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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Meinst du, die Belarussen wollen Krieg?

    Meinst du, die Belarussen wollen Krieg?

    Kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine protestierten Belarussen trotz der massiven Repressionen in ihrem Land gegen die kriegerische Handlung des Kreml. Manche Belarussen beteiligten sich bei Sabotageakten an den Eisenbahnstrecken, die das russische Militär für den Transport von Technik und Gerät nutzte. In Umfragen schien sich immer wieder zu bestätigen, dass große Teile der belarussischen Gesellschaft gegen den Krieg in der Ukraine sind und vor allem gegen eine direkte Beteiligung von Seiten der belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko, der sich allerdings von Anfang in den Krieg verstrickte. 

    Wie sehen die Belarussen den Krieg heute? Wie beurteilen sie die angekündigte Stationierung russischer Atomwaffen in ihrem Land und das Verhältnis zum Westen? Solche Fragen sind nicht leicht zu beantworten, da es nur wenige aktuelle soziologische Daten aus Belarus gibt. Unabhängige Umfrage-Institute existieren nur im Exil. Zumindest Anhaltspunkte liefern jedoch die regelmäßigen Online-Interviews des britischen Thinktanks Chatham House unter der Leitung des Soziologen Ryhor Astapenia. In der aktuellen 15. Umfragerunde wurden im März 804 Personen befragt. Die Autoren der Studie weisen auf nicht vollständig korrigierbare Verzerrungen hin: zum einen durch den „Angst-Faktor“ in einem repressiv regierten Land wie Belarus, zum anderen dadurch, dass die Befragung nur online durchgeführt werden konnte.

    Igor Lenkewitsch von Reform.by hat sich die Umfrage von Chatham House angeschaut und ausgewertet.

    Chatham House hat die Ergebnisse einer Online-Umfrage unter dem Titel Die Werte der Belarussen und ihre Haltung zum Krieg veröffentlicht. Unsere Landsleute wollen weiterhin keinen Krieg führen. Die Versuche des Regimes, aus den Nachbarländern Feindbilder zu schmieden, haben keine nennenswerte Dividende erbracht. Aber auch der über ein Jahr andauernde Krieg, die Gräueltaten der russischen Besatzer und der Beschuss friedlicher ukrainischer Städte hatten keinen Einfluss auf die Haltung der Belarussen zu den Ereignissen rund um unser Land.

    Ein Krieg ohne Unterstützung

    Die meisten Belarussen (44 Prozent der Befragten) unterstützen nicht das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine. Ein weiteres Viertel tut sich mit einer Antwort schwer. 18 Prozent unterstützen es mit Bestimmtheit und 15 Prozent sagen, sie unterstützen es eher.

    Bezeichnend ist auch, wie die Unterstützung für die kriegerischen Handlungen Russlands in der Ukraine davon abhängt, welche Medien die Befragten bevorzugen. Anhand der Grafik wird deutlich, dass es nur beim Publikum staatlicher Medien mehr Unterstützer für das Vorgehen der russischen Streitkräfte gab als Gegner. 

    Dabei wollen die Belarussen keine unmittelbare Beteiligung an den kriegerischen Handlungen. Auf die Frage „Was sollte Belarus jetzt angesichts der Kriegshandlungen zwischen Russland und der Ukraine unternehmen?“ antworteten 30 Prozent, dass eine vollkommene Neutralität des Landes vonnöten sei, dass sämtliche ausländische Truppen von belarussischem Staatsgebiet abgezogen werden müssen, und dass man sich nicht zugunsten einer der Seiten äußern sollte. Weitere 30 Prozent sind dafür, Russland zwar zu unterstützen, sich aber an dem militärischen Konflikt nicht zu beteiligen. Sechs Prozent sind bereit, die Ukraine ohne einen Kriegsbeitritt von Belarus zu unterstützen. Und der Anteil derjenigen, die einen [aktiven – dek] Kriegseintritt auf einer der beiden Seiten wollen, liegt zusammengenommen bei wenigen Prozentpunkten.

    Wer wird siegen?

    Es sind allerdings nur relativ wenige, die an einen Sieg der Ukraine glauben, nämlich 15 Prozent. Eine Mehrheit jedoch (46 Prozent) ist der Ansicht, dass Russland siegen wird. Bemerkenswert ist, dass nach einem Jahr Krieg, nach dem Rückzug der russischen Streitkräfte von Kyjiw und Tschernihiw sowie ihrem Abzug aus Cherson sich die Meinung der Belarussen zu einem möglichen Sieger praktisch nicht verändert hat. Möglicherweise ist das eine Folge langjähriger Stereotype über die Macht und die Dimension Russlands und die Unbesiegbarkeit seiner Armee, die heute von der russischen und belarussischen Propaganda verstärkt verbreitet werden. Gleichzeitig tat sich ein beträchtlicher Teil der Befragten schwer, auf diese Frage zu antworten.

    Über die Hälfte der Belarussen treten für eine umgehende Beendigung des Krieges und für Friedensverhandlungen ein.
    Die meisten Nutzer nichtstaatlicher Medien sind derweil überzeugt, dass der Krieg erst dann beendet werden sollte, wenn die Ukraine ihre Ziele erreicht hat. Beim Publikum der staatlichen Medien ist der Anteil jener, die den Krieg erst dann beendet sehen wollen, wenn Russland seine Ziele erreicht hat, etwas geringer, nämlich 43 Prozent.

    Insgesamt ist zu konstatieren, dass sich die Polarisierung der belarussischen Gesellschaft fortsetzt. Doch auch wenn sich die Haltung zum Krieg bei Anhängern und Gegnern des Regimes unterscheidet, möchte keine der beiden Gruppen eine unmittelbare belarussische Beteiligung am Krieg. Auf welcher Seite die Sympathien der Befragten auch liegen mögen, die Vorstellung, dass Belarus sich unmittelbar am Krieg beteiligen sollte, ist nach wie vor nur marginal verbreitet.

    Mit Atomwaffen oder ohne?

    Bei den Antworten auf diese Frage hat es keinerlei nennenswerte Veränderungen gegeben. Die überwiegende Mehrheit der Belarussen, nach wie vor 74 Prozent, steht einer Stationierung von Atomwaffen in unserem Land ablehnend gegenüber.

    Der Anteil der Befürworter dieser Idee hat sich seit August vergangenen Jahres leicht erhöht – von 19 auf 25 Prozent. Das ist wohl auf den systematischen Einsatz der staatlichen Propaganda zurückzuführen, die die Stimmung mit angeblich vorhandenen Bedrohungen an unseren Grenzen anheizt.

    Allerdings ist selbst bei den Anhängern des Regimes (dem Publikum der staatlichen Medien) eine Mehrheit gegen die Stationierung von Atomwaffen in Belarus.

    Mit wem werden wir Freunde sein?

    Interessant ist auch, dass sich ungeachtet der Anstrengungen der Propaganda die Haltung der Belarussen zu den Nachbarländern praktisch nicht verändert hat.

    Die überwiegende Mehrheit der Befragten ist der Ukraine, Polen, Litauen und den Ländern der EU gegenüber nach wie vor positiv oder sehr positiv eingestellt. Am schlechtesten ist das Verhältnis zu den USA, allerdings sind auch hier jene, die diesem Staat ablehnend gegenüberstehen, in der Minderheit.

    Was die außenpolitischen Präferenzen der Belarussen angeht, so sind die ebenfalls seit August 2022 praktisch unverändert geblieben. Für ein geopolitisches Bündnis mit der EU treten 14 Prozent der Befragten ein, und für ein Bündnis mit Russland 38 Prozent. 23 Prozent sind überzeugt, dass Belarus sich besser aus allen möglichen geopolitischen Bündnissen heraushalten sollte.

    Auf die Frage „Welche Art von Bündnis mit Russland ist für Sie am ehesten akzeptabel?“ sprachen sich 34 Prozent für eine Freihandelszone aus. Im August 2022 hatte ein gleicher Anteil der Befragten diese Antwort gewählt. Anhänger eines Beitritts von Belarus zur Russischen Föderation gibt es nach wie vor wenige, insgesamt vier Prozent. Mehr als ein Drittel der Befragten befürworten einen gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne politische Vereinigung.

    Die Studie zeigt insgesamt, dass die Präferenzen in der belarussischen Gesellschaft im vergangenen Jahr unverändert geblieben sind – obwohl die Propaganda mehr Druck macht, das Regime die Ukraine und den Westen als Feindbild darstellt und schon mehrere Monate eine Kriegshysterie geschürt wird. Es ist nicht gelungen, die Haltung der Belarussen zum Krieg oder ihren Nachbarn zu ändern. Und die vom Regime gepredigte Konzeption einer von Feinden belagerten Festung hat in den Herzen der meisten Bürger unseres Landes keine Unterstützung gefunden.

    Gleichzeitig haben weder der anhaltende Krieg noch die Verbrechen der russischen Streitkräfte die Haltung der Belarussen zum Geschehen grundlegend verändert – ebenso wenig der Beschuss ukrainischer Städte, das Sterben friedlicher Zivilisten und die militaristische Rhetorik des Regimes. Die überwiegende Mehrheit hofft anscheinend weiter darauf, dass all diese Ereignisse keine ernsten Auswirkungen auf ihr Alltagsleben haben werden. So zu tun, als würde nichts geschehen, ist jedoch nicht die beste Reaktion auf die Veränderungen, die sich derzeit in der Welt vollziehen.

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  • „Teile und herrsche!”

    „Teile und herrsche!”

    Repressionen, hohe Haftstrafen, Unterdrückung – so versucht Alexander Lukaschenko, die belarussische Gesellschaft einzuschüchtern und damit unter Kontrolle zu halten. Ein Szenario wie 2020 soll sich nach dem Willen der Machthaber möglichst nicht wiederholen. Dafür bringt Lukaschenko sein System zusehends auf den Weg des Totalitarismus. Kann dies aber langfristig funktionieren? Vor 2020 hielt ein Gesellschaftsvertrag das autoritäre System mit der Gesellschaft zusammen. Der Deal: Lukaschenko sorgt für eine gewisse wirtschaftliche Stabilität und einen bescheidenen Wohlstand, im Gegenzug verzichten die Menschen weitgehend auf demokratische Freiheiten.

    Was aber hat der Staat der Bevölkerung nun zu bieten? Und was bedeutet Lukaschenkos häufig zu vernehmende Beschwörungsformel von der Einheit von Silowiki und dem Volk in dieser Hinsicht? Igor Lenkewitsch macht sich für das Online-Medium Reform.by auf die Suche nach Antworten.

    „Sehr wichtig ist jetzt die Einheit von Geheimdiensten, dem Block der Miliz und unserem Volk. Dann werden wir es leichter haben“, erklärte Alexander Lukaschenko bei einem Besuch der Gedenkstätte in Chatyn. Wer ist hier „wir”? Und warum wird es leichter? Und folgt aus dem Gesagten, dem Regime ist bewusst, dass es keine Einigkeit zwischen Miliz und Bevölkerung gibt?

    „Die Miliz und das Volk“, diese Parole war bei den Protestaktionen in Belarus oft erklungen. Damals hatte die Gesellschaft noch auf die Silowiki, die Sicherheitskräfte gehofft. Sie hatte geglaubt, dass sie nicht auf friedliche Bürger losgehen werden. Die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Die Silowiki haben sich entschieden, das wankende Regime zu unterstützen. Und danach fanden sie sich zusammen mit dem Regime in einem sehr engen Korridor wieder: Zum Machterhalt blieben keine anderen Argumente als Repressionen. Die seit ihrem Beginn schon mehrere Jahre anhalten, wobei menschliche Schicksale gebrochen werden und die Gesellschaft gespalten wird. Die Regierung versucht weiterhin, die Situation mit Gewalt zu ihren Gunsten zurechtzubiegen. Nun kann man zwar mit Repressionen aktive Proteste unterdrücken, doch ist es nicht möglich, die Menschen dadurch unter der Flagge zu vereinen. Wozu dann diese Aufrufe zur Einheit?

    „Und von welcher Einigkeit spricht Lukaschenko?”

    Das Problem der Spaltung wird für die belarussische Gesellschaft immer aktueller. Zu einem Dialog für eine nationale Aussöhnung hatte bereits der Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki in seinem Schlusswort vor Gericht aufgerufen. Von einer notwendigen nationalen Aussöhnung zur Wahrung der Unabhängigkeit von Belarus hatte in einem offenen Brief auch Iossif Sereditsch, der Chefredakteur von Narodnaja Wolja, geschrieben.

    Auch Alexander Lukaschenko erinnert oft an die Bedeutung einer Einigung. Allerdings verbergen sich hinter solchen Formulierungen andere Begriffe. Bjaljazki und Sereditsch sagen, dass das Land in eine Sackgasse geraten ist, dass ein gleichberechtigter Dialog zwischen allen politischen Kräften vonnöten ist und eine Amnestie für alle politischen Gefangenen. Und von welcher Einigkeit spricht Lukaschenko? Von einer Einigkeit der Geheimdienste, der Sicherheitskräfte und der Bevölkerung. Da geht es nicht um „Die Miliz und das Volk“. Und der Sinn verkehrt sich hier sofort ins Gegenteil.

    Das ist ein ganz grundlegender Unterschied. Während die demokratischen Kräfte von einem Dialog sprechen, meint das Regime Unterwerfung. Eine widerspruchslose Unterwerfung. Einigkeit ist hier eine Art Stockholm-Syndrom, wenn das Opfer anfängt, sich für den Angreifer einzusetzen. Die Bevölkerung soll die Silowiki unterstützen, die eben diese Bevölkerung peinigen.

    Die Repressionen im Land werden nicht nur nicht schwächer, sondern es wird im Gegenteil die Schlagzahl erhöht. Experten des Wirtschaftsforschungsinstituts BEROC heben hervor, dass die Zahl der von Menschenrechtlern registrierten politisch motivierten Festnahmen weiter zunimmt. Wenn die Silowiki im Sommer vergangenen Jahres noch im Schnitt 100 bis 120 Personen pro Monat festnahmen, waren es im Herbst dreieinhalb Mal so viel. Auch die Zahl der politisch motivierten Gerichtsverfahren steigt und die Haftstrafen werden härter. Es gibt jetzt die Tendenz zu „Firmenfestnahmen“, bei denen sich die Sicherheitskräfte gleich eine ganze Reihe von Mitarbeitern eines Unternehmens schnappen, und zwar von ganz unterschiedlichem Profil. Die Behörden verfolgen die Verwandten der politischen Gefangenen. Die Repressionen gegen Anwälte und Medien hat ein neues Level erreicht. Das alles lässt sich ohne Übertreibung nur als Massenterror bezeichnen.

     „Wir leben in einem waschechten Stalinismus”

    Politische Gegner, Experten, Journalisten werden vom Regime zu Gefängnisstrafen von 10, 12, 15 oder mehr Jahren verurteilt. Fehlt nur noch, dass wieder Erschießungen stattfinden. Für Landesverrat wurde schon die Todesstrafe eingeführt. Bislang zwar nur für Staatsdiener, doch wer garantiert uns, dass die Liste derjenigen, die unter dieses Gesetz fallen, nicht länger wird? Schauen wir doch der Wahrheit ins Gesicht: Wir leben in einem waschechten Stalinismus.

