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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Wir stehen das gemeinsam durch“

    „Wir stehen das gemeinsam durch“

    Beim größten Gefangenenaustausch seit dem Kalten Krieg kamen Ende Juli 2024 insgesamt 16 Personen aus russischer Haft frei (einer davon – der Deutsche Rico Krieger – saß in Belarus im Gefängnis). Die Angaben darüber, wie viele politische Gefangene noch in Zellen und Straflagern festgehalten werden, gehen auseinander: Die belarussische Menschenrechtsorganisation Wjasna zählt gegenwärtig fast 1400 politische Gefangene in Belarus. Das Zentrum zum Schutz der Menschenrechte von Memorial zählt nur Fälle, die von den eigenen Experten untersucht und nach den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention bewertet wurden. Demnach sind gegenwärtig mehr als 340 Menschen in Russland aus politischen Gründen in Haft und mehr als 430 Personen wegen ihrer religiösen Überzeugung,  

    Die Organisation OWD-Info, die eng mit Memorial zusammenarbeitet, dokumentiert Festnahmen und Strafverfahren mit politischem Hintergrund. Ihrer Zählung nach laufen Stand August 2024 in Russland fast dreitausend solcher Verfahren.  

    Von den Repressionen betroffen sind aber nicht nur die Angeklagten und Verurteilten selbst. Auf dem Portal Bereg schildern Angehörige politischer Häftlinge, wie sie die Trennung erleben, wie sich ihr Leben veränderte und wie sie auf ein Wiedersehen warten: 

    • Jegor Balasejkin, 18 Jahre alt, sechs Jahre Lagerhaft. Der damals 16 Jahre alte Gymnasiast wurde am Abend des 28. Februar 2023 bei dem Versuch festgenommen, ein Rekrutierungsbüro in Brand zu stecken. 

    • Dmitri Skurichin, 49 Jahre alt, anderthalb Jahre Lagerhaft. Der Betreiber eines Einkaufsladens in einem kleinen Ort in der Leningrader Oblast hatte sich am 24. Februar 2023, dem Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine, vor seinem Geschäft niedergekniet und ein Plakat gehalten: „Vergib uns, Ukraine!“. Das deutete das Gericht als „Diskreditierung der Streitkräfte“. Skurichin war seit vielen Jahren politisch aktiv, unter anderem als Abgeordneter im regionalen Parlament. Seit der Krim-Annexion protestierte er immer wieder gegen den Krieg gegen das Nachbarland. Ende Juli 2024 wurde er aus der Haft entlassen, nachdem er seine Strafe vollständig abgesessen hatte. 

    • Boris Kagarlizki, 65 Jahre alt, fünf Jahre Lagerhaft. Der linke Soziologe betrieb einen beliebten YouTube-Kanal. Dort hatte er nach einer Explosion auf der Krim-Brücke im Oktober 2022 ein Video mit dem Titel „Explosive Grüße an den Brücken-Kater“ veröffentlicht. Ein Kater, der den Bauarbeitern zugelaufen war, wurde zuvor von russischen Staatssendern als Maskottchen der Brücke gefeiert. Kargalizki wurde am 12. Dezember 2023 zunächst zu einer Geldstrafe verurteilt. In der Berufungsverhandlung im Februar 2024 verwandelte das Gericht die Geldstrafe in Lagerhaft.  

    Tatjana Balasejkina 

    Mutter von Jegor Balasejkin 

    Jegor war immer ein sehr guter Junge. Wahrscheinlich denken viele, wenn ich das sage: „Natürlich, die Mama. Was soll sie sonst auch sagen?“ Aber es ist wirklich so. Er hat nie Ärger gemacht, hat nie gequengelt. Ich habe ihm vorgelesen, seit er auf der Welt ist, und er hat sich so sehr daran gewöhnt, dass wir, wenn er im Kindergarten oder in der Schule krank wurde, uns dann zuhause mit Büchern hinsetzten. Man konnte sich mit ihm immer einigen: Wollte er zum Beispiel im Geschäft ein Auto, habe ich ihm immer erklärt, dass wir das kaufen können, wenn mein Gehalt ausbezahlt wird, und er hat deswegen nie einen Aufstand gemacht. 

    Wir haben es geschafft, ein sehr warmherziges und vertrauensvolles Verhältnis zu unserem Sohn aufzubauen. Er hat uns nie hintergangen. Immer war er offen und ehrlich, wohl, weil er wusste, dass er von niemandem wegen einer Fünf oder wegen eines Energydrinks nach der Schule mit den Kumpels bestraft würde. Wir haben ihn nie physisch bestraft, er hat nie in der Ecke gestanden. Ich denke, er hatte das Gefühl, dass seine Eltern zu ihm stehen, und das hat zu einem vertrauensvollen Verhältnis geführt. Er hat mir immer alles erzählt, selbst intime Dinge, als er körperlich erwachsen wurde. Wir haben über seine erste Verliebtheit geredet, darüber, mit wem er im Gymnasium gut klarkommt und mit wem nicht. Wenn Jegor aus der Schule kam, zog er seinen Mantel aus, und setzte sich immer gleich an den Küchentisch und erzählte, wie sein Tag war. 

    Als Jegor geboren wurde, verstand ich, dass er keine Erweiterung von mir ist, sondern ein eigenständiger kleiner Mensch mit seinen Wünschen, Interessen, mit guter oder schlechter Laune. Diese Wahrnehmung unseres Kindes half uns, das Verhältnis aufzubauen, das wir jetzt [wo er in Haft ist] haben. Obwohl er seit 15 Monaten von uns getrennt und nicht erreichbar ist, scheint mir, dass unsere Beziehung noch stärker geworden ist. Wir vertrauen einander jetzt noch mehr. 

    Jegor Balasejkin bei einer Reise im Schlafwagen / Foto © privat
    Jegor Balasejkin bei einer Reise im Schlafwagen / Foto © privat

    Bei der ersten Sitzung vor Gericht, als die Untersuchungshaft festgelegt wurde, das war am 2. März 2023, hat Jegor uns kein einziges Mal angeschaut. Unsere Blicke ließen nicht von ihm ab, und er schaute kein einziges Mal her. Auch beim ersten Besuch in der Untersuchungshaft war er irgendwie vorsichtig. Erst einige Zeit später haben wir darüber gesprochen. Er sagte da, es sei ihm so vorgekommen, als würden wir ihn nicht unterstützen: „Ich werde jetzt allein sein in meinem Kampf.“ Mein Mann und ich waren perplex: „Wie können wir dich nicht unterstützen, wo wir dich doch dein ganzes Leben lang unterstützt haben? Wir haben alle deine Entscheidungen immer akzeptiert.“ Jegor meinte, er habe befürchtet, dass wir uns ja von ihm abwenden und ihn nicht weiter begleiten würden. Aber nach dem Gespräch war ihm dann sehr viel leichter ums Herz und froh zumute. Er hatte verstanden, dass wir diesen Weg gemeinsam bis zum Ende gehen. Unser Verhältnis wurde noch enger, nun vertraut er uns blind. 

    Wir können jetzt sogar über mehr Themen reden als in der Zeit, als er noch in Freiheit war. Er hat keinen Zugang zu Informationen, außer über den Fernseher. Jetzt sind wir seine Informationsquellen. Wir informieren uns über alles Mögliche: Literatur, Geschichte, Geografie, die Geschichte militärischer Konflikte. Alles, was wir erfahren, schicken wir ihm per Brief. Militärische Konflikte haben mich nie interessiert. Ich habe mich immer mehr für Sprachen interessiert – ich bin Englischlehrerin. Jetzt müssen wir die unterschiedlichsten Themen studieren, kurze Exzerpte schreiben und sie ins Gefängnis schicken. Und die Themen, über die wir sprechen, sind noch zahlreicher geworden. 

    * * *   

    Jegor wurde am 28. Februar 2023 unweit einer Rekrutierungsbehörde in Kirowsk festgenommen. Erst nach zwei Stunden wurden mein Mann und ich informiert. Zuerst dachten wir, dass wir jetzt irgendwelche Erklärungen unterschreiben, ihn dann mitnehmen und nach Hause fahren. Der Ermittler sagte uns aber, dass Jegor nicht nach Hause kann. Alle seine Sachen seien jetzt Beweisstücke, weswegen wir ihm neue bringen müssten. Dann folgten Durchsuchungen und Verhöre. Alles ging sehr schnell. Nach dem Verhör wurden die Ermittlungen neu eingestuft, es ging nicht mehr um § 167 des Strafgesetzbuches [„Vorsätzliche Sachbeschädigung“ – dek.], sondern um § 205 [„Terroristischer Akt“ – dek.]. 

    Bis er hinter Gitter wanderte, hatte ich noch Hoffnung: Ich ging zu Hause auf und ab und fragte mich immer wieder: „Wie können wir dich da rausholen?“ Vom Gericht kehrte ich dann mit anderen Gedanken zurück: „Wir können dich da nicht rausholen. Wir müssen etwas unternehmen.“ Wir suchten im Internet nach Informationen, nach Menschenrechtsorganisationen und so weiter. Beim ersten Besuch sagte Jegor, wir sollten nicht mal daran denken, auf etwas zu hoffen, und dass es keinen Sinn hat, Geld für Anwälte auszugeben: „Ist doch völlig klar, wie es weitergeht. Ihr versteht ja, dass sie mir den 205er nicht deshalb anhängen, weil ich Flaschen geworfen habe, sondern wegen dem, was ich gesagt habe.“ 

    * * *  

    Unser Leben hat sich in diesen 15 Monaten um 180 Grad gewendet. Aus naiven Erwachsenen, die an Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Anständigkeit glaubten, haben wir uns in komplette Realisten verwandelt. 

