten Fan, für jemanden, der mit der Mentalität eines Ultras lebt, ist das sehr hart“, lautet die Analyse eines Ultras.

    Auch gewöhnliche Anhänger haben es nicht leicht. Die Kontrollen der Miliz beim Einlass sind überaus streng; sie wurden nach der Wahl weiter verschärft. Die Klubs arbeiten schlecht und auch die Qualität des Fußballs kann einen kaum ins Stadion locken. 2012 kamen durchschnittlich 2014 Zuschauer ins Stadion, 2021 waren es nur noch 1422.

    Wie steht es um die belarussische Meisterliga und die Nationalmannschaft?

    In der aktuellen belarussischen Wyscheischaja Liha spielen 16 Teams. Viel zu viele. Jahr für Jahr haben viele Teams mitten in der Saison finanzielle Schwierigkeiten, weswegen einige dann die Saison nicht zu Ende spielen können. Die jüngsten Ereignisse haben zusätzlich Wirkung gezeigt. Wegen der Sanktionen, von denen die Besitzer der Klubs direkt betroffen sind, können diese sich keine hochklassigen Legionäre mehr leisten; es wurde eine Obergrenze für die Gehälter eingeführt und ein bestimmtes Kontingent an jungen Spielern, das auf dem Platz stehen muss.

    Die 13-jährige Vorherrschaft von BATE Baryssau wurde zunächst von Dynamo Brest durchbrochen, das von Alexander Saizew finanziert wird. Saizew, ein Lukaschenko nahestehender Unternehmer, holte Diego Maradona nach Brest und machte ihn zum Vorstandsvorsitzenden des Klubs. Er geriet jedoch auf die Sanktionsliste und musste sich sowie sein Kapital aus dem belarussischen Fußball zurückziehen und seine Ambitionen aufgeben. Dynamo Brest gehört seit 2021 wieder dem belarussischen Staat, der Verein Ruch Brest wurde liquidiert.

    Die letzten zwei Meistertitel errang der FK Schachzjor Salihorsk. Doch auch dieser Verein, der von dem sanktionierten Konzern Belaruskali finanziert wird, hat es nicht leicht. All das schlug sich in den Ergebnissen der Vereine nieder: In den letzten drei Saisons konnte sich keines der Teams in einem europäischen Wettbewerb für die Gruppenphase qualifizieren, 2021 war sogar spätestens in der zweiten Qualifikationsrunde Schluss. Hinzu kam, dass die Klubs und die Nationalmannschaft nach der erzwungenen Landung der Ryanair-Maschine im Mai 2021 und dem Beginn des Krieges in der Ukraine ihre internationalen Spiele nicht mehr in Belarus austragen dürfen.

    Die Krise der Nationalmannschaft ist sogar noch heftiger. Trainer, die etwas auf sich halten, weigern sich, ein angeschlagenes Team zu übernehmen. Und die Führungsspieler weigern sich, zurückzukommen. Die Folge sind Negativrekorde wie das historische 0:8 gegen Belgien oder lange Serien von Niederlagen bei offiziellen Spielen, die Belarus in die unterste Etage des europäischen Fußballs abrutschen ließen. Im neuesten Ranking der UEFA belegt Belarus sogar den letzten Platz.

    Die Stagnation im Fußball ist ein Spiegelbild der Lage im Land

    Der belarussische Fußball steckt eindeutig in einer Krise. Doch den Verantwortlichen ist sehr bewusst, dass ihre Karriere nicht von Ergebnissen abhängt, sondern von ihrer Loyalität gegenüber dem Regime. Sie bleiben trotz aller Pleiten, die den belarussischen Fußball auf das Niveau der 1990er Jahre zurückwarfen, auf ihren Posten. Damals konnten junge ambitionierte Manager und Trainer die Karre aus dem postsowjetischen Loch ziehen; heute jedoch ist es gefährlich, Initiative zu zeigen. Der Fußball in Belarus schmort im eigenen Saft: Belarussische Spieler streben keine Karriere im Ausland an und Legionäre aus dem Ausland haben kein Verlangen nach einer toxischen Liga mit leeren Stadien. Das Niveau sinkt generell. Es wachsen keine neuen Stars heran – trotz der Pflichtkontingente von jungen Spielern in der Startaufstellung.

    Die Stagnation im Fußball ist ein Spiegelbild der Lage im Land. Der belarussische Fußball wird sich nur dann aus dieser Lage befreien können, wenn sich auch das Land ändert – ein Umbruch im Sport wird erst mit einem politischen Wandel möglich.