    Aus Lukaschenkos Erklärung können wir eines schließen: das Regime weiß sehr wohl, dass die Silowiki, auf die es sich stützt, und ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft auf verschiedenen Seiten der Barrikaden stehen. Und die Kluft zwischen ihnen wird immer tiefer. Doch mit den Repressionen aufzuhören, hieße, die Macht zu verlieren.

    Und was versteht das Regime eigentlich unter „Einigkeit“? Junge Pioniere, die härteste Strafen für „Verräter“ fordern. Versammlungen der Belegschaften, die glühend für harte Urteile eintreten. Denunziation von „grässlichen Weiß-rot-weiß-lern“. Und Unterstützung für der Repressionen. Das wäre nach Lukaschenkos Verständnis Einigkeit. Und er lügt keineswegs, wenn er sagt, es würde „leichter für uns“. Wenn ein Teil der Gesellschaft aktiv den anderen denunziert, wenn die Saat des Misstrauens und der Angst ausgebracht und aufgegangen ist, einer Angst nicht nur vor den Strafbehörden, sondern auch vor Nachbarn, Kollegen und Freunden, dann ist es für das Regime sehr viel einfacher, an der Macht zu bleiben. „Einigkeit“ ist hier nicht mehr als ein schönes Wort. Es bedeutet, dass man sich den allmächtigen Silowiki beugt. Und die Angst, einen Schritt nach links oder rechts zu machen – weil dann die Wachmannschaften ohne Vorwarnung das Feuer eröffnen.

    Keine horizontalen Strukturen, keine Zusammenarbeit. Jeder hat Angst vor jedem. Das ist es, was die Einigkeit mit den Silowiki bedeutet. Also die uralte Maxime „teile und herrsche“, die auf eine weitere Spaltung der Gesellschaft abzielt.

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  • „Hat es in Belarus wirklich einen Wertewandel gegeben?“

    „Hat es in Belarus wirklich einen Wertewandel gegeben?“

    Auch bei den historischen Protesten im Jahr 2020 in Belarus waren immer wieder Regenbogenfahnen zu sehen. Den politischen Selbstermächtigungsprozess unterstützten Menschen unterschiedlichen Alters, aus den verschiedensten Berufen und den unterschiedlichsten sozialen Gruppen. So war auch die durchaus aktive LGBT-Szene des Landes dabei, die in den vergangenen 15 Jahren sich und ihren Anliegen als Teil der Zivilgesellschaft immer mehr Gehör verschafft hat. 

    Homosexualität wird in Belarus seit 1994 nicht mehr per Gesetz verfolgt und geahndet, stößt in weiten Teilen der konservativen Gesellschaft aber immer noch vielerorts auf Ablehnung. So kommt es nicht nur durch die Vertreter des Systems Alexander Lukaschenko immer wieder zu öffentlichen Beleidigungen, sondern auch zu Anfeindungen durch Aktivisten konservativer oppositioneller Gruppen. Der LGBT-Aktivist Andrej Sawalei nimmt dies zum Anlass, sich in einer Kolumne für das Online-Medium KYKY ordentlich Luft zu machen. Dabei fordert er, dass auch die neue demokratische Bewegung echte Toleranz gegenüber der LGBT-Community noch lernen müsse. 

    Vor langer Zeit, 2017, war ich mit meiner Freund:in Gleb Kowalskaja mal auf der Suche nach unwiderlegbaren Belegen, dass es in Belarus Homophobie gibt. Das war eine ganz schön mühselige Angelegenheit.

    Damals konnten sich nur wenige anständige öffentliche Figuren eine homophobe Rhetorik erlauben, etwa Pawel Sewerinez und Eduard Paltschys (sie sind heute politische Gefangene). Und auch unter den Vertreter:innen des Regimeapparats waren nicht allzu häufig Adepten einer offenen Homophobie anzutreffen: Beiden Seiten erschien es vor fünf Jahren nicht comme il faut. Für die groben Ausfälle von Schunewitsch im Stile eines homophoben Gandalf musste sich [der damalige Außenminister] Makei sogar entschuldigen. Von ihm stammt auch das meiner Meinung nach LGBT-freundlichste Zitat aller Politiker in der gesamten Geschichte des unabhängigen Belarus: „Das Thema der traditionellen Familie und der Minderheitenrechte ist sehr wichtig und nicht alles ist da eindeutig.“

    Aber wie heißt es so schön: Ich bin nicht homophob, aber …

    Damals kamen Gleb und ich bei einer Literpulle Tschernihiwske zu dem Schluss, dass der deutlichste Beleg für ein homophobes Belarus in einem Doppelmord auf der Grundlage von Hass bestehen würde, den wir begehen, indem wir uns gegenseitig Messer ins Herz stießen. Am helllichten Tag, auf dem Höhepunkt der Herbst-Verkaufsmesse für Kartoffeln und rote Beete in der Traktorenfabrik.

    Es schien, als wäre es nur so möglich, die wirkliche Dimension des Problems in unserem Land offenzulegen, wo die Existenz von Homophobie nicht nur von sowjetoiden Bürokratenärschen und regimetreuen Richter:innen geleugnet wird: Die weigern sich, das Motiv Homophobie bei offensichtlich durch Hass begründete Verbrechen zu erkennen. Das geschieht aber auch bei demokratisch gesinnten Personen des öffentlichen Lebens.

    Bemerkenswert ist, dass damals auch die Bitte laut wurde, den Begriff „homophob“ nicht auf sie anzuwenden – als sei das etwas Beleidigendes, oder etwas, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hätte. Dass das „Brandmal homophob“ unerwünscht war, spiegelte in gewissem Maße das Bedürfnis wider, das Einzigartige an der eigenen Position zu unterstreichen, die keineswegs zu Gewalt aufrufe und nicht konservativ oder veraltet sei. Die sogar im Gegenteil sehr fortschrittlich und weitsichtig sei. Man akzeptiere einfach nicht die „Propaganda“, dass „uns fremde Werte“ aufgenötigt werden oder überhaupt unsere Seelen vor der Sünde „bewahrt“ würden. Diesen ganzen Schwachsinn. Aber wie heißt es so schön: Ich bin nicht homophob, aber …

    Unterdessen aber scheinen Vertreter des Regimes wie auch Verfechter demokratischer Vorstellungen mitunter zu denken, dass sie durch homophobe Ausfälle aller Art nichts zu verlieren haben. Sei es die Erniedrigung von Schwulen, mit dem der Protest im Telegram-Kanal des kriminalitäts- und korruptionsbekämpfenden GUBOPIK diskreditiert wurde, oder aber die zauberhafte Werbesprache von Stepan Putilo („schwule Looser“), der damit gewissermaßen andeutete, dass es etwas angenehmer sei, schwule Angehörige der OMON zu hassen, als OMON-Mitglieder „normaler Orientierung“. Oder andere homophobe „Scherze“ von durchaus anständigen Leuten, die uns – statt uns LGBT-Menschen als gleich anzuerkennen – instrumentalisieren und dämonisieren, indem wir zu Feinden, widerlichen Monstern oder Sündenböcken gemacht werden.

    Solche homophoben Ausfälle mögen zwar sehr bequem sein, doch bringen sie der hellen Seite der Macht, den Jedis, nicht die erwartete Dividende, und können dies per definitionem auch nicht: Diese schmutzigen Tricks nützen schließlich allein den dunklen Siths und können den Jedi ihr Karma nur verderben.

    Das Bestreben, Schwule zu erniedrigen, kann die Lage regimetreuer Gestalten schon nicht mehr verschlechtern (die haben eh nichts zu verlieren). Die progressive prodemokratische Bewegung aber hat jedes Plus für ihr Karma bitter nötig. Und wenn man es dort unterlässt, öffentlich die Ehre und Würde von LGBT-Menschen als unverrückbare Größe anzuerkennen, wird man keine Punkte sammeln. Im Gegenteil: Sie werden von uns keine große Unterstützung bekommen. Und wenn man denn der Propaganda glaubt, dann könnte die widerliche Schwulenlobby in der Tat ganz humorlos den teuflischen Plänen der Fünften Kolonne Vorschub leisten.

    Echte Toleranz muss sich in der Praxis erweisen

    Wenn meine Freunde aus der Ukraine auf Insta Stories schreiben: „Ihr Schwuchteln, was macht ihr da!“, wobei sie sich an die russischen Besatzer wenden, die ihre Städte vernichten und unschuldige Menschen umbringen, muss ich mich sehr zurückhalten. Denn das folgt dem Motto: „jetzt ist nicht die Zeit dafür“, „erst besiegen wir den Feind, dann kümmern wir uns um die Homophobie“, „verwässere nicht die Agenda“ … Und das ist ein Fehler. Den gleichen Fehler habe ich 2020 gemacht, als ich meine LGBT-Agenda hintenanstellte, um unsere „gemeinsame belarussische“ Agenda nicht aufzuweichen (, ach die arme).

    Doch wenn unsere gemeinsame Agenda derart wackelig ist, dass sie durch ein Foto von einer Demonstration in Minsk verwässert wird, auf dem sich junge Frauen unter einer weiß-rot-weißen Flagge vor belarussischen Soldaten im Hintergrund küssen, dann stimmt vielleicht irgendwas mit dieser Agenda nicht?

    Putin schickt seine Truppen ins Nachbarland und verkündet von der Tribüne herab, dass sie angeblich die traditionellen Traditionen und hochwertvollsten Werte vor eben diesen Schwuchteln schützten, die gemeinerweise wollen, dass es ein Elternteil eins gibt und ein Elternteil zwei gibt. 

    Es kommt zu einer fundamentalen Auswechselung der Begriffe und dadurch zur Manipulation. Und dieses Durcheinander muss entwirrt werden, man muss klarmachen, wer „diese Schwuchteln“ sind. Wo ist der Unterschied zwischen dem Ruf „Für euch, ihr Schwuchteln!“ bei Bachmut, wenn eine Rakete auf die Besatzer abgeschossen wird, die gekommen sind, dein Haus zu zerstören, und dem Ruf „Da kommen die Schwuchteln“, bevor man einem Unbekannten, der am Sonntagmorgen aus einem Schwulenclub in Minsk kommt, ins Gesicht schlägt, und dem abfälligen „Arschficker kommen hier nicht rein“ aus dem Mund von Schunewitsch?

    Ihr werdet überrascht sein: Es gibt da offen gestanden keine Grenze! In jeder dieser Situationen werden LGBT-Menschen dämonisiert oder als etwas Negatives oder Widerliches markiert. In jeder dieser Situationen wird Gewalt legitimiert, weil es angeblich einen Grund gibt, sich „zu schützen“. Dabei muss man verstehen, dass „Schwuchteln“ vollkommen abstrakte, stereotype Gestalten sein können. Oder es sind einfach von Propaganda-Idioten erfundene Horrorgeschichten. Die Opfer dieser von Homophobie genährten Gewalt hingegen sind ganz real. Man hat uns weismachen wollen, dass ein Überfall auf Belarus vorbereitet wurde und „sie“ gezwungen waren, einen Präventivschlag zu führen. Genau so hat der Mörder von Michail Pischtschewski vor Gericht erklärt, dass er eine Bedrohung wahrgenommen habe und gezwungen gewesen sei, sich zu verteidigen. Dabei holte er weit zu einem „Präventivschlag“ gegen einen Kiefer aus, der dazu führte, dass Mischa 20 Prozent seines Gehirns entfernt werden mussten, dass er 16 Monate im Koma lag und dass er schließlich starb.

    Solange wir uns nicht bewusst machen, dass Homophobie tatsächlich das Böse, Krieg und Zerstörung in sich trägt, solange wir Versuche weißwaschen, die eigenen Werte mit Hass gegen Mitmenschen zu „verteidigen“, wird unsere Agenda marode und leicht zu verwässern sein.

    Uns wurde von der Kindheit an gesagt, die Belaruss:innen seien sehr tolerant. Aber seien wir ehrlich: Es ist sehr leicht, abstrakt „andere“ Menschen zu respektieren, ohne tatsächlich mit ihnen in Berührung zu kommen – wenn diese „anderen“ im öffentlichen Raum praktisch nicht vorhanden sind. Öffentlich erkennbare LGBT-Menschen lassen sich landesweit an einer Hand abzählen, und selbst in Minsk begegnet man nur selten Menschen mit einer anderen Hautfarbe als der weißen …

    Echte Toleranz, nämlich die Respekt vor unseren Unterschieden, muss sich in der Praxis erweisen, wenn einem im Freundeskreis nämlich nicht die Ohren dröhnen von Scherzen mit Anflügen von Antisemitismus, Islamophobie, Frauenhass oder Homophobie. Wenn Schwarze auf der Straße nicht von Passant:innen angegafft werden. Es bedeutet nicht, dass man plötzlich alle „anderen“ dieser Welt mögen muss. Man kann die Würde eines Menschen selbst dann respektieren, wenn man diese oder jene Werte anderer nicht teilt oder sie gar letztendlich nicht versteht. Man muss nur einem Menschen schlicht das Recht zubilligen, er oder sie selbst zu sein, auch wenn jemand einem vielleicht nicht gefällt. Und die Antwort auf die Frage, warum einem dieser konkrete Mensch nicht gefällt, wird einem sehr viel Interessantes offenbaren, nämlich über sich selbst.

    Wenn ich vor 2020 in den sozialen Netzwerken in den eher seltenen Beiträgen über LGBT homophobe Kommentare las, dachte ich für mich: „Nun, das sind wohl im Grunde Lukaschisten. Es kann ja nicht sein, dass Leute nach Demokratie streben und dann sowas schreiben.“ Nach 2020 wurden solche LGBT-Beiträge noch seltener, doch die Zahl der homophob Kommentierenden blieb gleich, und viele von ihnen schmücken sich mit dem Pahonja und mit weiß-rot-weiß.

    Und ich frage mich: Hat es in Belarus wirklich einen Wertewandel gegeben? Werden in einem neuen Belarus wirklich neue Institutionen ein neues Niveau an Respekt für die Bürger:innen des Landes zeigen? Oder gibt es bei der Rhetorik von „manchmal geht es nicht um Gesetze“ [Zitat von Lukaschenko gegenüber Strafverfolgern im Kontext der Proteste von 2020 – dek] und „zuerst Demokratie, dann alles andere“ doch einen gemeinsamen Nenner, nämlich den fehlenden Respekt für die Rechte von LGBT-Menschen?

    Der Diktator kann auf seine Bürger:innen pfeifen und sie zutiefst erniedrigen, weil seine Macht auf Angst und Terror beruht, und weil die Menschen nichts als Figuren auf einem Schachbrett sind. Innerhalb der Bewegung für ein freies Belarus aber muss jede und jeder respektiert werden, und zwar nicht irgendwann nach dem Sieg einer Revolution, sondern konkret, hier und jetzt.

