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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Korruption in Belarus: Der Fisch stinkt vom Kopf

    Korruption in Belarus: Der Fisch stinkt vom Kopf

    Die Präsidentschaftswahl im Jahr 1994 gewann Alexander Lukaschenko unter anderem mit seinem Schlachtruf, der Korruption in Belarus endgültig das Handwerk zu legen. Seitdem hat er allerdings ein System geschaffen, in dem Korruption ein zentrales Instrument der Machterhaltung ist. Sie wird auf allem möglichen Ebenen geduldet – in der Beamtenschaft, in Staatsunternehmen, bei den Silowiki, im Gesundheits- oder Bildungssystem – solange sie nicht zum Problem für die Mächtigen selbst wird. So ist sie immer auch ein Hebel, um unliebsame Personen auszutauschen, indem man sie eben der Korruption bezichtigt.

    Warum die Korruption im Apparat von Lukaschenko systemimmanent ist und wie dieses System funktioniert, erklärt der Politologe Waleri Karbalewitsch in einer Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk.

    Alexander Lukaschenko hat dafür gesorgt, dass der Prozess zur „Milch-Affäre“ noch mehr Aufsehen erregt. Verdächtigt werden 26 Personen, von denen 15 in Untersuchungshaft sitzen. Der Hauptverdächtigte ist Gennadij Skitow, Generaldirektor des Unternehmens Babuschkina Krynka mit Standort in Mahiljou. Im Zusammenhang mit dem Verfahren wurde auch der ehemalige Landwirtschaftsminister und spätere Berater von Lukaschenko, der Inspektor des Gebiets Wizebsk Igor Brylo festgenommen.

    Der Beamte entscheidet alles 

    1994 hatte sich Lukaschenko bekanntermaßen die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen seines Präsidentschaftswahlkampfes geschrieben. Er versprach, dieser Hydra den Kopf abzuschlagen und die mafiösen Clans auszumerzen. Das Bild des unversöhnlichen Kämpfers gegen die Korruption wurde zum Aushängeschild des belarussischen Präsidenten. Er versicherte russischen Journalisten wiederholt, dass es bei uns keine Korruption im großen Stil wie in Russland geben würde, weil er angeblich selbst nicht stehle und auch seine Beamten nicht davonkommen lasse. 2018 erklärte Lukaschenko bei einem Besuch in Sluzk: „Ich habe schon bei den ersten Präsidentschaftswahlen dem Volk klar gesagt, dass es in Belarus schlichtweg keine Korruption geben kann.“

    Seit vielen Jahren liegt dem offiziellen ideologischen Konstrukt die These von einem starken Staat zugrunde, der für Ordnung sorgt. Nach dem Motto: Das Regime mag zwar autoritär sein, aber dafür kämpft es für Gerechtigkeit. Die staatlichen Güter würden nicht geplündert, es herrschte keine Willkür bei Privatunternehmern. Dabei gibt es in Belarus ganze neun Behörden, die mit Ermittlungs- und Fahndungsmaßnahmen befasst sind. Trotz alledem gedeiht die Korruption in unserem Land. Woran auch Lukaschenko nicht müde wird zu erinnern, indem er immer wieder neue Fakten über solche Vergehen enthüllt.

    Warum? Weil der Boden für Korruption in Belarus in Wirklichkeit sehr fruchtbar ist. Schon das Gesellschaftsmodell selbst begünstigt Korruptionsprozesse. Schließlich ist ein System, in dem der Staat (also die Beamten) alle Bereiche des öffentlichen Lebens kontrolliert und der staatliche Sektor eine immense Rolle in der Wirtschaft spielt, wie geschaffen für Korruption.

    Während sich in den meisten Ländern die sozialen und wirtschaftlichen Prozesse selbst regulieren, wird in Belarus alles von Beamten entschieden. Die riesige Macht der Bürokratie in einem geschlossenen, intransparenten System, in dem jede Information für geheim erklärt wird und es keine Rechtsstaatlichkeit gibt, führt dazu, dass die Korruption in einem solchen Land vorprogrammiert und quasi genetisch angelegt ist.

    Der Fisch stinkt vom Kopf her

    Die Instrumente zur Korruptionsbekämpfung sind seit langem bekannt: Verringerung der Rolle des Staates in der Wirtschaft, der Gesellschaft und dem öffentlichen Leben; Kontrolle des Staates durch die Gesellschaft; eine starke Opposition und Zivilgesellschaft sowie unabhängige Medien, die jeden Schritt der Bürokratie verfolgen; und ein Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten.

    In Belarus gibt es das alles nicht. Schließlich kann die Kontrolle der Beamten durch die Gesellschaft schlecht durch deren Kontrolle durch einen autoritären Herrscher ersetzt werden. Selbst wenn dieser aufrichtig interessiert daran sein sollte, dieses Übel zu beseitigen.

    Schauen wir nur, wie in Belarus das System der „Rechtsprechung“ – verzeihen Sie den Ausdruck – funktioniert. Es reicht, dass der Vorsitzende des KGB oder der Leiter der Staatlichen Kontrollkommission Lukaschenko einen Bericht über einen x-beliebigen Bürger vorlegt. Der Herrscher segnet es ab, und das war’s. Das Schicksal des Betreffenden ist besiegelt. Er bekommt keine Chance, sich zu verteidigen. Der Gerichtsprozess ist nichts weiter als eine Inszenierung, eine Fiktion. Das Gericht erlässt keine Freisprüche. Wenn man allerdings Geld hat, kann man sich freikaufen, was viele Reiche auch tun.

    Auch das Verhalten von Lukaschenko selbst, der alle anderen zur Bescheidenheit und zum Dienst am Staate aufruft, taugt nicht als gutes Beispiel. Auf Staatskosten alle möglichen Marotten zu befriedigen, angefangen bei 16 Residenzen bis hin zum alljährlichen internationalen Eishockeyturnier zu Ehren seiner selbst – das korrumpiert die Beamten mehr als alles andere.

    So drängt sich der Schluss auf, dass die korrupteste Behörde in Belarus das Präsidialamt selbst ist. Drei ihrer Leiter sind jeweils unter großem Aufsehen wegen Korruptionsvorwürfen entlassen worden. Die Einstellung zur Korruption in den Machteliten lässt sich anschaulich an der bekannten Siedlung im Minsker Stadtteil Drasdy demonstrieren, in der sich traditionell hohe Amtsträger des Staates niederlassen. Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf her. Deshalb stellt sich sofort die Frage, mit welchem Geld sich die Staatsbeamten in Drasdy und Wjasnjanka Häuser bauen, die eine Million Dollar kosten?

    Lukaschenko scheint bei der Korruption in seiner Umgebung mitunter doch ein Auge zuzudrücken. Vielleicht deshalb, weil Menschen, gegen die man ernstzunehmendes Kompromat (kompromittierendes Material) in der Hand hat, am zuverlässigsten und loyalsten sind. Die können das U-Boot nicht verlassen.

    Lukaschenko hat mehrfach erklärt, dass bei der Ernennung von Kandidaten für Posten aus dem Präsidialregister diese durch den KGB und anderen „zuständigen Behörden“ überprüft würden. Allem Anschein nach gibt es über jeden Beamten ein Dossier mit kompromittierendem Material. Manchmal kommt dieses Kompromat durchaus zum Einsatz. Oftmals geht es darum, dass hohe Beamte ihre eigenen, unabhängigen und Lukaschenko nicht bekannten Einnahmequellen haben, was bereits als Revolte gilt, weil es bedeutet, sich der Kontrolle zu entziehen. Und das muss bestraft werden.

    Die Justiz funktioniert nicht. Es gibt keine gesellschaftliche Kontrolle

    Ein weiteres schädliches Element ist, dass immer wieder Amtsträger begnadigt werden, die wegen Korruption im Gefängnis sitzen. Viele kommen sehr schnell wieder frei. Sie werden dann etwa dazu verdammt, rückständige Agrarbetriebe zu leiten. Den Beamten wird der Gedanke anerzogen, dass im Land allein der Wille Lukaschenkos gilt, und nicht das Gesetz. Und wenn man große Reue zeigt und ein Bittschreiben an den Zaren richtet, in dem man ganz besonders betont, wie barmherzig er ist, dann kommt man unter Umständen schnell frei.

    Da wäre noch ein weiterer Umstand, der Korruption in Belarus begünstigt: Hier gilt ein sehr widersprüchliches Wirtschaftsrecht. Es gibt keine einheitlichen Regeln für wirtschaftliche Betätigung, die für alle gelten würden.

    In jeder Region gibt es freie Wirtschaftszonen mit besonderen Steuerbestimmungen. Es gibt den Hightech-Park und den Industriepark Weliki Kamen. Steuerrechtlich sind das im Grunde Offshore-Gebiete. Im Kreis Orscha wurden per Dekret von Lukaschenko exklusive Wirtschaftsbedingungen geschaffen. Staatsunternehmen erhalten bei staatlichen Banken Kredite zu vergünstigten Zinssätzen und müssen sie meist nicht zurückzahlen. Ausländische Investoren versuchen, mittels Lobbyarbeit exklusive Wirtschaftsbedingungen für sich herauszuschlagen. Und so weiter und so fort. Die Grenzen sind hier fließend.

    Zudem ist die Auslegung von Rechtsverstößen seitens Polizei und Justiz sehr subjektiv, beispielsweise bei Steuerhinterziehung. Dabei ist es unmöglich, deren Vorgehen anzufechten. Es sind zahlreiche Fälle bekannt, bei denen eine reiche Person hinter Gitter wandert und die Summe des Lösegelds genannt wird. Zahlt er, kommt er frei und es wird kein Strafverfahren eingeleitet. Es erübrigt sich, unter diesen Umständen von Recht zu sprechen.

    Das Fehlen von gesellschaftlicher Kontrolle über die Arbeit staatlicher Einrichtungen, die Intransparenz, die starke Neigung des staatlichen Verwaltungssystems zur Geheimhaltung, das Justizchaos, die Abhängigkeit der Gerichte von der Exekutive, die Ungleichheit der Bürger vor dem Gesetz – all das sind Zutaten für den Korruptionscocktail. Und solange das System sich nicht ändert, werden der Hydra immer neue Köpfe wachsen.

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  • Gaza und die Juden im Kaukasus

    Gaza und die Juden im Kaukasus

    Am 29. Oktober stürmten mehrere hundert überwiegend junge Männer den Flughafen von Machatschkala in der russischen Teilrepublik Dagestan. Sie überrannten Absperrungen, stürmten auf das Flugfeld und suchten Juden, die sie unter den Passagieren einer Maschine aus Tel Aviv vermuteten. Mindestens 20 Menschen wurden verletzt, zahlreiche Passagiere verbrachten Stunden in Angst an Bord ihrer Maschinen, bevor der Mob abzog und die Türen geöffnet werden konnten. 

    Ausgelöst durch den Krieg in Israel hatte es bereits in den Tagen zuvor antisemitische Kundgebungen und Ausschreitungen im Nordkaukasus gegeben, wo mehrheitlich Muslime leben. Das war auch deshalb bemerkenswert, weil Demonstrationen in Russland derzeit in der Regel umgehend unterbunden werden. Die Beteiligten kamen bislang mit geringen Strafen davon. Offizielle Stellen betonten, Juden und Muslime hätten im Kaukasus immer friedlich zusammengelebt. 

    Wahr daran ist, dass im Kaukasus schon lange Juden leben, erklärt ein Experte Petersburg Judaica Center, der viele Jahre Feldforschung in der Region betrieben hat. Die meisten dieser Bergjuden überlebten den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, da der Kaukasus nur verhältnismäßig kurz unter deutscher Besatzung war und die Wehrmacht die Zentren ihrer Siedlungen in Aserbaidschan, Dagestan und Tschetschenien nicht erreichte. Heute leben insgesamt noch etwa 10.000 Bergjuden an unterschiedlichen Orten im Kaukasus.

    Wer sind die Bergjuden?

    Die Bergjuden sind eine der jüdischen ethnischen Gruppen, deren Eigenbezeichnung „Juhuri“ lautet, was „Juden“ bedeutet. Ihre historische Heimat ist der Ostkaukasus, eine Region, in der sich das Gebirge des Kaukasus gen Kaspisches Meer senkt. In den politischen Grenzen von heute ausgedrückt, handelt es sich um den Süden von Dagestan und den Norden Aserbaidschans. Im 19. Jahrhundert siedelten die Bergjuden aus Dagestan im gesamten Nordkaukasus. Später verteilten sie sich über die ganze Welt. Die größte bergjüdische Gemeinschaft befindet sich heute in Israel. Viele Bergjuden leben auch in Moskau, den USA und in Europa.

    Die Bergjuden sprechen einen der Dialekte des Tatischen, das zu den westiranischen Sprachen gehört. Die muslimischen Taten sprechen einen anderen Dialekt derselben Sprache. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als der staatliche Antisemitismus in der UdSSR unter Stalin zunahm, versuchte die bergjüdische Intelligenzija in Dagestan und den anderen Republiken des Nordkaukasus, die Vorstellung zu verfechten, dass es auf die sprachliche Gemeinschaft ankomme, und nicht auf die Religion (diese sei etwas Überkommenes, das in einem atheistischen Staat ausgemerzt werden müsse!). Sie erreichten, dass die Bergjuden eine andere Bezeichnung erhielten und die Einträge in den Pässen entsprechend geändert wurden.

    Dadurch entstand eines der „indigenen Völker Dagestans“ – die Taten. In Dagestan leben fast keine muslimischen Taten. Die meisten muslimischen Taten leben in Aserbaidschan, wo sie in den Meldelisten als Aserbaidschaner geführt werden. Da das Wort „Tate“ bei den aserbaidschanischen Volkszählungen nicht vorkam, blieben die Bergjuden, die in Aserbaidschan lebten, dem Pass nach Juden. Der Eintrag „Tate“ im Pass bedeutete in sowjetischer Zeit, dass der Inhaber ein Bergjude aus einer der nordkaukasischen Republiken der Russischen Föderation ist. Diese Geschichte aus der sowjetischen Vergangenheit hat dazu geführt, dass die Bergjuden bis heute mitunter als Taten bezeichnet werden, was ihnen nicht immer gefällt. Auch Präsident Putin wiederholte, als er über die Ereignisse in Machatschkala sprach, die Formel von den „Taten, einem indigenen Volk Dagestans“.

    Antisemitismus im Kaukasus

    Oft ist der unsinnige Touristen-Mythos zu hören, es habe im Kaukasus niemals Antisemitismus gegeben. In jedem Land, in dem es historisch eine jüdische Gemeinschaft gibt oder gab, gibt oder gab es auch Antisemitismus. Im Nordkaukasus hat es immer Antisemitismus gegeben. Die Verfolgung der Bergjuden zwang diese Ende des 18. Jahrhunderts, in den Schutz aserbaidschanischer Festungen wie etwa Derbent und Kuba umzusiedeln. Mitte des 19. Jahrhunderts mussten die Bergjuden während des Kaukasuskrieges erneut fliehen. Dieses Mal suchten sie hinter den Mauern der russischen Befestigungen Schutz (etwa in Naltschik, Kisljar oder Grosny). Die Bergjuden hatten sehr stark unter den Pogromen während des Bürgerkrieges zu leiden, der nach der bolschewistischen Revolution ausbrach.

    Im August 1960 führte im dagestanischen Bujnaksk ein Artikel in einer Lokalzeitung fast zu einem Pogrom: Darin wurde behauptet, Juden würden fünf bis zehn Gramm muslimischen Bluts kaufen, es in einem Eimer Wasser verdünnen und dann an andere Juden weiterverkaufen. Der Inhalt des Artikels wurde am selben Tag im örtlichen Radiosender verbreitet. Die Juden in Bujnaksk wandten sich zum Schutz vor diesen Verleumdungen an das Politbüro des ZK der UdSSR. Um die Lage zu entschärfen, brauchte es die Intervention Moskaus.

    Während des Sechstagekrieges 1967 gab es in der Moschee von Derbent eine Versammlung, auf der Israel verurteilt werden sollte. Dort hielten Kolchosenvorsitzende und Fabrikdirektoren Reden, in denen sie die Regierung aufriefen, „einen Schlag gegen den Aggressor zu führen“. Das Volk auf den Straßen verstand diese Worte als Genehmigung für Angriffe auf Juden. In der Stadt lag ein Pogrom in der Luft. Die Juden baten die Behörden um Schutz. Zudem organisierten sie Brigaden zur Selbstverteidigung, falls es zu Übergriffen kommen sollte. Dieses Mal ging alles glimpflich aus.

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion war der Staat in Dagestan in der ersten Hälfte der 1990er Jahre sehr schwach. Kriminelle Gruppen kämpften um Macht, Einfluss, Land und Eigentum, und es kam zu politischen Morden. In den muslimisch dominierten Regionen hatte die vergleichsweise kleine Gruppe der Bergjuden mehr als andere unter diesen Umständen zu leiden. 1993 und 1994 waren die Juden in Dagestan oft Ziel von Gewalt (Drohungen, Entführungen, Morde). Sie sahen sich dadurch gezwungen, ihre Häuser und Wohnungen zurückzulassen und oft auch ihr Hab und Gut. Die humane Variante sah so aus: Man bekam 24 Stunden Zeit, um seine Sachen zu packen; dann sollte man den Wohnungsschlüssel unter die Fußmatte legen. Die inhumane Variante war Mord.

    Die Juden flohen nach Israel, Moskau und Pjatigorsk. In dieser Phase verschwanden in Dagestan die blühenden jüdischen Gemeinden in Bujnaksk, Kisljar und Chassawjurt. Die jüdische Bevölkerung von Derbent sank von 17.000 auf 2000. Hinter all dieser Gewalt steckten natürlich Kriminelle, die um Posten, Einfluss und Besitz konkurrierten. Sie wurde jedoch mit Hilfe nationalistischer und antisemitischer Parolen begründet. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ließ die kriminelle Gewalt nach, und das Leben kehrte in ruhigere Bahnen zurück.