    Die erste Zeit nach der Verhaftung war am schmerzlichsten und schrecklichsten. Als ob man mich von einem Planeten auf einen anderen geworfen hätte, wo alles ringsum für mich fremd ist. Die Hoffnung und der Glaube an das Gute schwand mit jedem Prozesstag. Uns war klar, dass er nicht mit einer Bewährungsstrafe davonkommen wird. Wir hatten ja gehört, wie der Staatsanwalt und der Sekretär des Richters miteinander flüsterten und Jegor einen politischen Verbrecher nannten. Und obwohl einem all das bewusst ist – auf die Urteilsverkündung bist du dann doch nicht vorbereitet. Emotional kannst du damit unmöglich zurechtkommen. Als ich von den sechs Jahren hörte, wurde ich hysterisch, obwohl ich mich darauf eingestellt hatte. Am 15. Mai wurde Jegor auf die Liste der „Terroristen und Extremisten“ gesetzt: Wir wussten, dass das passieren würde. Aber wenn du ihn dann auf den Listen siehst, bist du doch wieder erschüttert. Zwei Tage stand ich total neben mir, das war wirklich ein Schlag für mich. 

    Mein Mann wurde einen Monat nach Jegors Verhaftung von seinem Arbeitgeber entlassen. Er kann nirgendwo mehr Arbeit finden, weil es überall, wo er sich bewirbt, eine Überprüfung durch die Staatssicherheit gibt. Und überall leuchtet knallrot, dass unser Sohn ein Terrorist ist. 

    Jegor Balasejkin mit seinen Eltern Daniel und Tatjana. Nachdem Ermittler an seinem Arbeitsplatz aufgetaucht waren, verlor Daniel Balasejkin seinen Job als Elektriker / Foto © privat
    Jegor Balasejkin mit seinen Eltern Daniel und Tatjana. Nachdem Ermittler an seinem Arbeitsplatz aufgetaucht waren, verlor Daniel Balasejkin seinen Job als Elektriker / Foto © privat

    Ich habe versucht in die ONK (Gesellschaftliche Beobachtungskommission) der Leningrader Oblast zu kommen. Die suchten zusätzliche Mitglieder. Ich schickte meine Papiere hin und machte sofort klar, wegen welches Paragrafen mein Sohn einsitzt. Sie sagten mir, dass sei gar kein Problem. Einige Wochen später rief man mich an und erklärte: „Wir haben die Bewerberlisten zur Prüfung an den FSB geschickt. Leider steht neben ihrem Familiennamen „Aufnahme kategorisch nicht empfohlen“. 

    Unser Freundes- und Bekanntenkreis hat sich von Grund auf verändert: Wir haben praktisch mit niemandem mehr Kontakt, der vor dem 28. Februar Teil unseres Lebens war. Überhaupt versuchen wir, uns mit niemandem zu treffen. Weil es uninteressant ist, über aufgeblühte Blumen und die Preise im Supermarkt zu reden. Früher war es für mich wichtig, dass ich leckeres Essen koche, dass die Wohnung aufgeräumt ist, dass alle Handtücher so hängen, wie ich es möchte. Jetzt weiß ich, dass mir völlig egal ist, wie die Handtücher hängen und was ich zu Essen koche. Ich nutze die Zeit lieber für Sachen, die jetzt wichtig für mich sind: Ich werde die Strafprozessordnung studieren. Die Werte haben sich für mich vollkommen verschoben. 

    Unsere Freunde und Verwandten sind geteilter Meinung: Einer hat Jegor des Verrats beschuldigt. Andere meinten, dass er ein dummer Junge sei und jetzt dafür büßen wird. Aber unsere Gerichte seien gerecht, und er werde natürlich freigesprochen und nach Hause kommen. Als dieses „gerechte“ Gericht dann sein Urteil fällte, war das ein Schock für diese Leute. Es gab niemanden, der sich vollkommen auf die Seite von Jegor stellte. Solche gab es nur unter denen, die wir nach seiner Verhaftung kennenlernten: seine Abonnenten, Menschen, die zu den Gerichtsprozessen gehen, die ihm Briefe schreiben. 

    Wir haben immer zu unserem Sohn gehalten und wir werden weiter zu ihm halten. Die Art und Weise, mit der er seine Überzeugung deutlich gemacht hat, war vielleicht nicht ganz korrekt. Aber er hat ein Recht auf diese Überzeugung. 

    * * *   

    Eine Zeit lang hörte ich Lieder, die mich aufmunterten. Dann begriff ich, dass sie keinen Trost mehr spenden: Wenn ich ein Lied abspiele, beginne ich sofort zu weinen. Das ist nicht gut, denn so werde ich immer trauriger. Zu Hause hängen die beiden T-Shirts, die wir beim Berufungsverfahren anhatten, mit Fotos von Jegor. Jeden Tag wache ich auf und sehe das Gesicht meines Sohnes. Ich gehe hin, küsse es, grüße ihn, spreche mit ihm, während ich durchs Zimmer gehe. Das gibt mir das Gefühl, dass er bei mir ist. 

    Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich es schaffe, und dann wieder nicht. Ich wünsche mir, dass ich in den kommenden fünf Jahren nicht vollkommen den Verstand verliere, dass ich geistig gesund bleibe. 

    Ich bin übervoll mit Hass, und das macht mir Angst. Ich wäre gern wie Jegor, weil er keinen Hass gegen die Menschen hegt, die ihn hinter Gitter gebracht haben und diesen Irrsinn in unserem Land veranstalten. Ich würde mich gern von diesem Hass befreien, weil Hass schlecht ist. 

    * * *   

    Ich denke, wenn Jegor 2029 freikommt, wird sich im Leben des Landes nichts verändert haben, und es wird kein wirklich demokratisches Land sein. Für Jegor wird hier kein Platz sein. Ihm wird der Weg in eine Zukunft versperrt sein. Uns ist er jetzt schon verbaut. 

    Nach seiner Freilassung wird Jegors Name noch acht oder zehn Jahre auf der Liste der Terroristen und Extremisten stehen. Ist Ihnen klar, was das heißt? Ihm werden Rechte vorenthalten: keine Uni, keine Arbeit. Mit 22 Jahren werden ihm hier alle Wege verschlossen sein, wenn sich nichts ändert. Als wir darüber redeten, sagte er: „Ich werde das Land keinesfalls verlassen, wenn ich freikomme. Ich werde es in dieser Lage nicht hängenlassen. Wenn ich rauskomme und alles gut ist, dann denke ich vielleicht über Emigration nach.“ 

    Das ist seine Entscheidung, und er hat ein Recht darauf. Wenn er diesen Weg wählt, werden auch wir hierbleiben. Wir können natürlich unsere Meinung sagen, doch die Entscheidung wird allein er treffen. Wir werden jede seiner Entscheidungen unterstützen. 

    Familie Balasejkin im Juni 2022. Acht Monate später wurde Jegor festgenommen. Er soll versucht haben, ein Rekrutierungsbüro der Armee in Brand zu stecken / Foto © privat
    Familie Balasejkin im Juni 2022. Acht Monate später wurde Jegor festgenommen. Er soll versucht haben, ein Rekrutierungsbüro der Armee in Brand zu stecken / Foto © privat

    Hoffnung, dass Jegor früher freikommt, haben wir nicht. Wir sind in Berufung gegangen und sammeln jetzt die Papiere für die nächste Instanz. Erstens tun wir das, weil wir das Recht dazu haben. Und zweitens zeigen wir damit, dass wir mit der Entscheidung des Gerichts nicht einverstanden sind. Drittens können wir nur darauf hoffen, dass all diese Verfahren revidiert und die betroffenen Menschen rehabilitiert werden. Und dafür müssen wir alle Wege beschreiten, die das Gesetz vorsieht. Obwohl wir keine Hoffnung haben, dass das Verfahren jetzt revidiert wird. 

    * * *  

    Das letzte Mal haben wir uns am 5. Juni gesehen. Er sah aus wie immer, erzählte nur, er habe sich gewogen und habe vier Kilo abgenommen, obwohl er sich wie immer ernährt und wie immer trainiert. 

    Emotional ist es natürlich schwieriger, weil 15 Monate in einer kleinen Zelle mit fünf Leuten schwer zu ertragen sind. Sie haben nur selten Hofgang. Meistens findet der auf dem Dach statt. Der Ort unterscheidet sich kaum von einer gewöhnlichen Gefängniszelle: die gleichen gemauerten Wände, nur anstelle einer Decke ist oben ein Gitter. 

    Jegor ist ein gebildeter, reifer, intellektueller Junge. Ihm fällt es nicht leicht, 24 Stunden am Tag mit Jungs zusammen zu sein, die von nichts eine Ahnung haben. Denen ist schwer begreiflich zu machen, warum man sich wäscht, die Zähne putzt, die Füße wäscht. Er hat jetzt die Funktion eines Erwachsenen, eines Erziehers, der diesen Jungs (die meisten von ihnen sind aus einem Heim oder aus schwierigen Familienverhältnissen) ganz einfache Dinge beibringen soll. Er führt sie ein bisschen ans Lesen heran. Wenn er ein Buch ausgelesen hat, gibt er es weiter. 

    * * *   

    Die Häftlinge brauchen unsere Unterstützung. Sonst lebt man hinter Gittern mit dem Gefühl, dass man alleingelassen wurde. Als Jegor dann Briefe bekam, hat ihn das seelisch unglaublich gestärkt! Er sagte mir: „Du kannst dir nicht vorstellen, was für Leute mir schreiben. Die sind so stark und mutig, dass mein Glaube an die Menschen wiederkommt. Und daran, dass es mit der Zeit wieder gut wird im Land.“ 

    Die Briefe helfen dabei, den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren. Die Leute schicken Nachrichten, und man hat mehr oder weniger einen Überblick, was so vor sich geht. Sie schreiben aus aller Welt, aus Montenegro, Deutschland, der Schweiz, Kanada … Sie erzählen etwas über ihre Städte. Das erweitert seinen Horizont. Ich bin in einigen Chatgruppen, in denen sich die Leute austauschen, die Briefe an politische Gefangene schreiben. Und ich bin begeistert, wie viel Energie die da hineinstecken. Die Leute schreiben mitunter 20 Briefe am Tag. Und wieviel Kraft sie haben, dass sie für jeden politischen Gefangenen, mit dem sie im Briefwechsel stehen, Nachrichten zusammenstellen und Geschichten erzählen. 