    Wenn man sich unsere Unterstützung sichert, könnte ein Schritt hin zu einer solchen Solidarität getan werden, einer Solidarität, für die bei unseren Demonstrationen Flaggen sämtlicher Coleur von Bedeutung sind. Weil hinter jeder dieser Flaggen Menschen stehen, und weil die Flagge für uns konkret einen riesigen Wert darstellt. Und in unseren Reihen werden die Werte gegenseitig respektiert, oder?

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  • Mörder mit Tapferkeitsorden

    Mörder mit Tapferkeitsorden

    „Gibt es jemanden, der euch trotz zehnjähriger Haftstrafe aus der Zone holen kann? Es gibt genau zwei, die das können: Allah und Gott – und zwar in einer Holzkiste. Aber ich hole euch lebendig hier raus.“ Allem Anschein nach sagt diese Worte auf einem Videomitschnitt Jewgeni Prigoshin, Chef der berüchtigten Söldnergruppe Wagner, dem die ukrainische Generalstaatsawaltschaft Kriegsverbrechen vorwirft. 

    Das Begnadigungsrecht übt in Russland der Präsident aus. Anfang Januar haben Journalisten den Präsidentensprecher gefragt, ob Prigoshin recht hat, dass einige Häftlinge-Söldner begnadigt wurden: Peskow wich einer Antwort aus, indem er zweimal wiederholte, dass eine Begnadigung nur im strikten Einklang mit dem Gesetz erfolgen könne.

    Es ist nicht bekannt, wie viele Gefängnisinsassen in den russischen Krieg gegen die Ukraine gezogen sind und wie viele begnadigt wurden. Die Journalistin Nina Abrossimowa hat für Holod und Nowaja Wkladka mit einem von ihnen gesprochen: Stanislaw Bogdanow aus Weliki Nowgorod wurde wegen brutalen Mordes zu 23 Jahren Haft verurteilt. 2022 zog er in den russischen Krieg und kehrte ohne Bein aus der Ukraine zurück. 

    Achtung, dieser Text enthält drastische Darstellungen von Gewalttaten.

    Im Oktober 2022 bekam die Rentnerin Olga Pawlowa von mehreren Bekannten denselben Link geschickt zu einem zweiminütigen Video. Fünf Männer sitzen abends auf dem Dach eines Hotels und unterhalten sich. Zwei von ihnen fehlt ein Bein, einem ein Fuß, einem ein Arm. Der einzige unversehrte Gesprächsteilnehmer ist der Gründer der Söldnergruppe Wagner Jewgeni Prigoshin.

    „Aus der TschWK Wagner entkommt man nur als Rentner oder im Zinksarg”, sagt Prigoshin und lacht. „Alles klar, was soll schon sein, alles in Ordnung, oder?”
    „Ja, alles in Ordnung”, antwortet der junge Mann ohne Bein im grauen Hoodie. „Von so etwas hier hätte ich in meiner Situation nur träumen können. Im Fernsehen sehen und träumen.”
    „Wie lange hättest du noch sitzen müssen?”, fragt Prigoshin interessiert nach.
    „Zehn hatte ich schon, 13 musste ich noch. Viel.”
    „Du warst – so nennt man das – ein Gesetzesbrecher, jetzt bist du ein Kriegsheld.”

    Du warst ein Gesetzesbrecher, jetzt bist du ein Kriegsheld

    Pawlowa wird übel. Der „Gesetzesbrecher” – Stanislaw Bogdanow – hat vor zehn Jahren ihren Bruder totgeschlagen. Sie hatte die Leiche gefunden und danach das Haus von den Blutspuren befreit. Das Gericht hatte den Mörder zu 23 Jahren Strafkolonie mit strengem Regime verurteilt. Nun sitzt er auf einem Rattansofa, im Hintergrund die nächtliche Stadt, auf seinem Hoodie prangen Orden.

    Am nächsten Tag veröffentlicht die Nachrichtenagentur RIA FAN, die Prigoshin gehört, ein weiteres Video: dieselben vier verletzten Männer bekommen der Reihe nach rote Samtkästchen mit Tapferkeitsorden und Gedenkanstecker der Söldnergruppe Wagner für ihre Verwundungen, Urkunden vom Chef des Nationalen Zentrums für Verteidigungsverwaltung, Pässe und Begnadigungsbescheinigungen; das alles findet, wie die Nachrichtenagentur mitteilt, im Krankenhaus von Luhansk statt. In einem kurzen Interview nach Überreichung der Auszeichnungen teilt Bogdanow mit, dass er das Bein während eines nächtlichen Beschusses verloren habe: „Ein Geschoss traf meinen Kumpel, das zweite mein Bein.”

    Gibt es jemanden, der euch aus der Zone holen kann?

    Mit der Anwerbung von Strafgefangenen für den Krieg gegen die Ukraine hatte die Söldnergruppe Wagner im Sommer 2022 begonnen. Auf dem Video aus Joschkar-Ola, das Mitstreiter von Alexej Nawalny veröffentlichten, kam Prigoshin persönlich und versprach den Verurteilten, dass man sie nach einem halben Jahr Vertragsdienst begnadigen würde. „Zur Frage nach den Garantien und dem Vertrauen: Gibt es jemanden, der euch trotz zehnjähriger Haftstrafe aus der Zone holen kann? Was meint ihr?“, sagt der Geschäftsmann auf dem Videomitschnitt. „Es gibt genau zwei, die das können: Allah und Gott – und zwar in einer Holzkiste. Aber ich hole euch lebendig hier raus. Nur bringe ich euch nicht unbedingt lebendig zurück.“ Neben dem Versprechen auf Freiheit gab es das auf Entlohnung: Die Häftlinge sollten genauso viel bekommen wie die regulären Wagner-Kämpfer und eine „Sargprämie“ in Höhe von fünf Millionen Rubel [gut 60.000 Euro – dek] im Falle des Todes an der Front. Laut Olga Romanowa von der Organisation Rus sidjaschtschaja meldete sich in verschiedenen Kolonien im Durchschnitt jeder Fünfte für den Dienst in der Wagner-Gruppe.

    Auch Stanislaw Bogdanow, der wegen Mordes in der Strafkolonie IK-7 Pankowka in seiner Heimatstadt Nowgorod einsaß, unterzeichnete den Vertrag. Schon Anfang August fand er sich in den Schützengräben bei Luhansk wieder, wurde jedoch bald verwundet – und traf sich einige Wochen später mit Prigoshin in Gelendshik.

    Hallo Nina. Warum wühlen Sie in der Vergangenheit herum?

    Mitte November bekam ich eine Nachricht von Bogdanow im sozialen Netzwerk VKontakte: „Hallo Nina. Warum wühlen Sie in der Vergangenheit herum? Ich bin keine bekannte Persönlichkeit, meine Vergangenheit interessiert niemanden. Jetzt werden sie Dreck über mich verbreiten. Egal, was ich sage oder schreibe, es wird sowieso alles verdreht. So viele Jahre sind vergangen und alles umsonst. Ich werde mich nicht bemitleiden. Was war, das war, man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ja, ich habe lange gesessen, und das hat mich geprägt, ich bin geduldiger geworden und kann gut mit der Traurigkeit umgehen. Es war meine Entscheidung, mich der Wagner-Gruppe anzuschließen, niemand hat mich dazu gezwungen.“

    Eine halbe Stunde später folgte noch eine Nachricht: „Ich habe nicht vor, in mein altes Leben zurückzukehren. Ich werde nur nach vorne sehen, so wie man es mir beigebracht hat, und ich werde die Jungs nicht vergessen. Sie bleiben in meiner Erinnerung, sie waren bis zum Ende bei mir, und ich werde an sie denken, solange mein Herz schlägt. … Hören Sie auf zu urteilen. Ich habe das gemacht, um mein Land zu verteidigen, um etwas zu ändern, ich habe nichts zu verlieren, ich würde auch mein Leben hergeben, wenn es sein muss. Aber nur für den Sieg unseres Landes …“

    Ich schlug Bogdanow vor zu telefonieren. Er schickte mir seine Nummer.

    Bogdanow verkehrte in Kreisen, wo „fast jeder kriminell war”

    Bogdanow und sein Opfer Sergej Shiganow lebten in Nowgorod ganz in der Nähe voneinander, aber sie kannten sich nicht und wären wahrscheinlich auch keine Freunde geworden. Der 32-jährige Sergej war junger Richter, trug eine Taschenuhr mit Kettchen, wünschte sich die Wiedereinführung der Monarchie und las Fantasyromane. Eines der Zimmer in seiner Wohnung hatte er im viktorianischen Stil dekoriert: dunkle Möbel, Seidentapete, an den Wänden Deko-Schilde und -Schwerter. „Es sah nicht unbedingt aus wie ein Rittersaal aus dem 14. Jahrhundert, aber sehr interessant“, sagte ein Zeuge, der einmal dort zu Besuch war.

    Der 25-jährige Bogdanow verkehrte in Kreisen, in denen laut seiner Aussage „fast jeder kriminell war: manche hatten gesessen, andere waren auf Bewährung draußen, wegen Raubüberfällen, Vandalismus“. Er selbst hatte Anfang der 2010er Jahre bereits viereinhalb Jahre Haft wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung, Vandalismus, Raubes und Autodiebstahls abgesessen. Er fuhr ohne Führerschein Auto: „Wenn sie mir [das Auto] wegnehmen – auch egal.“ Arbeitete auf dem Bau. Trank billiges Bier. Weil er nuschelte, nannten ihn seine Bekannten Mjamja.

    Am Sonntag, den 23. September 2012, fuhr Bogdanow in die Ortschaft Krestzy, eine Autostunde entfernt von Nowgorod: Er sollte Freunden auf einer Baustelle aushelfen. „Als ich hinkam, hingen sie gerade mit ein paar Mädels rum. Ich hab mitgemacht. Natürlich hab ich auch ein paar Bier getrunken.“

    Shiganow hat eine Bestie in mir geweckt

    Auch Richter Shiganow fuhr an dem Abend nach Krestzy: Er lebte und arbeitete dort, Familie hatte er keine. Die Wochenenden verbrachte er lieber in seiner Wohnung in Nowgorod und kehrte zum Anfang der Arbeitswoche zurück in das Haus, das er von seiner Großtante geerbt hatte.

    Gegen 23 Uhr kam Shiganow bei seinem Haus an. Der betrunkene Bogdanow und sein Freund saßen gerade ganz in der Nähe im Auto. Als Shiganow versuchte, das Tor aufzuschließen, klemmte es, und er fragte die beiden Männer nach Hilfe. Bogdanow sprang über den Zaun und schob den Riegel nach oben. Shiganow bat seine neuen Bekannten rein. Dann, erzählt Bogdanow, habe ihn der Richter gefragt, ob er schon mal gesessen hätte und warum – und daraufhin wohl gesagt, er möge doch bitte nichts aus seinem Haus klauen. Das brachte Bogdanow laut eigener Aussage auf die Palme. „Er hat noch so dumm gegrinst, dachte wohl, er geht aufs Klo und ich räum in der Zeit seine Bude leer“, erinnert er sich. „Da hab ich diesen Schürhaken genommen und ihm den Schädel eingeschlagen. Er stand natürlich wieder auf: Er war 1,95, einen Kopf größer als ich, und 40 Kilo schwerer. Was sollte ich mit ihm machen? Den Rest erledigte ich von Hand.“

    Bogdanow quälte sein Opfer bis fünf Uhr morgens

    „Shiganow hat eine Bestie in mir geweckt. Ich war selbst überrascht. Als hätte mir der Teufel auf die Schulter geklopft und gesagt: ‚Komm, Stas, mach jetzt, schlag ihn tot, niemand braucht den Typen auf dieser Erde!‘, erzählt Bogdanow weiter. „Sie wissen doch, wie der sich aufgeführt hat, oder? Wie diese Richter durch die Gegend fahren? Rasen besoffen, fahren die Leute tot – und kommen davon. Das wissen Sie doch, oder? Haben Sie diese Videos gesehen? Wie die in diesen schicken Bars sitzen? Und dann mit einer Knarre rausgehen und einfach jemanden abknallen?“ Als ich erwiderte, dass von Shiganow nichts dergleichen bekannt sei, antwortete Bogdanow, dass er „ja grad erst so einer geworden“ sei: „Außerdem, wer weiß, vielleicht hat er kleine Mädchen vergewaltigt.“

    Bogdanow quälte sein Opfer bis fünf Uhr morgens, indem er seine Versuche aufzustehen oder sich irgendwie zu einigen, mit dem Schürhaken unterband. Bogdanow fand weder Geld noch Schmuck, zwang Shiganow aber unter Folter dazu, die PIN-Codes zu seinen Bankkarten rauszugeben. Den tödlichen Schlag versetzte Bogdanow ihm mit einer Hantel: Ließ sie dreimal aus der Höhe seiner Körpergröße auf dessen Kopf fallen.

    „Erst wollte ich das Bügeleisen nehmen, aber das hat scharfe Kanten, und die Hanteln waren rund“, erklärt Bogdanow ungerührt. „Ich dachte, ich sollte lieber nicht alles mit Blut vollspritzen, und schlug ihn mit der Hantel. Naja, um sein Gehirn nicht überall zu verteilen.“

    In der Strafkolonie IK-7 verbrachte Stanislaw Bogdanow zehn Jahre: Das Gericht verurteilte ihn zu 23 – selbst für Mörder ein hartes Strafmaß –, weil er Wiederholungstäter war und die Tat mit einem Raubüberfall einherging.

    Ich sagte, dass ich was in meinem Leben verändern will, ausprobieren will, wozu ich noch fähig bin

    Vom Beginn des *** (der „Spezialoperation“) erfuhren sie in der Strafkolonie über den Fernsehsender REN-TV. Bogdanow war den Nachrichten gegenüber skeptisch. „[Dort wurde gesagt, dass] das Verteidigungsministerium vorrückt, jeden Tag um zwei, drei Kilometer. Ich zählte das zusammen und da kam für mich raus, dass wir schon bis Polen gekommen sein müssten, bis Warschau“. Als dann Jewgeni Prigoshin in die Strafkolonie kam und den Häftlingen vorschlug, in den Krieg zu ziehen, meldete sich Bogdanow sofort. „[Ich wurde gefragt,] warum ich das will“, erinnert er sich an das Gespräch, das nach seinen Worten mit Prigoshin selbst stattfand. „Ich sagte, dass ich was in meinem Leben verändern will, ausprobieren will, wozu ich noch fähig bin, außer zu diesem Leben hier.“

    Die Kolonieverwaltung erlaubte den Häftlingen nicht, persönliche Sachen mit in den *** (die „Spezialoperation“) mitzunehmen. „Die Leute vom FSIN [dem Föderalen Strafvollzugsdienst – dek] sagten: ‚Ihr dürft nichts mitnehmen, nur ein paar Schachteln Zigaretten‘,“ erzählt Bogdanow. „Und als wir [auf der Wagner-Basis] ankamen, bekamen wir zu hören: ‚Warum habt ihr nichts dabei? Sind die denn dort völlig verrückt geworden?‘ Sie mussten dann natürlich alles für uns kaufen. Handtücher, Seife und Zahnpasta. Socken und Unterhosen. Wir bekamen gute Kleidung. Zwei Paar Stiefel, Jacken, drei Anzüge. Und Sportschuhe. Da gab es überhaupt keine Probleme. Die Jungs fingen an zu streiten: „Scheiße, wir geh’n da als Kanonenfutter hin, oder?“ Ein anderer sagte: „Was laberst du denn von Kanonenfutter, die haben viele Millionen in uns reingesteckt, schau mal unsere krasse Ausrüstung!“

    Während der einwöchigen Ausbildung hatte er zum ersten Mal ein Sturmgewehr in der Hand

    Während der Ausbildung bei Wagner lernte Bogdanow, mit einem Sturmgewehr zu schießen; er hatte da zum ersten Mal eines in der Hand – er war nicht bei der Armee gewesen. Auch war er noch nie einen ganzen Tag bei Hitze mit einer Schutzweste herumgelaufen. Erholung gab es keine. Wo genau er ausgebildet wurde, erzählt Bogdanow nicht. Seinen Angaben zufolge dauerte die Ausbildung eine Woche; ein anderer Häftling, der zusammen mit Bogdanow ausgezeichnet wurde, sagte gegenüber der RIA FAN, dass sie „praktisch einen Monat lang“ trainiert wurden.