    Am 29. Oktober stürmten mehrere hundert Männer den Flughafen von Machatschkala in Dagestan, um ihre Unterstützung für die Bevölkerung im Gaza-Streifen zu demonstrieren. Aufschrift auf dem Schild: „Wir sind gegen jüdische Flüchtlinge!“ / Foto © Ramazan Rashidov/TASS/imago-images

    Wie Vorurteile sich zu einem Pogrom entwickeln

    Antisemitismus ist (wie vergleichbare Phobien) keine Ideologie, sondern ein Element, das im Unterbewussten schlummert. Er ist eine Art normale Mikroflora, die pathogen werden kann, so dass der Organismus beziehungsweise der Wirt geschwächt wird. Andersgläubige und Fremde werden nicht gemocht, über ethnische Nachbarn werden üble Mythen erzählt. Doch vorläufig leben alle friedlich zusammen, besuchen einander und gehen auf Hochzeiten. Setzt aber eine Krise ein, dann brechen die überkommenen Vorurteile durch.

    Das Schlimmste ist, wenn eine solche Zuspitzung in einer noch nicht vollständig modernisierten Gesellschaft auftritt. Wie eben im Nordkaukasus, wo die Masse der Landbevölkerung immer noch in die Städte strebt. Die Menschen bewahren dabei ihre traditionellen Vorurteile, verlieren aber die traditionelle Kontrolle und entgleiten der Aufsicht der althergebrachten Autoritäten. Sie sind desorientiert, verlangen ein Stück vom urbanen Kuchen, wissen aber nicht, wie sie es richtig abbeißen sollen. Sie sind schlichtweg arm, oft ohne Arbeit, von radikalen Predigern geleitet, jung und leicht zu mobilisieren.

    Für die alteingesessene städtische Bevölkerung ist ein andersgläubiger Nachbar Konkurrenz und Ressource zugleich. Schließlich betrachten sich alle als Teil der Polis, sie empfinden einen Polis-Patriotismus. Dagegen ist ein Städter für die Migranten ein Ziel, und ein andersgläubiger Städter erst recht.

    Das Problem von Gesellschaften mit unvollendeter Modernisierung ist das schnelle Wachstum der Metropolen, denn nur dort sind zusätzliche Ressourcen verfügbar, die nicht in die Peripherie gelangen. Machatschkala ist eine solche Stadt. In den letzten zehn Jahren hat die Einwohnerzahl dort stark zugenommen auf mehr als 600.000. Einschließlich der Vororte leben dort jetzt fast eine Million Menschen, also nahezu ein Drittel der Bevölkerung der Republik Dagestan. Das schnelle Wachstum der Stadt wird durch eine für Russland überdurchschnittliche Geburtenrate getragen. Viele der jungen Einwohner sind erst vor kurzem in die Stadt gezogen. In einer solchen Stadt ist es leichter als irgendwo sonst, 2000 aggressive Randalierer zu finden.

    Was wollten die Menschen, die sich am Flughafen versammelten?

    Ethnische oder religiöse Identität ist häufig ein Grund für starke emotionale Reaktionen. Ich bin von dem Überfall der Hamas auf Israel stark mitgenommen, weil ich Jude bin, und weil ich dort Freunde und Verwandte habe. Muslime nehmen das, was mit der Bevölkerung des Gaza-Streifens geschieht, ebenfalls sehr schmerzlich wahr. Das Mitgefühl mit Glaubensgenossen ist eine verständliche Emotion, doch mit Pogromen hat sie nichts zu tun. Friedlicher Protest ist eine legitime Form kollektiven politischen Handelns, was in Dagestan ganz normal wäre, wo die muslimische Mehrheit auf der Seite der Palästinenser steht. Doch die Situation hat eine andere Wendung genommen.

    Die Bevölkerung in Dagestan neigt zu spontanen Aktionen. Im vergangenen Herbst, als in Russland die Mobilmachung begann, war Dagestan die einzige Region in Russland, in der die Aktionen dagegen recht heftig und sogar gewaltsam ausfielen. Das war kein Einzelfall. Jedes Mal, wenn in Dagestan irgendwo der Strom ausfällt oder die Gasversorgung zusammenbricht, was aufgrund der infrastrukturellen Probleme nicht selten der Fall ist, veranstalten die Menschen massenhafte und recht aggressive Aktionen. Ich will nicht sagen, dass am Flughafen von Machatschkala die gleichen Leute aktiv waren, die im Herbst gegen die Mobilmachung protestierten. Aber die Reaktion ist Teil der lokalen politischen Kultur.

    Aktionen zur Unterstützung der Bevölkerung im Gaza-Streifen finden weltweit statt, auch in Europa und in Amerika. In muslimischen Ländern, beispielsweise in der Türkei, versammeln sich besonders große Menschenmengen. Die Versammlung in Istanbul mit einer Million Teilnehmern fand übrigens auch am Flughafen statt. Das Vorgehen der Teilnehmer ist legitim, solange es gewaltlos bleibt. Die Bewohner von Machatschkala hatten ebenfalls das Recht, ihre propalästinensische und antiisraelische Demonstration mit heftigen Parolen zu veranstalten. Schließlich gehen ja auch Studenten angesehener US-Universitäten auf Demonstrationen, die zur Unterstützung des Gaza-Streifens aufrufen, und sie tragen dabei Plakate, die – vorsichtig ausgedrückt – politisch nicht korrekt sind.

    Die jungen Menschen in Machatschkala, die durch Informationen über den Krieg in Gaza und Berichte von Massendemonstrationen in aller Welt für die Muslime in Palästina aufgeheizt wurden, entschlossen sich zu demonstrieren. Demonstrationen sind in Russland derzeit äußerst gefährlich, in Dagestan werden sie aber, wie gesagt, weiterhin praktiziert. Die Menge zog zum Flughafen, weil dort regelmäßig Flugzeuge aus Tel Aviv landen. Die Logik war klar: Die Unzufriedenheit mit Israel sollte eben gegenüber Menschen aus Israel demonstriert werden, die wohl mit diesem Flug ankommen würden. Anfangs ergab sich alles zwar heftig und spontan, aber recht friedlich. Die sozialen Medien sorgten für eine schnelle Mobilisierung.

    Wir lassen keine israelischen Flüchtlinge nach Dagestan

    Im Weiteren kamen spezifische dagestanische und russische Faktoren zum Tragen. Auf dem Platz vor dem Flughafen versammelten sich nicht gar so viele Menschen. Nach Medienangaben waren es weniger als 2000, aber es waren nur junge Männer. Frauen – das ist die Spezifik der Region – nehmen an solchen Aktionen nicht teil. Auch nicht ältere Männer, die eine Balance zwischen Islam und den lokalen Bräuchen wahren. Das Publikum radikaler islamischer Predigten besteht überwiegend aus jungen Männern. Die Menge wiegelte sich auf. Einfach da zu stehen und Parolen zu rufen, erwies sich als wenig interessant und ziemlich langweilig. Die Menge ging dazu über, aktiv ihre Kraft und Wut zu demonstrieren, und sie machte sich auf zum Flugfeld.

    Gott sei Dank wurden keine Passagiere gelyncht; alle konnten in Sicherheit gebracht werden. Aber es fehlte nicht mehr viel zum Schlimmsten. Freuen kann man sich nicht nur für die, die sich in Lebensgefahr befanden, und am Leben blieben, sondern für alle. Schließlich macht Blutvergießen eine Lage unumkehrbar.

    Die Parole „Wir lassen keine israelischen Flüchtlinge nach Dagestan“ ist nicht aus dem Nichts entstanden. Sie entstammt der Annahme, dass die in Israel lebenden Bergjuden ihre Frauen, Kinder und Alten schicken würden. Also alle, die sich nicht an den Kampfhandlungen beteiligen können und unter dem Beschuss leiden. Und sie würden dort hingehen, wo sie bis zur Repatriierung gelebt hatten, zu Familienangehörigen oder zu Freunden. Ich weiß nicht, ob es solche Fälle tatsächlich gab, doch erscheint diese Annahme nicht absurd. An Israelis war man in Dagestan gewöhnt: Sie kamen regelmäßig zu Hochzeiten, Beerdigungen, Totengedenken oder einfach zu Besuch. Jetzt, während der Konfrontation, war es der Menge wichtig, Feinde des Islam – Juden und Israelis – nicht in ihr muslimisches Land zu lassen.

    Im Juni 2024 kam es zu einem terroristischen Anschlag auf eine Synagoge in Machatschkala / Foto © Nizami Gadzhibalayev/Tass Publication/imago-images

    Fremde Mächte hinter den Unruhen?

    „Das Pogrom am Flughafen wurde von jemandem provoziert …“ Meiner Ansicht nach ist das eine der dümmsten Thesen, die in den sozialen Netzwerken und in den Medien wiederholt werden. Die Regierung redet der Bevölkerung ständig ein, dass das Volk kein Subjekt ist, niemals ohne Strippenzieher hinter den Kulissen auskommt, und dass jeder Protest von Feinden organisiert wird. Der russische Präsident Wladimir Putin und der dagestanische Gouverneur Sergej Melikow haben behauptet, dass die Unruhen auf dem Flughafen von Machatschkala von amerikanischen Geheimdiensten inspiriert wurden. In den oppositionellen Medien und den sozialen Netzwerken kursierte als Antwort auf Putin eine genau gegensätzliche Erzählung: Nein, es war die Regierung, die das alles angezettelt hat, das war eine Provokation der Regierung!

    Man muss schon sehr wenig Respekt vor Menschen haben, seien sie nun gut oder schlecht, um zu denken, dass sie ohne einen Wink der Obrigkeit keinen Schritt tun. Das ist eine Art koloniale Optik: Der edle Wilde ist in seinem Urzustand so lange entgegenkommend und freundlich, bis ihn jemand zu etwas Schlechtem verführt. Man kann der Meinung sein, dass sich jemand übel verhält, man kann diesen Menschen dafür hassen, und man kann sogar zur Selbstverteidigung töten. Aber man darf nicht aufhören, in ihm einen Menschen zu erkennen, der selbst Entscheidungen trifft, seien sie nun gut oder schlecht, und der selbst dafür die Verantwortung übernimmt.

    Natürlich trägt die Regierung eine Verantwortung für alles, was im Land und in der Region passiert. Trotzdem trifft sie keine unmittelbare Schuld an dem Geschehen. Sie ist am wenigsten an Exzessen dieser Art interessiert, weil sie a) ständig von einer interreligiösen Harmonie in Russland spricht; b) „gegen den Nazismus kämpft“, was angesichts von Pogromen im eigenen Land wenig überzeugend wäre; c) versucht, den Tourismus in Dagestan zu entwickeln und viel Geld dafür investiert und schließlich d) ihr Gewaltmonopol bewahren will. Meiner Ansicht nach steckt hinter den Ereignissen Fahrlässigkeit und keine üble Absicht.

    Das Regime hat besonnen und sehr ernst reagiert, bis hin zur Erklärung von Präsident Putin, die bereits am Tag nach dem Pogrom erfolgte, wobei er das längst nicht aus jedem Anlass tut. Die Worte waren äußerst streng, das Ergebnis jedoch fiel bescheiden aus. Lediglich 15 Beteiligte an den Unruhen wurden zu acht Tagen Arrest verurteilt. Und das, obwohl der Flughafen für zwei Tage lahmgelegt war und einige Polizisten verletzt wurden. Für einen friedlichen Protest ungleich geringerer Dimension in Moskau oder anderen russischen Städten werden Aktivisten zu langen Haftstrafen verurteilt. Das Regime verfolgt offensichtlich zwei Ziele: Es will deutlich machen, dass ein solches Verhalten nicht hingenommen wird, und es will gleichzeitig keinen Anlass für neue Proteste liefern. Es bleibt zu hoffen, dass die Maßnahmen wirken und die Geschehnisse eine lokale Episode bleiben. Andernfalls könnte die jahrhundertelange Geschichte der Juden im Kaukasus bald beendet sein.

    Der Text geht auf einen Post von Valery Dymshits auf Facebook zurück, den das Portal Takie Dela übernahm. Der Autor hat ihn für dekoder überarbeitet und ergänzt.

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  • Karrieren aus dem Nichts

    Karrieren aus dem Nichts

    Am 30. September 2022 verkündete Wladimir Putin die Angliederung von vier ukrainischen Gebieten in die Russische Föderation: Donezk, Luhansk, Saporishshja und Cherson. Obwohl Moskau zu keinem Zeitpunkt auch nur eines dieser Gebiete vollständig unter seiner Kontrolle hatte, wurden eilig Verwaltungsbehörden nach russischem Vorbild eingerichtet. Journalisten des russischen Portals Verstka haben recherchiert, wer in den Okkupationsorganen wichtige Ämter innehat und dazu die Biographien von 224 Verwaltungsbeamten des mittleren und höheren Dienstes analysiert.

    Das Ergebnis: Etwa jeder zweite Leitungsposten in den regionalen Behörden ist von Beamten besetzt, die aus der Russischen Föderation kommen. Auf kommunaler Ebene überwiegen derweil Mitarbeiter, die vor der Besetzung bereits in den ukrainischen Behörden tätig waren. Ein beträchtlicher Teil der aus Russland zugezogenen Beamten wurde offenbar von der Aussicht angelockt, durch den Einsatz in den Besatzungsbehörden einer Strafverfolgung zu entkommen. Ukrainische Kollaborateure wurden dagegen mit Karriereversprechen geködert. 

    Einwohner der Region Saporishshja stehen Schlange, um in einem Zentrum für die Beantragung der russischen Staatsbürgerschaft Dokumente für den Erhalt des russischen Passes zu bekommen / Foto © RIA Novosti/SNA/imago-images

    Vom Putin-Verspötter zum Beamten seiner Besatzung

    Anfang Februar 2021 platzierte Igor Telegin aus Cherson auf dem Jobportal work.ua seine Bewerbung, in der er sich bereit erklärte, für 30.000 Hrywnja pro Monat (seinerzeit umgerechnet 1100 US-Dollar) als Drehbuchautor und Regisseur zu arbeiten. Als eine seiner besten Arbeiten nannte Telegin einen 2017 auf YouTube veröffentlichten Clip zu einem Lied von Alexander Ponomarjow, einem Schlagersänger mit dem Rang eines „Volkskünstlers der Ukraine“. Die erste Zeile lautet: „Wir werden uns nie von unserer Muttersprache lossagen.“ Die Videosequenz zeigt Antiterrorübungen von Spezialeinheiten der ukrainischen Streitkräfte und Schüler, die eine riesige ukrainische Flagge entrollen. Auch sind Kinder zu sehen, die in ukrainischer Nationaltracht einen ukrainischen Volkstanz aufführen. Telegin bezeichnete sich auch als Autor des Drehbuchs für eine Staffel der populären ukrainischen Serie Weschtschdok (dt. Sachbeweis), die von einem faschistischen Kollaborateur und Spion erzählt, der von Kyjiwer Milizionären gefangen wurde.

    Vor Kriegsbeginn war Telegin ein intensiver Facebook-Nutzer, wobei er dezent die Sowjetunion lobte und ironische Bemerkungen über russische wie auch ukrainische Politiker schrieb. So postete er nach einer der Militärparaden in Kyjiw, auf der sowjetische Kriegstechnik zu sehen war, eine Kollage mit Wladimir Putin und Dimitri Medwedew in T-Shirts in den ukrainischen Nationalfarben – und mit einem Aufdruck „Putin ist ein Schwanz!“. Telegin hat bis zum Abschluss dieser Recherche weder seine Bewerbung noch die Kollage gelöscht.

    Nach Beginn des großangelegten russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 wurde Telegin zu einer der markantesten Figuren der Besatzungsbehörden. Ende Mai letzten Jahres wurde er zum Chef der Abteilung für Innen- und Außenpolitik der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Cherson ernannt. Im September wurde er Abgeordneter der „gesetzgebenden Versammlung“ der Region. An Clips mit heldenhaften Kämpfern der ukrainischen Streitkräfte und eine Zusammenarbeit mit einem Kanal des ukrainischen Oligarchen Viktor Pintschuk erinnert er sich nicht. Stattdessen erzählt er, die lokale Bevölkerung habe „auf ihre Befreiung gewartet“, hätte aber „Angst, darüber zu sprechen“, weil sie Repressionen durch das „ukrainische Regime“ fürchte.

    Vor dem Krieg war Telegin kein Ziel strafrechtlicher Verfolgung durch die ukrainischen Behörden. Die örtlichen Medien nannten ihn respektvoll einen „Prominenten der Stadt“. Auf eine Anfrage von Verstka hat Telegin nicht reagiert.

    Er ist längst nicht der einzige Einheimische, der einen leitenden Posten in der Besatzungsverwaltung der Gebiete Cherson und Saporishshja übernahm. Wolodymyr Saldo war Bürgermeister von Cherson und ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada für die Region. Dann wurde er Chef der Besatzungsverwaltung von Cherson. Drei von fünf seiner wichtigsten Stellvertreter sind ebenfalls Einheimische. 

    Früher gratulierten sie den ukrainischen Streitkräften, jetzt feiern sie russische Propaganda

    Einige von ihnen haben wohl, genauso wie Telegin, erst kürzlich gemerkt, dass sie das ukrainische Regime nicht mögen, dafür aber das russische. So erklärte der stellvertretende Ministerpräsident des Gebiets Witali Buljuk noch im April 2022 öffentlich: „Cherson gehört zur Ukraine“. Schon wenige Wochen später erhielt er einen Posten in der Besatzungsverwaltung von Saldo. Ukrainische Medien erklären dieses Umsatteln damit, dass Buljuk, der vor dem Krieg stellvertretender Vorsitzender der Gebietsrada war, einer der größten Unternehmer von Skadowsk ist, einer Stadt im Süden des Gebietes Cherson, die von russischen Truppen in den ersten Tagen der Invasion erobert wurde. In dieser Stadt gelangten ebenfalls Leute aus Buljuks Dunstkreis an die Macht. Stellvertretende Bürgermeisterin wurde beispielsweise Ljudmila Zelep-Koslowa, lokalen Medien zufolge eine Verwandte von Buljuk. Im Dezember 2021 hatte sie in den sozialen Medien noch Gratulationen zum Tag der ukrainischen Streitkräfte gepostet. Jetzt sind auf ihren Seiten Lieder des russischen Propaganda-Bаrden Jaroslaw Dronow (Schaman) zu finden.