    Finanzielle Unterstützung ist ebenfalls sehr wichtig: Anwaltskosten, Versorgungspakete, wenn etwas auf dem Konto des politischen Gefangenen ankommt, kann er sich wenigstens ein bisschen was davon kaufen. Mit den Paketen muss man übrigens vorsichtig sein: Für Minderjährige ist deren Gewicht nicht begrenzt. Bei Volljährigen ist alles streng reglementiert, und jedes Paket, das nicht mit der Unterstützergruppe abgesprochen ist, kann den Plan durcheinanderbringen. 

    Auch vom Ausland aus können die politischen Gefangenen unterstützt werden: Man kann Aktionen organisieren, ihre Geschichten bekannt machen und Menschen für sie interessieren. Ich verfolge die Mahnwachen zur Unterstützung für Jegor, auch wenn es nicht viele sind. Vor kurzem fand in Berlin ein Briefeschreibabend für politische Gefangene statt. Wir waren per Video zugeschaltet. Ich berichtete von Jegor, und die Teilnehmer schrieben ihm dann Briefe. Man kann alles Mögliche unternehmen, nur eines darf man gewiss nicht tun – schweigen. 

     

    Tajana Skurichina  

    Ehefrau von Dmitri Skurichin 

    Wir sind beide im Dorf Russko-Wyssozkoje geboren, das liegt hinter Krasnoje Selo, einem Vorort von Petersburg. Ich ging auf die Hochschule für Handel und Wirtschaft, fuhr mit dem Bus zu den Vorlesungen. Er studierte am Wojenmech [Staatliche technische Ostseeuniversität]. Wir haben uns im Bus kennengelernt. Ich musste in dieser Zeit lernen, wie man Integrale berechnet. Und ich versuchte, seine Bekanntschaft zu machen: Er lernte mit mir, wir machten Übungsaufgaben. So wurden wir ein paar und heirateten schließlich. 

    1998 wurde unsere erste Tochter geboren. Das Jahr war ziemlich schwierig: die Rubelkrise, alles. Wir mussten ein Gläschen Babybrei buchstäblich auf mehrere Tage strecken. Nach fünf Jahren kam unsere zweite Tochter. Vor ein paar Tagen haben wir ihren Geburtstag gefeiert. Ich habe meinem Mann ein Festtagspäckchen ins Lager geschickt. 

    Wir haben insgesamt fünf Töchter. Die Älteste lebt schon seit anderthalb Jahren mit ihrem Mann in Montenegro. Die Zweitälteste studiert an der Polytechnischen Universität Sankt Petersburg Werbewirtschaft und Öffentlichkeitsarbeit. Dann kommen die Zwillinge, 13 Jahre alt. Als ihr Papa verhaftet wurde, rief mich jemand an und sagte, dass es im Moskauer Umland ein gutes Internat gebe, wo man sie unterbringen könnte [was ich auch tat]. Ich besuche sie natürlich, packe Päckchen, schicke Leckereien. Die Jüngste geht hier [in Russko-Wyssokoje] zur Schule. 

    Dmitri Skurichin beim Langlauf mit seinen Töchtern / Foto © privat
    Dmitri Skurichin beim Langlauf mit seinen Töchtern / Foto © privat

    Natürlich ist es schwer für mich allein. Als die beiden Mädels ins Internat kamen, konnte ich etwas durchatmen. Jetzt sind aber Ferien, und alle sind zu Hause. Ich habe vor kurzem eine Woche Urlaub genommen. Mir ist klar geworden, wie erschöpft ich bin, selbst im Urlaub. Alle sind zu Hause, alle wollen was essen, alle wollen versorgt werden, damit sie beschäftigt sind, von den Handys loskommen, Bücher lesen, sich bewegen. Manchmal rufe ich meinen Mann an und klage. 

    Wir hatten neulich ein längeres Treffen. Die Besuchszeiten fielen auf Werktage, und das ließ sich auch nicht ändern. Ich musste mich ganz schön ins Zeug legen, um diese drei Tage freizubekommen. Als ich wiederkam, musste ich sofort zur Arbeit. Nach Feierabend begrüßten mich die Mädels mit „Mama, wir haben Hunger!“ Sie hatten den Schokoladevorrat gefunden, den ich zu Hause versteckt hatte, auch die, die für ein Päckchen an Dima vorgesehen war. Die Buletten im Kühlschrank hatten sie „übersehen“. Ich schmiss schnell Nudeln in die Pfanne, versorgte alle und machte mich wieder schnell auf zur Arbeit, um dort alles aufzuholen. So strampele ich mich seit über einem Jahr ab. 

    Jeder Tag ist ein Kampf. Es müssen Alltagsfragen geklärt werden. Und ich reiße mich in Stücke. Wir leben vor der Stadt, im eigenen Haus, und man muss sich um alles selbst kümmern: Die Kinder, das Auto, der Garten. Wer wird bei der Reparatur helfen? Wer bringt das Gewächshaus in Ordnung? Fast immer winde ich mich alleine heraus. Dima ruft aus der Strafkolonie manchmal Verwandte an und bittet sie, mir zu helfen. Es ist gut, dass wir wenigstens per Telefon Kontakt zu meinem Mann halten können. 

    * * *  

    Ende der 1990er Jahre [hatten wir] die Möglichkeit, in unserer Siedlung ein Gebäude zu kaufen. Dima beschloss, daraus einen Laden zu machen. Der gleiche Raum, unser Raum, an den er seine Parolen geschrieben und wo er die Plakate aufgehängt hat. Und als die Kioske von Supermarkt-Filialen abgelöst wurden, baute er das Gebäude ein bisschen um und vermietete es. Ich bin von der Ausbildung her Buchhalterin und habe ihm immer geholfen. 

    Sein Interesse für Politik ging ziemlich an mir vorbei. Es gab ja die fünf Kinder, immer wieder Arbeit, die Buchhaltung [im Geschäft]. Und in den 2000er Jahren kandidierte er für den Kommunalrat. Das hat ihn sehr interessiert. Er wurde in den Kommunalrat gewählt. Es gab zwölf Abgeordnete, elf von Einiges Russland und er allein [als Unabhängiger]. 

    Das war kein Zuckerschlecken: Immer waren elf dafür und er dagegen. Bei jeder Erhöhung der Gebühren für kommunale Dienstleistungen zum Beispiel, die von der Regierung der Oblast aufgedrückt wurden, hoben alle zustimmend die Hand, nur er stimmte dagegen. Es war schwierig für ihn. Psychisch ist das kaum zu ertragen. Er befasste sich mit Fragen der kommunalen Versorgung: Die Leute kamen ja und berichteten von ihren Problemen, dass nicht geheizt wird und es kalt ist in den Wohnungen, dass die Gebühren hoch sind. Und Dima versuchte sich in all das einzuarbeiten. Es gab eine Zeit, da wurde ihm gedroht. Sie sagten: „Schau mal, du hast Familie, Kinder … Wenn du dich weiterhin einmischst, dann müssen wir da was unternehmen.“ Der Kommunalverwaltung war er ein Dorn im Auge, deswegen waren seine Jahre als Abgeordneter [von 2009 bis 2014] sehr schwer für uns. 

    Dima war es wichtig, sich in das öffentliche Leben einzubringen und das Leben in seinem Dorf zu verbessern. Ich belästigte ihn nie mit Fragen, etwa, warum hast du dich bloß darauf eingelassen? Ich habe ihn nicht behelligt. Nur einmal sagte ich: „Besser nicht, lass das lieber“, das war, als er sich mit dem Plakat hinstellte „Vergib uns, Ukraine“ [24. Februar 2023]. Zu dem Zeitpunkt lief bereits ein Strafverfahren gegen ihn, bestimmte Sachen waren ihm verboten (er durfte kein Telefon oder Gadgets verwenden). Ich bat ihn nur, es nicht zu tun, ich hatte ein ungutes Gefühl. Aber er sagte, da wird nichts Schlimmes geschehen – am Abend kamen sie dann, um ihn abzuholen. 

    Es war der Hochzeitstag seiner Eltern. Mehrere Autos fuhren vor, Dima ging raus, um mit ihnen zu sprechen. Sie erlaubten allen Gästen, heimzufahren – übrig blieben ich und die zwei Kinder. Wir stiegen ins Auto, fuhren los und realisierten, dass man uns folgte. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon zwei Hausdurchsuchungen hinter uns, ich konnte das nicht mehr ertragen: Sie führen sich bei dir im Hof auf wie die Schweine, rauchen, trinken Kaffee, schauen dir nicht ins Gesicht und fluchen heftig rum… unerträglich. Fiese Visagen, eine Meute, die deine Tür kaputt macht, die Fenster, ohne irgendwelche Dokumente vorzuzeigen. Sie führen sich auf wie eine Horde Banditen. Sie nehmen alles mit. Nach der ersten Hausdurchsuchung war nicht einmal mehr Geld da, um das Auto zu betanken. Sie hatten es mitgenommen, sagten, sie „müssen es überprüfen“. Am Morgen nach der ersten Hausdurchsuchung blieb ich mit kaputter Tür zurück und hatte nicht eine Kopeke in der Tasche. Ich hatte nichts, was ich den Kindern zu essen geben konnte. Nur gut, dass schnell eine Sammelaktion organisiert wurde, sonst hätte ich nicht gewusst, was aus uns geworden wäre. 