    Am 31. Juli wurde Bogdanow zusammen mit anderen Häftlingen aus seiner Strafkolonie (rund 200, sagt er) in die Ukraine geschickt. Dort wurden sie im Gebiet Luhansk eingesetzt. Bogdanow sagt, seine „Arbeit“ bestand darin, „etwas zu schlafen, sich aufzurappeln und vorzurücken“.

    „Wir waren vorbereitet, aber nicht darauf, dass derart auf uns eingedroschen wird“, erzählt er. „Wenn da was aus dem Nichts angeflogen kommt, heilige Scheiße! Da ist es schwer, auch nur einen Tag zu überleben. Es gab da Leute, die kamen an und waren einen Tag später schon nicht mehr am Leben. Da muss man sich jeden Schritt überlegen.“

    Bogdanow selbst hielt sich acht Tage an der Front. Am Abend des 7. August, sagt er, habe die ukrainische Seite seine Gruppe mit Panzern beschossen: In der Dunkelheit sah er etwas grell aufblitzen, dann riss ihm ein Granatsplitter die Wade ab – sie hing nur noch an einer Sehne. Bogdanow schrie laut auf: „Dreihunderter!“ (das bedeutet „Verletzter“). Er wurde verbunden und man rief die Rettungsgruppe. Er machte sich Sorgen, dass man ihn nicht herausholen würde. Er sagt, dass seine Einheit am Morgen des selben Tages erst dort Position bezogen hatte und der Weg dorthin noch nicht gesichert war: Überall lagen schwer zu erkennende Schmetterlingsminen. Ihm kam der Gedanke, ob er sich nicht besser erschießen sollte, um nicht mehr die Schmerzen ertragen zu müssen. Er hielt es aber aus, bis dann seine Leute mit der Trage kamen.

    Sein Leben nach der Verwundung bezeichnet Bogdanow als „Märchen“

    Im Krankenhaus in Luhansk wurde Bogdanow das Bein unterhalb des Knies amputiert. 
    Sein Leben nach der Verwundung beschreibt Bogdanow als „unvorstellbar” und „wie im Märchen“. Im November war er mit anderen verwundeten Wagner-Söldnern in der Reha, nämlich in einem Sanatorium im Dorf Witjasewo bei Anapa. Sie waren in Zweibettzimmern untergebracht, lebten auf einem umzäunten Gelände, durften aber zum Einkaufen (solange es nicht um Alkohol oder Energiedrinks ging) oder zum Strand gehen.

    Irgendwann wurde für die verwundeten Söldner ein Ausflug organisiert. Sie gingen im Alten Park in Kabardinka zusammen mit anderen Touristen spazieren. Das hat Bogdanow gefallen: „Wir sind ja solche Jungs, wir sitzen unser ganzes Leben im Knast, keiner hat je was anderes gesehen.“ Für alle Fälle fügt er hinzu, dass die Gruppe „niemanden angefallen hat“.

    Die Reha-Ärzte haben Bogdanow auf eine Prothese vorbereitet. Seit dem 24. November hat er sich nicht mehr gemeldet; ob die Operation stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Sein verhärteter Stumpf mit tiefen Narben wurde mit Elektroschocks gelockert, ihm wurden Videos mit Übungen gezeigt, die er im Sportstudio beim Sanatorium machen konnte. Die ganze Zeit über erhielt der ehemalige Häftling von der privaten Militärfirma Sold ausgezahlt: 200.000 Rubel im Monat [rund 3000 Euro – dek].

    „Ich bau mir ein Leben auf, was denkst denn du!“, sagte Bogdanow, als ich ihn fragte, was er mit dem Geld vorhat. „Jetzt ist Schluss mit dem Klauen, jetzt muss ich Geld verdienen, ein Haus bauen und von vorn anfangen. Ich geh‘ auf den Friedhof, zum Grab von diesem Richter, werde nicht mal trinken, sondern einfach eine Weile sitzen und mich bei ihm entschuldigen. Wir hatten zusammengesessen, getrunken, es kam zum Streit und ich habe ihn umgebracht. ‚Verzeih, Bruder‘, das werde ich ihm sagen!“

    „Und bei seiner Mutter oder seiner Schwester wollen Sie sich nicht entschuldigen?“

    Bogdanows Antwort war, dass das nichts ändern würde. „Das würde alles wieder aufreißen, damit würde ich es nur verschlimmern. Vielleicht würde sie [die Mutter] sterben? Das Herz [macht es vielleicht nicht mit]. Dann bringen sie mich wieder hinter Gitter und beschuldigen mich, dass ich sie vergiftet oder erschlagen habe.“

    Der Alptraum wiederholt sich in klein

    Olga Pawlowa erzählt, dass Sergej Shiganows 83-jährige Mutter nach dem Tod ihres Sohnes in dessen Wohnung gezogen ist. Alle Sachen, die dem ermordeten Richter gehörten, lässt sie an ihrem Platz; ihre eigenen Mäntel hängt sie auf den Balkon.
    „Sie rührt nichts an und lässt auch mich nicht“, sagt Shiganows Schwester. „Sie bringt es nicht übers Herz, etwas wegzugeben. Ich frage nicht nach. Immer heißt es sofort: ‚Das gehört Serjosha.‘ Am Anfang hat sie mich sogar [gerufen]: ‚Serjosha! … Ach Gottchen, Olga!‘ Hat uns verwechselt.“

    „Als das jetzt wieder hochkam – und dass er [Bogdanow] zurück ist, da hatte ich wieder dieses Bild im Kopf mit dem Blut auf dem Boden und der Leiche“, setzt Pawlowa fort. „Als ob sich der Albtraum in klein wiederholte.“

    Der Mutter hat sie die Neuigkeit nicht erzählt, sie hat auch alle Bekannten um Verschwiegenheit gebeten. Trotzdem fanden sich solche „Wohlmeinenden“, die es erzählten. „Zuerst war sie noch so na ja, aber am nächsten Tag war sie fix und fertig“, sagt Pawlowa. „Nach dem Motto: Was soll das, mein Sohn ist tot, und der sitzt da mit seinen Medaillen und Ehrungen. Und die Strafe ist erlassen.“ (Zu Shiganows Mutter konnte ich keinen Kontakt herstellen.)

    Begnadigt werden kann ein Häftling nur per Erlass des russischen Präsidenten. Bisher wurde kein einziger solcher Erlass veröffentlicht. Anfang Januar berichteten jedoch RIA Nowosti und RIA FAN von zwei weiteren Dutzend begnadigten Häftlingen, die angeblich ein halbes Jahr an der Front verbracht hatten (zusätzlich zu Bogdanow und den anderen drei Männern, die Prigoshin im Oktober ausgezeichnet hat). Auf die Frage von Journalisten, ob der Präsident entsprechende Amnestien unterzeichnet habe, wich Putins Pressesprecher Dimitri Peskow einer Antwort aus, indem er zweimal wiederholte, dass eine Begnadigung nur im strikten Einklang mit dem Gesetz erfolgen könne. 

    Wenn ich nicht diesen Weg eingeschlagen hätte, wären diese Nazis durchmarschiert. Die wären bis nach Russland gekommen, Mannomann, und hätten es plattgemacht

    Ich erzählte Bogdanow, wie Shiganows Familie auf seine Freilassung reagiert hat.
    „Das hat nichts mehr mit mir zu tun. Es heißt ja, die Zeit heilt“, sagte er.
    „Die Mutter hat die Zeit irgendwie nicht geheilt.“
    „Dann ist es nicht meine Schuld.“
    „Sie haben ihrem Sohn das Leben genommen – für sie sind Sie schuldig, und dabei sind Sie in Freiheit und haben einen Orden.“
    „Vielleicht habe ich ja jemand anderem das Leben gerettet, indem ich mein Leben, meine Gesundheit riskiert habe.“
    „Wem denn?“
    „Na ja, das wissen wir noch nicht, wem ich das Leben gerettet habe, womöglich. Werden wir auch nie erfahren. Weil, wenn ich nicht diesen Weg eingeschlagen hätte, wenn niemand diesen Weg gegangen wäre, dann wären diese Nazis durchmarschiert und hätten dort die Leute umgebracht. Die wären bis nach Russland gekommen, Mannomann, und hätten es plattgemacht. Was dann?“

    Ich hab jetzt ein neues Leben. Ich hab neue Kumpel, neue Freunde, eine neue Familie. Denen bleibe ich treu

    Bogdanow sieht seine Zukunft in den Wagner-Strukturen. „Ich finde, sie haben mir eine Tür geöffnet“, erklärt er. „Wozu behandeln sie uns denn jetzt? Ja wohl nicht, um uns zu entlassen, wenn wir gesund sind. Dieses Unternehmen wächst, und es lässt seine Leute nicht im Stich. Wir werden immer Geld haben. Wir werden Arbeit haben, auch wenn dieser Krieg vorbei ist. An anderen Orten wird er weitergehen.“

    In seiner Heimatstadt Nowgorod verspricht Bogdanow nicht mehr aufzutauchen. „Ich habe da niemanden. Wenn ich hinfahre, seh ich wieder diese Saufköpfe, meine Kumpel, Freundinnen. Wo waren sie die ganzen zehn Jahre? Ich hab Scheiße gebaut, ja, hab jemanden umgebracht. Na, und vorher war ich brav, oder was? Jetzt rufen sie mich an, schreiben: ‚Wieso antwortest du nicht?‘ Mir reicht’s, ich blockiere sie alle! Ich hab jetzt ein neues Leben. Ich hab neue Kumpel, neue Freunde, eine neue Familie. Denen bleibe ich treu.“

    Das Video mit Bogdanows Auszeichnung ging durch Dutzende öffentliche Kanäle auf VKontakte und rief unterschiedliche Reaktionen hervor. Die einen nennen den Ex-Häftling einen „Vampir und Menschenfresser“ und haben Angst vor seiner Rückkehr in die Stadt, für die anderen ist er ein Held, der [das Verbrechen] „mit Blut abgewaschen hat“. Letztere schlugen vor, Bogdanow in den Patriotismus-Unterricht „Gespräche über das Wichtige“ an Schulen einzuladen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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  • Kampf der Oppositionen

    Kampf der Oppositionen

    2020 traten, für viele unerwartet, neue politische Anführer und Aktivisten in Belarus auf den Plan, die umgehend mit dem Label „Opposition 2.0“ versehen wurden. Die alte Garde, die sich jahrzehntelang auf den Moment des Umbruchs vorbereitet hatte, war mehr oder weniger aus dem Spiel.

    Allerdings konnten auch die neuen Anführer nicht erreichen, dass die Proteste sich durchsetzen und zu einem politischen Wandel führen. Viele Vertreter der Opposition, der alten wie der neuen, kamen ins Gefängnis oder wurden ins Ausland vertrieben.

    Zwei Jahre später scheint es, als ob die neue Opposition in die gleiche Falle tappt wie die alte: Sie wird von Fehden und Skandalen erschüttert. Vor allem hat sie keinen Einfluss auf das Geschehen in Belarus selbst. Die Umfragewerte für die Teams der demokratischen Kräfte im Ausland sinken. Es besteht die Gefahr, dass sie sich zerreiben wie einst ihre Vorgänger. Was aber ist mit der alten Opposition? Wie sehen die Aussichten der neuen Opposition aus? Diesen und anderen Fragen geht der Politanalyst Alexander Klaskowski nach.

    Русская Версия

    Die stürmischen Ereignisse des Jahres 2020 führten dazu, dass in Belarus eine neue Opposition entstand. Die alte Garde der ideellen Opponenten des Regimes, die viele Jahre lang davon geredet hatte, dass eine revolutionäre Situation unabdingbar sei, war auf paradoxe Weise in jenem historischen Moment, da die Massen erwachten, praktisch aus dem Spiel. Allerdings gelang es auch den neuen Anführern nicht, für einen Sieg der Proteste zu sorgen.

    Ist die alte Opposition politisch noch am Leben? Hat sie eine Chance, im Kampf gegen das Regime von Lukaschenko das Wort zu führen, in einem Kampf, bei dem die Aussichten nach der Erstickung der Proteste erneut unklar sind?

    Das Regime hat die alte Opposition schrittweise marginalisiert

    Der Urtypus einer demokratischen Revolution in Belarus war die gegen Ende der Sowjetunion in den Jahren der Perestroika entstandene Belarussische Volksfront (BNF), die nach Vorbild der Bewegungen geschaffen wurde, die in den baltischen Ländern für eine Loslösung von der UdSSR kämpften. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit gab es keinen Präsidenten, und das Parlament, der Oberste Sowjet, war relativ pluralistisch (damals wurden bei Wahlen noch die Stimmen gezählt). Dort saß auch die zwar nicht große, doch energische Fraktion der BNF um ihren Anführer Senon Posnjak. 

    Die Volksfront büßte allerdings allmählich ihre Popularität ein. Vielen Belarussen, deren Bewusstsein einer starken Russifizierung unterworfen war, erschien das von der Volksfront vorgelegte Programm zur nationalen Wiedergeburt zu radikal. Ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft empfand bald Nostalgie für die UdSSR, was von dem talentierten Populisten Lukaschenko ausgenutzt wurde, der 1994 bei den ersten Präsidentschaftswahlen an die Macht kam. 

    Unterdessen war Anfang der 1990er Jahre angesichts der relativ liberalen Haltung der Regierung ein ganzes Spektrum politischer Parteien entstanden. Einigen Parteien gelang es, sich offiziell registrieren zu lassen, bis zu dem Punkt, da das erstarkte autoritäre Regime von Lukaschenko diesen Prozess wieder einfror (seit 1999 wurde vom Justizministerium keine einzige neue Partei registriert).

    Das Regime war da noch nicht so brutal wie jetzt. Es bandelte von Zeit zu Zeit mit dem Westen an. Die Oppositionsparteien wurden zwar diskriminiert, konnten aber legal agieren. Sie konnten Versammlungen abhalten, ihre Kandidaten nominieren und Wahlkampf machen.