    Das markanteste Beispiel von Kollaboration zur Sicherung des eigenen Besitzes ist das Oberhaupt des benachbarten Gebietes Saporishshja, Jewhen Balyzkyj, ein ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada der Ukraine für den Oppositionellen Block. Vor dem Krieg hatte seine Familie zu den größten Unternehmern in Melitopol gezählt. Die Stadt wurde bereits Anfang März 2022 eingenommen und zur „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Saporishshja gemacht. Und dort gab es dann auch die erste hochrangige Kollaborateurin: Melitopols „Bürgermeisterin“ Galina Daniltschenko, die in den Unternehmen der Familie Balyzkyj für Finanzen und Buchhaltung zuständig war. Auch andere lokale Unternehmer widersetzten sich dem neuen Regime nicht. So erhielten Sergej Solotarjow aus Melitopol und Viktor Gretschka aus Berdjansk recht bald in ihrer Stadt jeweils einen Posten als Vizebürgermeister. Solotarjow ist inzwischen Vorsitzender des Stadtrates von Melitopol. 

    Unter den Führungskräften gibt es übrigens auch „unfreiwillige Kollaborateure“: Der Landwirtschaftsminister des Gebietes Cherson, Pjotr Sbarowski, hatte vor dem Krieg ein Unternehmen zur Produktion von Windkraftanlagen geleitet. Bevor er seine Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern begann, hatte es Informationen gegeben, dass er angeblich zuerst gekidnappt und dann von russischen Sicherheitskräften wieder freigelassen worden sei. 

    Früher Animateur im Bärenkostüm, heute verantwortlich für Kultur

    Für viele bedeutet eine Zusammenarbeit mit den Russen einen beträchtlichen Karrieresprung. So war Tatjana Kusmitsch, die Vizegouverneurin von Cherson, vor dem Krieg in der alles andere als beneidenswerten Stellung einer Lehrerin, die von den ukrainischen Sicherheitsbehörden des Landesverrats zu Gunsten Russlands beschuldigt wurde. Jelena Terskich, die Bürgermeisterin von Henitschesk, der „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Cherson, war zuvor eine gewöhnliche Angestellte in der Stadtverwaltung. Und der Kulturminister des Gebietes, Alexander Kusmenko, war zuvor Direktor einer Musikschule in Cherson.

    Die Beamten der „neuen Verwaltungen“, die aus der Gegend kommen, sprechen allerdings nicht von Karrieresprung. Und sie können sehr genau von den Vorteilen „durch die Ankunft Russlands“ erzählen: „In der Ukraine schert sich niemand um die jungen Leute. Es wurden zwar Haushaltsmittel für sie bereitgestellt, doch die Gelder kamen nicht bei den Menschen an. Deswegen war es öfter so, dass die Verwaltung oder ein Mäzen einen Laden oder einen Spielplatz baute, und der dann nach ein paar Tagen von lokalen Jugendlichen zerstört wurde. Einfach, weil die nichts zu tun haben“, erinnert sich Bogdan Kasnawezki im Gespräch mit Verstka. Er kommt aus Cherson und arbeitet in der Kulturverwaltung des Gebietes. Vor dem Krieg war er Statist und Animateur, trat bei Unternehmens- und Familienfeiern im Bärenkostüm auf.

    Nach der Eroberung von Henitschesk durch russische Truppen wurde Kasnawezki zunächst erster Stellvertreter des Chefs der Militär- und Zivilverwaltung der Stadt. Dann merkte er aber, „dass ihm die Kultur näher liegt“. Und er begann, im Auftrag der Kulturverwaltung des Gebiets, Veranstaltungen zu organisieren. „Jetzt sind die Kinder aktiv, es gibt viele Organisationen, die sie in ihre Tätigkeit einbinden. Im Gebiet wurden 360 Veranstaltungen durchgeführt, im Jugendbereich! Und das bringt Ergebnisse: Bei den Feiern zum 9. Mai kamen viele junge Leute. Die hat niemand gezwungen, das war freiwillig“, erzählt er. Auf die Frage von Verstka, wie das zu dem Umstand passe, dass Umfragen zufolge 64 Prozent der Bewohner des Gebiets Cherson für Ukrainisch-Unterricht in den Schulen sind, meint Kasnawezki, es gebe „tatsächlich nicht wenige Shduns hier“, doch die „können nichts als einem in die Suppe spucken“.

    Flucht vor Strafverfahren

    Ende Dezember 2021 durchsuchte der FSB das Bürgermeisteramt in Krasnodar sowie die privaten Räume des gerade vor einem Monat ernannten Stadtoberhauptes Andrej Alexejenko. Der wurde wegen des Verdachts auf Bestechung festgenommen. Der mutmaßliche Bestechungslohn: eine handgefertigte extravagante Jagdflinte im Wert von 1,5 Millionen Rubel [damals etwa 18.000 Euro – dek]. Der Pressedienst der regionalen Verwaltung des Strafermittlungskomitees veröffentlichte sogar ein 18-sekündiges Video, in dem der Ermittler Alexejenko den Haftbefehl verliest. Bald wurde bekannt, dass Einiges Russland die Partei-Mitgliedschaft des Bürgermeisters ausgesetzt hat. Alles sah nach einer typischen regionalen Korruptionsgeschichte aus. Im weiteren Verlauf hätte – so das übliche Szenario – eine Untersuchungshaft oder ein Hausarrest und dann eine tätige Reue des Bürgermeisters erfolgen müssen und es wären eine Menge Details darüber in Umlauf gekommen, wie er und seine Untergebenen sich bereichert haben.

    Doch Alexejenko widerfuhr nichts dergleichen. Im Gegenteil: Das Video von seiner Festnahme wurde von den Sicherheitsbehörden in den Netzwerken zwei Tage nach seiner Veröffentlichung wieder gelöscht. Der Bürgermeister verschwand zwar aus der Öffentlichkeit, trat aber nicht umgehend zurück. Quellen von Verstka meinen, der Bürgermeister sei von Gouverneur Weniamin Kondratjew gerettet worden, zu dessen Team Alexejenko in den letzten Jahren gehörte. „Kondratjew hat für Alexejenko buchstäblich so etwas wie eine zweite Chance erbeten und sich für ihn gegenüber den Behörden in Moskau verbürgt“, behauptet ein Gesprächspartner von Verstka in der Verwaltung von Krasnodar, ohne genauer zu sagen, um welche Behörden es ging.

    Und in der Tat eröffnete sich ihm schon bald eine zweite Chance: Am 19. August schied er offiziell aus dem Amt des Bürgermeisters von Krasnodar aus; bereits am nächsten Tag wurde er zum ersten stellvertretenden Leiter der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Charkiw ernannt. Zu jener Zeit traten Führungspersonen der Besatzungsverwaltung wie Wladimir Saldo und Jewgeni Balizki vorwiegend in repräsentativer Funktion in Erscheinung. Für die tatsächliche Zusammenarbeit mit den russischen Behörden und die Verwaltung des besetzten Gebietes waren deren erste Stellvertreter zuständig. 

    In Cherson war das zum Beispiel Sergej Jelissejew, ein ehemaliger FSBler und Vizegouverneur der Oblast Kaliningrad. Für Alexejenko hätte der Posten bedeutet, dass er alle Hebel in der Region Charkiw in die Hand bekommt. Die Streitkräfte der Ukraine eroberten jedoch schon einen Monat später das Gebiet nahezu vollständig zurück. Und Alexejenko blieb nichts, was er noch verwalten könnte. 

    Alexejenko ist nicht der einzige, der in den „neuen Territorien“ einer Strafverfolgung in Russland entkommt. Der Chef des Bauministeriums der „Volksrepublik Donezk“, Nikolaj Ziganow, ein Verwaltungsbeamter aus der Oblast Leningrad, war einer derjenigen, der von Sankt Petersburg aus den Wiederaufbau von Mariupol leitete. Im „großen Russland“ liefen bereits vor Wirtschaftsgerichten verschiedener Instanzen Bankrottverfahren gegen seine Unternehmen für Immobilienentwicklung namens Premjer-Holding, das nicht beglichene Schulden hat und betrogene Investoren hinterlässt.

    Im Gebiet Saporishshja wird die Behörde für Inneres vom ehemaligen stellvertretenden Leiter der Fahndungsabteilung der Moskauer Polizei, Oleg Koltunow, geleitet. Ukrainische Medien berichten, dass seine Versetzung in die besetzten Gebiete darauf zurückzuführen ist, dass Koltunow in Moskau bei ausgiebiger Bestechung erwischt wurde.

    Ehemalige und aktive Verwaltungsbeamte, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, beneiden diese Leuten: „Als ich aus der Untersuchungshaft freikam, setzten sich sofort einige gute Bekannte mit mir in Verbindung die ‚hinter dem Streifen‘ [= „in der Ukraine“ – dek] arbeiten: ‘Komm her, mit deinem Profil kannst du hier arbeiten. Was den Lohn angeht – so einer ist mir in Russland noch nicht untergekommen. Und was die Stelle angeht – nach einer solchen kannst du hier [in Russland] ewig suchen. Ich hatte schon zugesagt, aber meine Familie hat mir abgeraten, schließlich fliegen dort Granaten und Autos gehen in die Luft“, klagt einer von ihnen gegenüber Verstka.

    Eine Person aus dem Stab des Bevollmächtigten des Präsidenten im Zentralen Föderalbezirk bestätigte Verstka: „Ein Trip ‚hinter den Streifen‘ setzt deine gesamte Vergangenheit auf null. Sünden, Strafverfahren oder Fehlschläge in der Verwaltung sind dann mit einem Mal vergessen, aber deine Erfahrung behältst du. Das ist eine Chance, aus dem Nichts eine Karriere zu starten. Für einige kann es die einzige Möglichkeit sein, in der Spur zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.“

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  • Die Unsichtbaren

    Die Unsichtbaren

    Demonstrationen sind nicht mehr möglich. Kritische Äußerungen werden mit jahrelanger Lagerhaft bestraft. Unabhängige Nachrichten sind immer schwerer zu bekommen. Selbst auf der Arbeit und im Freundeskreis müssen die Menschen Denunziationen fürchten. Von März 2022 bis Mai 2023 hat die Soziologin Anna Kuleschowa untersucht, wie sich das Leben von oppositionell eingestellten Russinnen und Russen im Laufe eines Kriegsjahres verändert hat. Dazu hat sie über hundert Personen verschiedenen Alters und aus unterschiedlichen Einkommensgruppen befragt. Allen gemeinsam ist die Angst: vor einem Sieg Russlands, vor immer härteren Repressionen, vor einer immer schlechteren Gesundheitsversorgung und davor, dass sie Verwandte und Freunde, die ins Ausland gegangen sind, lange Zeit nicht mehr wiedersehen. Das Portal Cherta hat mit Anna Kuleschowa über ihre Forschung gesprochen und veröffentlicht ein erstes Fazit – wobei die Soziologin Wert darauf legt, dass die Ergebnisse noch vorläufig sind und nicht einfach auf das ganze Land übertragen werden können.

    „Die Menschen leben auf dem gleichen Territorium und haben ungefähr die gleichen Ansichten. Haben jedoch alle vor etwas anderem Angst: Die einen fürchten einen Sieg Russlands; sie meinen, wenn der Krieg auf diese Weise endet, dann wird das derzeitige Regime im Land nur stärker werden. Für sie bedeutet es, dass Perspektiven fehlen, dass ihnen und ihren Kindern das Leben geraubt würde. Sie fühlen sich in diesem System nicht zuhause“. So beschreibt die Soziologin Anna Kuleschowa die Stimmung bei oppositionell eingestellten Russen.

    Es gibt bei denen, die den Krieg nicht unterstützen, aber auch die entgegengesetzte Angst, dass nämlich Russland den Krieg verliert. Diese Menschen sind überzeugt, dass das Regime trotzdem überleben, dann aber nach Schuldigen suchen wird. „Sie haben Angst, dass man sie zu Volksfeinden erklärt. Dass das Regime die Verantwortung für die Niederlage von denen, die die Entscheidungen getroffen haben, auf alle anderen abwälzt, und dass es dann Säuberungen geben wird und eine Neuauflage der Stalin-Zeit“ sagt die Soziologin.

    Optimistische Prognosen für die kommenden fünf bis zehn Jahre waren von den Befragten nicht zu hören.

    Für viele war wichtig, dass man ihnen zuhört. „Bei den Menschen, die sich zu einem Interview bereit erklärten, brachen die Emotionen hervor. Sie erzählten von all ihrem Schmerz; schließlich ist es gewöhnlich so, als existierten sie nicht: Sie sind für ihre Umgebung unsichtbar, weil sie ihre Ansichten verstecken müssen. In der ganzen Welt, so scheint es, gelten alle, die geblieben sind, als Unterstützer des Regimes“, sagt Kuleschowa. Eines der wichtigsten Themen, über die die Respondenten sprachen, war die Angst.

    Einige Respondenten haben Angst vor einem Atomkrieg. Menschen, bei denen Angehörige in den grenznahen Gebieten leben, fürchten, dass der Krieg ihre Verwandten direkt treffen wird. Kuleschowa unterstreicht, dass 2023 eine neue Angst dazugekommen sei: Viele der Befragten haben Angst vor zurückgekehrten Militärangehörigen.

    „Es gibt die Angst, dass kampferprobte Männer mit einem Schaden in die Stadt kommen und hier ihre eigene Ordnung errichten.“

    Die Respondenten berichteten von Ängsten vor den sich verändernden patriarchalen und maskulinen Normen. Solche Befürchtungen seien keine unmittelbare Folge des Krieges, sondern ein Nebeneffekt, meint Kuleschowa. Der Soziologin zufolge haben die Leute Angst, dass die Propaganda von „echtem“ maskulinen Verhalten und Brutalität, mit der neue Kämpfer mobilisiert werden sollen, früher oder später zu einem Anstieg von Gewalt im Alltag und einer schlechteren Lage der Frauen führt. 

    Die Befragten sprachen oft von Repressionen, davon, dass es keine faire Rechtsprechung gibt, von Gewalt durch Sicherheitskräfte, die sie erleben.
    Viele Gesprächspartner Kuleschowas sagen, dass sie durch die massenhafte Unterstützung für den Krieg alarmiert sind. Hinzu kommt angesichts der vorgeblich allgemeinen Unterstützung für radikale Entscheidungen eine generelle Angst um das Überleben des Landes.

    „In den ersten Tagen [des Krieges] war ich überzeugt, dass ich in meiner Umgebung niemanden treffen würde, der den Krieg unterstützt. Als sich herausstellte, dass es sie dennoch gab, empfand ich neben dem schrecklichen Schock zusätzlich Abscheu, eine Art Ekel.

    Ich denke nicht, dass Unterstützer [des Krieges] schlechter sind als ich. Es ist nicht so, dass ich sie nicht mehr für Menschen halte, oder dass sie nicht mehr meine Freunde sind. Aber mir wird übel. Nicht ihretwegen, sondern durch die Situation und durch ihre Haltung dazu.“

    Andere hätten Angst vor einem Zusammenbruch des Gesundheitswesens, vor einem Mangel an Einweginstrumenten im Krankenhaus und Lieferschwierigkeiten bei Medikamenten, sagt Kuleschowa. Das betreffe vor allem Menschen, die lebenslang Medikamente einnehmen müssen, meint sie. „Für Medikamente, die früher nicht besonders teuer waren, muss man jetzt viel mehr bezahlen. Die Menschen müssen überlegen: ‚[…] wie kann ich behandelt werden, und wie Medikamente bekommen, Falls, Gott bewahre …‘“, berichtet die Soziologin.

    Eine andere wichtige Angst betrifft die fehlenden Möglichkeiten, sich mit engen Angehörigen zu treffen, die Russland verlassen haben. Vor einem Jahr schien es, dass wir „uns in einem Jahr sicher wiedersehen“. Jetzt ist klar, dass das „vielleicht auch nicht“ eintreten könnte, meinen Respondenten.

    Es gibt eine weitere Angst, die sich nicht direkt auf den Krieg bezieht, sondern auf dessen Folgen, nämlich eine mangelnde Sicherheit des öffentlichen Nahverkehrs. „Sie haben Angst vor Verkehrskatastrophen in der Folge der Sanktionen, dass etwa die U-Bahnwagen nicht mehr intakt sind. Sie wissen nicht, ob es jetzt noch sicher ist, mit dem Flugzeug zu fliegen, und ob die billigen chinesischen Autos sicher sind, die jetzt auf den Straßen fahren“, sagt Kuleschowa.

    Oft wird eine große Sorge um die Zukunft der Kinder geäußert: Ob es sinnvoll ist, dass sie in Russland ihre Bildung erhalten, wie ihre Zukunft aussehen wird, welche Perspektiven sie haben, und ob sie ohne ernste psychische Folgen und Konflikte die Schule abschließen können.
    Auch der „Anstieg der Intoleranz gegenüber Leuten, die in die Ecke gedrängt wurden, was sich zu einem echten Bürgerkrieg entwickeln kann“, macht Angst.

    Sich wegducken, um schwierige Zeiten überstehen

    Die Befragten schätzen den Anteil der Kriegsbefürworter in ihrem Umfeld auf 20 bis 30 Prozent. Viele sagen aber, dass sie nicht einmal annäherungsweise eine Zahl nennen können, da sie versuchen, mit Bekannten keine Gespräche dieser Art anzufangen. Schließlich weiß man ja nicht, was dabei herauskommt oder wer einen dann denunziert. Die Soziologin meint, dass die Menschen jetzt Angst vor Provokationen haben: „Es wurde erzählt, dass im Umkleideraum eines Fitness-Studios blaue Spinde standen. Und am 23. Februar lagen in ihnen dann gelbe Schuhanzieher. Die Leute waren verwirrt: „Wie sollte man darauf reagieren? Ist das eine Art Test?“

    Eine Befragte erzählte, wie sie in einem Geschäft war und von einer Verkäuferin über ihre Haltung zum Krieg ausgefragt wurde. „Wenn du schweigst, werdet ihr [Kriegsgegner] noch weniger“, sagte die Frau. „Aber du weißt nicht, wo das hinführt, du kannst kein Vertrauen haben“. „Der Raum für Vertrauen war für Russen nie groß. Fremden zu vertrauen ist eher atypisch für die Menschen in Russland. Jetzt aber ist dieser Kreis des Vertrauens vollkommen kollabiert“, sagt Kuleschowa.