    Ich sagte meinem Mann, lass uns nicht nach Hause fahren, ich will keine weiteren Hausdurchsuchungen. Wir fuhren bis Krasnoje Selo, Dima gab mir den Schlüssel und sagte, er fahre nach Petersburg; er wolle ein wenig „spazieren gehen“. Ich fuhr allein mit den Kindern nach Hause, merkte, dass uns ein Wagen folgte, und dachte: „Verdammt, ich bin 46 Jahre alt, Mutter von 5 Kindern, und die treiben mit uns solche Agentenspielchen“. 

    Gegen Abend kam Dima zurück, er kletterte durchs Fenster, und wir blieben in der Dunkelheit sitzen, weil wir wussten, dass das Haus unter Beobachtung stand. Am Morgen nahmen sie ihn mit. Ich war schockiert von diesem Verhalten [der Behörden]. Dass man so mit dir umspringt, obwohl du kein Bandit bist, kein Mörder und mit Drogen nichts zu tun hast. Ich dachte: Wir haben vielleicht einen Staat, toll, wie der sich aufführt. 

    Dmitri Skurichin posiert vor einer Statue der Justitia. Er war seit vielen Jahren politisch aktiv, auch als Abgeordneter. Für seinen Protest gegen den Krieg schickte ihn ein Gericht für anderthalb Jahre in ein Straflager / Foto © privat
    Dmitri Skurichin posiert vor einer Statue der Justitia. Er war seit vielen Jahren politisch aktiv, auch als Abgeordneter. Für seinen Protest gegen den Krieg schickte ihn ein Gericht für anderthalb Jahre in ein Straflager / Foto © privat

    Meine zweite Tochter ist dieses Mal schon wählen gegangen [bei den Präsidentschaftswahlen im März 2024], die kleineren Töchter ahnen angesichts der letzten Ereignisse auch schon was, sie beginnen sich für Politik und das, was im Land passiert zu interessieren. Ich agitiere sie nicht, aber die Umstände beeinflussen sie. Sie sehen, wie schwer das alles für mich ist, wie ich allein am Rotieren bin, und sie verstehen, dass ihr Papa wegen seiner Überzeugung im Gefängnis sitzt. Wenn dich der Staat mal dermaßen erschüttert hat, gehen gewisse Chakren auf, du beginnst, viele Dinge in einem anderen Licht zu betrachten 

    Ich begreife nicht, wofür Dima jetzt seine Gesundheit ruiniert. Wenn sie einen jetzt für seine Meinung ins Gefängnis stecken, dann wäre es besser, das Land zu verlassen. Vielleicht wäre das auch besser für die Kinder. Wir haben viele Kinder. Ich mache mir Gedanken darüber, wie wir das bewältigen, was wir tun können. Ich bin ratlos. Ich bin in Panik, wie sollen wir hier weiterleben, wenn Dima rauskommt Ende Sommer 2024? – ich habe keine Ahnung. Wir stehen schon auf der schwarzen Liste: Wie sollen wir jetzt unser Geschäft weiterführen? Wenn man bedenkt, dass sie einen jederzeit wieder verurteilen können.  

    Über das, was war, beklage ich mich nicht. Aber wie sollen wir damit weiterleben? Ins Ausland gehen will Dima natürlich nicht. Doch ich sage ihm immer wieder, dass wir bereits am Boden sind. Ich weiß nicht, wie es uns ergehen würde, wenn wir ins Ausland gingen, aber ich würde diese Erfahrung gern machen. Denn hier habe ich schon viel gesehen – und mehr davon möchte ich nicht erleben. Dima sagt immer: „Wir beide haben doch gut gelebt“. Doch ich sage ihm, dass wir noch nicht am Ende unseres Lebens sind, dass wir noch die Kinder großziehen müssen. Und ich möchte sie zu normalen Menschen erziehen. 

    * * * 

    Als Dima noch in Untersuchungshaft war, haben wir uns Briefe geschrieben; drei Briefe durften wir einander pro Woche schreiben. Das war natürlich ungewohnt: Wir haben unser ganzes Leben zusammen verbracht, deswegen habe ich nie Briefe geschrieben. Mir war wichtig, sie mit der Hand zu schreiben, das Handgeschriebene vermittelt etwas Persönliches. Ich wusste, dass handschriftliche Briefe länger brauchen, aber ich wollte es genau so – Dima sagte dann, es habe ihn gefreut, meine Handschrift zu sehen, das wärme die Seele. Doch zum Straflager sind Briefe sehr lange unterwegs. Ich versuche ihm Bücher mitzubringen, aber es gibt Probleme: Sie lassen nicht alle Bücher durch. Beim ersten Treffen nahm ich ein Büchlein mit: Fahrenheit 451. Ich hatte es eingewickelt, niemand merkte etwas. 

    Seit er im Straflager ist, telefonieren wir miteinander. Das kostet zwar Geld, aber dafür unterhalten wir uns zehn Minuten täglich, tauschen aus, was es Neues gibt. Letzte Woche war die Verbindung schlecht: Mal verstand ich kaum etwas, mal er. Aber diese täglichen Gespräche sind wichtig. Dima fragt viel nach den Kindern, er fürchtet, wenn er rauskommt, werden sie sich verändert haben. 

    Jetzt kämpfen wir dafür, dass er früher rauskommt, und seien es nur zehn Tage. Er will endlich wieder bei den Kindern sein und ans Meer fahren, das wäre ein Traum. 

    * * * 

    Ich denke nicht, dass Dimas Festnahme besonders starken Einfluss auf die Kinder hatte. Aber ich kriege mit, dass sie neuerdings andere Leute fragen, was sie wählen. Ich habe sie gebeten, vorsichtiger zu sein und nicht solche Fragen zu stellen. Ich hatte die Befürchtung, dass sie das [Dmitris Haft] in der Schule nicht verstehen würden, aber alles ist gut – die Lehrer fragen [die Mädchen]: „Und wann kommt der Papa raus?“ 

    Am heftigsten waren für mich die Hausdurchsuchungen. Die erste Zeit saß ich im Dunkeln, damit niemand sehen konnte, dass ich zuhause bin. Wann immer ich konnte, ging ich arbeiten, nur um nicht zu Hause zu sein. Ich hoffe, dass die Mädchen keinen Schaden genommen haben; sie sind noch klein, sie werden zurechtkommen. 

    Seitdem Dima fort ist, habe ich völlig verlernt zu planen. Ich plane nicht weiter als eine Woche im Voraus, aber ich weiß genau, dass ich auf lange Sicht dazu bereit bin, von hier fortzugehen. Früher hatte ich davor Angst, aber jetzt nicht mehr. Ich weiß jetzt, was Gefängnis bedeutet; mehr brauche ich nicht zu wissen. Ich warte sehnlichst auf Dima. Was dann sein wird, weiß ich nicht. 

     

    Xenia Kagarlizkaja 

    Die Tochter von Boris Kagarlizki 

    Es gibt Eltern, die sehr viel zu tun haben, viel Zeit auf der Arbeit verbringen und den Kindern wenig Aufmerksamkeit schenken. Das ist bei mir nicht der Fall. Papa und ich waren immer zusammen. Wir sind zum Beispiel in verschiedene Länder gefahren. Wir waren in Syrien, 2013, noch vor dem Krieg, drei Mal in Kuba, Papa hatte die Idee, dass ich Kuba noch vor dem Tod von Fidel Castro sehen sollte (Castro starb 2016 – Anm. Meduza). Urlaub mit Papa war immer interessant, weil er ein Wikipedia-Mensch ist: Er weiß zu allem etwas zu sagen, zu jedem Thema, jedem Gebäude. Ich kam immer mit viel neuem Wissen von diesen Reisen zurück. Meine ganze Kindheit habe ich in ständigem Austausch mit meinem Vater verbracht. 

    Für kleine Kinder ist es wichtig, zu verstehen, was gut und was böse ist, wo die Grenze zwischen Schwarz und Weiß verläuft. Für Kinder ist es schwer, die Zwischentöne zu verstehen. Aber Papa war da ganz anders: Er hat mir immer alle möglichen Varianten und Sichtweisen beschrieben, und dann gesagt: „Die Schlussfolgerungen ziehst du selbst“. Einerseits entwickelt sich so kritisches Denken, andererseits ist das etwas schwierig zu akzeptieren, wenn du fünf Jahre alt bist. 

    Mit Papas Sicht auf die Welt im Hintergrund wuchs ich zu einem sehr resoluten Menschen heran. Beispielsweise bin ich bereit, jemandem zu kündigen, wenn er sich einmal voll daneben benommen hat – bei Papa würde er noch 1000 Chancen bekommen. 

    Wenn ich irgendwo Unterstützung bekommen kann, dann bei Papa. Ich habe sogar ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ganz der Vater“, seit seiner Verhaftung trage ich es ständig. Wir konnten uns immer blind vertrauen. Wir telefonierten täglich, seit ich volljährig und ausgezogen bin. Wir haben zusammen Fargo, Breaking Bad, Game of Thrones gesehen. Das war unser allabendliches Ritual.  

    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. Sie half ihm bei den ersten Schritten mit seinem eigenen YouToube-Kanal. Für ein Video verurteile ihn ein Gericht zu fünf Jahren Lagerhaft / Foto © privat
    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. Sie half ihm bei den ersten Schritten mit seinem eigenen YouToube-Kanal. Für ein Video verurteile ihn ein Gericht zu fünf Jahren Lagerhaft / Foto © privat

    Als Teenager bekam ich genauer mit, was Papa macht, weil ich begann, mich auch für YouTube zu interessieren. Mit der Zeit wurde aus dem Zeitvertreib Arbeit. Damals war der Kanal Rabkor nicht besonders aktiv, aber irgendwann brachte ein Bekannter Papa auf die Idee, zu streamen: „Die Menschen könnten euch ihre Fragen schicken und dafür spenden sie“. Papa kam zu mir und fragte: „Kannst du einen Stream einrichten?“ Ich sagte, nein. Also fanden wir es gemeinsam heraus.  