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    Erziehung zur Ergebenheit

    Die Repressionen in Belarus gehen ungebremst weiter: Journalisten, Aktivisten und normale Bürger werden weiterhin festgenommen, auch immer noch für ihre Teilnahme an den Protesten im Zuge des 9. August 2020. Auch das Unternehmen tut.by Media, einst das größte Nachrichtenportal des Landes, wurde von einem Gericht als „extremistische Vereinigung“ eingestuft. Wie schon in den Jahren zuvor gerät die dissidente Kultur wieder einmal ins Blickfeld der Silowiki. Mitte Mai wurde die Buchhandlung Knihauka des Januschkewitsch-Verlages in Minsk durchsucht, der Verleger Andrej Januschkewitsch festgenommen und zu zehn Tagen Haft verurteilt. Am Tag der Eröffnung hatte sich die staatliche Propaganda auf den neuen Buchladen eingeschossen. Ljudmila Gladkaja von der Staatszeitung SB. Belarus segodnja und andere Propagandisten waren zur Eröffnung erschienen. Sie beklagte vor laufender Kamera, dass die Behörden die Eröffnung der Buchhandlung überhaupt erlaubt hätten: „Wenn sich 2020 wiederholt, werdet ihr euch fragen, wie das nur passieren konnte.“ 

    Auch der Roman Die Hunde Europas des Schriftstellers Alhierd Bacharevič wurde als „extremistisch“ und staatsfeindlich eingestuft. Bacharevičs Bücher werden von Januschkewitsch verlegt. Erst kürzlich tauchte zudem eine Liste im Internet auf, die vom Kulturrat in Belarus stammen sollte. Darauf die Namen von 33 Autoren und Autorinnen – darunter die von Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, von Schriftsteller Viktor Martinowitsch oder dem Philosophen Valentin Akudowitsch. Deren Bücher, so die mutmaßliche Anweisung der Behörden, sollten aus den Schulbibliotheken landesweit verbannt werden.

    Machthaber Alexander Lukaschenko ist in vielerlei Hinsicht ein Sowjetnostalgiker, gerade hinsichtlich seiner Vorstellung einer eingehegten Kultur, die dem Staat dienen soll, und eines Bildungs- und Erziehungssystems, das loyale Diener für den autoritären Staat hervorbringen soll. Entsprechend gibt es an den Bildungseinrichtungen des Landes sogenannte Ideologie-Beamte, die dafür sorgen, dass sich keine nonkonformistischen und kritischen Haltungen unter Schülern und Studenten breit machen. Außerdem existiert die staatliche Jugendorganisation BRSM, deren Mitglieder an Paraden und anderen Propagandaaktivitäten mitwirken und Vergünstigungen für das Studium erhalten. 

    In mehreren Artikeln beschäftigt sich der Journalist Alexander Klaskowski mit Lukaschenkos Wunsch, das Bildungssystem nach seinen Vorstellungen umzubauen. „Die traurige Ironie besteht darin”, schreibt er in einem Beitrag, „dass das Regime gegenwärtig Bereiche wahrer nationaler Kultur zerstört, die Geschichte aus Gründen politischer Opportunität einseitig interpretiert, die staatliche Souveränität zunehmend bedroht und die Menschen ihrer wahren Staatsbürgerschaft und ihres nationalen Geistes beraubt. Sie wollen die Menschen zu gehorsamen Robotern machen.” 

    Wie realistisch aber ist Lukaschenkos Plan eines gleichgeschalteten Bildungssystems, das ausschließlich ergebene Bürger hervorbringt? Damit setzt sich Klaskowski in einer Analyse für das Online-Portal Naviny auseinander.

    Lukaschenkos Treffen mit Pionier-Aktivisten am 20. Mai war gewissermaßen ein rituelles und von PR-Überlegungen diktiert: Es sollte der hundertste Jahrestag der Pionierbewegung begangen werden. Zudem war es ein günstiger Moment, den menschlichen Führer zu spielen, den Freund der Kinder. Lukaschenko äußerte sich dabei zu programmatischen Dingen, die ihn tatsächlich bewegen.

    Lukaschenko ist wegen der Loyalität der jungen Generation offensichtlich beunruhigt. Der friedliche Aufstand von 2020, bei dem viele junge Menschen in den Kolonnen mit den weiß-rot-weißen Flaggen marschierten, hat bei Lukaschenko Eindruck hinterlassen.