    Viele Respondenten haben Angst, denunziert zu werden, wobei in Russland heute völlig unklar ist, von welcher Seite die Gefahr droht, meint die Soziologin. „Es sind nicht die Zeiten Stalins, als die Denunziationen nicht selten von Bekannten geschrieben wurden, die ein Motiv hatten; etwa weil jemand einen Posten oder mehr Wohnraum in der Kommunalka ergattern wollte. Jetzt ist es eher so, dass irgendwelche Leute andere denunzieren, die sie persönlich gar nicht kennen.“

    Das Problem der ausgewanderten Angehörigen wird ebenfalls als potenzielle Bedrohung gesehen. Unter denen, die ihre Männer oder Söhne ins Ausland geschickt haben, um sie vor der Mobilmachung zu bewahren, sind viele, die das in Gesprächen mit Fremden verheimlichen. Wenn die Frage nach der Haltung zum Krieg aufkommt, hüten sich die Leute davor, als erste zu antworten. Es ist sicherer, zuerst die Position des anderen zu hören. „Die Menschen beginnen ein Gespräch behutsam und versuchen zu verstehen: ‚Sind wir noch auf der gleichen Seite?‘ Wenn nicht, sollte man innehalten und über dieses Thema nicht mehr sprechen“, erklärt Kuleschowa.

    Die Russen, die von der Soziologin befragt wurden, reden nicht mehr über Politik, wenn sie ihre Gesprächspartner nicht gut genug kennen. „Smalltalk am Arbeitsplatz über die neuesten Nachrichten gibt es praktisch nicht mehr. Beim Plausch mit Nachbarn wird das Thema lieber beschwiegen. Man ist auf der Hut, nicht in Hörweite des Hausmeisters darüber zu reden. An U-Bahn-Eingängen, wo Polizisten auftauchen können, unterbricht man lieber das Gespräch und geht weiter, damit man sich keine Probleme einhandelt“, ergänzt sie. 

    „Dieses Schweigen ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt“, sagt Kuleschowa. „Die Strategie sich wegzuducken, um schwierige Zeiten zu überstehen, war für viele annehmbar, solange es nur um ein Jahr ging. Solange die Leute den 281. Tag zählten, den 282. Tag … Wenn die Zählung aber nicht mehr in Tagen erfolgt, sondern in Jahren, wie lange kannst du dann schweigend dasitzen? Wie wirst du damit leben?“

    In den Städten mit Systemen zur Gesichtserkennung versuchen Andersdenkende – den Umfragen von Kuleschowa zufolge – sich neue „Sicherheitstechniken“ anzueignen, also Methoden, um die Beobachtungskameras zu überlisten, etwa mit Hilfe von Brillenrahmen, Masken, und Augen, die auf Mützen oder Hüte gemalt werden. Populär sind neue Vorsichtsmaßnahmen beim Umgang mit Technik: Menschen, die wissen, dass ihre Gespräche abgehört werden können, legen ihr Telefon und ihre Box mit der Sprachsteuerung ins Nachbarzimmer. Andere nehmen während des Gesprächs den Akku heraus oder legen das Handy ins Gefrierfach, um angstfrei sprechen zu können. „Eine Befragte, mit der wir sprachen, hatte meinen Telegram-Kanal abonniert. Sie fragte: ‚Haben Sie denn nicht bemerkt, dass Sie oft einen neuen Abonnenten bekommen, der dann wieder verschwindet? Das bin ich; jedes Mal, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit in der Universität durch die Kontrolle gehe und Angst habe, dass sie mich filzen. Für alle Fälle lösche ich alle Kanäle, und melde mich dann wieder an.‘“, berichtet Kuleschowa.

    Seine Leute finden

    Für kriegskritische Ansichten, die man in persönlichen Gesprächen, öffentlich oder in sozialen Netzwerken äußert, kann man ins Gefängnis wandern. Daher suchen die Menschen nach anderen Wegen, um Gleichgesinnte zu finden. Zu Beginn des Krieges dienten als „Hinweis“, dass jemand gegen den Krieg ist, oft die Farben der ukrainischen Flagge an der Kleidung, als Bändchen am Handgelenk oder in den Haaren. Jetzt sei das viel zu gefährlich, sind die Befragten überzeugt.

    Auf der Straße ist niemand mehr mit einer Einkaufstasche zu sehen, auf der „Nein zum Krieg!“ oder andere offene Antikriegs-Parolen stehen. Es werden aber andere, bislang noch nicht verbotene Symbole verwendet: „Einige tragen Buttons mit Antikriegs-Parolen, die aber sehr unauffällig sind, damit sie nicht so leicht zu erkennen sind. Einige gehen zu einer doppeldeutigen Sprache über, damit Aussagen nicht direkt ‚gelesen‘ werden können. Andere verwenden Bilder von Friedenstauben oder Zitate von Orwell oder Remarque. Andere wiederum versuchen, anhand des Kleidungsstils oder am Gesicht auszumachen, welche Ansichten ihr Gegenüber hat. Das ist jedoch riskant, man kann da vollkommen falschliegen.“

    „Ich war einige Male bei Führungen von Memorial zum Projekt Die letzte Adresse. Es war keine Überraschung, dass da niemand für den Krieg war. Dort konnte man frei reden.“

    Ein weiterer, relativ sicherer Weg, seine Haltung zum Geschehen zu äußern, sind Veranstaltungen, auf denen man Gleichgesinnte treffen könnte. Manchmal kommen Leute zu Kulturveranstaltungen, weil ihnen die Haltung der Organisatoren oder der Künstler wichtig ist, sagt Kuleschowa: „Zu einem Konzert von Polina Osetinskaya kommen Menschen nicht nur, weil sie eine bemerkenswerte Pianistin ist, sondern auch, weil sie, so die Befragten, gegen den Krieg auftritt. Also könnte man da am ehesten ‚seine Leute‘ treffen. Nach dem gleichen Prinzip besuchen die verbliebenen Kriegskritiker Underground-Ausstellungen von moderner und Antikriegskunst.“

    Wie wird der Krieg mit Angehörigen diskutiert?

    Unter Kuleschowas Gesprächspartnern gab es auch welche, die die politischen Ansichten selbst ihrer nächsten Verwandten nicht kennen (besser gesagt: Sie haben   Angst, sie zu erfahren). „Die Menschen fürchten, ihre Angehörigen könnten ‚mutieren‘, auf ‚die Seite des Bösen‘ überlaufen, wie sie es nennen. Einige hören auf, sich mit ihrem Umfeld wirklich zu unterhalten, und zwar aus Selbstzensur, weil es in ihrer Wahrnehmung immer weniger Gleichgesinnte gibt“, erklärt die Soziologin.

    „Ich weiß das nicht bei allen Freunden und Bekannten. Manchmal erfahre ich es indirekt, über gemeinsame Bekannte. Da ruft beispielsweise eine Freundin meiner Mutter an, eine Ukrainerin, und erzählt mir empört über eine andere Freundin meiner Mutter, eine Moldauerin: ‚Stell dir vor, sie meint, Russland hat nicht recht‘, ‚Stell‘ dir vor‘, antworte ich, ‚das meine ich auch.‘ So erhalte ich politische Informationen.“

    Vor einem Jahr seien unterschiedliche Einstellungen zum Krieg eher ein Grund für eine Spaltung gewesen, meint Kuleschowa. Jetzt versuche man eher, sich damit einzurichten: „Die Menschen haben schon nicht mehr die Illusion, dass man alles abreißen, abbrechen könne, und dabei einen richtigen Schritt macht. ‚Und dann bricht das zweite Kapitel der Beziehung an, wenn der andere auf Knien angekrochen kommt, weil er erkannt hat, dass er nicht recht hatte‘. Die Leute verstehen jetzt, dass man mit denen, mit denen man in einem Boot sitzt, irgendwie bis zum Ende rudern muss und Konflikte und Streitereien sinnlos sind. Vor einem halben Jahr gab es noch Hoffnungen, dass man jemanden umstimmen könnte, jetzt ist klar: Das funktioniert nicht.“

    Der Soziologin zufolge gibt es nur sehr wenige, die früher den Krieg unterstützten und das jetzt nicht mehr tun. Eher passiere das Gegenteil: Jemand in der Familie beginnt der Propaganda zu glauben. „Heute rettet eine Frau ihren Mann vor der Mobilmachung und bleibt selbst mit den Kindern in Russland. Dann kommt er trotz der Gefahr für seine Sicherheit zurück, weil er die Kinder sehen will, aber seine Frau hat den Kindern schon weisgemacht, dass ihr Vater ein Feind ist, alle verlassen hat und abgehauen ist. Die Kinder sind umprogrammiert und denken genauso.“ Jugendliche wiederum, deren Eltern Z-Patrioten sind, können ihre Haltung gegen den Krieg nicht äußern, weil sie schlichtweg finanziell abhängig sind. Sie können nirgendwo hin, nicht woanders leben.

    „Mir scheint, dass man von hier fliehen muss, doch der Rest der Familie sieht keinen Grund für diese Panik.“

    „Es gab unter den Befragten eine Frau, deren Mann ausgewandert ist. Aber ihr Liebhaber, von dem ihr jüngstes Kind stammt, wollte bleiben“, erzählt Kuleschowa. Der Ehemann hat gesagt: ‚Zum Teufel, ich nehm‘ dich zusammen mit dem Liebhaber auf. Kommt zusammen her [ins Ausland], wenn es für dich anders nicht geht.‘ Sie entschied aber mit ihrem Liebhaber, dass sie ‚die eigenen Leute nicht im Stich lassen‘ dürfe, und blieb in Russland. Letztendlich musste das Paar die Kinder aufteilen. In jeder Familie kann sich alles Mögliche ergeben, und selbst nach zwanzig Ehejahren gibt es Überraschungen. Während der Interviews habe ich gemerkt, was für ein großes Glück es für eine Familie sein kann, wenn alle zugleich verrückt werden.“

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  • „Nach einem Sieg der Ukraine befreien wir Tschetschenien“

    „Nach einem Sieg der Ukraine befreien wir Tschetschenien“

    Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow prahlt gern mit der Stärke seiner Armee, die formal zwar Teil der russischen Nationalgarde ist, faktisch aber auf seinen Befehl hört. Im Frühjahr 2023 behauptete Kadyrow, seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine mehr als 26.000 Tschetschenen in den Kampf gegen die Ukraine geschickt zu haben. Sogar seine minderjährigen Söhne wollte er angeblich an die Front schicken. Kadyrows Kämpfer erlangten Bekanntheit, weil sie eifrig martialische Videos aus dem Kampfgebiet in den Sozialen Netzwerken verbreiteten. Eine Weile lang wirkte das, als lieferten sich der Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin und das Tschetschenen-Oberhaupt einen Wettbewerb, wer die furchteinflösendste Truppe kommandiert. 

    Weniger bekannt sind die tschetschenischen Freiwilligen, die auf der Seite Kyjiws im Einsatz sind. Sie sehen sich als Truppen der tschetschenischen Republik Itschkerien, die ihrem Verständnis nach von Russland besetzt ist. Viele sind schon vor Jahren aus ihrer Heimat ins Ausland geflohen. Sie hoffen darauf, nach einem Sieg der Ukraine ihre Heimatregion von der Herrschaft Kadyrows zu befreien und die Unabhängigkeit der Republik von Moskau zu erkämpfen. Das russische Portal The Insider hat mit dreien von ihnen über ihre Motive, ihr Verhältnis zu Kadyrow und die Lage an der Front gesprochen.

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    „Ich bin hierhergekommen, um die ermordeten Kinder, Frauen und Alten in Tschetschenien, Inguschetien, Syrien und der Ukraine zu rächen.“

    Fatchi kämpft im Freiwilligenbataillon des Verteidigungsministeriums der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung unter Achmed Sakajew. Teilnehmer am Vorstoß in das russische Gebiet Belgorod.

    „Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen.“ – Fatchi (rechts) kämpft im Freiwilligenbataillon der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung / Foto © The Insider
    „Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen.“ – Fatchi (rechts) kämpft im Freiwilligenbataillon der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung / Foto © The Insider
    „Ich bin aus zwei Gründen in die Ukraine gekommen: um mein Volk zu rächen, und um den Ukrainern zu helfen. Russland hat mein Land besetzt, Tschetschenien, und viele aus meiner Familie ermordet: meinen Vater, meine Brüder, meine Tante, meinen Onkel. Ich betrachte die Russen nicht nur als Feinde der Ukrainer und Tschetschenen, sondern als Feinde der gesamten Menschheit. Sie werden sich alles nehmen, was sie wollen, und niemals aufhören. Wenn wir zulassen, dass sie auf ukrainischem Boden siegen, werden sie weitermachen. Deshalb bin ich hier, um die Kinder, Frauen und Alten zu rächen, die in Tschetschenien, Inguschetien, Syrien und jetzt auch in der Ukraine umgebracht wurden.

    Ich bin 2022 gekommen. Über zwei Monate wurde ich hier ausgebildet. Dann beschloss ich, mich dem OBON anzuschließen, dem Selbständigen Bataillon für Spezielle Aufgaben. Wir haben viele erfahrene Männer, die in Tschetschenien und Syrien gekämpft haben.

    Ich habe seit meiner Kindheit davon geträumt, entweder Soldat oder Polizist zu werden. Ich wollte wie mein Vater werden [Arbi Barajew war Feldkommandeur; er wurde während des Zweiten Tschetschenienkrieges getötet und war einer der bekanntesten Anführer des Widerstandes im Krieg gegen die russischen Streitkräfte in Tschetschenien]. Mir gefällt es hier zu sein. Und wenn der Krieg vorbei ist, werde ich anderswo für Gerechtigkeit kämpfen.

    Während des Tschetschenienkrieges war ich acht oder neun Jahre alt, aber ich erinnere mich an Vieles. Meine Mutter floh mit uns aus Tschetschenien, Kadyrows Leute wollten uns umbringen. Das war Blutrache. Mein Vater war Brigadegeneral und hat Besatzer [gemeint sind Vertreter der russischen Streitkräfte und Spezialeinheiten der Polizei – dek] und Kadyrows Verräter getötet, die nachts Säuberungen veranstalteten und auf der Straße Leute umbrachten.

    Meine Mutter haben sie auch viele Male mitgenommen und verhört. Nach diesen Verhören war sie immer in einem Schockzustand und konnte nicht sprechen. Jetzt wird sie wieder eingeschüchtert, weil ich in der Ukraine kämpfe; sie will aber nicht fortgehen. Aber sie werden ihr nichts antun, weil meine Cousins in der russischen Armee dienen.

    Den Vater eines dieser Cousins haben Kadyrows Leute ebenfalls umgebracht. Sein Sohn dient aber trotzdem bei ihnen. Ich habe deshalb den Kontakt zu ihm abgebrochen.Wie kann es sein, dass jemand die gleiche Uniform trägt wie jene, die seine Familie getötet haben? Er hat mich dann einen Terroristen genannt, weil ich LGBT unterstütze und in Europa lebe. Ich lebte damals in Dänemark, und er in Tschetschenien. Ich kann nur ganz offen sagen: Wenn ich ihn hier in der Ukraine treffe, bringe ich ihn um.

    Ich habe als politischer Flüchtling in Europa gelebt, seit ich 17 war. Meine Mutter hat uns allein zurückgelassen, als ich zehn war, und ist nach Tschetschenien zurückgegangen. Ich mache ihr keinen Vorwurf, und auch meinem Vater nicht. Ich gebe allein Putin die Schuld, und jenen in der Bevölkerung in Russland, die alles unterstützen, was ihr Präsident macht. Ich habe alles zurückgelassen, als ich in die Ukraine kam: Freunde, Bekannte, meine Arbeit, und ich hoffe, dass wir bald siegen und nach Tschetschenien zurückkehren, um den ganzen Kaukasus zu befreien.
    In Tschetschenien bleiben jetzt nur die, die keine Möglichkeit haben, die Republik zu verlassen. Die Menschen haben Angst, offen zu sprechen, ihre Meinung zu sagen, oder einfach nur zu denken. Sie haben Angst, sich gegen das System zu stellen, weil man dafür in Tschetschenien ins Gefängnis wandert, oder man wird gefoltert oder umgebracht. Menschen werden einfach aufgrund von Kommentaren bei Facebook vergewaltigt und ermordet.

    Seit 25 Jahren lebt die Bevölkerung in Angst. Aber sobald sich die Möglichkeit ergibt, werden sich sogar Kadyrows Leute gegen ihn erheben. Es gibt natürlich Tschetschenen, die Kadyrow aufrichtig unterstützen. Die lieben ihn wegen des Geldes und der Macht. Es gibt aber auch welche, die einfach keine andere Wahl haben. Viele junge Leute haben keine Arbeit, und zur Armee zu gehen, ist eine einträgliche Sache. Sie hassen Kadyrow, schließen sich ihm aber wegen des Geldes an.

    Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen. Natürlich kenne ich das Gefühl der Angst, wie alle anderen Menschen auch, aber ich habe meine Angst im Griff. Wenn ein Soldat sagt, dass er vor nichts Angst hat, dann lügt er entweder oder hat einen psychischen Schaden.

    Die Kadyrow-Leute sind keine besonders guten Kämpfer, sie sind eher zur Show da. Es gibt Tschetschenen, die in der russischen Armee kämpfen und nicht Kadyrow unterstellt sind. Aber gerade die Kadyrow-Leute sind wie Polizisten: Die können nicht kämpfen. Die haben nur gegen Partisanen im Kaukasus „gekämpft“. Da haben sie etwa ein Haus umstellt, in dem nur ein Mann mit einer Maschinenpistole hockt. 200 Mann umzingeln einen einzigen Kerl. Die können nicht gegen die Luftwaffe Krieg führen oder gegen Artillerie; sie wissen nicht, wie man eine Stellung stürmt. Das sind Banditen, Putins Sklaven. Die können nur foltern, vergewaltigen und Leute in den Bergen jagen, die Sabotage betrieben haben.