    Wir streamten das erste Mal, als ich 15 war. Der Stream brach dauernd ab, von Zeit zu Zeit waren wir nicht sicher, ob die Verbindung zu den Zuschauern steht oder nicht. Ich musste immer wieder ins Bild laufen, um etwas auszubügeln. Wir streamten ja mit einer normalen Webcam vom Computer. Und den Leuten gefiel es, dass mal ich im Bild auftauchte, mal unser prächtiger Kater Stepan. Gleich beim ersten Stream spendeten die Menschen.  

    Daraus entstand allmählich das Genre unserer häuslichen Streams: Ich verlas zu Beginn die Fragen aus dem Off und erschien dann immer mal wieder im Bild. Dann nahm ich einen Job bei einer größeren Firma an, die auch mit YouTube arbeitet. Ich trennte mich von Rabkor, aber seit Papa 2023 verhaftet wurde, helfe ich dem Team wieder. 

    * * * 

    Wie gefährlich das ist, was Papa macht, wurde mir klar, als ich in der achten Klasse war. Es gab eine Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz [6. Mai 2012], und Papa bestand darauf, dass ich mit ihm hinging. Warum auch immer, ich wollte nicht, obwohl ich schon zuvor auf Demonstrationen gewesen war. Seit der fünften Klasse hatte Papa mich ins Schlepptau genommen.  

    Eine Woche nach dieser Aktion lud man ihn zum Verhör ins Ermittlungskomitee. Er sagte, er fahre in einer Woche nach Deutschland und wenn sie bei ihm eine Hausdurchsuchung durchführen wollen, sollten sie nicht in diesem Zeitraum kommen. Natürlich taten sie genau das. Um sieben Uhr früh kamen komische Typen zu uns nach Hause, Mama stand ihnen Rede und Antwort, in dieser Situation spürte ich zum ersten Mal, wie gefährlich das wirklich war. Danach machte ich mir keine Illusionen mehr. 

    Familienbild mit Katze / Foto © privat
    Familienbild mit Katze / Foto © privat

    Aber so richtig Angst um Papa hatte ich erst nach seiner Verhaftung [im Jahr 2023]. Eine Hausdurchsuchung ist nur eine Hausdurchsuchung: Sie kommen und gehen wieder. Selbstverständlich belastet einen das, aber man kommt darüber hinweg. Nachdem er das erste Mal wieder freigekommen war [Mitte Dezember 2023], kam mir der Gedanke, dass ich mir wünsche, er würde das Land verlassen. Er würde unterrichten, einer ganz anderen Tätigkeit nachgehen, auch auf seinem Gebiet. Aber er würde sich keiner Gefahr mehr aussetzen. Er ist aber nicht ins Ausland gegangen. Und er ist nicht ich, er ist anderer Ansicht. Was ich will oder nicht will, das beeinflusst ihn nicht im Geringsten. 

    * * * 

    Am Tag seiner Verhaftung [26. Juli 2023] kehrte Mama [die Dozentin Irina Gluschtschenko] aus Argentinien zurück, Papa sollte sie am Flughafen abholen. Aber er kam nicht. Für uns gab es zwei Möglichkeiten: Entweder liegt er irgendwo und atmet nicht mehr oder die Staatsmacht steckt dahinter. Als wir erfuhren, dass die Behörden der Grund sind, beruhigten wir uns, denn das ließe sich irgendwie wieder in Ordnung bringen. Ich öffnete den [Telegram-Kanal] Avtozak LIVE und sah, dass bei einem Mitarbeiter von Rabkor eine Hausdurchsuchung läuft. Im ganzen Land gab es Hausdurchsuchungen. 

    Alle waren in Panik, in Angst und Schrecken, wussten nicht, was tun. Aber sie rauften sich irgendwie zusammen, initiierten einen Stream zu seiner Unterstützung und starteten eine Sammelaktion. Rabkor hat seine Übertragung nicht einen Tag ausgesetzt – ich denke, das ist ein großer Erfolg angesichts dessen, dass sie bei den wichtigsten Mitarbeitern die ganze Technik mitgenommen haben, für die wir über Jahre Spenden gesammelt hatten. Zur gleichen Zeit starteten wir eine internationale Kampagne [um Papa und Rabkor zu unterstützen], die enorm viel einbrachte: Ein offener Brief, unterschrieben von vielen bekannten Leuten wie zum Beispiel [dem slowenischen Philosophen] Slavoj Žižek, [dem britischen Politiker] Jeremy Corbyn, [dem französischen Politiker und Journalisten Jean-Luc] Mélenchon.  

    Im Endeffekt wurde Papa [am 12. Dezember 2023] mit einer Geldstrafe [609.000 Rubel; 6500 Euro] entlassen. Wir waren überglücklich, versuchten sofort, ihn davon zu überzeugen, das Land zu verlassen. Er weigerte sich. Er war der Meinung, wenn er ausreisen würde, würde er seine Ideen verraten. 

    Die Staatsanwaltschaft fand allerdings mit der Zeit, dass diese Geldstrafe nicht Strafe genug sei für solche „Taten“, wie ein [aus Sicht der Ermittler] verfehlter Titel eines kurzen Films auf YouTube (im Augenblick der ersten Verhaftung war der Clip über zehn Monate auf dem Kanal zu sehen gewesen). Und so wurden aus der Geldstrafe fünf Jahre wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“. 

    Dieser Titel war das Einzige, was sie gegen Papa vorbringen konnten. Papa war immer imstande gewesen, subtile Formulierungen zu finden, hatte sich immer an alle russischen Gesetze gehalten und nie dagegen verstoßen. Offensichtlich hatten sie [die Ermittler] einfach die Aufgabe, irgendetwas gegen ihn zu finden, und dieser Titel erwies sich als das Einzige, was sie auftreiben konnten. 

    Einen Tag vor seiner zweiten Festnahme [am 13. Februar 2024] telefonierten Papa und ich. Ich spürte, dass sie ihn einbuchten würden, sprach mit ihm darüber. Doch er antwortete, das werde nicht passieren. 

    * * * 

    Das letzte Mal haben wir uns vor zwei Jahren gesehen – wie schrecklich, schon zwei Jahre sind seitdem vergangen! Es war im Herbst, nach der Mobilmachung. Wir sprachen über meinen Umzug [von Russland nach Montenegro], aßen gemeinsam zu Abend. Danach haben wir über Video telefoniert. Wir hatten den Termin wie echte Profis in unseren Kalender eingetragen. Wir haben immer alles genau reglementiert. Doch jetzt geht das leider nicht mehr. Jetzt läuft unsere Briefkorrespondenz über den Föderalen Strafvollzugsdienst

    Inzwischen nehme ich kein Blatt mehr vor den Mund, schreibe alles, was ich denke, Zensur hin, Zensur her. Ich mache mir da gar keinen Kopf. Was mich beunruhigt, ist etwas anderes: Was wird, wenn er wieder frei ist? Er ist 65 Jahre alt, und er hat es dort sehr schwer. Das Leben im Straflager ist kein Erholungsaufenthalt im Sanatorium. Ich verfolge die Nachrichten über andere politische Gefangene, und das macht mir Angst. Ich will nicht, dass sie meinen Vater in die Strafzelle stecken. Und außerdem denke ich an den Kater Stepan. Der ist jetzt 11, er liebt Papa, vermisst ihn. Wer weiß, ob er noch so lange leben wird, bis Papa zurück kommt. 

    Und außerdem ärgern mich die Anfeindungen gegenüber Papa wegen seiner Anschauungen oder wegen Äußerungen von vor 100 Jahren. Im Internet schreiben sie häufig abschätzig, er sei Kommunist, sie bringen uralte Äußerungen von ihm aufs Tapet. Darum geht es jetzt überhaupt nicht. Wenn ein Mensch auf freiem Fuß ist, kann man mit ihm diskutieren, wenn er im Gefängnis ist, dann nicht, dann muss man ihn einfach nur unterstützen. 

    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. „Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat, zu bleiben“, sagt sie / Foto © privat
    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. „Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat, zu bleiben“, sagt sie / Foto © privat

    Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat zu bleiben. Sind denn diese Ideen tatsächlich wichtiger als wir? Aber so ist er nun mal, für ihn ist das eben wichtig. Das ist sein Leben und er weiß, wenn du dich mit Politik befasst, besteht die Gefahr, dass du im Gefängnis landest. Wenn du Feuerwehrmann bist, kannst du bei der Arbeit verbrennen, und wenn du in der Politik bist, können sie dich einbuchten oder umbringen. 

    Dass Papa seine Überzeugungen voranstellt, ist für mich nichts Neues. Es war immer so: Erst kommt der politische Kampf, dann die Familie. Die Familie ist sehr wichtig, aber der Kampf ist wichtiger. Die Familie ist sein persönliches Interesse, der politische Kampf aber ist im allgemeinen Interesse. Wie kann da sein persönliches Interesse wichtiger sein als das allgemeine Interesse? Aber wie soll ich damit leben und das akzeptieren? Ich bin daran gewöhnt, bin schon abgehärtet. Ich habe, wie mir scheint, aufgehört, irgendetwas zu fühlen. 