    Für die Opposition war es jedoch nicht möglich, die Machthaber durch einen Urnengang abzulösen. Zum einen hatte Lukaschenko einstweilen noch einen breiten Rückhalt bei den Wählern. Er konnte einen Anstieg des Lebensstandards gewährleisten, der nach postsowjetischen Maßstäben nicht schlecht war (und das in vielem durch die finanzielle und wirtschaftliche Hilfe Moskaus). Die Masse der durchschnittlichen Belarussen war dem Führer dankbar für Speck und Schnaps.

    Zweitens schanzte sich die Regierung bei den Wahlen Stimmen zu; dafür wurden die Wahlkommissionen mit den „eigenen Leuten“ besetzt. Und mit jedem Wahlgang nahmen die Fälschungen (die sich unter anderem durch unabhängige Sozialforschung ermessen lassen) immer größere Dimensionen an.

    Drittens wurden Opponenten Lukaschenkos systematisch in ein Ghetto getrieben, durch Propaganda und Repressionen (die damals noch dosiert waren). Sie wurden als Loser und Agenten des Westens diffamiert.

    Kurzum, die Opposition, die später die „alte Opposition“ genannt wurde, wurde schrittweise marginalisiert. Innerhalb der Opposition nahmen die Streitigkeiten zu. Deswegen brachte sie im Frühjahr 2020 sogar die eigenen „Primaries“ zum Scheitern, den Prozess zur Festlegung eines gemeinsamen Kandidaten, der der Gegenkandidat Lukaschenkos werden sollte.

    Die Präsidentschaftswahlen, die für den 9. August 2020 angesetzt waren, hätten grau und blutleer sein können, doch warfen plötzlich neue Figuren dem Führer den Fehdehandschuh hin, Figuren ohne eine Aura aus Niederlagen und Skandalen: der Blogger Sergej Tichanowski, der ehemalige Banker Viktor Babariko und der ehemalige Leiter des Hightech-Parks Waleri Zepkalo.

    Als man Tichanowski (und dann Babariko) verhaftete, zog unerwartet Swetlana Tichanowskaja, die Frau des Bloggers, mit in den Kampf. Diese Frau, die gestern noch Hausfrau gewesen war, machte einen phänomenalen Wahlkampf. Ihre Gestalt verkörperte die Hoffnungen auf einen Wandel. Also stimmten Millionen für Tichanowskaja. Sie hat, mittelbar erlangten Daten zufolge, de facto über den Führer gesiegt.

    Die Zentrale Wahlkommission verkündete jedoch einen Sieg Lukaschenkos mit 80 Prozent der Stimmen. Die massenhaften spontanen Proteste empörter Verfechter von Veränderungen wurden brutal unterdrückt. Tichanowskaja wurde in die Emigration gezwungen, ein Teil ihrer Mitstreiter ebenfalls, ein anderer Teil wanderte ins Gefängnis.

    Innerhalb des Landes wird jetzt alles Lebendige niedergebrannt

    Die neuen Anführerinnen konnten den friedlichen Aufstand jedoch nicht wirklich leiten, sie hatten keine Strategie. Wenn man jedoch genauer hinschaut, hatte auch die alte, klassische Opposition nie eine wirksame Strategie. In ihren Kreisen herrschte folgende stereotype Vorstellung: Wenn hunderttausend Protestierende auf die Straße gehen, wird die Miliz auf die Seite des Volkes wechseln, und die Sache ist geritzt – das Regime stürzt.

    2020 kamen jedoch mehrere hunderttausend Menschen zu den Kundgebungen. Dennoch gewannen die wohltrainierten und gut ausgerüsteten Sicherheitskräfte mit ihren von der Propaganda gewaschenen Hirnen die Oberhand. Lukaschenko fand Gefallen an der Gewalt und machte sie zu seinem wichtigsten politischen Instrument. Jetzt steckt die neue Opposition in der gleichen Sackgasse, in der die alte gesteckt hat: Gegen Gewalt helfen keine Pillen.

    Unterdessen befahl Lukaschenko eine Neuregistrierung der Parteien, was praktisch eine Auflösung der alten Oppositionsprofile bedeutet. Es ist ein neues Parteiengesetz in Arbeit, dem zufolge nur zutiefst loyale Parteien auf die politische Bühne gelassen werden, als Attrappen.

    Formal bestehen die Parteien der alten Opposition – unter anderem die Vereinigte Bürgerpartei (OGP), die Partei der BNF, die Belarussische Sozialdemokratische Partei (Hramada) (BSDP) und Gerechte Welt – zwar noch, doch de facto sind sie in einer Atmosphäre des absoluten Terrors gelähmt.

    Der wohl letzte Versuch, legal eine öffentliche Aktion zu veranstalten, war der Antrag der Partei der Grünen vom April, den traditionellen Gedenkmarsch Tschernobylski schljach abzuhalten. Wie vorherzusehen, wurde er von den Behörden abgelehnt. Wer auf nicht genehmigte Veranstaltungen geht, landet mit Sicherheit im Gefängnis.

    Einige Anführer der traditionellen Opposition, die sich den Protesten von 2020 angeschlossen haben, wurden zu wahrhaft stalinistischen Freiheitsstrafen verurteilt: der Christdemokrat Pawel Sewerinez zu sieben Jahren, der Sozialdemokrat Nikolaj Statkewitsch zu 14 Jahren. Der Leiter der Partei der BNF, Grigori Kostussew, erhielt zehn Jahre, nachdem er der „Verschwörung zum Zwecke der Machtergreifung“ beschuldigt worden war.

    Heute wird jede Aktivität im Land, die nicht unter der Kontrolle des Staates steht, kriminalisiert: Rühr dich und erhebe deine Stimme gegen das Regime, und schon wanderst du ins Gefängnis, wegen Volksverhetzung, „Beleidigung der Regierung“, „Extremismus“, „Vorbereitung von Massenunruhen“ oder nach irgendeinem anderen fadenscheinigen Paragrafen des Strafgesetzbuches.

    Ein Beispiel hierfür ist die OGP, die versucht hatte, in gewissem Maße aktiv zu bleiben. Daraufhin wurde die gesamte Parteispitze verhaftet. Anfang November erhielt Parteichef Nikolaj Koslow zweieinhalb Jahre Straflager. Formal wegen Beteiligung an einem Protestmarsch im August 2020, in Wirklichkeit jedoch, weil er versucht hatte, unter den aktuellen harten Bedingungen das Parteileben in Gang zu bringen. Vor kurzem ist Koslow von einem Parteitag als Vorsitzender wiedergewählt worden, aber das ist ein rein symbolischer Schritt. Aus dem Gefängnis heraus wird er die Partei nicht führen können. Und was genau soll er eigentlich leiten? Alle sitzen mucksmäuschenstill herum.

    Andere Vertreter der alten Opposition waren gezwungen, sich vor dem Damoklesschwert der Repressionen ins Ausland zu retten. So befindet sich der Vorsitzende der BSDP, Igor Borissow, jetzt mit seiner Familie in Belgien. Die meisten emigrierten nach Litauen und Polen. Dabei schloss sich ein Teil der alten Oppositionsgarde in der Emigration Strukturen der neuen Opposition an. Einige werden sogar als graue Eminenzen betrachtet. Auf jeden Fall konnten die politischen Neulinge eindeutig die organisatorische und sonstige Erfahrung von Leuten gebrauchen, die sich dem Regime schon viele Jahre entgegenstellen.

    Im Team von Tichanowskaja arbeiten die Vertreter der OGP Alexander Dobrowolski, Anatoli Lebedko und Anna Krassulina. Olga Kowalkowa von der Belarussischen Christdemokratie ist eine der prominenten Figuren des Koordinationsrates, der als Urparlament eines zukünftigen Belarus betrachtet wird. Dem Anführer der Bewegung für die Freiheit, Juri Gubarewitsch, wurde im Vereinigten Übergangskabinett, einer Art Exilregierung, die Aufgabe anvertraut, die „Kaderreserven für ein neues Belarus auszubilden“.

    Protestveranstaltung gegen Lukaschenko am 23. August 2020, Minsk, Belarus / Foto © Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    Wird Lukaschenko von einer Opposition 3.0 überwunden werden?

    Die alte Opposition liegt also zum Teil am Boden und ist nicht mehr dabei. Zum Teil ist sie gewissermaßen in der „Opposition 2.0“ aufgegangen. Gleichzeitig sind die Vorstellungen der alten Garde nicht verschwunden. Ein markantes visuelles Symbol der Proteste 2020 ist das Meer der historischen weiß-rot-weißen Flaggen. Die Bestrebungen der BNF und anderer oppositioneller Gruppen der „ersten Welle“, die das nationale Bewusstsein stärken wollten, haben Früchte getragen.

    Vertreter der alten Opposition hatten Tichanowskaja und die anderen politischen Neulinge von 2020 anfangs kritisiert, weil die Plattform schwammig sei, weil man Referenzen Richtung Moskau mache, weil man der Frage aus dem Weg gehe, wem die Krim gehört, weil man sich nicht genug um das Belarussische und das historische und kulturelle Erbe der Nation kümmere. Die neue Opposition formuliert jetzt immer deutlicher Parolen von einer nationalen Wiedergeburt, einem Widerstand gegen die imperialistische Politik des Kreml und einem europäischen Weg. Man tastet also auf der Suche nach Rückhalt das ideelle Fundament ab, das de facto von der traditionellen Opposition gelegt wurde. Allerdings tappte die neue Opposition in die gleiche Falle wie die alte. In den letzten Monaten 2022 wird die nach 2020 entstandene politische Diaspora von Fehden und Skandalen erschüttert.

    Kritiker sind der Ansicht, dass das Team von Tichanowskaja den ganzen Kuchen will, sich gegen die Bildung einer starken Koalition wendet, zu wenig transparent ist und keine klare, überzeugende Strategie hat. Einige Mitglieder ihres Teams versuchen, die berechtigte Kritik und die Recherchen unabhängiger Medien als Wühlarbeit des Regimes und seiner Geheimdienste hinzustellen.

    Das größte Problem besteht darin, dass die politische Diaspora keine Hebel in der Hand hat, um auf das Geschehen in Belarus selbst Einfluss zu nehmen. Der politische Terror, den das Regime entfesselt hat, wirkt. Lukaschenko hat mit seinen barbarischen Methoden die Lage im Land betoniert.

    Schwer zu sagen, wie lang dieser Alptraum andauern wird, aber es bleibt eine Tatsache: Die Massen zu einem Aufstand gegen das Regime zu mobilisieren (das nach Ansicht einer Reihe von Politologen in eine totalitäre Phase getreten ist) ist heute undenkbar. Also hängen sämtliche Strategien seiner Opponenten in der Luft. Viele Anhänger von Veränderungswünschen sind frustriert. Die Umfragewerte der Teams der demokratischen Kräfte im Ausland gehen zurück. Dort riskiert man, sich in Streitereien zu verheddern, in eine Imitation stürmischer Aktivität abzugleiten und letztendlich marginalisiert zu werden, wie es einst mit der alten Opposition geschah.

    Natürlich wird das Regime von Lukaschenko nicht ewig währen. Aber auch das Mandat und der Vertrauensvorschuss für Tichanowskaja, ihr Team und für die ganze neue Opposition sind nicht auf ewig. Und wenn sie die Herausforderungen nicht bewältigt, dann könnte es sein, dass im Moment des Wandels nicht sie an der Spitze steht, sondern ganz andere, deren Namen wir heute noch nicht kennen. Wahrscheinlich wird es eine Opposition 3.0 geben, die letztendlich nicht mehr Opposition, sondern Regierung sein wird.

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    Gefängnis oder Emigration, das ist hier die Frage

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    Gefängnis oder Emigration, das ist hier die Frage

    Unter schwierigen politischen Bedingungen konnte sich die belarussische Kultur in den vergangenen 20 Jahren bedeutende Freiräume erobern, die zwar immer wieder von den Machthabern mit punktuellen Repressionen attackiert wurden, die aber trotz der feindlichen Umgebung erstaunlich lebendig und wandlungsfähig waren. Das Theater, die Musik, Literatur und Kunst konnten auf diese Weise wichtige Impulse setzen. Seit den Protesten im Jahr 2020 und der darauffolgenden Repressionswelle, die bis heute andauert, hat Kultur in Belarus abseits staatlicher Kontrolle kaum noch eine Überlebenschance. Viele Künstler und Kulturschaffende wurden inhaftiert, ihre Kunst verboten, viele haben das Land verlassen und versuchen nun im Exil, ihre künstlerische Arbeit aufrechtzuerhalten. Andere haben sich trotz allem entschieden, in ihrer Heimat zu bleiben. 

    Der bekannte Autor Alexey Strelnicov hat für den russischsprachigen dekoder mit zahlreichen Kulturschaffenden über die aktuelle Lage der Kultur und das Leben im Exil gesprochen. Strelnicov hat sich mit seinen Texten zum zeitgenössischen belarussischen Theater einen Namen gemacht, er lebte bis zuletzt in Belarus und inszenierte dort in Privatwohnungen kleine Theateraufführungen. Es ist einer der letzten Texte von Strelnicov, den wir nun auf Deutsch zugänglich machen. Alexey Strelnicov verstarb unerwartet am 17. Dezember 2022. Er wurde nur 39 Jahre alt. 

    Русская Версия

    Nach Wahlen gab es jedes Mal eine kulturelle Emigration

    „Als wir in Warschau das erste Konzert nach der Pause spielten, sah ich die gesamte Minsker Clique. Und da waren die Grenzen (wegen Corona – Anm. der Red.) noch dicht! Dieselben Typen, die in Minsk die ganze Zeit Backstage abgehangen hatten, waren auch da. Das war wie ein Schock für mich: Menschen, die gerade erst ausgereist waren, hatten das Bedürfnis nach einer Verbindung zur Heimat“, sagt einer der bekanntesten belarussischen Musiker, Lavon Volski. 

    Bereits seit 2006 standen Volskis Musikprojekte mal unter starkem Druck der Regierung, mal wurden sie wegen seiner politischen Haltung rundweg verboten. Aber an Repressionen solcher Ausmaße wie jetzt kann er sich nicht erinnern. Als klar wurde, dass es kein einziges Format gibt, mit dem er in Belarus noch auftreten könnte, ging Volski ins Ausland, wo er von seinen Fans bereits erwartet wurde.

    Im Ausland Fuß zu fassen, gelingt längst nicht jedem. „Alle pfeifen drauf, ob du geflüchtet bist oder nicht, die Frage ist, wie gut deine Arbeit ist“, sagt der Dramaturg und Kunstmanager Nikolaj Cholesin, der sich seit 2011 erzwungenermaßen im Exil befindet und das Belarus Free Theatre leitet. Die Ausrichtung darauf, dass ein belarussisches Kulturprodukt nachgefragt wird, wenn es gut gemacht ist, hat Erfolg. Das Free Theatre spricht aktuelle Themen in einer modernen Sprache an. Die Künstler treten jetzt bei den wichtigsten Festivals auf. Und lange schafften sie es sogar, ihre Stücke heimlich in Minsk zu zeigen.