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    „Nach einem Sieg in der Ukraine können wir nach Hause zurückkehren und unser Land befreien.“

    Bertan kämpft in der Einheit Bors des Freiwilligenbataillons OBON

    Angehörige des Freiwilligenbataillons OBON, in dem auch Bertan kämpft / Foto © The Insider
    Angehörige des Freiwilligenbataillons OBON, in dem auch Bertan kämpft / Foto © The Insider
    „Nach dem Beginn des großangelegten Krieges hat eine starke antitschetschenische Propaganda eingesetzt. Die ganze Welt hielt uns für Dämonen, die zusammen mit der russischen Armee einmarschiert sind, um Ukrainer umzubringen. Diese Haltung hat sich besonders nach den Ereignissen in Butscha verstärkt, nach den Gräueltaten, die Russen verübt haben. Das hatte starke Auswirkungen auf die Tschetschenen. Es wurde so dargestellt, als sei Tschetschenien ein Land, das aus eigenen Stücken zusammen mit Russland die Ukraine überfallen hat. Und da habe ich beschlossen, dass ich in der Ukraine sein muss, dass ich helfen muss.

    Ich bin im April 2022 in die Ukraine gekommen. Und als bekannt wurde, dass endlich ein Abkommen zwischen den ukrainischen Streitkräften (SKU) und den Streitkräften der Tschetschenischen Republik Itschkerien geschlossen wurde, fingen wir an, das Verteidigungsministerium der Republik Itschkerien zu kontaktieren, um in das OBON-Bataillon zu gelangen.

    Zu dem Zeitpunkt hatte unsere Führung die Aufstellung von Bataillonen beschlossen, die der Ukraine helfen sollten. Wir alle warteten auf offizielle Informationen. Als aber die Meldungen über die Ereignisse in Butscha und Irpin um die Welt gingen, fuhr ich in die Ukraine, um wenigstens irgendwas zu tun. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, an den ersten Tschetschenienkrieg, dann den zweiten, als es den Massenmord an Zivilisten in Nowyje Aldy gab. Ich war 16 oder 17 Jahre alt und konnte nichts tun. Jetzt, nach vielen Jahren, wo ich die Willkür sehe, mit der die Russen in der Ukraine vorgehen, können weder ich noch meine Bekannten da tatenlos zusehen. Wir erinnern uns, wie sie Grosny zerstörten, wir erinnern uns an Samaschki und sehen, wie das alles in die Ukraine weitergetragen wird, allerdings jetzt in größerem Maßstab. Für mich selbst kann ich sagen, dass der Krieg niemals aufgehört hat.

    Da ich den Krieg schon kannte – ich war mehrmals unter Beschuss und habe Bombenangriffe erlebt –, habe ich mich hier recht schnell eingelebt.

    Alle Einsätze unseres Bataillons werden mit den ukrainischen Streitkräften abgestimmt. Unser Bataillon ist Teil der Internationalen Legion, und neben den Ukrainern kooperieren wir mit Kanadiern, Amerikanern und Jungs aus Georgien.

    Den Ukrainern ist klar, dass wir einen gemeinsamen Feind haben. Das wird auf allen Ebenen verstanden, von der Führung bis zu den einfachen Kämpfern des OBON. Jetzt verteidigen wir nicht nur die Ukraine, sondern auch unsere Ehre, die von Kadyrows Leuten befleckt wurde. Das Wichtigste ist, dass man mittlerweile weltweit versteht, dass nicht alle Tschetschenen auf der Seite Russlands stehen. 

    Kadyrow ist einfach ein Idiot. Er versteht den Islam nicht im Geringsten. Er kann nicht behaupten, dass der Krieg in der Ukraine ein Dschihad ist. Wir wissen sehr genau, was Kadyrows „Armee“ eigentlich darstellt. Wir sind, anders als sie, wirklich motiviert, weil wir nur durch einen Sieg in der Ukraine nach Hause zurückkehren können, um unsere Heimat zu befreien, nachdem wir gezeigt haben, dass die Tschetschenen und die Kadyrow-Leute nicht das Gleiche sind.

    In unserem Bataillon gibt es welche, die haben den ersten und den zweiten Tschetschenienkrieg mitgemacht. Die waren bis 2014 in Tschetschenien und haben Widerstand geleistet. Nachdem die Kräfte schwanden, blieb ihnen nichts anderes übrig als abzuwarten, bis sich die Lage ändert. Und jetzt hat sie sich grundlegend geändert. Wenn wir Tschetschenen vor zehn Jahren noch als Terroristen wahrgenommen wurden, so hat sich die Meinung über unser Volk jetzt gewandelt.


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    „Kadyrow zu beseitigen, würde nichts ändern. Unser Ziel ist es, den Kreml zu zerstören.“

    Mansur, Scheich-Mansur-Bataillon

    Nur Kämpfer, die in Tschetschenien keine Angehörigen mehr haben, zeigen offen ihr Gesicht. Zwei Angehörige des Scheich-Mansur-Bataillons, in dem Mansur kämpft / Foto © The Insider
    Nur Kämpfer, die in Tschetschenien keine Angehörigen mehr haben, zeigen offen ihr Gesicht. Zwei Angehörige des Scheich-Mansur-Bataillons, in dem Mansur kämpft / Foto © The Insider

    „Ich habe die Situation in der Ukraine schon 2014 verfolgt, als die Demonstrationen auf dem Maidan begannen. 2015 bin ich dann in die Ukraine gefahren. Damals schon war mir klar, dass Russland unter dem Vorwand der Friedenssicherung Gebiete besetzt, wie es in Georgien und Ossetien der Fall war. Als die Russen die Krim und die Gebiete Donezk und Luhansk besetzten, tauchten in den Medien Meldungen auf, dass es auch Tschetschenen seien, die die Ukraine überfallen haben. Damals lebte ich in der Türkei, und es hat mich sehr verletzt, solche Dinge über mein Volk zu hören. Diese Ansichten sind natürlich wegen Kadyrows Verrätern entstanden, die von den Kreml-Bonzen in die Ukraine geschickt wurden.

    Ich habe nicht lange überlegt und bin losgefahren, um jedem Ukrainer und auch den Medien zu zeigen, dass sich das tschetschenische Volk von diesen Verrätern unterscheidet. Der zweite Grund, warum ich hierhergekommen bin, war der Wunsch, dem gemeinsamen Feind aufs Maul zu hauen. Ich habe schon 1999 zur Waffe gegriffen und gehe seitdem gegen das System vor.

    Durch den Tschetschenienkrieg habe ich viel Kampferfahrung, deshalb trainiere ich jetzt selbst neue Rekruten und bringe ihnen die Kriegskunst bei. Für mich, wie auch für viele meiner Kameraden, ist dieser Krieg nichts Neues. Wir kämpfen gegen die gleichen russischen Truppen und gegen die gleiche russische Artillerie. Die ganzen Lügen und die Propaganda, die jetzt gestreut werden, die kennen wir auch schon.

    Die Kampferfahrung in unseren Reihen liegt bei mindestens zehn Jahren, aber meist sind es 20 oder 30. Junge Leute aus Tschetschenien holen wir nicht in die Ukraine, weil wir uns auf die Befreiung unseres Territoriums vorbereiten. Und wir brauchen sie dort, weil sie in Tschetschenien sehr viel mehr Nutzen bringen.

    Unsere Aufgabe ist Sabotage und Aufklärung mit einer „Bienentaktik“: losfliegen, stechen und abhauen. Die Methoden des Partisanenkrieges haben wir uns seit dem ersten und zweiten Tschetschenienkrieg bewahrt.

    Jeder Vorstoß von uns wird mit den ukrainischen Truppen abgestimmt, damit wir bei unvorhergesehenen Situationen Deckung durch die Artillerie bekommen.

    Unser verstorbener Präsident Dschochar Dudajew hat schon 1990 klar gesagt, was Russland an und für sich ist, und was es an Bösem in sich trägt. Heute werden wir alle Zeugen, dass seine Worte stimmen. Ich denke, wenn man Tschetschenien seinerzeit so geholfen hätte wie jetzt der Ukraine, dann hätten wir dieses russische Imperium längst schon bis auf die Grundmauern zerstört. Dann würde das ukrainische Volk in Frieden leben, und es gäbe schlichtweg keine Bedrohung für die baltischen Staaten und die NATO.

    Wenn wir in Tschetschenien freie Wahlen hätten, dann würden über 90 Prozent des tschetschenischen Volkes das herrschende Regime nicht unterstützen. Die Menschen bei uns werden stark unterdrückt. Seit 30 Jahren sind wir im Kriegszustand. Unsere Eltern erzählen uns von klein auf, was wirklich los ist. Mit Morden kann man uns keine Angst machen. Die Menschen fürchten sich aber vor öffentlicher Beleidigung und Erniedrigung, deswegen zielt Kadyrow auf die wundesten Punkte: Sie nehmen die Mütter, Schwestern, Frauen und Töchter und versuchen die Menschen zu manipulieren. Frauen sind für uns unantastbar, und die Menschen schweigen meistens. Tschetschenien zu verlassen ist für viele einfach nicht möglich, und viele wollen auch nicht in der Fremde leben.

    Wir verstehen, dass die Kräfte heute ungleich verteilt sind. Wenn wir jetzt einen Aufstand beginnen, dann würde Russland unter irgendeinem listigen Vorwand den Krieg in der Ukraine einfrieren und alle Kräfte gegen Tschetschenien schicken. Und wir stünden diesem Monstrum allein gegenüber. Selbst wenn man Kadyrow beseitigte, würde sich in unserer Heimat nichts ändern. Deshalb ist es unser Ziel, den Kreml zu zerstören, den Hort alles Bösen.

    Die jungen Menschen stehen jetzt stark unter dem Einfluss der Propaganda. Wenn sie in den Krieg geschickt werden, nimmt man ihnen die Telefone ab. Wenn sie es dann doch schaffen, mit ihren Verwandten zu reden, bitten sie uns um Hilfe, wie sie sich ergeben können – allerdings so, dass sie dann nicht ausgetauscht und zurück in Kadyrows System geschickt werden. Es gibt Hunderte solcher Fälle. Wir schicken ihre Koordinaten entweder an den zentralen Apparat des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU, oder an den militärischen Nachrichtendienst , und die kümmern sich dann um sie.

    Kadyrow lässt alle verfolgen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen. Er versucht uns zu schaden, schickt Killer los. Wir sind aber auch nicht untätig. Bei all denen, die ihr Gesicht offen gezeigt haben, sind sämtliche Verwandten entweder umgekommen oder aus Tschetschenien ausgewandert. Bei mir auch, ich habe niemanden mehr.“

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  • Nikolaj Statkewitsch

    Nikolaj Statkewitsch

    In Belarus bezeichnet der Begriff „politischer Häftling“ heute ein gewöhnliches, profanes, ja alltägliches Phänomen. Darüber staunt niemand mehr. Seit 2020 wurden und werden mindestens 4800 Belarussen aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt.

    Doch selbst angesichts dieser Situation gibt es einen, der sich von den anderen abhebt: Nikolaj Statkewitsch ist eine Kultfigur der belarussischen Opposition, ein Veteran des Kampfes für ein demokratisches Belarus. Dreimal wurde er von Amnesty International zu einem Gewissenshäftling erklärt. Auf seine Art ist er ein belarussischer Graf von Monte Christo. Heute befindet er sich wieder hinter Gittern, verurteilt zu 14 Jahren Freiheitsentzug. Er war noch im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020, die schließlich die historischen Proteste nach sich zogen, festgenommen worden. Nikolaj Statkewitsch verkörpert wie kein anderer Anführer der belarussischen Opposition den Typ des unermüdlichen Kämpfers gegen die Diktatur Alexander Lukaschenkos, was ihn zu dessen persönlichem Feind machte.

    Nikolaj Statkewitsch (belaruss. Mikalaj Statkewitsch) wurde 1956 in dem Dorf Ljadno (Kreis Sluzk, Oblast Minsk) in einer Lehrerfamilie geboren. Mit Beginn von Gorbatschows Perestroika gingen Menschen aus unterschiedlichen Bereichen in die Politik. Statkewitsch kam aus der Armee, als Militärkader. In sowjetischer Zeit war die Karriere als Militär für Kinder aus ländlichen Gegenden ein guter Weg, den sozialen Status zu verbessern. Statkewitsch stand eine glänzende Karriere beim Militär offen. Doch dann kam die Perestroika. Und Nikolaj Statkewitsch als kluger Kopf ging in die Politik, weil er spürte, dass das seine Berufung ist.

    Die wichtigste oppositionelle Kraft jener Zeit war die Belarussische Volksfront (BNF), eine Organisation, die für eine nationale belarussische Wiedergeburt eintrat. Die Volksfront bestand in zweierlei Form, als Partei und als Bewegung. Die damaligen Gesetze untersagten es Militärangehörigen, einer politischen Partei beizutreten. In einer Bewegung jedoch wurde eine Mitgliedschaft nicht festgeschrieben. Die BNF als Bewegung vereinigte unter ihrem Dach sämtliche Gegner des kommunistischen Regimes, von Liberalen bis zu Nationalisten.

    Für Statkewitsch wurde vor allem die belarussische nationale Idee zum wichtigsten politischen Wert, zu dem er sich bekannte. Und von dieser Haltung ist er nie abgerückt. Er wechselte zur belarussischen Sprache und entwarf schon zu sowjetischen Zeiten ein Konzept zum Aufbau einer belarussischen Armee. Anfang 1991 trat er aus Protest gegen den Einsatz sowjetischer Panzer zur Unterdrückung der Demonstrationen in Vilnius aus der KPdSU aus.

    Am 20. August 1991, während des Putsches des Staatskomitees für den Ausnahmezustand (GKTschP), wurde in Minsk die Belarussische Vereinigung der Militärangehörigen (belaruss. BSW) gegründet, die sich zum Ziel setzte, eine belarussische Armee aufzubauen. Zum Vorsitzenden der Organisation wurde Statkewitsch gewählt. Ihrer Ideologie und den politischen Aufgaben nach stand die BSW der Belarussischen Volksfront nahe. Die nationale BNF hat auf jede erdenkliche Weise die militärische Vereinigung BSW und damit die Arbeit von Nikolaj Statkewitsch unterstützt.

    Nach dem Zerfall der UdSSR und der Gründung der unabhängigen Republik Belarus kam es zu einem heftigen Konflikt zwischen Statkewitsch und der neuen Führung der Streitkräfte des gerade erst entstandenen Staates. Das Verteidigungsministerium reagierte sehr negativ darauf, dass es innerhalb der Armee eine politische Organisation gab mit einer Ideologie, die von den Generälen als radikal nationalistisch betrachtet wurde. Der Verteidigungsminister verlangte von aktiven Militärangehörigen, entweder aus der Vereinigung auszutreten oder den Dienst zu quittieren. Statkewitsch wollte sich diesem Ultimatum nicht beugen und organisierte eine aufsehenerregende Aktion. Am 8. September 1992, dem Jahrestag der bedeutenden Schlacht bei Orscha, schworen Mitglieder der BSW öffentlich auf dem Platz vor dem Haus der Regierung Belarus die Treue. Als Reaktion entließ die Regierung Aktivisten dieser Organisation aus den Sicherheitskräften, darunter auch Statkewitsch. Im Mai 1993, einen Monat vor der geplanten Verteidigung seiner Doktorarbeit, wurde er aus dem Militärdienst in die Reserve entlassen, und zwar mit der Formulierung „wegen Diskreditierung des Offiziersranges“. 1995 verließ Statkewitsch den Posten des BSW-Vorsitzenden, die Organisation verlor ihren Einfluss und wurde fünf Jahre später endgültig aufgelöst.
     

    Nikolaj Statkewitsch (rechts) bei dem von ihm initiierten Treueschwur auf das unabhängige Belarus im Jahr 1992 / Foto © gazetaby.com 

    Und Nikolaj Statkewitsch, den man im demokratischen Milieu bald auf Belarussisch Mikola nannte, wurde jetzt zu einem professionellen Politiker. Er trat der Partei Belarussische Sozialdemokratische Hramada (dt. Gemeinschaft, Gesellschaft) bei. Diese verknüpfte in ihrem politischen Programm zwei Ideen: Nationalismus und Sozialdemokratie. In Belarus waren nämlich in der Zeit des Zerfalls der UdSSR sozialistische Ideen recht populär. Für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung waren Werte wie Gerechtigkeit und soziale Sicherung wichtig. Viele hegten eine Nostalgie für die Sowjetunion. Daher entstanden im Land eine Reihe sozialdemokratischer Parteien, unter anderem die Hramada.

    1995 wurde Statkewitsch zum Parteivorsitzenden gewählt. Dafür musste er sich auf dem Parteitag in einem heftigen Wettstreit gegen den früheren Parteiführer Oleg Trussow durchsetzen. 1996 nannte sich die Partei um in Belarussische Sozialdemokratische Partei (Volks-Hramada) (BSDP NH). Die Partei vertrat sozialdemokratische Ideen mit einer starken Akzentuierung nationalistischer Werte.

    Der Zufall wollte es jedoch, dass Statkewitsch zu dem Zeitpunkt Parteiführer wurde, als Alexander Lukaschenko sein autoritäres Regime aufbaute. Dieser Prozess war mit einer Demontage demokratischer Institutionen und Mechanismen verbunden. Unter anderem wurden die repräsentativen Institutionen wie das Parlament und die Wahlen in eine reine Imitation ihrer selbst verwandelt. Der oppositionelle Teil der Gesellschaft versuchte, sich dem zu widersetzen. Als einziges Mittel des Protests blieben Aktionen auf der Straße (Versammlungen, Demonstrationen, Mahnwachen usw.). Die Regierung reagierte darauf, indem sie diese Proteste rigoros unterdrückte. Die Straßenaktionen waren stets von Zusammenstößen mit der Miliz begleitet. Teilnehmer wurden verprügelt, festgenommen und verurteilt. 

    Dadurch verlagerte sich die politische Auseinandersetzung auf die Straße. Und Politiker, die sich auf die parlamentarische Arbeit konzentriert hatten, wurden von ihrem Tätigkeitsfeld abgeschnitten. In den Vordergrund rückten jetzt Politiker, die einen Kampf auf der Straße anführen konnten. Statkewitsch wurde zur wichtigsten Figur dieser neuen Phase des oppositionellen Widerstands. Das Bild von Statkewitsch als einem Straßen- und Barrikadenkämpfer hat sich tief eingeprägt und wurde im Weiteren für seine politische Biografie bestimmend.