    Ein Versuch, die kommunistische Matrix einzusetzen

    Bei dem Treffen mit den Pionieren erklärte Lukaschenko, dass es „an der Zeit ist, mit dem Ausbau der Arbeit der Pionierorganisation und unserer gesamten Jugendorganisation ernst zu machen. Das größte Manko besteht darin, dass die Pioniere und die Pionierorganisation nur schwach an die Jugendorganisation, den BRSM [den Belarussischen Republiks-Jugendverband – dek], angebunden sind, und dass die BRSMler nicht besonders an eurem [dem Prionierleben – dek] Leben interessiert sind. Bei uns galt eisern: Die Komsomolzen sind der ältere Bruder. Die organisieren und nehmen einen an die Hand. Das heißt: Aus den Pionieren erwächst eine neue Generation von Jugendlichen“.

    Im Grunde träumt Lukaschenko mit seiner unweigerlichen Nostalgie nach der „lichten Vergangenheit“ davon, ein System wiederaufleben zu lassen, das „Sowjetmenschen großzieht“, und das in kommunistischer Zeit damit schon im Kindergarten begann: Portraits von Großvater Lenin, Verse über den Feiertag des Großen Oktober, das Rote Banner usw. Erst wurde man bei den Oktjabrjata aufgenommen, dann bei den Pionieren, beim Komsomol und schließlich wurden die mit dem stärksten Bewusstsein Parteimitglieder. Es war ein Fließband intensiver Indoktrination.

    Doch in der UdSSR basierte das alles auf einer ausgefeilten Ideologie, die in den Köpfen mitunter durchaus Wirkung zeigte. Der Sieg über Hitlerdeutschland, der erste Satellit im All, der Flug von Juri Gagarin, das alles hat viele geradezu beflügelt und dazu gebracht, an die „fortschrittlichste aller Gesellschaftsordnungen“ zu glauben.

    Allerdings hat auch diese Ideologie den Realitätstest nicht bestanden, als das System vor sich hin rottete und bei den Massen keinen Enthusiasmus mehr entfachte. Viele wurden nur deshalb Komsomolzen, um auf die Hochschule zu gelangen, Karriere zu machen oder einfach um nicht als schwarzes Schaf dazustehen. In der Endphase der Sowjetunion traten die Leute massenweise (und oft demonstrativ) aus dem Komsomol und der KPdSU aus.
    Abschließend ein handfestes Beispiel wie aus dem Lehrbuch: Von den Dutzenden Millionen Kommunisten und Komsomolzen ist keiner aus Protest auf die Straße gegangen, als durch das Belowescher Abkommen im Dezember 1991 das Ende der UdSSR besiegelt wurde. Als das System ein moralisches Fiasko erlebte und sich vollkommen selbst diskreditiert hatte, fand sich niemand, der bereit gewesen wäre, es bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. 

    Noch etwas ist zu beachten: Lukaschenko will nicht einmal eine eigene Partei gründen, um seine eifernden Anhänger zu formieren. Zu sehr hat er das System auf sich zugeschnitten. In dieser Hinsicht waren selbst die Kommunisten flexibler.

    Halt die Füße still und sei gehorsam – das ist die ganze Ideologie 

    Lukaschenkos Gegner haben ihn 2020 mit einem Meme zum Thema 3 Prozent Rückhalt gedisst, was ihn sehr geärgert hat. Und mittlerweile sprechen die Oppositionsführer oft in einem vereinfachten Paradigma vom „Volk gegen Regime“. In Wirklichkeit ist das Stimmungsbild in der Gesellschaft natürlich sehr viel komplexer. Unabhängigen Meinungsforschungsinstituten zufolge besteht die Anhängerschaft Lukaschenkos ungefähr aus 20 bis 30 Prozent der Wahlberechtigten. Doch dürften dieser Bevölkerungsschicht nur wenige leidenschaftliche Anhänger zu finden sein, die zu Opfern bereit wären.

    Die Menschen sind aus verschiedenen Gründen also der Ansicht, dass Veränderungen schlimmer wären als die gegenwärtige Lage der Dinge. Doch bei der massenweisen Indoktrinierung, bei der Erziehung von „wahrhaften Patrioten“, wie es die Führung gern nennt, gibt es große Probleme.

    Lukaschenko verfügt aus Prinzip über keine Ideologie, was er mehrfach öffentlich zugegeben hat. Daher wird der Bevölkerungsmasse eine primitive Loyalität aufgenötigt: Halt die Füße still, halt den Mund und tu, was man dir sagt.