    In nächster Zeit werden sie wohl kaum in der Heimat auftreten können. In dem Dokumentarfilm Courage des Regisseurs Aliaksei Paluyan wird gezeigt, wie schwer die Entscheidung zur Ausreise selbst für jene war, die schon lange im Untergrund waren und meinten, sie seien auf alles vorbereitet. Nach der Premiere verließ der gesamte belarussische Teil des Filmteams das Land.

    Als das Ensemble des Janka-Kupala-Theaters, des führenden Theaters in Belarus, wegen eines öffentlichen Protests Ende August 2020 nahezu vollständig entlassen wurde, war der Satz zu hören: „Ein weiteres Theater ist jetzt frei.“ Ein großer Teil der entlassenen Künstler arbeitete weiterhin zusammen und nannte sich „freie Kupalianer“. In Belarus konnten ihre Arbeiten nur als Aufzeichnung oder online gezeigt werden. Und auch wenn jetzt jede ihrer Premieren von sehr viel mehr Zuschauern „besucht“ wird, als der größte Theatersaal fassen könnte, ist ihnen keine Möglichkeit geblieben, vollwertig in der Heimat zu arbeiten.

    Dafür werden dem neuen unabhängigen Theater diese Möglichkeiten im Ausland geboten. Das Theater beteiligt sich an Experimentalgruppen, erhält Stipendien, arbeitet an neuen Stücken und zeigt sie auf Festivals. Mithilfe belarussischer Emigranten ist es gelungen, im Ausland vollwertige nationale Kulturprozesse in Gang zu setzen. Es werden Bücher verlegt, Theaterstücke inszeniert, und es finden Ausstellungen und Konzerte statt.

    Die Künstler versuchen, sich selbständig an die neuen Realitäten anzupassen. Eine Schauspielerin des Kupala-Theaters erinnert sich an ihre Ausreise nach Polen: „Mein Ziel war es vor allem, bei meiner belarussischen Identität zu bleiben. Wo sonst könnte ich sie noch bewahren? In Belarus ist das jetzt ein Verbrechen. Hier aber gibt es noch Chancen und Möglichkeiten.“

    Jenen, denen es gelungen ist, sich zu etablieren, die ihr Publikum und ihre Auftrittsmöglichkeiten gefunden haben, mag das Leben im Ausland wie eine lange Dienstreise erscheinen. Viele sind noch nicht so weit, die Emigration als solche zu akzeptieren.

    Bühne gegen Kloschüsseln getauscht …

    Jene, die nicht vorhatten, das Land zu verlassen, sondern zwangsläufig emigrierten, standen nun vor der drängenden Frage der Selbstfindung.

    In einer schwierigen Situation sind jetzt jene, die in die Ukraine emigriert waren und dann vor dem Krieg nach Polen flohen. Sie wurden zwar als Flüchtende ins Land gelassen, standen aber de facto als Bürger eines Staates da, der an der Aggression beteiligt ist. Viele hatten Probleme, Dokumente zu bekommen.

    Kulturschaffende sehen sich in der Emigration gezwungen, sich irgendeinen anderen Beruf zu suchen. Dmitry Gajdel, Schauspieler und Puppentheaterregisseur, hat in Polen den Beruf eines Heizungsmonteurs erlernt. „Mir wird oft gesagt, dass ich wohl die Bühne gegen die Kloschüssel getauscht habe. Ich war ein Großer und bin jetzt ein kleiner Malocher. Mir gefällt’s aber. Ist doch toll, sein Leben von Grund auf zu ändern. Überhaupt denke ich, dass man sein Leben sehr viel häufiger ändern sollte,“ meint Dmitry.

    Konzerte für die belarussische Diaspora — Lavon Volski in den USA / Foto © Darja Muraschka
    Konzerte für die belarussische Diaspora — Lavon Volski in den USA / Foto © Darja Muraschka

    Der Theaterschauspieler Alexander Ratko aus Hrodna wurde im ganzen Land berühmt, als er sich vor der OMON rettete, indem er durch den Njoman (dt. Memel) schwamm. Er wanderte nach Litauen aus, erhielt dort ein Künstlerstipendium, studiert Schauspiel an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius und wirkt an Inszenierungen des Russischen Theaters Litauens mit. Er gehört zu jenen, die einen Platz in ihrem Bereich gefunden haben. Aber es fällt ihm schwer, sich an das Leben in der neuen Umgebung anzupassen. „Ich wohne mitten in der Altstadt. Ich habe jetzt nicht die Probleme, die ich in Belarus hätte haben können. Also bitte: Genieße die Stadt, geh ins Theater, ins Museum. Aber! Es bringt nicht die Freude, die es bringen könnte.“ In einem ähnlichen Zustand sind viele, die unerwartet gezwungen waren, das Land zu verlassen: eine unbekannte Sprache, ein Publikum, das man nicht kennt, Heimweh, die Aufgabe, im fortgeschrittenen Alter eine Karriere ganz neu anzufangen …

    „Wenn ein Künstler auswandert, und umso mehr, wenn er dazu gezwungen wird, dann findet er nur selten seinen Platz. Das erfordert nicht nur Superkräfte, sondern auch die entsprechenden Marktbedingungen“, kommentiert Sergej Budkin, Leiter des Belarusian Council for Culture, die Schwierigkeiten für Kunstschaffende, sich im Ausland einzurichten.

    Leichter fällt es jenen, die mental darauf vorbereitet sind. Die Schauspielerin Kristina Drobysch fand sich in einem Projekt wieder, das Bücher und Filme ins Belarussische vertont. Sie weiß aber um die Notwendigkeit, sich am neuen Wohnort einzuleben. „Mir ist klar, dass es trotzdem zu einer gewissen Integration kommen wird. Es geht darum, Respekt für das Land zu zeigen, das mich aufnahm. Man muss die Sprache lernen und versuchen, die örtliche Kultur zu verstehen.“

    In den sozialen Netzwerken zählt sie bis heute die Tage, die seit ihrer Vertreibung aus dem Kupala-Theater vergangen sind. Jeder versucht auf seine Weise, eine Verbindung zur Heimat aufrechtzuerhalten. „Aus Belarus kannst du nicht weglaufen“, sagt Alhierd Bacharevič. „Das ist wie ein Fluch, wie ein Omen!“

    In einer Situation, da aufgrund drohender Repressionen und durch den Krieg ganz viele Gemeinschaften oder informelle Vereinigungen in noch kleinere Scherben zerschlagen sind, setzen die Koordinationsstrukturen der belarussischen Aktivisten die Prioritäten wie folgt: Als Erstes muss für Kulturschaffende eine sichere Umgebung geschaffen werden; zweitens sollen Möglichkeiten gefunden werden, wie sie in ihrem Beruf weiterarbeiten können; drittens sollen für jene, die sich an neue Umstände anpassen müssen, Anpassungsmöglichkeiten organisiert werden; und viertens muss langfristig ein Netzwerk aufgebaut werden, das Chancen auf künstlerische Entwicklung bietet.

    Auf der Internetseite des Belarusian Council for Culture können Künstler ihre Projekte relativ formlos einreichen. Über hundert Projekte wurden gefördert. Und für die angekündigte „Woche der belarussischen Kultur in der Welt“ sind sogar 120 Anträge eingegangen.

    Nicht bleiben können, nicht fortgehen können

    „Ich unterteile Kulturschaffende nicht in solche, die ausgewandert sind, und solche, die bleiben. Sie alle zusammen schaffen einen gemeinsamen Kulturraum und arbeiten für ein gemeinsames Ziel“, meint der Leiter des Council for Culture, Sergej Budkin.

    Die Kreativen, die in Belarus geblieben sind, haben keine große Wahl. Dutzende Kulturschaffende sind nach wie vor im Gefängnis. Die Regierung unternimmt alles, um jene, die geblieben sind, einzuschüchtern, ihnen das Recht auf Protest und auf eine von der „staatlichen“ abweichende Position zu nehmen. Nicht alle haben die Möglichkeit auszuwandern, viele müssen weiterhin in offiziellen Kulturinstitutionen arbeiten und dabei versuchen, sich selbst gegenüber ehrlich zu bleiben.

    Viele Schriftsteller, Kritiker und Kunsthistoriker nutzen die Möglichkeit, mit westlichen Kollegen zusammenzuarbeiten. Einige griffen auf ihre pädagogische Ausbildung zurück und wechselten zur Online-Nachhilfe oder in eine Privatschule. Allerdings sind bis September 2022 fast sämtliche Privatschulen in Belarus geschlossen worden.

    In Belarus gibt es jetzt wieder das Phänomen, dass im Untergrund Filme gezeigt, Theaterstücke aufgeführt und Konzerte gespielt werden, die alle nur schwer aufzuspüren sind und über die erst irgendwann später offen gesprochen werden kann. Daher können wir hier und jetzt keine Einzelheiten erzählen. Meist bestehen die Teilnehmer darauf, nirgendwo erwähnt zu werden. „Uns erzählen Zuschauer, ihnen werde bei unseren Aufführungen bewusst, dass man ihnen die Freiheit nicht nehmen kann“, sagt einer der Organisatoren von Untergrundveranstaltungen.

    Untergrundkultur ohne Grenzen

    Die Belarussen, die durch Grenzen getrennt sind, streben jetzt danach, ihre Identität zu wahren. Kunstprojekte erlauben es ihnen, sich in der Emigration als Belarussen zu erkennen zu geben, den Belarussen, die ihre Heimat verlassen haben, eine Stimme zu verleihen, sie im Weltmeer der Emigration sichtbar zu machen. Ob die belarussische Kultur im Ausland eine Exilkultur sein wird oder ein Katalysator für Veränderungen innerhalb des Landes, wird sich erst später zeigen. 

    In welcher Richtung sich dieser Prozess entwickeln wird, lässt sich daran feststellen, dass die Europäer jetzt nach belarussischer Kunst verlangen. Der bekannte Schriftsteller Alhierd Bacharevič sagt: „In letzter Zeit ändern sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Osteuropa. Langsam, aber unaufhaltbar entdeckt die Welt für sich auch unsere „blutigen Länder“. Gleichgültigkeit wird jetzt von Interesse abgelöst, von Versuchen zu verstehen, wer wir wirklich sind. Früher hat der Westen ausschließlich mit Russland gesprochen, über unsere Köpfe hinweg. Jetzt sind wir auf den kulturellen und politischen Landkarten vorhanden“, resümiert Bacharevič.

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  • Warum das System Lukaschenko abermals die Todesstrafe verschärft

    Warum das System Lukaschenko abermals die Todesstrafe verschärft

    Das Repräsentantenhaus des belarussischen Parlaments verabschiedete vergangene Woche in erster Lesung Änderungen zu Artikel 356 (2) des Strafgesetzbuches, „um eine abschreckende Wirkung auf destruktive Elemente zu erzielen und um einen entschlossenen Kampf gegen den Verrat am Staat zu demonstrieren“. Demnach können nun Staatsbedienstete und Militärangehörige, die wegen Landesverrats vor Gericht kommen, zum Tode verurteilt werden. Belarus ist das einzige europäische Land, das noch die Todesstrafe vollstreckt. 

    Bereits im Mai dieses Jahres war die gesetzliche Grundlage für die Anwendung der Todesstrafe ausgeweitet worden, und zwar für die Planung eines Anschlags oder den „Versuch eines terroristischen Akts“. Warum nun die neuerliche Verschärfung? Darüber wird in den belarussischen Medien debattiert. Wir bringen eine Auswahl an vier Experten- und Medienstimmen. 

    Der Menschenrechsanwalt Andrei Poluda sagte Gazeta.by, dass die neuerliche Verschärfung der Todesstrafe im Zusammenhang mit komplexen Stimmungsveränderungen in der Gesellschaft zu sehen sei. Die Machthaber würden diese einzuhegen versuchen:

    „… Damals betrafen sie [die Änderungen im Strafgesetzbuch zur Todesstrafe] breitere Bevölkerungsteile und waren unter anderem eine Reaktion auf Antikriegsaktionen von belarussischen Bürgern, insbesondere der Schienenpartisanen. Jetzt können wir die Tendenz beobachten, dass es um des Herrschers Leute geht, wie sich die Vertreter der Bürokratie und die Militärs in Belarus selbst gern nennen.


    Die Regierung meint nach wie vor, dass eine Verschärfung der Gesetze als abschreckendes Mittel wirksam sein kann, als Prophylaxe gegen bestimmte Handlungen der Bürger. Diese gravierenden Gesetzesänderungen sind ein deutliches Zeichen dafür, wie tiefgreifend und weit verbreitet die Prozesse sind, die in unserer Gesellschaft vor sich gehen. Es ist offensichtlich, dass diese Prozesse dem derzeitigen Regime in Belarus ganz und gar nicht gefallen.


    Jetzt, da es keine Möglichkeit gibt, in Belarus wissenschaftlich fundierte Umfragen zu machen, sind Informationen für uns vielfach nicht zugänglich und nicht sichtbar, und wir können die Prozesse nicht bis ins Letzte verstehen …
    Über viele Jahre hinweg aber haben Menschenrechtler Alarm geschlagen, dass die Existenz der Todesstrafe und ihre Anwendung nicht nur jene betrifft, die wegen Mordes verurteilt wurden.“

    Der Telegram-Kanal Reflexija i reakzija (dt. Reflexionen und Reaktionen) – der politische Prozesse in Belarus anonym analysiert und begleitet – betont in einem Beitrag ein grundsätzliches Problem bei autoritären Systemen: die fehlende Transparenz bei Entscheidungsprozessen. Dies mache Einschätzungen – wie aktuell in Bezug auf die Todesstrafe – schwierig. Auf Grundlage der historischen Erfahrung vom Ende der UdSSR läge aber die Vermutung nahe, dass sich das System Lukaschenko auf noch stärkere Verwerfungen in der belarussischen Gesellschaft vorbereite:

    „… Während alle damit beschäftigt sind, Details aus dem Büro von Tichanowskaja zu diskutieren, selbst die kleinsten, oder aber Äußerungen westlicher Stakeholder zu den Aussichten auf einen Waffenstillstand, ist völlig unklar, was innerhalb der Regime Russlands und Belarus’ vor sich geht.

    Es gibt viele vereinzelte Leaks, doch mit großer Genauigkeit ein Gesamtbild zu zeichnen, ist problematisch. Die wichtigsten Entscheidungszentren sind nicht öffentlich und hermetisch abgeschottet; all der Dreck, der unter den Teppich gekehrt werden kann, bleibt dort.

    Psychologisch wird die Situation wie folgt wahrgenommen: „Bei uns wird alles immer schlimmer – und die waren ein Monolith und sind es immer noch“. Obwohl das natürlich nicht sein kann, weil die Dynamik der sozialen Systeme derart strukturiert ist, dass alle Akteure sich auf die eine oder andere Art in diese oder jene Richtung entwickeln. Wenn eine solche Transformation nicht sichtbar ist, bedeutet das nicht, dass sie nicht geschieht.