    Ich würde mir wünschen, dass Papa Dozent für Geschichte wäre. Aber sich vorzustellen, wie alles hätte anders kommen können, hieße, ihn nicht zu respektieren. Er will der sein, der er ist. Wenn ich ihn liebe, muss ich das akzeptieren. Ich habe wirklich gute Eltern. Wir sind eben nur in eine sehr ungerechte Lage geraten. Nicht nur wir, sondern das ganze Land. 

    * * * 

    Die Arbeit hilft mir, mit der Angst zurecht zu kommen: Ich habe viele Projekte. Neben meiner Hauptarbeit in einem großen Unternehmen, veranstalte ich das Festival Zone der Freiheit zur Unterstützung politischer Gefangener [in Montenegro, Armenien, Litauen, Israel und anderen Ländern], ich fahre zu Abendveranstaltungen, bei denen die Teilnehmer Briefe an politische Gefangene schreiben, helfe bei Rabkor. Ich schlafe wenig, die meiste Zeit arbeite ich. Wenn ich mit meinen Gedanken ganz allein bin, verlässt mich der Mut. Doch solange man Probleme lösen muss, ist der Kopf abgelenkt. 

    Mama hat es schwerer. Nach der zweiten Inhaftierung setzte bei ihr das Gefühl einer Kränkung ein: Warum gerade er? Warum haben sie ihn mitgenommen, wieder freigelassen und dann wieder mitgenommen? Mein Bruder [Georgi Kagarlizki] und ich sind ins Ausland gegangen, und sie ist allein in Russland und ohne Papa. Ich hoffe, sie kommt bald zu uns zu einem langen Wiedersehen. 

    Meine Mama ist ein wunderbarer Mensch. Wir sprechen heute mehr miteinander als früher, sie kommt mich regelmäßig besuchen. So ist sie immerhin öfter am Meer. Man muss ja auch versuchen, irgendetwas Positives zu finden. 

    * * * 

    Papa sagt, er freue sich sehr, wenn er Briefe bekomme [von den Briefschreibabenden für politische Gefangene]. An den Abenden verlese ich seine Briefe, zeige den Menschen, dass er sein Gesicht nicht verloren hat, den Kopf nicht hängen lässt. Und seine Unterstützung durch mich hilft auch anderen Menschen, unter anderem mir.  

    Das Berufungsverfahren war die letzte juristische Möglichkeit, um auf den Staat einzuwirken. Zum jetzigen Augenblick haben wir getan, was wir konnten. Ich weiß nicht, was passieren müsste, um etwas zu verändern. Außer globalen Veränderungen. 

    Ich hoffe, dass das alles für uns nicht erst in fünf Jahren zu Ende sein wird, sondern so bald wie möglich. Ich wünsche uns allen Freiheit. Ich wünsche nicht nur Papa Freiheit, sondern auch mir selbst. Ich will die Möglichkeit haben, nach Russland zurückzukehren, ich will keine Angst mehr haben. Ich will spüren, dass auch ich und mein Papa in unserem Land leben können und das tun können, was wir wollen.

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    „Warum haben sie euch noch nicht eingebuchtet?“

    Nach der Einführung einer strengen Militärzensur im März 2022 haben viele Kreml-kritischen Journalisten Russland verlassen oder ihre Arbeit eingestellt. Die wichtigsten unabhängigen Medien arbeiten inzwischen aus dem Exil im Baltikum, in Georgien oder auch in Deutschland. Einige wenige Redaktionen wählten derweil einen Zwischenweg: Sie versuchen, sich an die Gesetze zu halten, und dennoch die Wirklichkeit abzubilden so gut es geht.  

    Wie klein der verbliebene Raum für unabhängige Berichterstattung ist, zeigt ein Beispiel aus Saratow an der Wolga. Die lokale Online-Nachrichtenagentur Swobodnyje Nowosti („Freie Nachrichten“) – oft einfach nur Swobodnyje genannt („Die Freien“) – ist es seit zwölf Jahren gewohnt, unter den propagandistischen Medien als weißer Rabe in Erscheinung zu treten. Sie sind die einzigen, die den ehemaligen Vizegouverneur der Region und jetzigen Vorsitzenden der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, offen kritisieren. Und sie versuchen weiterhin, auch in Zeiten der Zensur wahrheitsgemäß zu berichten.

    Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine wurden sie von Kollegen und Vertretern der Verwaltung der Volksverhetzung beschuldigt. Während die einen beklagen, dass man die Journalisten der Freien Nachrichten „noch nicht sämtlich hinter Gitter gebracht hat“, meinen andere, das Portal sei nicht oppositionell genug. Seit die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor die Webseite der Freien blockiert hat, sind weitere Probleme hinzugekommen. Am 23. Juli dieses Jahres wurden die schlimmsten Befürchtungen wahr: Roskomnadsor wurde beim Obersten Gericht Russlands vorstellig und forderte einen Entzug der Medienlizenz, weil das Portal die Beiträge „ausländischer Agenten“ nicht gekennzeichnet habe. Takie Dela hat eine der wenigen Redaktionen in der Region besucht, die nicht von der Kreml-Partei Einiges Russland gelenkt wird. 

    Die stellvertretende Chefredakteurin Marija Aleksaschina hat ein Poster von Anna Politkowskaja an ihrem Arbeitsplatz aufgehängt. / Foto © privat
    Die stellvertretende Chefredakteurin Marija Aleksaschina hat ein Poster von Anna Politkowskaja an ihrem Arbeitsplatz aufgehängt. / Foto © privat

    Die Redaktion hat ihren Sitz in einem vierstöckigen Gebäude im Stadtzentrum von Saratow. Nur 15 Mitarbeiter arbeiten hier, das Kernteam ist schon viele Jahre zusammen. Die Freien hatten sich dem Rating von Medialogija zufolge seit langem fest in den Top fünf der meistzitierten Medien der Region etabliert. Und das in einer Stadt mit fast einer Million Einwohnern, in der 80 Prozent der Medien unmittelbar oder indirekt der Regierungspartei Einiges Russland gehören. 

    Um halb neun morgens ist die Nachrichtenabteilung der Freien vollständig angetreten. Einer ist schon seit sieben am Arbeitsplatz. Die meisten Mitarbeiter sind hinter der Tür mit dem Schild „Newsroom“ zu finden. 

    Über dem Tisch der stellvertretenden Chefredakteurin Marija Aleksaschina hängt ein riesiges Poster mit einem Portrait der Journalistin Anna Politkowskaja. Ein erster Eignungstest für Volontäre. Ein Menschenrechts-Aktivist aus der Stadt hatte ihr das Poster vor einigen Jahren zur sorgsamen Aufbewahrung überlassen. Nach dessen Tod entschied Marija, dass es an der Wand seinen besten Platz hat. 

    Aleksaschina hat die Augen ständig am Monitor und lässt die Maus nicht aus den Fingern. Ihre Haare sind zu einem Knoten gebunden; sie trägt Jeans, Sportschuhe, auf dem Tisch stehen mehrere Wasserflaschen – es sind heute vierzig Grad in Saratow. Neben dem Computer ein Festnetztelefon. Darüber laufen Termine und Anregungen der Leser ein. 

    „Neulich saß ich hier bis zehn Uhr abends, da klingelte plötzlich das Telefon. Dummerweise ging ich dran“ Marija ahmt eine männliche Stimme nach: „Jetzt sagen Sie mal, weswegen Sie blockiert wurden!?!“. „Er legte erst auf, als ich ihn davon überzeugt hatte, dass wir das selbst nicht wissen!“ 

    Die ersten Nachrichten, die die Journalisten nach ihrer Wiedergeburt brachten, waren: Frost im Mai, die Verluste von Gazprom und eine Verlosung Hunderter Eier zu Ostern.

    Drei Tage nach der Sperrung des Portals startete die Redaktion eine neue Webseite: Bei der Adresse wurde lediglich das Minus weggelassen. Und die Arbeit begann von vorn, als ob es die zwölf Jahre davor nicht gegeben hätte. Jeder Link, der auf die alte Seite führt, würde so ausgelegt, dass es sich bei dem neuen Portal um einen mirror handelt [also um eine Kopie der gesperrten Inhalte – dek.] – das würde eine erneute Sperre nach sich ziehen. 

    Die ersten Nachrichten, die die Journalisten nach ihrer Wiedergeburt brachten, waren: Frost im Mai, die Verluste von Gazprom und eine Verlosung Hunderter Eier zu Ostern. 

    Heute ist es genau zwei Monate her, dass die Redaktion auf der neuen Internetseite aktiv wurde. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums seien in der Nacht vier Drohnen abgeschossen worden, doch die stehen nicht am Anfang des Nachrichtentickers. „Sind ja keine zwanzig“, erklären die Diensthabenden am Ticker. Vereinzelte Luftangriffe, bei denen niemand zu Schaden kommt, interessieren kaum jemanden.

    Nachdem die Medienaufsicht die alte Seite gesperrt hat, hat die Chefredaktion ein neues Portal gestartet – und nur das Minuszeichen aus der Adresse entfernt. Trotzdem sind die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen / Foto © privat
    Nachdem die Medienaufsicht die alte Seite gesperrt hat, hat die Chefredaktion ein neues Portal gestartet – und nur das Minuszeichen aus der Adresse entfernt. Trotzdem sind die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen / Foto © privat

    Die Journalisten eröffnen den Nachrichtentag mit der „Spezialität des Hauses“, einem Bericht zu den „verödenden Landschaften“: Den Angaben des Statistikamtes Rosstat zufolge steht die Oblast Saratow hinsichtlich des absoluten Bevölkerungsrückgangs an sechster Stelle aller Regionen Russlands. 