    So war Statkewitsch 1999 einer der Organisatoren des aufsehenerregenden Freiheitsmarsches, der in heftigen Zusammenstößen mit der Miliz endete. Von 1996 bis 2000 wurde gegen Statkewitsch rund 30 Mal Administrativhaft wegen Straßenaktionen verhängt. Drei Mal wurden gegen ihn Strafverfahren eingeleitet.

    Statkewitsch entwickelte ein Konzept, dessen Sinn in folgender Logik bestand: Lukaschenko siegt, weil er das Bild eines starken, coolen Politikers, so einer besonderen Art Macho, bedient. Daher ist er nur durch einen noch cooleren, stärkeren, mutigeren, unbeugsameren und furchtloseren Opponenten zu besiegen. Das war die Rolle, die Funktion, die Statkewitsch erfüllen wollte. Und deshalb wurde er zur wichtigen Symbolfigur der Opposition. In seinem Artikel Die Ethik der Freien schrieb Statkewitsch: „Verrat an der Freiheit durch Lüge und Erniedrigung lässt einen nicht nur beinahe zum Sklaven werden. Es führt allenthalben zu Unfreiheit. Freiheit eröffnet die Chance, sich als Person zu verwirklichen, mit sich selbst in Harmonie zu sein. Die Möglichkeit dazu gibt es immer. Alles hängt nur von eurem Willen und eurem Mut ab, frei zu sein.“1

    Das war auch der Grund, warum Statkewitsch in den Augen von Lukaschenkos Regime die größte Gefahr bedeutete. Schließlich waren es angesichts fehlender Wahlen gerade die Straßenproteste, die für das Regime die wichtigste Gefahr darstellen.

    In dieser Zeit kam es zu zwei Ereignissen, die in demokratischen Kreisen kontrovers diskutiert wurden. Im Jahr 2000 trafen oppositionelle Parteien und Organisationen – darunter die von Mikola geführte Sozialdemokratische Volks-Hramada – gemeinsam die Entscheidung, die Parlamentswahlen angesichts der herrschenden undemokratischen Bedingungen zu boykottieren. Doch dann ignorierte Statkewitsch plötzlich diesen Beschluss, kandidierte in einem Direktwahlkreis und verlor dort, wie zu erwarten. Auch Statkewitsch selbst konnte sein Vorgehen nicht schlüssig erklären.

    2005 löste die Regierung die Sozialdemokratische Volks-Hramada auf. Dem war ein heftiger Konflikt innerhalb der Parteiführung vorausgegangen, in dessen Folge Statkewitsch den Parteivorsitz verlor. Anschließend gründeten Mikola und seine Mitstreiter ein Organisationskomitee zur Gründung der neuen Belarussischen sozialdemokratischen Partei Volks-Hramada. In diesem Zustand eines nicht registrierten Organisationskomitees besteht die Organisation bis heute. Sie ist trotz der fehlenden offiziellen Registrierung die einzige Partei in Belarus, die Teil der Sozialistischen Internationale ist.

    Am 17. Oktober 2004 fanden in Belarus Parlamentswahlen und ein Referendum statt, dessen formales Ergebnis Lukaschenko juristisch die Möglichkeit gab, unbegrenzt oft bei Präsidentschaftswahlen anzutreten. Die Opposition reagierte mit Protestaktionen, die Statkewitsch anführte. Wegen der Organisation dieser friedlichen Demonstration gegen die Fälschung der Referendumsergebnisse wurden Mikola und ein weiterer der Organisatoren, Pawel Sewerinez, dann 2005 zu drei Jahren Haft verurteilt.

    Das war das erste Mal, dass Oppositionsführer wegen Beteiligung an einer friedlichen Aktion zu Freiheitsentzug verurteilt wurden. Bei den Protesten hatte es keinerlei Unruhen oder Zusammenstöße mit der Miliz gegeben. Von den vielen Anklagepunkten, die vor Gericht vorgebracht wurden, blieb de facto nur einer übrig: regelwidriges Überqueren einer Straße an einer nicht dafür vorgesehenen Stelle. Das ist höchstens eine Ordnungswidrigkeit, für die sie übrigens die Strafe bereits verbüßt hatten. Nach der Freilassung widmete sich Statkewitsch wieder intensiv seiner politischen Tätigkeit.

    2010 fanden in Belarus Präsidentschaftswahlen statt. Die Regierung entschloss sich dabei zu einer neuen Taktik und ließ die Registrierung von gleich zehn Kandidaten zu. Einer von ihnen war Nikolaj Statkewitsch. Die Regierung erwartete, dass sich die Stimmen der demokratisch gesonnenen Wähler auf die neun oppositionellen Kandidaten verteilen würden und Lukaschenko leicht den Sieg erringt. Diese Taktik gab jedoch den Opponenten des Diktators die legale Möglichkeit, einen Wahlkampf gegen ihn zu führen. Sie hatten unter anderem Zugang zum staatlichen Fernsehen. Statkewitschs Auftritt dort war der heftigste: In einer Livesendung wandte er sich direkt an Lukaschenko, duzte ihn, und verlangte die Wiedereinführung normaler Wahlen im Land.

    Die Präsidentschaftswahlen fanden am 19. Dezember 2010 statt. Am Wahlabend und in der Nacht zum 20. Dezember fand in Minsk eine Protestversammlung mit tausenden Teilnehmern statt. Statkewitsch führte die riesige Marschkolonne zum Haus der Regierung. Im Laufe der Aktion wurden dort Glastüren eingeschlagen. Die Versammlung wurde gewaltsam von Truppen des Innenministeriums und Spezialeinheiten der Miliz aufgelöst. An diesem Abend und in den folgenden Tagen wurden sieben der zehn Präsidentschaftskandidaten von Sondereinheiten festgenommen, darunter Statkewitsch. 

    Während der Untersuchungshaft trat Statkewitsch aus Protest in einen 24-tägigen Hungerstreik, der auf der Intensivstation eines KGB-Krankenhauses beendet wurde. Er weigerte sich, Aussagen zu machen oder Dokumente zu unterzeichnen. Lukaschenko verzieh Statkewitsch diese Dreistigkeit nicht: Am 26. Mai 2011 wurde er zu sechs Jahren Freiheitsentzug in einer Strafkolonie mit verschärften Haftbedingungen verurteilt. Das war die längste Haftstrafe aller damaligen politischen Häftlinge in Belarus, von denen es einige Dutzend gab.
     

    Mikola Statkewitsch nach seiner Freilassung im August 2015 in Minsk / Foto © Tut.by

    2015 änderte sich jedoch die politische Lage. Lukaschenko schlug einen neuen Kurs ein, um die Beziehungen zum Westen aufzutauen. Die Freilassung der politischen Häftlinge war dabei eine der Bedingungen, die die USA und die EU an Minsk gestellt hatten. Also wurde Statkewitsch aufgrund eines Gnadenerlasses von Präsident Lukaschenko vorzeitig entlassen. Er kam zu einem Zeitpunkt frei, als die belarussische Gesellschaft im Schock der Ereignisse in der Ukraine gefangen war. Während des zweiten Maidan waren rund 100 Menschen ums Leben gekommen; die militärische Aggression Russlands hatte mit der Besetzung der Krim und des Donbass begonnen. Infolge dieser Ereignisse festigte sich in der belarussischen Gesellschaft eine Furcht vor Protestaktionen auf der Straße. Diese wurde von der staatlichen Propaganda weiter angefacht, die der Bevölkerung mit Verweisen auf den „blutigen Maidan“ Angst einjagte. Für eine gewisse Zeit verzichtete die Opposition auf Aufrufe zu Straßenprotesten. Die Präsidentschaftswahlen 2015 waren die einzigen Wahlen in Belarus unter Lukaschenko, bei denen es nicht zu Straßenaktionen kam.

    Statkewitsch versuchte, diese Stimmung aufzubrechen. Er warf den damaligen Oppositionsführern sogar Kapitulationsneigungen vor und organisierte Aktionen mit nur wenigen Teilnehmern. Es war jedoch schwierig, die Stimmung in der Gesellschaft umzukehren. Bald machte die Regierung allerdings etwas, was die unabhängigen Medien einen „Schuss ins eigene Knie“ nannten: Lukaschenko unterzeichnete den sogenannten „Schmarotzer-Erlass“, durch den Bürger, die nicht offiziell arbeiten, die Kommunalabgaben in voller Höhe zahlen sollten. Über eine halbe Million Menschen erhielten Bescheide, dass sie „Schmarotzer“ seien. Und da betrat Statkewitsch die politische Bühne. Auf seine Initiative hin zog am 17. Februar 2017 ein „Marsch der erzürnten Belarussen“ durch das Stadtzentrum von Minsk, die gegen Lukaschenkos Erlass protestierten. An ihm beteiligten sich 2000 bis 3000 Menschen. Eigentlich nicht viele. Doch bedeutete der Marsch die Überwindung des Maidan-Syndroms, einer psychologischen Schwelle, der Angst vor Straßenprotesten. Der Marsch in Minsk setzte eine Kettenreaktion in Gang. In ganz Belarus kam es zu Versammlungen und Märschen empörter Menschen. Die Regierung war genötigt, zur Unterdrückung dieser Proteste sämtliche Einheiten des Innenministeriums loszuschicken. Letzten Endes war Lukaschenko gezwungen, seinen Erlass praktisch zurückzunehmen. Die Gesellschaft hatte gesiegt, was in Belarus äußerst selten vorgekommen ist. Statkewitsch musste allerdings etliche Male eine Administrativhaft absitzen.

    Dann folgte das für Belarus schicksalhafte Jahr 2020. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen wachte die Gesellschaft auf, wurde sehr aktiv und machte deutlich, dass sie Kandidaten unterstützen würde, die eine Alternative zu Lukaschenko darstellen. Gemäß dem Gesetz konnte Statkewitsch nicht bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren, weil seine Vorstrafe noch nicht abgelaufen war. Er bereitete sich aber vor und setzte große Hoffnungen auf Proteste der Bevölkerung. „Ich denke, es gibt einige, die bereit sind, sich an die Spitze der Prosteste zu stellen. Aber ich werde alles tun, um selbst bis zu diesem Platz der Proteste zu gehen und das zu tun, was das belarussische Volk von uns erwartet“2, schrieb er.

    Immer mehr Aktivisten sammelten Unterschriften für oppositionelle Kandidaten. Allen war klar, dass das Land kurz vor einer Eruption stand. Das war auch der Regierung bewusst. Also wurden Präventivmaßnahmen beschlossen. Politiker, die Organisatoren und Kristallisationspunkte von Protesten werden konnten, sollten neutralisiert werden. Also wurden Sergej Tichanowski, Nikolaj Statkewitsch, Pawel Sewerinez und andere verhaftet. Statkewitsch wurde am 31. Mai auf dem Weg zu einem Stand festgenommen, an dem Unterschriften für die Nominierung von Swetlana Tichanowskaja als Präsidentschaftskandidatin gesammelt wurden. Zunächst kam er für 15 Tage in Haft. Später wurde die Haft zweimal verlängert, und am 29. Juni 2020 wurde gegen den Oppositionellen ein Strafverfahren wegen der Vorbereitung von Massenunruhen eröffnet.

    Der Gerichtsprozess begann am 24. Juni 2021. Zusammen mit Nikolaj Statkewitsch waren die bekannten Blogger Sergej Tichanowski und Igor Lossik, dazu die beiden Mitarbeiter von Tichanowski, Artjom Sakow und Dmitri Popow, angeklagt. Formal mutete das wie ein Prozess gegen eine kriminelle Vereinigung an. Es störte die Regierung dabei keineswegs, dass viele der Beschuldigten sich gar nicht kannten. Die Verhandlungen fanden hinter verschlossenen Türen statt, und zwar nicht in der Hauptstadt, sondern in Gomel im dortigen Untersuchungsgefängnis.

    Interessant ist, wie die Ermittler es begründeten, dass diese Personen „Massenunruhen“ vorbereitet haben sollen. Damit bezeichnet die Regierung die massenhaften und – das ist besonders zu betonen – friedlichen Proteste im Jahr 2020. Die Sache ist nur, dass die tatsächlichen „Unruhen“ mit den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 begannen. Und Statkewitsch war ja am 31. Mai verhaftet worden, also über zwei Monate vor Beginn dieser Proteste. Am 14. Dezember 2021 schließlich wurde Nikolaj Statkewitsch zu 14 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

    Die Bedingungen des Strafvollzugs sind für politische Häftlinge aktuell sehr viel härter als früher. Menschenrechtler setzen sie jetzt mit Folter gleich. In nur einem Jahr in der Strafkolonie von Glubokoje hat Statkewitsch 36 Verweise erhalten, darunter 14 Aufenthalte in der Strafzelle. Die Regierung hat um Statkewitsch herum eine Informationsblockade errichtet. Den letzten Brief von ihm hat seine Frau am 9. Februar 2023 erhalten.

    Ende 2021 hatte Mikola noch einen Brief aus dem Gefängnis nach draußen übergeben können, in dem er seine politische und Lebensphilosophie darlegte: „Am Ende des Lebens, falls man sich das Denken bewahrt hat, fragt man sich: Wozu habe ich gelebt? Die Antwort fällt leichter, wenn ihr mit eurem Handeln die Welt, und sei es nur die Welt um euch herum, erheblich besser gemacht habt“3.


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


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  • Shamans Kampf

    Shamans Kampf

    Entschlossen schreitet Jaroslaw Dronow in Lederstiefeln über den Roten Platz, auf der Brust prangt ein Holzkreuz, den linken Arm ziert eine Armbinde mit der russischen Trikolore. „Wahrheit und Stärke sind auf unserer Seite, stolz wird unsere Nation alles überleben“, singt der als Shaman bekannte Popstar dazu in seinem Lied My (dt. Wir). Neben der offenkundigen Nähe zur NS-Ästhetik sorgte in den Sozialen Netzwerken für Diskussionen, dass die Veröffentlichung des Songs ausgerechnet mit dem Geburtstag Adolf Hitlers zusammenfiel.

    Der 31-jährige Dronow hat die Gnessin-Musikhochschule in Moskau abgeschlossen und gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland. Seine Karriere erlebte einen steilen Aufschwung mit dem Song Wstanem (dt. Wir erheben uns). Das Lied ist Gefallenen im Großen Vaterländischen Krieg gewidmet, erschien einen Tag vor Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine und wurde oft darauf bezogen interpretiert – entsprechend der russischen Propaganda, die schon seit 2014 versucht, die russische Aggression gegen die unabhängige Ukraine in Bezug zum sowjetischen Kampf gegen Hitlerdeutschland zu setzen. 

    Shamans neuester Song heißt Moi boi, was sich mit „Mein Kampf“ (russ. Moja borba) übersetzen lässt und auch so in den deutschen Untertiteln auf YouTube angezeigt wird, wie Social-Media-User sogleich bemerkten. Der Politikanalyst Alexander Baunow hat sich den Clip dazu angeschaut und seine Gedanken zu den Propaganda-Mechanismen dahinter auf Facebook notiert. 

    Der Sänger Shaman Dronow hat einen neuen Clip aufgenommen – Mein („Kampf“ durchgestrichen) Gefecht –, bei dem der empfindsame Betrachter eine Träne vergießen soll, angesichts eines Sammelsuriums von Bildern unrasierter, schießender Männer in Tarnuniform und zerstörter Gebäude und Straßen. Und die Zuschauer tun das auch folgsam.

    Betroffenheit angesichts der Zerstörung – und Mitgefühl für die Verursacher

    Dass die zerstörten Gebäude und Straßen zu eben jenen Städten gehören, die von den Männern in Tarnuniform beschossen werden, und dass die tränenvergießenden Zuschauer sowohl mit dem einen wie mit dem anderen mitfühlen sollen, verstört diese nicht im Geringsten. Hauptsache, die Melodie ist anrührend, die Stimme mitreißend und unser Junge auf der Bühne hübsch. Und mit den „Helden“ mitzufühlen und sich den Anblick der Leiden zu Herzen zu nehmen, das ist für den Zuschauer erhebend: Es belegt, dass er ein guter Mensch ist, und dass auch die Sache, die ihm am Herzen liegt, gut und gerecht ist. 

    Die Bilder der Ruinen in dem Clip ließen sich durch Aufnahmen von der Kathedrale und dem Haus der Wissenschaftler in Odessa ergänzen [die Russland am Tag der Veröffentlichung des Posts mit Raketen beschossen hat – dek]. Letzteres war ein Anwesen der Grafen Tolstoi, und seine Räumlichkeiten haben als Kulisse gedient: Sie waren die Räume des Schlosses von Versailles in Die drei Musketiere, dem vom feinfühligen Zuschauer geliebten, guten alten sowjetischen Film. Man könnte den Clip mit einem offenen Ende versehen, das allmonatlich mit neuen Bildern von Ruinen bestückt wird. Das dürfte für den aufmerksamen Betrachter zu keinerlei kognitiven Dissonanzen führen, und es wird ihn auch nicht in eine geistige Sackgasse manövrieren. Schließlich wird hier alles vom Herzen entschieden.

    „Wir sind hier Helden wie auch Opfer“

    Bei der ästhetischen Verarbeitung dieses Krieges durch das Massenpublikum gibt es die Besonderheit, dass positive Bilder (etwa unrasierte Helden) sich mit der eigenen emotionalen Welt verbinden, einer positiven, guten Welt. Negative Bilder hingegen (zerstörte Gebäude etwa) gehören zu einer fremden Welt, einer Welt des Schlechten und Bösen. Was soll da unklar sein? Die Helden sind positiv, die Ruinen negativ. Wir fühlen mit den Guten mit, sind stolz auf sie. Und wir haben Mitgefühl mit den Opfern des Bösen, der Anblick der Trümmer schmerzt uns – alles logisch.