    Mit der UdSSR ging es zu Ende, als sie schlicht und einfach kein Geld mehr auf dem Konto hatte, um die ganze Maschine am Laufen zu halten. Man konnte zwar vorhersagen, wohin der Wind uns trägt, aber das genaue Datum und die Ereignisse vorherzusagen, ohne über Insiderinformationen zu verfügen, ohne das gesamte Bild zu sehen, war und ist unmöglich. 

    Dass aber das Regime in Belarus (das in Russland bislang noch nicht) sich auf die schlimmsten Szenarien vorbereitet, lässt Gedanken heranwehen, wie denn der verdeckte Teil des Bildes tatsächlich aussieht.“

    Der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch sieht in seinem Kommentar für das Online-Medium Reform.by die Angst der belarussischen Machthaber nicht nur vor neuen Protesten als Treiber für die Verschärfungen der Todesstrafe, sondern auch die Angst des Systems vor dem System selbst. Indem sich beispielsweise die Unzufriedenheit der eigenen Leute im Staatsapparat und Militär an einem bestimmten Punkt gegen die Machtzentrale richten könnte:

    „… Auf den ersten Blick könnten sich die Änderungen im Strafgesetzbuch gegen politische Gegner des Regimes richten. Allerdings wird laut Informationen des Ermittlungskomitees, dem die Untersuchungen in den Strafverfahren gegen Swetlana Tichanowskaja, Pawel Latuschko, Olga Kowalkowa, Sergej Dylewski und Marija Moros oblag, von diesen fünf nur Tichanowskaja Landesverrat vorgeworfen. Auch wenn sie niemals Staatsämter innehatte …

    Es werden auch Grundlagen für die Zukunft gelegt. Wenn es zu Geschehnissen wie 2020 kommt, dürften Staatsbeamte und Silowiki sich hundertmal überlegen, ob sie die Seite wechseln. Denn die Strafe bei einer Niederlage könnte grausam sein. Das Regime verfolgt eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Gestern noch war es um eine ‚wegweisende Möhre‘ für Militärangehörige gegangen, etwa in Form einer Privatisierung von Mietwohnungen nach 25 Dienstjahren. Doch es scheint, als reiche Zuckerbrot allein nicht mehr aus, um Loyalität zu sicherzustellen. Die Änderungen im Strafgesetzbuch holen die Peitsche hervor, als Strafe für Verrat …

    Das Regime versucht, alle einzuschüchtern, sowohl Opponenten als auch Unterstützer. Um den Gedanken, man könnte das Staatsschiff möglicherweise verlassen, bereits im Keim zu ersticken. Das bedeutet, dass das Regime selbst jenen nicht mehr vertraut, die sich innerhalb des Systems bewegen. Und um die zu ‚überzeugen‘, braucht es jetzt auch die Peitsche. Vielleicht auch, weil das Zuckerbrot immer knapper wird.“

    Der ehemalige belarussische Diplomat und Politanalyst Pawel Sljunkin sieht in der Verschärfung der Todesstrafe im Gespräch mit dem russischen Medium The Insider eine Verbindung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine

    „Als Verrat würde hier gewertet werden, wenn jemand auf die Seite der Ukraine wechselt oder sich in Gefangenschaft begibt, oder sich vielleicht weigert zu kämpfen. Diese Gesetzesänderung wird sowohl Militärs wie auch Zivilpersonen betreffen. Dass es diese Änderung gibt, ist ein Anzeichen, dass das staatliche System auf etwas vorbereitet wird. Für die Staatsbeamten wird sie eingeführt, damit die nicht die Seiten wechseln und keine Spaltung innerhalb des staatlichen Systems provozieren.

    90 Prozent der Belarussen wollen nicht, dass ihre Armee sich an dem Krieg beteiligt, und Lukaschenko ist bewusst, welche Risiken ein solcher Schritt mit sich bringen würde: Selbst in den loyalsten Bevölkerungsteilen könnte es dann Leute geben, die damit nicht einverstanden sind. Wie also mit denen umgehen? Sie müssen eingeschüchtert werden. Und genau hierzu wurde die Aussicht auf die Todesstrafe geschaffen.

    Mit der Armee ist es das Gleiche: Sie wollen nicht kämpfen, sie haben nicht das Gefühl, dass das ihr Krieg ist, und sie rennen nicht, wie viele russische Mobilisierte, zu den Rekrutierungsstellen. Sie wissen, was sie dort erwartet. Niemand will für die imperialen Kriegsambitionen Russlands sterben, und für Lukaschenko will auch niemand sterben. Lukaschenko ist das sehr wohl bewusst, und er versorgt sie mit einer Alternative, und zwar nicht mit ein paar Jahren Gefängnis, sondern mit der Todesstrafe. Das ist ein Zeichen, dass sämtliche staatlichen Institutionen darauf vorbereitet werden, dass ein solcher Moment kommen könnte. Es bedeutet nicht, dass der Entschluss feststeht, die Armee loszuschicken. Sie wissen aber genau, dass so etwas möglich ist. Und bereiten sich darauf vor.“

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  • Aufstieg, Repressionen, Flucht – das Schicksal der belarussischen IT-Branche

    Aufstieg, Repressionen, Flucht – das Schicksal der belarussischen IT-Branche

    Belarus galt als „IT-Land“, der High-Tech-Sektor hatte sich rasant entwickelt. Er war der Stolz und die Hoffnung der belarussischen Wirtschaft. 2020 jedoch begann ein allgemeiner Niedergang, zunächst wegen Corona, dann wegen der Proteste, die nach den Präsidentschaftswahlen das ganze Land erfassten? Die IT-Experten waren daran aktiv beteiligt, leisteten technologische Hilfe, spendeten Gelder und nahmen an den Straßenprotesten teil.

    In den Augen der Regierung waren damit aus Hoffnungsträgern Verräter geworden. Es wurden Stimmen laut, die eine Abschaffung der Privilegien für Residenten des belarussischen High-Tech-Parks (HTP) forderten. Die Lage verschärfte sich mit Beginn des Krieges in der Ukraine, in den das belarussische Regime bekanntlich involviert ist. Die Menschen hatten Angst vor einer Mobilmachung, es folgten neue Sanktionen. Einige internationale Partner beschlossen, künftig keine Aufträge mehr nach Belarus zu vergeben. Die belarussischen IT-Firmen, die früher prosperierten, begannen ihre Mitarbeiter umzusiedeln und ihre Head-Offices ins Ausland zu verlegen.

    Wie sieht die Entwicklung in Belarus heute aus, warum und wohin wandern IT-Fachkräfte ab, und welche Zukunft hat der IT-Sektor? Ein Lagebericht von Anna Wolynez.

    Russische Version

    Entstehung der belarussischen IT-Branche und ihre Bedeutung für die belarussische Wirtschaft 

    Gewinnträchtig, erfolgreich und vielversprechend – das war in den letzten Jahren das Image des belarussischen IT- und High-Tech-Sektors. Ausgangspunkt waren Communities fähiger Ingenieure und Funktechniker und ihre in den 2000er Jahren gegründeten Firmen. Bald kamen die ersten Aufträge aus dem Ausland, die Branche setzte Steuererleichterungen für sich durch, und aus einigen Firmen wurden große internationale Unternehmen mit belarussischen Wurzeln, wie etwa Arkadi Dobkins Epam und Wiktor Kislys Wargaming.

    Für alle Unternehmen, die im High-Tech-Park (HTP) registriert sind, besteht in Belarus seit 2018 ein System von Steuererleichterungen. Es gab viele Programme und Räume zur Unternehmensentwicklung, etwa den Startup-Hub Imaguru, in dem Startups entstanden, die später weltweit bekannt wurden. Und es gab einen eigenen Investorenverband für Risikobeteiligungen. Zu den IT-Startups aus Belarus gehört beispielsweise die Firma Masquerade Technologies. Die Foto-Editing-App MSQRD, die später von Facebook gekauft wurde, war ihr Produkt. Das Startup, das die Video-App Vochi entwickelte, wurde von Pinterest übernommen. Die Investitionen in PandaDoc, einen Dienstleister für Dokumentenmanagement, lagen bereits bei mehr als einer Milliarde Euro.

    Die IT-Branche begann eine immer größere gesellschaftliche Rolle zu spielen. Crowdfunding-Plattformen sammelten Geld für soziale und kulturelle Projekte, für die der Staat keine Finanzen aufbrachte. Die IT-Community bedeutete eine äußerst wichtige Unterstützung für die karitative Medienplattform Imena („Namen“), über die Geld für soziale Organisationen gesammelt wurde, die Obdachlosen, Waisenkindern oder Menschen mit Behinderungen halfen. Im Land gab es jetzt mehr Menschen, die bereit waren, die Entwicklung der Gesellschaft finanziell zu unterstützen, etwa, indem sie beim Wettbewerb für soziale Innovationen Social Weekend als Mäzen auftraten oder andere soziale Projekte sponsorten.

    Die belarussischen IT-Kräfte erwarben sich den Ruf, eine eigene soziale Gruppe zu sein

    Unter den IT-Kräften gibt es sowohl ausgebildete Ingenieure als auch Geisteswissenschaftler. „2013 dachte man, die IT-Kräfte hätten Glück, weil sie zur Arbeit nach Amerika gehen können. Jetzt verdient man im IT-Bereich drei- bis vier mal so viel wie im belarussischen Durchschnitt, und das schon am Anfang der Karriere“, schreibt Gennadi Schupenko*. Er ist von einem Staatsunternehmen in die IT-Branche gewechselt und arbeitet seit 2016 in einer großen Outsourcing-Firma. „Allmählich hat sich die Meinung herausgebildet, dass man auch in Belarus viel Geld verdienen kann und man dafür nicht auswandern muss. Du bist ein normaler Büroangestellter und bekommst ein gutes Gehalt.“

    Die belarussischen IT-Kräfte erwarben sich den Ruf, eine eigene soziale Gruppe zu sein: reiche, schicke, moderne junge Leute. Man ging davon aus, dass sie ihr Geld im Inland ausgeben und dadurch die Unterhaltungs- und Freizeitbranche, den Bau neuer Wohnungen und das Gesundheitssystem finanzieren würden.

    Der IT-Sektor wuchs schnell: 2019 lag sein Anteil am BIP bei 6,5 Prozent. Das ist fast so viel wie die Anteile der in Belarus traditionellen Land- oder Forstwirtschaft. Das Wirtschaftsministerium hatte einen Anstieg des Anteils der IT-Branche am BIP auf 10 Prozent bis 2022/23 erwartet. Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Erst kam die Pandemie, dann die Massenproteste von 2020 und 2021, an denen sich viele IT-Kräfte aktiv beteiligten. Und auch die Invasion Russlands in die Ukraine spielt eine Rolle.

    Im ersten Quartal 2022 betrug der Anteil der IT-Branche am BIP 8,1 Prozent. Immerhin bleibt der IT-Sektor die einzige Branche, deren Anteil am BIP des Landes weiterhin zunimmt. Wenn auch, wie Experten vom Zentrum für Wirtschaftsforschung BEROC feststellen, nicht mehr so stark wie früher.

    Logo der belarussischen „Cyberpartisanen“ / Screenshot
    Logo der belarussischen „Cyberpartisanen“ / Screenshot

    Wie und warum sich der IT-Sektor in Belarus verändert hat

    2020 setzten Entwicklungen ein, die die IT-Wirtschaft veränderten: die Corona-Pandemie, durch die der Arbeitsmarkt einen Wandel erfuhr, und die Präsidentschaftswahlen mit den anschließenden Protesten. Während der Pandemie deckten Aktivisten aus dem IT-Bereich Problemfelder ab, mit denen der Staat nicht zurechtkam: Sie informierten die Menschen, sammelten Geld und Schutzausrüstungen für die Krankenhäuser.

    Während des Präsidentschaftswahlkampfes halfen IT-Kräfte, eine alternative Stimmenauszählung zu organisieren, und schufen die Plattform Golos („Stimme“), die Wahlfälschungen aufzeigte. Mit der App Marsch koordinierten sich die Protestierenden. Mitarbeiter und Besitzer von IT-Firmen halfen enttäuschten Bediensteten von Sicherheitsbehörden, in den IT-Bereich zu wechseln, und sammelten über zwei Millionen US-Dollar, um Opfern von Repressionen zu helfen.

    Eine eigene Erwähnung verdienen die High-Tech-Spezialisten, die sich unter der Bezeichnung Cyberpartisanen zusammengeschlossen haben und Lukaschenko seit 2020 Widerstand leisten. Sie haben staatliche Internetseiten gehackt und dienstliche Informationen der Sicherheitsbehörden geleakt. Derzeit umfasst die Gruppe rund 60 Personen, die an der Entwicklung und dem Betrieb einer „Partisanenversion“ von Telegram arbeiten. Darüber hinaus sind die Cyberpartisanen aktiv am „Gleiskrieg“ beteiligt, bei dem Belarussen den Transport russischen Kriegsgeräts über belarussisches Territorium in die Ukraine zu verhindern versuchen.

    Nicht nur über ihre Struktur, sondern auch auf individueller Ebene spielte die IT-Community eine Rolle bei den Protesten. Viele aus der IT-Szene nahmen persönlich an den Demonstrationen teil. „IT-Kräfte und Einzelunternehmer gehörten zur Avantgarde der Proteste von 2020. Ich habe eigenhändig den High-Tech-Park aufgebaut und die Entwicklung der Einzelunternehmer gefördert. Warum gehen die jetzt alle auf die Straße?“, sagte Lukaschenko verständnislos.

    Viele von ihnen wurden verprügelt, festgenommen und verhaftet. Die Geschichte des Projektmanagers Witali Jaroschtschik* ist hier symptomatisch. Nach dem 10. August 2020 hat er mehrere Tage im Okrestina-Gefängnis verbracht, wo Menschen gefoltert wurden. Dann gab es mehrere Gerichtsverfahren wegen administrativer Vergehen. Seine Konten wurden eingefroren, weil er über die Stiftung BY_help Geldstrafen von Opfern der Repressionen bezahlt hatte. Im Strafverfahren gegen die Stiftung wurde Witali zum Zeugen gemacht. Zuerst versteckte er sich, 2021 verließ er schließlich das Land. Das alles hat sich stark auf seine Arbeit ausgewirkt: „Meine Produktivität sank um rund 80 Prozent. Von Ende April bis August 2021 habe ich kaum richtig gearbeitet. Ich brauchte fast ein Jahr, um auszuwandern und wieder Fuß zu fassen“, sagt Witali.

    Nicht nur Einzelpersonen wanderten ab, sondern auch ganze Firmen. Eines der ersten Unternehmen, das seinen Standort ins Ausland verlegte (nachdem dessen Topmanager festgenommen wurden), war das Startup PandaDoc. „Es ist unmöglich, in einem Land innovativ zu sein, in dem deine Mitarbeiter jederzeit in Geiselhaft genommen werden können“, sagt Nikita Mikado, der Gründer von PandaDoc, ganz offen.