    Diese Loyalität kann jedoch zutiefst vorgetäuscht sein, und insgeheim oft mit der Faust in der Hosentasche. Lukaschenko scheint das selbst zu spüren. Bei einem weiteren Personalkarussell am 13. Mai sprach Lukaschenko über die Stimmung in der Gesellschaft und betonte, dass es „genug Menschen gibt, die nicht einfach nur etwas anderes denken (denken ist ja nicht verboten), sondern auf den geeigneten Moment warten“. Wohlgemerkt: Es geht um den Moment eines Regimewechsels.

    Im August 2020, als das Regime wankte, haben sich die regimefreundlichen Organisationen nicht sonderlich ins Zeug gelegt. Lukaschenko hat rückblickend mehrfach geklagt, dass viele Funktionäre sich seinerzeit „in Mauselöchern verkrochen“ hätten.

    Für die Masse der Durchschnittsbürger ist die Mitgliedschaft in Organisationen wie dem Gewerkschaftsbund oder dem Jugendverband BRSM reine Formsache. Damit es keine Scherereien oder Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten gibt. Die Hoffnung, dass diese „Säulen der Zivilgesellschaft“, als die Lukaschenko sie hinzustellen versucht, ihm in einer schweren Stunde Rückhalt bieten, ist illusorisch.

    Ein Informationsmonopol lässt sich nicht mehr durchsetzen

    Bei dem Treffen mit den Pionieren versprach Lukaschenko eine Geschichtsstunde für Schüler und Studierende im Minsker Museum des Großen Vaterländischen Krieges. Außerdem „befürwortete [er] die Aktivitäten von Pionieren und jungen Menschen zur Wahrung der historischen Erinnerung, unter anderem an die Heldentaten des Volkes und einzelner Helden in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges“. Und er unterstützte die Initiative zur Schaffung der Fernsehsendung „Erinnerung des Herzens“.

    Mit dem Kult um den Großen Vaterländischen Krieg versucht die belarussische Führung offensichtlich, das Fehlen einer in sich geschlossenen ideologischen Doktrin zu kompensieren. Bezeichnend ist, dass versucht wird, den Begriff „Zweiter Weltkrieg“ zu vermeiden. Sonst würden ja Dinge wie die sowjetisch-hitlerdeutsche Parade 1939 in Brest hochkommen, was sich nicht mit der offiziellen manichäisch elitären Mythologie vertragen würde.

    Die belarussische Regierung kopiert hier in vielem Russland. Der Unterschied ist jedoch, dass sich dort die Instrumentalisierung des Themas Großer Vaterländischer Krieg und Sieg stark mit dem in der Gesellschaft weit verbreiteten imperialen Denken und den gekränkten Großmachtambitionen verbindet (wir wurden erniedrigt, aber wir „können es wiederholen“). Die Belarussen haben eine andere Mentalität. Hier lautet das Leitmotiv: „Nie wieder!“

    Durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das staatliche Geschwätz der belarussischen Führung über den vergangenen Krieg („wir haben für unsere Friedfertigkeit büßen müssen“ usw.) besonders unglaubwürdig geworden: Schließlich haben wir de facto den Überfall auf ein Nachbarland mit den revanchistischen Parolen des Kreml unterstützt!
    Die Dienst-Rhetorik zur historischen Erinnerung (die einseitig und unbefriedigend interpretiert wird) wird für Lukaschenko kaum die doktrinäre Leere füllen oder zu einem starken Mobilisierungsfaktor werden können.

    Es ist sogar so, dass das derzeitige Regime gar keine echte politische Mobilisierung oder ein wahrhaftiges bürgerliches Engagement benötigt; mehr noch: Diese wären für das Regime gefährlich. Also wird sich in der Praxis banale Unterwürfigkeit breit machen.

    Einen aufrichtigen Glauben an die Vorteile der im Land geschaffenen Ordnung (der zu gewissen Zeiten vielen Sowjetbürgern hinter dem eisernen Vorhang eigen war) wird die belarussische Regierung ihrer Gesellschaft nicht aufnötigen können. Unter anderem, weil es selbst mit immer heftigeren Verboten (die irrwitzig angewachsene Liste „extremistischer Materialien“, die Sperrung nicht genehmer Internetseiten usw.) heute unmöglich ist, ein Informationsmonopol herzustellen. Besonders, wenn es um junge Menschen geht, die permanent an ihren Geräten hängen (worüber sich Lukaschenko ebenfalls beklagte).

    Durch die Totalitarisierung des Staates können andere junge Köpfe zweifellos verkrüppelt werden. Doch insgesamt ist die Hoffnung der hohen Führung, der heranwachsenden Generation massenhaft das Hirn zu waschen und sie für das Regime gefügig zu machen, zum Scheitern verurteilt

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