    „Das ist eine merkwürdige Aufgabe, zu belegen, dass die Oblast sich entvölkert“, erklärt Marija. „Angefangen hat es damit, dass einige Journalisten – nicht nur von uns, sondern auch von anderen Medien – anhand der Daten von Rosstat diese Bevölkerungsverluste berechneten. Und für recht lange Zeit lag die Oblast Saratow auf dem ersten Platz. So wurde der Begriff ‚verödende Landschaften‘ geprägt. Und er hängt uns immer noch an.“ 

    Die nächste Nachricht handelt vom Vorstoß eines Abgeordneten aus Saratow, bei den Soldaten der „militärischen Spezialoperation“ IT-Fähigkeiten stärker zu fördern. Niemand diskutiert sie. 

    „Wir sind ein gesperrtes Medium, aber sie schicken uns weiterhin Pressemitteilungen und laden uns zu offiziellen Veranstaltungen ein. Wir werden bald schizophren.“

    Marija wendet den Blick vom Ticker, um einen Anruf auf dem Festnetz entgegenzunehmen. Der Pressdienst des Gouverneurs lädt die Journalisten der Freien zu einer Veranstaltung ein: Wieder einmal stattet der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, Region Saratow einen Besuch ab. Er stammt von hier. 

    „Bald werden wir noch schizophren.“ Marija reibt müde ihre Schläfen. „Wir sind ein gesperrtes Medium, im Grunde gibt es uns gar nicht. Aber sie schicken uns weiterhin Pressemitteilungen und laden uns zu offiziellen Veranstaltungen ein.“ 

    Einige der letzten Zeilen im „Logbuch“ (so wird in der Redaktion ein Notizbuch mit Leser-Anfragen genannt) sind Roskomnadsor gewidmet. Nach der Sperrung der Webseite haben die Journalisten mehrere Male bei der Behörde nachgefragt: Aus welchem Grund? Sie haben offizielle Anfragen geschrieben und eine Erklärung der Redaktion auf die Webseite gestellt. Aber weder von der Medienaufsicht noch von der Generalstaatsanwaltschaft gab es eine Antwort. In dem Schreiben der Medienaufsicht heißt es nur ominös: „wegen wiederholter Platzierung widerrechtlicher Informationen“. 

    „Sie haben auf einen Paragrafen verwiesen, der rund 25 Punkte umfasst, angefangen von ‚Fernbleiben von der Truppe‘ bis hin zu ‚LGBT-Propaganda‘. Bei der Hotline des Roskomnadsor gab man uns auch keine Antwort – wir hörten nur: Don’t Worry, Be Happy. Sieht so aus, als sei das alles, was wir tun können“, witzelt die stellvertretende Chefredakteurin. 

    Das Einzige, was die Journalisten wissen: Sie wurden von der föderalen Medienaufsicht gesperrt, nicht von der regionalen. „Unser digitaler Gulag arbeitet technisch bemerkenswert, ein menschlicher Faktor ist ausgeschlossen“, fährt Marija fort. „Bei der regionalen Medienaufsicht räumten sie ein, dass man selbst schockiert sei. Der Minister für digitale Entwicklung der Oblast schrieb uns: ‚Was ist passiert?‘ Im Chat mit Kollegen schrieben uns andere Medien: ‚Was habt ihr denn erwartet?‘ Und natürlich fragten alle nach dem Grund der Sperrung, und wie es weitergeht.“ 

    „Wir haben uns derart angestrengt, die Regeln dieses unfairen Spiels einzuhalten.“

    In den ersten Tagen waren viele überzeugt, dass das nur ein Fehler sei und die Freien bald wieder entsperrt werden. 

    „Wir haben uns derart angestrengt, die Regeln dieses unfairen Spiels einzuhalten, dass alle den Eindruck hatten, es wird nicht so weit kommen. Wir waren, wo es angebracht war, mehr als vorsichtig, und sogar da, wo nicht“, erklärt die stellvertretende Chefredakteurin. „Dass wir blockiert wurden, hat alle Kollegen stark erschreckt: Alle begannen zu überlegen, wofür sie dichtgemacht werden könnten. Letztlich wegen allem Möglichen.“ 

    Kurz vor der Sperrung, im Dezember 2023, läutete für die Redaktion die erste Alarmglocke. Die Militärstaatsanwaltschaft schickte eine Anweisung, dass die Liste der Gefallenen aus der Region zu löschen sei, die die Journalisten seit den ersten Tagen der „militärischen Spezialoperation“ führten. Diese Informationen, heißt es in dem Schreiben, stellten ein Staatsgeheimnis dar. 

    „Wenn wir keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen haben, wie können wir dann welche verraten?“

    „Uns war klar, dass wir gegen keinerlei Gesetze verstoßen: Wenn wir keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen haben, wie können wir da welche verraten? Wir waren trotzdem sehr erschrocken, und unsere Kollegen auch: Schließlich drohen ja Dutzende Jahre Haft“, sagt Marija. Das war das erste Verbot dieser Art. Keines der regionalen Medien führte derlei Listen, auch wenn viele über einzelne Gefallene berichten.“ 

    Die Liste mit den Namen wurde von der Redaktion entfernt. Die Seite, auf der sich die Liste befand, ist aber immer noch auf der alten Version zu finden. Sie ist zwar leer, aber die alte Überschrift steht noch da – und ein Hinweis auf das Verbot durch die Militärstaatsanwaltschaft. 

    Die Freien bringen auf der neuen Webseite weiterhin Nachrichten über einzelne Gefallene. Diese stützen sich auf Pressemitteilungen regionaler Verwaltungschefs oder anderer Offizieller. Die Militärstaatsanwaltschaft hat noch immer nicht beantwortet, ob auch das eine Gesetzesverletzung darstellt, oder eine solche nur bei einer systematischen Aufbereitung der Daten vorliegt.

    Es war bereits mehrere Male vorgekommen, dass die Redaktion wegen neuer Gesetze Artikel entfernen musste. 2023, als Nichtregierungsorganisationen und Medien eine nach der anderen als „unerwünscht“ eingestuft wurden, haben Journalisten den Chat „Deleters“ [nach dem engl. „delete“ – DK] eingerichtet. 

    Viele Beiträge mit Verweisen auf [Nawalnys – dek.] Stiftung zur Bekämpfung der Korruption mussten entfernt werden. Etwa die auf Recherchen zur Datschenkooperative Sosny im Moskauer Umland, bei denen Journalisten eine luxuriöse Datscha von Wolodin aufgespürt hatten. Die Redaktion ließ bestimmte Kommentare in Social-Media-Kanälen automatisch entfernen, und zwar vor allem mit Blick auf die Sicherheit derjenigen, die diese Kommentare schreiben. 

    Die Nachrichtenagentur Freie Nachrichten gehört dem Verlagshaus Energija, einer Medienholding des Unternehmers und Politikers Arkadi Jewstafjew. Jewstafjew war früher Mitarbeiter des KGB und des Innenministeriums der UdSSR, er arbeitete für Anatoli Tschubais und für Boris Jelzin und war Vertrauensperson von Michail Prochorow. Er ist in verschiedenen Branchen tätig, unter anderem durch die Investmentholding Energetitscheskij sojus und das Energieunternehmen Toljattinski transformator

    Die Freien Nachrichten sind 2012 entstanden. Jewstafjew startete sie als eigenständiges Medium: Seinerzeit erschien in Saratow bereits seine Gaseta nedeli [„Wochenzeitung“ –  dek.]. Die erscheint jetzt noch einmal im Jahr – damit sie nicht ihre Medienlizenz verliert. 

    Die Gaseta nedeli heißt zwar „Wochenzeitung“, erscheint aber nur noch ein Mal im Jahr, damit der Verlag die Lizenz nicht verliert / Foto © privat
    Die Gaseta nedeli heißt zwar „Wochenzeitung“, erscheint aber nur noch ein Mal im Jahr, damit der Verlag die Lizenz nicht verliert / Foto © privat

    In den 12 Jahren haben die Journalisten der Freien einiges erlebt: Zerstörte Kameras in Wahllokalen, Überprüfungen durch die Staatsanwaltschaft, Vorladungen von Mitarbeitern zum Verhör, Verhaftungen während einer Live-Sendung: 2018 gab der ehemalige Leiter von Nawalnys Team in Saratow, Michail Murygin, den Freien ein Interview. Das war nach einer Demonstration mit der Parole „Der ist nicht unser Zar“. Direkt während der Sendung wurde er von sechs Polizisten abgeholt, zwei von ihnen waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. Nur der Fahrer hatte einen Dienstausweis dabei. Der war es dann auch, der Murygin offiziell festnahm. 

    Die Redaktion wandte sich daraufhin an die Behörden, und verlangte, die Polizisten wegen Behinderung der Arbeit von Medienvertretern zur Rechenschaft zu ziehen. Die Polizisten wiederum verlangten, dass die Redaktion wegen Widerstands gegen Vertreter der Staatsgewalt bestraft werde. Die Geschichte verlief schließlich im Sand. 

    Heute sind die Journalisten des Portals nach wie vor die einzigen in der Region, die sich trauen, ihren Landsmann Wolodin offen zu kritisieren. Derweil verfassen ihre Kollegen [bei anderen Medien] einhellig Lobesstücke über dessen Besuch in der Region. Doch sie können einfach nicht untätig sein: Sie machen bei Frost Straßenumfragen mit der Kamera oder verfolgen penibel, welcher Abgeordnete der Staatsduma für welchen Gesetzentwurf stimmt – auch dafür stehen die Freien

    Die Redaktion hat nur 15 Mitarbeiter. Zu besseren Zeiten – Anfang der 2010er Jahre – waren es noch 33. Nach wie vor gibt es ein Nachrichtenressort und eines für längere Geschichten. Im Dachgeschoss ist das Videostudio untergebracht, in dem Sendungen für den YouTube-Kanal aufgenommen werden. An der Spitze des Ganzen steht die Chefredakteurin Lena Iwanowa. 