    Belarus verliert im weltweiten wie auch im regionalen Ranking der Startup-Ökosysteme zielstrebig Punkte. Mit Beginn des Krieges in der Ukraine verschlechterte sich die Lage weiter. Noch mehr Menschen wanderten aus; die wichtigsten Gründe waren die Furcht vor Kriegshandlungen und die vor einer Mobilisierung in Belarus. In Polen wurden im Mai 2022  mehr Visa für IT-Kräfte als humanitäre Visa ausgestellt. Die meisten Firmen wollen zumindest einen Teil ihrer Teams ins Ausland verlegen, laut einer Umfrage im April 2022 bei fast 200 Firmen 74 Prozent der Unternehmen. Im November 2021 waren es noch 52 Prozent. 57 Prozent (früher 68 Prozent) der Firmen hatten ihren Sitz in Minsk .

    „Der Krieg hat eine zweite Auswanderungswelle losgetreten. Ein Bekannter von mir wollte nicht gehen, nicht einmal, als er wegen der Proteste strafrechtlich verfolgt wurde. Nach dem Beginn des Krieges jedoch sagte er, hier sei nichts Gutes zu erwarten … Jetzt ist er in Polen“, erzählt der IT-Fachmann Andrej Tester bei einem mittelgroßen Outsourcing-Unternehmen. „Es gab eine Welle kurzfristiger Emigration: Die Menschen gingen mit dem Gefühl „bloß weg hier“ und kamen dann zurück; ein Teil von ihnen bereitet jetzt jedoch einen langfristigen Umzug vor.” Andrej selbst bleibt in Belarus, wegen der Familie und der Kinder.

    Ein anderes Beispiel ist die Grafik-Programmiererin Maja* von der Firma Wargaming. Maja arbeitet seit anderthalb Jahren in der IT und plant, in die EU auszuwandern, weil die Situation in Belarus ihr Angst macht. „Sätze wie ’man muss sich den IT-Sektor vornehmen’ jagen mir Angst ein. Es gibt Gerüchte, dass ein Gesetz in Vorbereitung ist, das die Ausreise von Bürgern einschränkt. Das könnte auch IT-Kräfte betreffen. Wir wollen in Freiheit Geld verdienen und leben“, sagt sie. Die vielsagenden Zahlen: Die Netto-Abwanderung von Mitarbeitern aus dem belarussischen IT-Sektor belief sich allein in den ersten sieben Monaten 2022 auf über 10.000.

    Wohin der belarussische IT-Sektor zieht

    Die Firmen verlegen ihre Büros nach Polen, Litauen, Estland, Georgien, Usbekistan. Darunter sind Giganten wie EPAM, IBA, Wargaming, A1Q1, Startups wie Flo und Wannaby und viele andere. Angesichts der großen Nachfrage nach IT-Spezialisten helfen die Nachbarländer oft bei der Verlegung des Firmensitzes. In der Ukraine wurde das komplizierte Verfahren zum Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis vereinfacht. Dorthin sind Hunderte, wenn nicht Tausende ausgewandert. Nach dem Beginn des Krieges sind viele wieder weitergezogen.

    Polen begann im September 2020, über das Programm Poland.Business.Harbor (PBH) Arbeitsvisa an IT-Kräfte zu erteilen, die Belarus verlassen wollen. Dadurch haben nach Angaben des polnischen Außenministeriums 44.000 Belarussen ein PBH-Visum zur Umsiedlung von Fachkräften und ihren Familien erhalten. Auch in Litauen und Lettland wurden Büros belarussischer Firmen eröffnet. Im litauischen Ministerium für Wirtschaft und Innovation fanden im März 2022 mit 60 (vorwiegend belarussischen) Firmen Verhandlungen über eine Ansiedlung statt.

    Und die, die geblieben sind? 

    „Nach unseren Beobachtungen behalten die IT-Firmen in Belarus ihren Status als juristische Person und ihren Entwicklungsstandort, verlegen aber reihenweise das Top-Management und die Mitarbeiter. Ein Grund für eine vollständige Verlegung kann die Weigerung sämtlicher westlicher Kunden sein, die Zusammenarbeit fortzuführen, oder eine Abschaffung der Privilegien für Residenten des HTP”, sagt Jelisaweta Kapitanowa, Leiterin der Vereinigung Belarus IT Companies Club.

    Ausländische Firmen lehnen die Zusammenarbeit mit Firmen in Belarus wegen der hohen Risiken ab, angefangen von der potenziellen Verhaftung von Mitarbeitern bis hin zu Sanktionen. Wegen der Sanktionen gegen Belarus sind die Geldflüsse beschränkt, das Finanzsystem ist instabiler geworden. In der Praxis kann das aussehen wie ein banales Zugriffsverbot auf ein Projekt von belarussischem Territorium aus. Darunter leidet die Branche, und die Regierung versucht, den Sektor zu erhalten und die IT-Firmen auf den Binnenmarkt auszurichten.

    Manche Unternehmen sind aber auch zufrieden mit den Arbeitsbedingungen in Belarus: „Die Risiken sind nicht höher als in anderen Ländern, sie sind akzeptabel. Die Gesetze werden ständig besser angepasst, der Verwaltungsaufwand wird vereinfacht. Das Einzige, was gleich geblieben ist: Man kann schwer etwas erreichen, wenn man mit staatlichen Stellen aneckt“, meint Dmitri Nor, Direktor von SkySoft, einem kleinen Webentwickler. „Die Bedingungen für Unternehmen waren bei uns immer recht gut. Es gibt aber eine Nuance: Man muss jetzt Gesetze einhalten und Steuern zahlen. Früher ging es nicht so streng zu, und wer dazu nicht bereit ist, muss jetzt vielleicht dichtmachen.“

    Was wird aus dem belarussischen IT-Sektor?

    „Die nähere Zukunft von Belarus als Unternehmensstandort ist äußerst traurig“, sagt in einem Interview der Unternehmer und Risikoinvestor Juri Melnitschek, der die App Mams.me entwickelt hat. Zum High-Tech-Park meint Juri, dass dessen steuertechnische Attraktivität sinke. Allerdings würden viele Unternehmen ihren Standort dort beibehalten: Der HTP umfasst über 1.000 Firmen.

    Was, außer Geld, verliert Belarus noch? Humankapital. Die besten Spezialisten wandern ab, ist aus den IT-Firmen zu hören. „Belarus gilt momentan als wenig aussichtsreicher und instabiler Standort. Schade um die Anfänger, die Startups, es gibt weniger Möglichkeiten und die Bedingungen sind schlechter. Auf dem Markt sind nur noch wenige gute Organisationen vertreten. Die Zukunft der belarussischen IT-Wirtschaft ist zerstört, und zwar, wie es derzeit aussieht, unumkehrbar“, meint Ilja*, der seit 2019 im IT-Bereich als Programmierer und als Manager in der Filiale eines großen russischen Unternehmens arbeitet.

    Der Wert der Abwandernden liege nicht nur in ihren beruflichen Qualitäten, ist Irina* überzeugt; sie ist leitende Kommunikationsexpertin in einer belarussischen Outsourcing- und IT-Firma. „Das sind Menschen, die sehr viel in ihre Bildung und Entwicklung investiert haben. Denkende Menschen, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Avantgarde in Belarus“, sagt sie.

    Rund 41 Prozent der IT-Kräfte sind abgewandert, und in einer Umfrage, die die Redaktion des Fachportals Dev.by im Sommer 2022 unter 5175 Personen durchgeführt hat, gaben weitere 25 Prozent an, dies zu planen. Unterdessen arbeiten die Belarussen im Ausland daran, sich zusammenzuschließen, eine Wirtschafts-Diaspora aufzubauen, die nach einem Machtwechsel in Belarus dorthin zurückkehren könnte.

    „Wie sind jetzt die Tendenzen? Alle ziehen aus Belarus ab, verlagern ihre Aktiva“, sagt Jaroslaw Lichatschewski, Begründer des Startups Deepdee und einer der Gründer der Stiftung BYSOL, die Opfer der Repressionen unterstützt. „Die Produktorientierung [Startups, die ein eigenes Produkt herstellen; – A.W.] ist zerstört. Niemand, der bei klarem Verstand ist, investiert jetzt in eine belarussische Firma. Das Gleiche gilt für das Outsourcing: Viele Kunden sind nicht bereit, mit Teams in Belarus zusammenzuarbeiten. Die belarussische IT-Branche wird sich – wie die Kultur, der Journalismus und das gesellschaftliche Leben – jetzt im Ausland regenerieren und entwickeln [müssen]. Die Frage ist nur, ob wir als Community bestehen bleiben oder uns in den neuen Ländern in alle Winde zerstreuen.”

    * die Namen der in diesem Beitrag genannten Personen, die in Belarus leben oder sich um die Sicherheit ihrer Familien sorgen, wurden geändert oder verkürzt.

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  • „Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff“

    „Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff“

    Die Aufregung war groß, als Alexander Lukaschenko nach einem neuerlichen Treffen mit Wladimir Putin in Sankt Petersburg ankündigte, einen regionalen Truppenverband zusammen mit dem russischen Militär aufstellen zu wollen. Würde der belarussische Machthaber, nachdem er sich über Monate offensichtlich dem Druck des Kreml entzogen hat, doch eigene Truppen in den Angriffskrieg gegen die Ukraine entsenden? 

    Der belarussische Verteidigungsminister Viktor Chrenin versuchte, den Sorgen und Befürchtungen, gerade von ukrainischer Seite, Wind aus den Segeln zu nehmen. Er sagte: „Wir wollen nicht gegen Litauer kämpfen, oder Polen, oder Ukrainer.“ Allerdings senden die belarussischen Machthaber seit Monaten widersprüchliche Signale, denn Lukaschenko unterstützt den russischen Krieg nicht nur mit seiner aggressiven Rhetorik, die der des Kreml in vielerlei Hinsicht ähnelt, sondern auch, indem Russland das belarussische Territorium bis heute für den Abschuss von Raketen in Richtung Ukraine nutzt.

    Die Ankündigung einer gemeinsamen Truppe hielt Lukaschenko, wie man es von ihm kennt, recht schwammig. Was aber steckt hinter dieser Ankündigung? Wie ist sie zu bewerten? Welche Taktik verfolgt Lukaschenko? Und ist sie gleichzusetzen mit einer Entsendung eigener Truppen in die Ukraine? In einem Telegram-Beitrag gibt der belarussische Politanalyst Wadim Mosheiko Antworten auf diese Fragen.   

    Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff. Die Alarmisten helfen Putin, der mit verschiedenen demonstrativen Aktionen versucht, sein „Das ist kein Bluff“ zu untermauern.

    Die Angriffe auf ukrainische Städte, Wohnhäuser und Infrastruktur mit zivilen Opfern, das ist zwar immer furchtbar, aber auch nicht neu oder überraschend. Das ist eine Taktik, die Russland bereits eingesetzt hat, und die nichts am Verlauf des Krieges geändert hat.

    Lukaschenkos Erklärungen folgten der absolut gleichen Logik. Seine „Aufstellung eines gemeinsamen regionalen Truppenverbands“ sind sehr allgemeine Worte, die letztendlich eine Verlegung unterschiedlicher Kräfte beschreiben, mehr aber auch nicht. Von einem Einmarsch der belarussischen Armee war keine Rede; eine Aufstellung ist kein Angriff.

    Die einzig konkrete Ankündigung (und auch die eine recht mickrige) war das Versprechen, dass „in nächster Zeit“ russische Soldaten in Belarus aufgenommen und dort stationiert werden, „nicht in großer Zahl“, aber auch „nicht nur tausend Mann“. Auch das ist leider nichts Neues: Seit Beginn des Krieges ziehen sowieso russische Militärangehörige nach Belarus, und zwar zu dem Zeitpunkt und in der Stärke, wie es ihnen beliebt, und das Regime Lukaschenko gewährt ihnen dabei logistische Unterstützung. Hier verweise ich erneut auf meine Drei Prinzipien, die Lukaschenkos Verhalten im Krieg beschreiben:

    1) Wenn ein Stillhalten von Lukaschenko ausreicht, damit der Kreml von Belarus aus agieren kann, dann bekommen und machen die Russen, was sie wollen und wann sie es wollen. Um beispielsweise Flugzeuge der russischen Luftwaffe in den belarussischen Luftraum zu lassen, damit sie die Ukraine angreifen, reicht es, wenn Lukaschenko nicht stört. Das Gleiche gilt für die Ankunft russischer Raketenwerfer, mit denen ukrainische Städte beschossen werden. Die werden so oft und zu dem Zeitpunkt eintreffen, wie es Russland beliebt, und so lange, wie Russland über ausreichend Ausrüstung und Munitionsvorräte verfügt. Unabhängig davon, ob sich derzeit solche russische Streitkräfte in Belarus befinden, was Lukaschenko gesagt hat, oder ob Kyjiw das Kabinett Tichanowskaja anerkennen wird und so weiter.

    2) Wenn von Lukaschenko eine technische Unterstützung verlangt wird, die seine politische Position nicht gefährdet, dann wird er dem Kreml bei allem behilflich sein. Das betrifft die gesamte Logistik, angefangen bei den Flughäfen über die Straßen und Gleisverbindungen, die Behandlung verletzter russischer Soldaten in belarussischen Krankenhäusern bis hin zur Reparatur russischen Kriegsgeräts in belarussischen Fabriken und Werkstätten. Für Minsk würde das alles keine größere Schuld und keine zusätzlichen Sanktionen bedeuten, und es würde an der öffentlichen Meinung in Belarus oder der Ukraine nichts Wesentliches ändern. 

    3) Falls von Lukaschenko konkrete Entscheidungen im militärischen Bereich verlangt werden, ohne die die Dinge nicht in Gang kämen, dann würde er sie nicht treffen und nichts würde geschehen. Ohne einen Befehl des Oberkommandos (und des Oberkommandierenden Lukaschenko) werden die Offiziere der belarussischen Streitkräfte nicht dazu übergehen, auf Befehle aus Moskau zu hören und einen Angriff unternehmen. Ohne Lukaschenkos Befehl werden die belarussischen Mehrfachraketenwerfer vom Typ Polones keinen Beschuss der Ukraine beginnen. Und ohne einen Befehl von Lukaschenko wird es keine Mobilmachung geben. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine Eskalation von Seiten Lukaschenkos grundsätzlich ausgeschlossen ist. Doch seine Angst, sich Russland entgegenzustellen ist, gepaart mit seinem Unwillen, noch tiefer in den Krieg hineingezogen zu werden, wobei er sich die eigene Grube immer tiefer gräbt (indem er die ohnehin überaus hohe Abhängigkeit von Russland weiter vergrößert).

    * * *

    Wenn jetzt irgendwann ein paar Tausend russische Soldaten in Belarus eintreffen sollten, wäre das nichts Gutes. Es wäre aber auch nichts Neues und würde weder am Verlauf des Krieges noch an der Position von Lukaschenko oder Belarus etwas ändern.

    Auf solche Dinge muss natürlich auf diplomatischer Ebene und bei der NATO reagiert werden, es ist ein Schritt in eine schlechte Richtung, der unbedingt zu bedenken ist. Aber die belarussische Armee wird hier und jetzt nicht in den Krieg eintreten, also sind auch panische Rufe wie „Ein Wolf, ein Wolf!“ unangebracht.

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