    Shaman gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland / Foto © Komsomolskaya Pravda/Russian Image/imago images
    Shaman gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland / Foto © Komsomolskaya Pravda/Russian Image/imago images

    Das funktioniert wie eines der [propagandistischen – dek] Erklärungsmuster, dessen Logik genauso aufgebaut ist wie in dem Clip: Wir Slawen haben unter einem Krieg zu leiden, der in unsere russischen, slawischen Lande ein weiteres Mal durch fremde, feindliche Mächte getragen wurde – durch die Amerikaner und Europäer. Wir sind hier sowohl Helden wie auch Opfer. Wir schießen, und wir beklagen die Zerstörungen, die bei uns allen ferne, fremdländische Feinde angerichtet haben. Die Kathedrale ist also durch diese zerstört worden, wird aber unweigerlich zur nächsten Strophe wiederauferstehen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch:

     

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  • „Wer traurig ist, gehört zu mir“

    „Wer traurig ist, gehört zu mir“

    Zehntausende Belarussen hat Alexander Lukaschenko seit den Protesten 2020 mit brutalen Repressionen außer Landes getrieben. Viele gingen zunächst auch in die Ukraine, von wo sie vor dem russischen Angriffskrieg ein zweites Mal fliehen mussten. Die Eltern oder die Großeltern blieben zurück in der Heimat, Familien wurden entzweit, ohne Hoffnung, sich in naher Zukunft wiedersehen zu können. In der Fremde warten neue Herausforderungen: eine Arbeit finden, eine Wohnung, Plätze in Schulen für die Kinder, durchkommen, kämpfen. Und doch bleiben die Sorgen um die Zurückgebliebenen, um die Heimat. 

    Für die Rubrik Schmerz des belarussischen Online-Mediums KYKY hat die belarussische Autorin und Redakteurin der Plattform OstWestMonitoring Sabina Brilo aufgeschrieben, was viele Belarussen im erzwungenen Exil umtreibt. Auch sie musste Belarus verlassen und ist „seit fast zwei Jahren im Nirgendwo“, wie sie schreibt.

    Menschliche Anpassungsfähigkeit ist etwas, was mich verblüfft und bei mir fast schon so etwas wie Neid hervorruft. Sich einleben, heimisch werden, gedeihen … Ich kann das nicht.

    Fast zwei Jahre schon bin ich nicht zu Hause, und die ganze Zeit nirgendwo. Ich bin in Not, in riesiger menschlicher Not.

    Was meine ich mit der Unmöglichkeit, mich an ein Leben jenseits meines Zuhauses anzupassen? Für mich geht es weniger um Fragen der persönlichen, physischen Existenz (Wohnort, Essen, Gesundheit, Arbeit und Erholung), sondern vielmehr um eine emotionale Unstimmigkeit und mentale Dissonanzen. Die gehen einher mit einem Gefühl der Absurdität darüber, was mit uns (unseren Familien, den Völkern, der Menschheit) geschieht und sogar von uns zur Norm gemacht wird. Die vielen trostbringenden Aktionen, die Hilfe durch wohlhabende Menschen, die Industrie psychologischer Teilhabe, die Förderprogramme und Solidaritätsaktionen ermöglichen – das alles ist eher die Bestätigung eines abnormen Zustands, der jetzt die Norm ist, als dass es helfen würde, diesen Zustand zu begreifen und nach Wegen zu suchen, ihn tatsächlich und nicht nur imaginär zu überwinden.

    „Beschreibe, entwirf deine persönlichen Grenzen und gestalte deinen Raum“, sagen diplomierte Fachleute. Dieser Rat klingt (methodo)logisch, und er wird gern eingesetzt, um das Leben zu erleichtern. Ich selbst stelle mir diese Grenzen wie ein Schneckenhaus vor: Innen drin ist es wie zu Hause, draußen aber kannst du jederzeit unter einen groben Stiefel geraten.

    Der Staat, in dem ich lebte und der mich eigentlich schützen sollte, drohte mir mit einer echten Hölle

    Die Welt ist heute voller grober Stiefel, die vollkommen ungestraft (und das sogar gegen Geld!) Blumen, Sträucher und Schnecken zertrampeln, darunter solche, die wie ich ohne Haus sind. 

    Dabei hatte es ja ein Haus gegeben, aber das hat nicht geholfen. Seit über anderthalb Jahren schlafe ich in einem fremden Bett. Und zwar nicht, weil ich mein Land verlassen habe, um ein besseres Leben, ein leckeres Stück Kuchen oder einen Platz an der Sonne zu haben … Nein, ich bin ausgereist und habe alles zurückgelassen, was mir lieb und teuer war, um mich vor dem nahezu Schrecklichsten zu bewahren, was einem Menschen durch Seinesgleichen geschehen kann: einer ungerechten Gefängnishaft. 

    Der Staat, in dem ich lebte und der mich eigentlich schützen sollte, drohte mir mit einer echten Hölle, obwohl ich mir nichts hatte zu Schulden kommen lassen. Dieser Gedanke an ein Loch im Rechtssystem, ein Vakuum, das systematisch menschliche Leben aufsaugt, lässt mir auch im fremden Bett keine Ruhe. In einer Welt, in der ein gesetzestreuer Mensch nicht vor der Willkür der Machthabenden geschützt ist (sie können dich ins Gefängnis werfen, in den Krieg schicken, deine Menschenwürde im Fernsehen mit Füßen treten), kann ich nicht ruhig schlafen und nachdenken, wie ich damit umgehen soll.

    Schon lustig: Eine Schnecke ohne Haus überlegt, wie sie die Welt retten kann.

    Ich habe kaum gemerkt, wie schnell fern der Heimat anderthalb Jahre verflogen sind. Ich erinnere mich, wie ich kurz nach der Ankunft eine Bekannte aus Minsk traf. „Bist du schon lange hier?“, fragte ich. „Ja, schon ein Jahr.“ Damals kam mir das wie eine Ewigkeit vor. Innerhalb eines Jahres kann man sich einrichten, sich einleben, dachte ich damals. Und ich dachte auch, dass uns beide ein ganzes Jahr eines unterschiedlichen Lebens und vollkommen unterschiedlicher Erfahrungen trennt.

    Jetzt weiß ich, dass man auch über mich so denkt: „Du bist jetzt in Sicherheit, dich treiben jetzt ganz andere Probleme um.“ Aber nein. Meine Gedanken, meine Liebsten, meine Sorgen, all das ist immer noch mit dem verbunden, was zu Hause geblieben ist.

    Mein Gott! Der Täter verlangt vom Opfer, dass es um Entschuldigung bittet!

    Ich weiß sehr wohl, was hilft und was eine Vertriebene daran hindert, sich einzuleben. Welche Praktiken vonnöten sind und was man lieber unterlassen sollte, wenn man versucht, sein Leben zu einem vollwertigen zu machen.

    Zum Beispiel sollte man sich nicht jeden Abend, beim Versuch einzuschlafen sein Zuhause vorstellen. Wie man in die Küche geht, Geschirr spült, Staub vom Küchenschrank wischt. Und auch nicht an die alte Katze denken, die man bei Verwandten gelassen hat (meine Finger erinnern sich an jeden ihrer Knochen, an jeden Ballen ihrer Pfote).

    Stell dir lieber nicht vor, dass du jetzt die Augen öffnest und dann vor dir das Nachttischchen steht, mit den Büchern darauf und den Notizblöcken in der Schublade. Hüte dich, dir vorzustellen, wie du deine Verwandten umarmst. Und denke nicht an Großmutters Grab, wenn du Frühlingsblumen siehst.

    Aber was soll man dann tun? Viel in der Stadt herumlaufen, in der du gerade lebst, um all ihre Ecken zu entdecken. Sich leckeres Essen holen. Die Sprache lernen, Sport treiben. Sich mit Freunden treffen, Leute kennenlernen. Ins Theater oder ins Kino gehen. An die Zukunft denken … 

    Die Psychologen raten einem, das alles im Rahmen der persönlichen Grenzen zu tun. Doch an meinen Grenzen stehen irgendwelche Amateur-Grenzschützer. Mich will ein gewisser Kummer nicht verlassen, ein eigener und allgemeiner, ein anhaltender und zunehmender, weil eine Katastrophe droht.

    Mich wundert schon gar nichts mehr, aber wenn in Belarus ein Erlass ergeht, dass Geflüchtete zurückkehren können, wenn sie sich gegenüber dem Regime entschuldigen, dann stockt mir der Atem: Mein Gott! Der Täter verlangt vom Opfer, dass es um Entschuldigung bittet!

    Da gibt es folgende Geschichte: Ein Mann isst vor den Augen eines anderen ein Stück Kuchen auf und fragt ihn: „Warum hast du das Stück Kuchen aufgegessen?“ Der antwortet verwundert: „Ich war das doch gar nicht, du warst es. Du hast doch noch die Krümel auf den Lippen!“ Und der Kuchenesser wischt sich die Lippen ab, schaut seinen Kumpel in die Augen und sagt: „Was bist du nur für ein Halunke! Du hast Krümel auf den Lippen!!!“ Und da ist sie, die Linie, hinter der der gesunde Menschenverstand endet. Und was beginnt dort? Was entwickelt sich dort, wo es kein Instrument gibt, um sich zu wehren? Wo es kein Gesetz gibt? Wo es nicht einmal eine Sprache gibt, um Argumente zu formulieren, weil es niemanden gibt, für den man sie formulieren könnte – der Kuchenesser hat ja keine Ohren, um dich zu hören. Wir können das Absurde feststellen, aber nichts unternehmen. Sollen wir uns irgendwie einrichten, uns einleben?

    Hier wäre wohl am ehesten ratsam eine Strategie, mit der man „die persönlichen Grenzen ziehen“ kann. Sich dem Buddhismus zuwenden. Hygge praktizieren. Sich sagen, dass man in Sicherheit ist und dass mit der Zeit alles in Ordnung kommt.

    Ich bin aber nicht fähig zu einem solchen Selbstbetrug. Um bei Verstand zu bleiben, muss ich das, was mich umgibt, in all seinem Schrecken erfassen und in dieser Hölle einen kühlen Kopf bewahren. Mein Trauern ist ein Prozess, eine Anstrengung, eine Energieverschwendung. 

    Oh je, ich habe wohl keinerlei Instrumente, um die Situation anzufechten, in der sich Zehntausende (oder gar Hunderttausende?) meiner verurteilten, beraubten, erniedrigten und vertriebenen Landsleute befinden. Meine Empörung kann sich nirgendwo hin Luft machen, ich kann meine Wut nicht in Taten umsetzen. Es ist niemand da, bei dem ich mich beschweren könnte. Vielleicht ist das auch gut so. Ich habe nur mein Trauern, meinen persönlichen, ethischen Indikator. Solange er leuchtet, ist mit klar, dass die Welt verrückt ist, und ich noch nicht. 

    Zu Beginn von Putins Krieg in der Ukraine sagte mir eine Freundin, eine Regisseurin aus Moskau, unter Tränen am Telefon: „Ich gehe durch die Straßen und schaue mir die Leute an. Wer traurig ist, gehört zu mir.“ Auch ich erkenne meine Leute an diesem Merkmal.

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  • Unter dem Einfluss der russischen Welt

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    In seiner Amtszeit seit 1994 hat Alexander Lukaschenko mit dem Einfluss Russlands in Belarus geschickt gespielt, den Kreml auch teilweise immer wieder ausgespielt, wenn er zumindest zeitweise der EU entgegengekommen ist. Der russischen Führung ist es nie gelungen, eine wirkliche Kontrolle über den Machtapparat Lukaschenkos aufzubauen. Im Zuge der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020, der Radikalisierung des politischen Systems in Belarus oder der Rolle der belarussischen Führung im russischen Krieg gegen die Ukraine hat Russland potentielle außenpolitische Ausweichmanöver für den belarussischen Machthaber aber deutlich eingeschränkt. 

    Kann Russland diese Situation soweit nutzen, um seinen ideologischen Einfluss in Belarus zu stärken? Mit dieser zentralen Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für dekoder.

    Das russische private Militärunternehmen Wagner hat eine finstere Reputation. Es ist in einer Reihe von Staaten als verbrecherische oder terroristische Organisation eingestuft. Seine Söldner sind jetzt in der Ukraine am Werk. Der Vorschlaghammer ist zu einem Symbol der Abrechnung mit jenen geworden, die die Wagner-Leute für „Verräter“ halten.

    Diese spezifische Reliquie der Russki Mir wird nun – signiert von einem der Wagner-Männer – in einem belarussischen Museum als Exponat ausgestellt. Dabei empören sich nur jene Belarussen laut, die sich in der politischen Emigration befinden. Wer vor Ort ist, schweigt lieber. Es wird gemunkelt, dass Wladimir Gabrows Initiativen unter der Schirmherrschaft des belarussischen KGB stehen.

    Der ehemalige Angehörige der Fallschirmjäger steht jedenfalls in der Gunst der Regierung und taucht regelmäßig im Staatsfernsehen auf. Ende vergangenen Jahres überreichte Bildungsminister Andrej Iwanez ihm die Urkunde Für die aktive Beteiligung an der militärisch-patriotischen Erziehung der jungen Generation. Gabrow kann sich auch mit der Dankbarkeit von Alexander Lukaschenkos Präsidialadministration brüsten.

    Das Experiment einer „sanften Belarussifizierung“ ist gescheitert

    Dabei hatten sich glühende Verfechter der Russki Mir in Belarus vor wenigen Jahren noch längst nicht so wohl gefühlt. Lukaschenko hatte zwar dem Kreml die Treue geschworen, war aber auch auf der Hut geblieben. Er widersetzte sich nach Kräften dem Vormarsch der russischen Soft Power, die er zu Recht als Bedrohung für seine Herrschaft ansah.

    Unter anderem bemühten sich die belarussischen Behörden, die Märsche am Tag des Sieges, die Moskau im Rahmen des Unsterblichen Regiments im gesamten nahen Ausland initiierte, wenn nicht zu verbieten, so doch möglichst klein zu halten. So verweigerte die Minsker Stadtverwaltung einem Verein mit diesem Namen die Registrierung. Lukaschenko erklärte, dass es in Belarus seit langem schon die Aktion Belarus gedenkt gebe und die Russen die Idee „einfach geklaut“ hätten.

    Die Geheimdienste des Regimes erstickten im Keim Kosakeninitiativen, mit denen belarussische Jugendliche geködert werden sollten. Lukaschenko erklärte klipp und klar: „Das sind gar keine Kosaken. Es gibt Menschen, denen ist völlig egal, wie sie ihr Geld verdienen. Die werden von jemandem in Russland bezahlt. Wir sehen das …“ Ende 2017 verurteilte ein Gericht in Minsk drei belarussische Autoren der russischen Nachrichtenagentur Regnum zu fünf Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung. Sie wurden der Volksverhetzung angeklagt, weil sie – so die Gutachter – in ihren Beiträgen die Souveränität von Belarus in Frage gestellt und beleidigende Aussagen über das belarussische Volk sowie dessen Geschichte, Sprache und Kultur gemacht hätten.

    Eine Weile liebäugelte Lukaschenko sogar mit einer „sanften Belarussifizierung“. Dabei bemühte er nationale Narrative, um ein Gegengewicht zum Druck aus dem Kreml zu bilden. Die Regierung ließ etwas mehr Freiheit für Kultur- und Bildungsinitiativen des nationalbewussten Teils der Gesellschaft. 2018 wurden im Zentrum von Minsk sogar eine Demonstration und ein Gedenkkonzert anlässlich des hundertsten Jahrestages der Belarussischen Volksrepublik genehmigt. Zehntausende versammelten sich mit den historischen weiß-rot-weißen Flaggen.

    Als dann aber 2020 gleich Hunderttausende mit diesen Flaggen auf die Straße gingen, um gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen zu protestieren, verstand Lukaschenko, dass er einen Geist aus der Flasche gelassen hatte. Er griff zu brutalen Repressionen, und die historische Flagge wurde zu einem Symbol des Faschismus erklärt. Bis heute werden Teilnehmer der friedlichen Demonstrationen ausfindig gemacht und hinter Gitter gebracht.

    Aktivistin Bondarewa gegen Socken, Lateinisches und Denkmäler 

    Dafür sahen einige Adepten der Russki Mir ihre Zeit als gekommen. Ein Beispiel hierfür ist die unermüdliche Aktivität von Olga Bondarewa aus Hrodna. Unabhängigen Medien zufolge ist Bondarewa in Polen wegen Zigarettenschmuggels vorbestraft. 2020 jedoch kamen ihre Hasstiraden gegen Protestierende der Regierung ganz gelegen.

    Nachdem Bondarewa ein „aufrührerisches“ Gemälde in einer Ausstellung von Ales Puschkin, einem dezidiert nationalbewussten Künstler, gemeldet hatte, wurde der Künstler angeklagt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Bondarewa erreichte auch, dass von dem Gelände des Privatmuseums von Anatoli Bely in der Stadt Staryja Darohi die Skulpturen einer Reihe belarussischer historischer Persönlichkeiten entfernt wurden.

    Sie führte einen leidenschaftlichen Feldzug gegen Socken mit belarussischen Aufschriften; gegen nicht genehme Bücher; gegen Exkursionsleiter, die Belarussisch sprachen und deren Auslegung der belarussischen Geschichte, die angeblich von der offiziellen abwich; gegen einen Priester, der eine Andacht „für die Krieger und Verteidiger der Ukraine“ abgehalten hatte. Die rastlose Aktivistin machte auch vor der lateinischen Schrift nicht Halt, die unter anderem für das Belarussische verwendet wird und die sie als Instrument der Polonisierung anprangerte.

    Irgendwann ging die übereifrige Aktivistin selbst den Bürokraten und Propagandisten des Regimes auf die Nerven. Umso mehr, als sie begann, führende Repräsentanten und Mitarbeiter staatlicher Medien, die ihren Kriterien nicht genügten, grob zu beschimpfen. „Was geht in ihrem kranken Hirn vor?“, empörte sich über Bondarewas Ausfälle Swetlana Warjaniza, stellvertretende Vorsitzende der Gebietsorganisation Hrodna der regimetreuen Bewegung Belaja Rus.

    Nicht, dass die Funktionäre unbedingt gegen Bondarewa wären. Aber sie wollen wegen ihrer Aufrufe auch nicht von ihren Vorgesetzten eins auf die Mütze bekommen. Nach dem Motto: Warum habt ihr sie nicht im Auge gehabt? Warum habt ihr den Aufruhr zugelassen? Also haben wohl einige von ihnen damit begonnen, diese Aktivistin dezent in die Schranken zu weisen.

    Im Februar verweigerte die Miliz Bondarewa die Einleitung eines Strafverfahrens, nachdem sie angeblich in einem Telegram-Kanal beleidigt worden sei. Auch könnte ihr Rechtsstreit mit dem Parlamentsabgeordneten Igor Marsaljuk in einem Fiasko enden. Der hatte ihre Ausfälle nicht länger ertragen und sich an den Generalstaatsanwalt gewandt, damit dieser eine rechtliche Bewertung der Aktivitäten von „pseudopatriotischen Bloggern“ vornimmt.

    Auf der anderen Seite scheinen sich lokale Behörden wohl doch ein wenig vor Bondarewa zu fürchten und ihren „Signalen“ lieber Folge zu leisten. So wurde kürzlich bekannt, dass in der Ortschaft Selwa auf geheimnisvolle Weise das Denkmal der Dichterin Laryssa Henijusch verschwand, die unter Stalin zu 25 Jahren Gulag verurteilt worden war.

    Die Propaganda des Kreml hat zusätzliche Freiräume bekommen

    Allerdings gibt es in Belarus nur wenige Verfechter der Russki Mir, die so besessen sind wie Bondarewa. Man kann sich denken, dass diese Leute in den Augen der meisten Belarussen wie skurrile Freaks wirken. Der Soziologe Filipp Bikanow, der im vergangenen Jahr eine Studie zur nationalen Identität durchführte, stufte lediglich vier Prozent der Befragten als „Russifizierte“ ein. Zahlreiche weitere Studien haben bereits festgestellt, dass die Wenigsten für einen Beitritt von Belarus zu Russland sind. Die erklärten Anhänger der Russki Mir bilden in Belarus also keine kritische Masse. Ganz anders als 2014 auf der Krim und im Donbass.

    Bikanows Kategorisierung zufolge gibt es im Land jedoch nicht wenige „sowjetische“ Belarussen (nach seinen Berechnungen rund 29 Prozent), die ebenfalls für russische Propaganda empfänglich sein könnten. Und für die gibt es seit 2020 mehr Freiräume. 

    Lukaschenkos Medien wiederholen zahlreiche Narrative des Kreml. Unabhängige belarussische Medien werden systematisch als extremistisch eingestuft und aus dem Land vertrieben; wer sie innerhalb des Landes liest, wird bestraft. Die Miliz überprüft bei ihren Opfern, welche Telegram-Kanäle sie abonniert haben, um „Aufrührer“ aufzuspüren. Es ist jedenfalls sicherer, nur konforme Inhalte zu konsumieren. Umfragen zufolge gewinnen die kremltreuen und die staatlichen belarussischen Medien, die ihnen nach dem Mund reden, infolge durchaus an Einfluss.

    Der Führer schaufelt der Unabhängigkeit des Landes ein Grab

    Nach 2020 haben die Verfechter der Russischen Welt ihre Position auch im Verwaltungsapparat merklich gefestigt, sowohl in Lukaschenkos unmittelbarer Umgebung als auch – und insbesondere – in den Sicherheitsbehörden.

    Der ehemalige politische Gefangene Konstantin Wyssotschin erinnert sich an seinen Aufenthalt in der GUBOPiK, der Hauptverwaltung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption, einer Abteilung des Innenministeriums, die sich zur politischen Polizei gemausert hat: „Was mich verblüffte: An allen Bürotüren hängen Flaggen mit dem Z, und in den Räumen hängen zwei Portraits – eins von Lukaschenko und eins von Putin.“ Das Z nutzen die russischen Militärs zur Markierung ihres Geräts beim Einmarsch in die Ukraine. Es wurde auch zu einem propagandistischen Symbol der Aggressoren.

    Viele belarussische Offiziere erhielten ihre Ausbildung in Russland und haben dort noch Freunde. Manch einer, so wird gemunkelt, ist neidisch auf die Bezahlung der russischen Offiziere und Generäle. Verteidigungsminister Viktor Chrenin bezeichnete Lukaschenko und Putin öffentlich als „unsere Präsidenten“. Es stellt sich also die Frage, auf welcher Seite die Befehlshaber der belarussischen Armee und anderer Sicherheitsstrukturen (und nicht nur dort) im kritischen Moment stehen werden, wenn ihre Hirne von der Propaganda des Kreml gewaschen sind und sie praktisch in imperialen Kategorien denken.

    Als prorussisch gelten unter anderem der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow (der früher die erwähnte GUBOPiK leitete), Oleg Romanow, der Chef der vor kurzem gegründeten Partei Belaja Rus, der Staatssekretär des belarussischen Sicherheitsrates Alexander Wolfowitsch sowie die Vorsitzende des Rates der Republik Natalja Kotschanowa. Letztere genießt das uneingeschränkte Vertrauen Lukaschenkos, der ihr verantwortungsvolle und heikle Aufgaben überträgt. Sie gilt sogar als mögliche Nachfolgerin des alternden Führers.

    Zum orthodoxen Weihnachtsfest entzündete Lukaschenko eine Kerze in der Kirche des am Stadtrand von Minsk gelegenen St. Elisabeths-Klosters, das als Hochburg von Anhängern der Russki Mir bekannt ist. Unter anderem wurden hier Spenden(gelder) für die russischen Aggressoren gesammelt, was bei den Opponenten des Regimes für Empörung sorgte. Das Staatsoberhaupt nahm das Kloster jedoch in Schutz: „Ihr macht das richtig. Achtet nicht auf dieses Dutzend gekaufter Leute.“

    Dabei ist offensichtlich, dass Lukaschenko Bauchschmerzen hat, den Aggressor uneingeschränkt zu unterstützen, weil ihm dafür perspektivisch ein Platz auf der Anklagebank im Internationalen Gerichtshof droht. Aber was soll er tun? Die Zeiten, da der belarussische Herrscher, wenn ihn der Kreml zu sehr bedrängte, die Zähne fletschen und sogar Wirtschaftskriege führen konnte, sind vorbei.

    Der Wendepunkt war die gewaltsame Niederschlagung der Proteste 2020. Um sich im Sattel zu halten, bat Lukaschenko Putin um Hilfe. Der bot ihm die starke Schulter und erntete dafür Begeisterung von Lukaschenkos Gefolgsleuten und Silowiki. Doch dann forderte Putin für die Rettung des verbündeten Autokraten einen grausamen Preis: Moskau nutzte Belarus als Aufmarschgebiet für den Überfall auf die Ukraine, beschmutzte das Regime durch die Beteiligung an seinem Eroberungskrieg und will jetzt in Belarus taktische Atomwaffen stationieren, wodurch der Nachbar noch stärker an Russland gefesselt wird.

    Angesichts dieser höheren Gewalt wählte Lukaschenko den Weg der Zugeständnisse an den Kreml – Zugeständnisse an den Westen und die Opposition kamen für ihn grundsätzlich nicht in Frage.

    Der belarussische Herrscher hat sich selbst in eine Zwickmühle gebracht: Obwohl er sich der Gefahr einer schleichenden imperialen Expansion durch Russland sehr wohl bewusst war, ist er jetzt dazu gezwungen, der Russki Mir immer weiter die Tür zu öffnen, damit er sich selbst hier und jetzt an der Macht halten kann. Somit schaufeln nicht die „prorussischen Freaks“ der belarussischen Unabhängigkeit das Grab, sondern der Führer des Regimes selbst.

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  • Zukunftsflimmern in Belarus

    Zukunftsflimmern in Belarus

    Laut Verfassung steht in Belarus 2025 die nächste Präsidentschaftswahl an. Angesichts der Proteste nach der Wahl 2020 und der anschließenden Radikalisierung des Systems von Alexander Lukaschenko lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nur schwer eine wirkliche Wahl vorstellen. Schließlich sind mittlerweile auch alle Oppositionsparteien in Belarus verboten, die Repressionen gehen ungebremst weiter. 

    Für die Machthaber könnte eine Wahlinszenierung allerdings ein Mittel sein, der Exil-Opposition um Swetlana Tichanowskaja einen Bedeutungsverlust zuzufügen. Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski schaut für das Telegram-Medium Pozirk in die Zukunft und analysiert auch vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, welche Rolle die Opposition bei der Wahl spielen könnte.

    Bereits 2020 hatte Alexander Lukaschenko herablassend erklärt, die „äußeren Feinde“ hätten nach „venezolanischem Szenario eine belarussische Guaidó gefunden“. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa sagte voraus, dass die Vereinigten Staaten genau wie Juan Guaidó auch Tichanowskaja „fallen lassen“ würden.

    Der Vergleich hinkt natürlich. Guaidó hat ein totales Fiasko erlebt. Die venezolanische Opposition hat ihre Übergangsregierung Ende letzten Jahres selbst beseitigt. Swetlana Tichanowskaja wird zwar von anderen Oppositionellen kritisiert (wobei Senon Posnjak ihr „im neuen Belarus“ gar Gefängnis prophezeit), doch sie können sie nicht vom Podest stoßen. Ihre persönliche Lage und die ihres Büros in Litauen stellt sich als recht stabil dar, niemand will sie von dort fortjagen.

    Die Kritiker Tichanowskajas sind zahlreich. In den unabhängigen Medien und den sozialen Netzwerken wird zu allem Überfluss jetzt auch noch die Frage breitgetreten, wie es mit ihrer Legitimität nach den Präsidentschaftswahlen 2025 aussehen wird.

    Der Herrscher will am Ruder bleiben, um seine Feinde zu ärgern

    Legitimität ist eine heikle Angelegenheit. Längst nicht jeder, der darüber streitet, versteht den Sinn dieses Begriffs. Kurz gefasst geht es um die freiwillige Anerkennung des Rechts auf Herrschaft einer Person durch die Bevölkerungsmehrheit. Im Falle von externer Legitimität wird dieses Recht durch das Ausland anerkannt.

    Nach den Wahlen von 2020 hat Lukaschenko, dem Wahlfälschungen vorgeworfen wurden, sowohl aus Sicht von Regimegegnern als auch aus Sicht des Westens seine Legitimität verloren. Tichanowskaja hingegen, die Daten der Plattform Golos zufolge mindestens drei Millionen beziehungsweise 56 Prozent der Stimmen errang, also de facto siegte, sahen viele im demokratischen Lager als legitime Anführerin des belarussischen Volkes. Die westlichen Staaten hatten es allerdings nicht eilig mit ihrer Anerkennung als legitim gewählte Präsidentin.

    Nach der Wahl im Jahr 2020 sahen viele im demokratischen Lager Swetlana Tichanowskaja als legitime Anführerin des belarussischen Volkes / Foto © Jakub Porzycki/NurPhoto/imago images
    Nach der Wahl im Jahr 2020 sahen viele im demokratischen Lager Swetlana Tichanowskaja als legitime Anführerin des belarussischen Volkes / Foto © Jakub Porzycki/NurPhoto/imago images

    Dabei wuchs in dem Maße, in dem die Niederlage des friedlichen Aufstands immer offensichtlicher wurde, unter den politisch aktiven Belarussen die Enttäuschung über Tichanowskaja und ihr Team, also gewissermaßen die Opposition 2.0 (die alte Opposition war schon 2020 kaum in Erscheinung getreten). In einer Umfrage von Chatham House aus dem Juli und August 2021 gaben nur 13 Prozent an, dass sie Tichanowskaja für würdig hielten, die belarussische Präsidentin zu werden (dabei konnten die Befragten zwischen verschiedenen Personen wählen: für Viktor Babariko sprachen sich 33 Prozent aus, für Lukaschenko 28 Prozent).

    Lukaschenko konnte zwar die Proteste zerschlagen, gewann dadurch aber nicht an Legitimität. Für den Westen ist er eine toxische Figur, ein Usurpator. Und jetzt ist er nach Ansicht vieler zudem noch jemand, der kein politisches Subjekt, sondern nur mehr eine Marionette Putins darstellt.

    Unabhängige Meinungsforscher (wie etwa im Rahmen von BEROC) stellen zwar einen gewissen Anstieg des Vertrauens in die Regierung fest. Doch betonen die Soziologen, dass bei den Umfrageergebnissen der Faktor Angst nicht zu unterschätzen sei. Also könnte es in Wirklichkeit sehr viel mehr Gegner des Regimes geben. Dabei zeigen die Umfragen zugleich, dass die Kernwählerschaft Lukaschenkos (die ja keine Angst haben muss, sich zu ihrer Loyalität zu bekennen) deutlich in der Minderheit ist.

    Die Gruppe der Unentschlossenen ist also größer geworden, doch sind das wohl eher Menschen, die sich in ihrem Schneckenhaus verkriechen, als solche, die mit der politischen Realität zufrieden sind. Die überzeugten Gegner des Regimes beißen sich derweil auf die Lippen und warten auf bessere Zeiten, ohne dabei freilich Lukaschenkos Recht zu regieren anzuerkennen.

    Um die Legitimität ist es für den Herrscher also schlecht bestellt. Was ihn jedoch nicht daran hinderte, bei seiner Rede zur Lage der Nation am 31. März Ansprüche auf eine weitere Amtszeit anzumelden: „Viele würden es gern sehen, wenn es Lukaschenko nicht mehr gibt. Und weil sie wollen, dass ich weg bin, werde ich das Gegenteil tun […]. Ich werde niemals eine lahme Ente sein …“

    Das Risiko, außen vor zu bleiben

    Es ist durchaus möglich, dass Lukaschenkos Gegner im Kontext des „Wahlkampfes“ 2025 de facto außen vor bleiben werden und ihn nicht daran hindern, eine weitere Amtszeit zu besiegeln. Ein Boykott wäre lediglich Ausdruck einer Position, dürfte das Regime aber nicht zu Fall bringen.

    Was wird dann aus Tichanowskajas Legitimität, die bereits heute für einen Teil des politisch aktiven Publikums nicht unumstritten ist? Tichanowskaja und ihr Berater Franak Wjatschorka sagen sinngemäß, wir Belarussen hätten 2020 den Zyklus der Wahlen verlassen, wodurch es keinen Sinn mehr habe, sich daran gebunden zu fühlen. Dahinter steht der Gedanke, dass ihre Mission erst mit einem Sieg der Demokratie in Belarus beendet sein wird.

    Es ist in der Tat unangemessen, das Problem von Tichanowskajas Legitimität mit den Wahlen 2025 in Verbindung zu bringen, sofern das Regime nicht fällt und im gleichen Geiste weitermacht. Ja, für einen Teil der Belarussen und der westlichen Politiker könnte das Jahr 2025 zu einer psychologischen Schwelle werden, was das Verhältnis zu Tichanowskaja angeht. Aber im Kern geht es um etwas anderes.

    Wenn im Kampf gegen die Diktatur Erfolge ausbleiben, dürften die Hoffnungen auf eine „Präsidentin Sweta“ und ihr Team in jedem Fall schwächer werden. Auf gleiche Weise war seinerzeit das Interesse an dem oppositionellen Teil des Obersten Sowjets erloschen, der Legitimität für sich beanspruchte und 1996 von Lukaschenko aufgelöst wurde. Jene Gruppe geächteter Abgeordneter wurde schlichtweg an den Rand gedrängt und übte keinen Einfluss mehr auf die Politik aus.

    Ein anderes Beispiel, das Pessimisten gerne anführen, ist das historische Schicksal der Rada der Belarussischen Volksrepublik (BNR), die zu einer rein symbolischen Instanz verkam. Und die erklärten Gegner beschwören eben Parallelen zu Guaidó herauf.

    Falls die Opposition 2.0 es nicht schafft

    Tichanowskaja und ihre Anhänger befinden sich allerdings in einer grundsätzlich anderen Lage als die Rada der BNR. Und auch der Vergleich mit Venezuela hinkt. In unserem Teil des Planeten entfaltet sich ein eigenes Szenario: Putin und Lukaschenko haben die zivilisierte demokratische Welt allzu dreist herausgefordert. Und jetzt werden sie vorsichtig, aber langsam, aber sicher von ihr erwürgt.

    Kyjiws Erfolge auf dem Schlachtfeld sind in der Lage, die Macht dieser beiden verhassten Regime zu unterwandern. Viele der Belarussen, die 2020 an den Protesten beteiligt waren, haben sich mit dem Triumph des Bösen nicht abgefunden und warten auf eine Gelegenheit, um wieder auf die Straße zu gehen. Diese Revolution könnte sehr viel weniger samten ausfallen. Mitunter fallen grausame Diktaturen augenblicklich.

    Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass es eine relativ lange Transformationsphase geben wird. Wie bei der nordkoreanischen Variante, wo die Zeit auf Jahrzehnte stillsteht. Und selbst die Variante, bei der Belarus von Russland geschluckt wird, ist heute keine unwahrscheinliche Wendung des Szenarios.

    Von Tichanowskaja und ihrem Team wird, wenn wir ehrlich sind, in diesem Strudel von globalen historischen Ereignissen nicht allzu viel abhängen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es das Beste wäre, sich entspannt zurückzulehnen und abzuwarten, bis die Leiche des Feindes vorbeischwimmt. Im Grunde hängt der Lauf der Geschichte von jedem einzelnen Menschen ab. Tichanowskaja wurde durch einen historischen Moment in riesige Höhen gehoben. Gleichzeitig ist sie aber auch nicht in der Situation, sich auf ihren Lorbeeren ausruhen zu können. Im demokratischen Milieu sollte es Konkurrenz geben. Es wäre allerdings unvernünftig, sich in innere Fehden zu verstricken und das zu zerstören, was Tichanowskaja und ihre Mitstreiter erreicht haben, und was heute das gemeinsame Kapital der demokratischen Bewegung ist.

    Dabei wage ich zu behaupten, dass es denen, die einen Fall des Regimes herbeisehnen, relativ egal sein dürfte, wer nun triumphierend in Minsk einzieht, Tichanowskaja im weißen Jeep oder, sagen wir, das Kalinouski-Regiment in schlammverdreckten Militärfahrzeugen.

    Die Zukunft liegt im Dunkeln und entspricht oft, allzu oft nicht den Erwartungen. Wenn die Opposition 2.0 scheitert, dann könnten im entscheidenden historischen Moment ganz andere Figuren an die Spitze katapultiert werden – Akteure, die wir jetzt noch gar nicht kennen. Ganz wie wir vor 2020 Tichanowskaja nicht kannten.

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