    Sie bezeichnet sich selbst als einen „Menschen der Provinz“: Sie lebt seit ihrer Kindheit in Saratow, kam in den Neunzigern zum Journalismus und leitet das Portal seit seiner Gründung. Sie hat kurzgeschnittene Haare, eine Brille mit dickem Rahmen und zwei Tattoos auf dem rechten Arm. 

    Elena Iwanowa, die Chefredakteurin des Nachrichten-Portals Swobodnye / Foto © privat
    Elena Iwanowa, die Chefredakteurin des Nachrichten-Portals Swobodnye / Foto © privat

    Vor zweieinhalb Jahren, nach Beginn der „militärischen Spezialoperation“, gab sie am 4. März zusammen mit den Mitarbeitern eine Erklärung der Redaktion heraus, wie man weiterarbeiten wolle, und dass man jetzt die Gesetze der Militärzensur einhalten müsse. Und dann brach sie in Tränen aus. Ihr war klar: Ehrlichen Journalismus zu betreiben, war jetzt nicht mehr möglich. Trotzdem waren die Journalisten der Freien die ersten, die auf eigene Gefahr von einem 19-jährigen Wehrpflichtigen berichteten, der bei der „militärischen Spezialoperation“ ums Leben kam. Die Behörden bestätigten dessen Tod erst später. Und sie waren es, an die sich vom Kummer zerfressene Mütter von Soldaten wandten, die ihre Kinder nicht finden konnten. Es gab niemanden, an den sie sich sonst hätten wenden können. 

    „Zwei Wochen lang schaute ich mich ständig um, wenn ich unterwegs war. Dann habe ich mich beruhigt“

    Eine Woche nach Beginn der „Spezialoperation“ warfen regionale Telegram-Kanäle und Personen des öffentlichen Lebens den Freien vor, sie seien subversiv tätig und würden feindliche Ansichten verbreiten. Bekannte Persönlichkeiten in der Region, Kollegen, Abgeordnete, Unternehmer und Betreiber von Telegram-Kanälen denunzierten sie und organisierten Hetzkampagnen. 

    Im Februar 2023 bekam Marija Aleksaschina Drohungen per Messenger, mit ihren persönlichen Daten. Anzeigen bei der Polizei blieben vergeblich. Angeblich seien die Drohungen nicht konkret genug gewesen. 

    „Ich habe WhatsApp gelöscht. Zwei Wochen lang schaute ich mich ständig um, wenn ich unterwegs war. Dann habe ich mich beruhigt“, erinnert sich Marija. Im Mai 2023 wurde Anna Muchina, eine Journalistin der Freien, vom Justizministerium aufgrund einer Denunziation als „ausländische Agentin“ eingestuft. Muchina ist eine der wenigen medizinisch versierten Journalistinnen, die nicht nur über Eröffnungen von Polikliniken schreibt. Sie kennt sich aus, weiß, welche Medikamente in der Region fehlen. Darüber hinaus hat sie eine öffentlich zugängliche Facebook-Seite, auf der sie alles schreibt, was sie über das Geschehen in Russland und der Welt denkt. 

    Nach dem Februar 2022 einigte sich Iwanowa mit dem Gründer der Redaktion, dass man äußerst vorsichtig sein solle. Die Sicherheit der Mitarbeiter müsse so gut wie möglich gewährleistet werden. Es sollten weder von der Regierung noch aus dem Ausland Fördergelder angenommen werden. Am besten, man halte sich so weit wie möglich neutral. 

    Ein Blick in das Büro der Chefredakteurin. „Doktor gut“ steht auf dem Zettel an ihrer Türe / Foto © privat
    Ein Blick in das Büro der Chefredakteurin. „Doktor gut“ steht auf dem Zettel an ihrer Türe / Foto © privat

    Geholfen hat es nicht. Nachdem Muchina zur „ausländischen Agentin“ erklärt wurde, kündigten einige Mitarbeiter der Redaktion. 

    „Daraufhin begannen alle, sich darüber auszulassen, was wir für ein fieses Medium seien, wie wir alle hassen würden, dass unsere Träger im Ausland sitzen würden und wir hier überhaupt nicht existieren dürften“, erinnert sich Marija an den vergangenen Sommer. 

    Nach der Sperrung des Portals zogen über den Freien noch mehr dunkle Wolken zusammen: Vor ein oder zwei Jahren hatte in der Redaktion noch eine Stimmung geherrscht, die dem Motto folgte: „Wir beobachten weiter und haben Spaß dabei“. 

    Jetzt, im Sommer 2024, ist das ganz anders. 

    In der Raucherecke wird nur mit halblauter Stimme gesprochen. Die Kaffeebecher werden so gedreht, dass die Aufschriften nicht zu sehen sind, weil sie nach den neuen Gesetzen als wer weiß was ausgelegt werden könnten. Die Redakteure zensieren die internen Chats. 

    „Ändern wir nun das Programm wegen Nawalnys Tod?“

    Das letzte Jahr war das schwerste in der Geschichte der Freien. Der Scherz „wir müssen den Priester rufen“ (damit dieser den Raum gegen den bösen Blick weiht) ist jetzt nicht mehr lustig. 

    „Das schrecklichste Ereignis des vergangenen Jahres war der Tod Nawalnys“, erinnert sich Lena. „An dem Tag hatten wir [die Politikerin Jekaterina – TD] Dunzowa auf Sendung. Sie war nach Saratow gekommen, um hier den regionalen Stab ihrer Partei Rasswet zu eröffnen, und wir hatten sie gebeten, davon zu erzählen. Ich las gerade bei mir im Büro einen anderen Text und war weder im Redaktions-Chat noch beim Newsticker. Da kam der Chefredakteur der Videoabteilung reingestürmt und fragte: „Ändern wir nun das Programm wegen Nawalnys Tod?“ 

    Als Lena nach dem ersten Schock wieder zu sich kam, versuchte sie, den Journalisten zu erklären, wie sie angesichts dieser Nachricht weiter vorgehen sollten. Aber ihre Stimme versagte. Und über drei Wochen lang versagte sie wieder und wieder. 

    Und dann, zwei Monate später, verlor des ganze Portal seine Stimme. Die Freien wurden gesperrt. 

    Die Besucherzahlen der neuen Internetseite lagen gegenüber der alten nur noch bei einem Zehntel. Auch die Erwähnungen und die Suchergebnisse bei Nachrichten-Aggregatoren brachen ein. Yandex nahm die Freien wegen der Sperrung aus dem Nachrichten-Angebot. Das neue Portal würde frühestens nach einem halben Jahr aufgenommen. 

    „Bislang haben wir auf unserer Seite nichts, was die Leute anlocken könnte“, erklärt Marija. „Zum Beispiel ‚Wo kann man in Saratow gut essen gehen?‘ oder ‚Wo kann man in Saratow schwimmen gehen?‘ Das alles blieb auf der alten Seite zurück.“ 

    Die Suchmaschinen hatten die Freien auch früher schon aus ihren Ergebnissen gekickt, als die Journalisten Berichte zu nicht genehmen oder verbotenen Themen brachten. „Wir haben deswegen an Yandex.Novosti geschrieben. Die antworteten: ‚Schlechte Überschrift‘, berichtet Marija. „Sobald wir nicht mehr über etwas ‚Heikles‘ schrieben oder der Aufhänger sich von selbst erledige, kehrten wir problemlos in die Ergebnisse zurück.“ 

    „Wir haben immer weniger Mittel, aber die Risiken werden immer größer“

    „Wir haben immer weniger Mittel, und die Gehälter sind gering“, erklärt Lena. „Aber die Risiken werden immer größer. Die Reaktionen bei Straßenumfragen lassen ebenfalls nach. Wir haben eine Umfrage zur Mobilmachung durchgeführt. Da haben sich viele geweigert, etwas zu sagen. Und diejenigen, die sich offen äußerten, konnten wir nicht senden, weil Strafen drohen.“ 

    Der Raum, den die Zensur und die Propaganda in unserem Land und in unserer Region für unsere Arbeit lassen, wird mit jedem Tag kleiner. 

    „Die Ressourcen von Einiges Russland werden immer größer. Die werden immer stärker“, klagt Marija. „Der örtliche Rundfunk betrieb fünf Radiosender. Jetzt haben sie Lizenzen für fünf weitere gekauft. Und den Lagebericht für den Vizegouverneur haben die eher auf dem Tisch als der Vizegouverneur selbst.“ 

    Zwar gibt es keine offene Hetze gegen das Portal, doch spüren die Journalisten der Freien, dass etwas in der Luft liegt. „Ich hab so ein Gefühl, vielleicht ist das schon Paranoia, dass sie etwas gegen uns vorbereiten“, sagt Iwanowa. „Da wird eine geschlossene Haltung aufgebaut, um dann einen einzigen gezielten Schlag zu setzen.“ 

    Seit Juli setzt sich die Redaktion wegen der Sperrung mit der Medienaufsicht und der Generalstaatsanwaltschaft vor Gericht auseinander. Ende Juni bekam die Chefredakteurin der Freien erstmals zu Hause Besuch. Zwei Vertreter der regionalen Medienaufsicht händigten ihr eine Aufforderung aus, ein Anzeigenprotokoll zu unterschreiben: Die Redaktion habe in einer ihrer Beiträge einen Wirtschaftswissenschaftler erwähnt und dabei nicht kenntlich gemacht, dass dieser als „ausländischen Agenten“ eingestuft wurde. 

    Lena ging darauf nicht ein. In der Redaktion waren sie überzeugt: Roskomnadsor will einen Prozess zum Entzug der Lizenz. Noch während dieser Artikel zur Veröffentlichung fertig gemacht wurde, ging es los. 

    Gleichzeitig versucht man die Redaktion dazu zu bringen, von selbst auf die Medienlizenz zu verzichten. Nach der Sperrung schickte Roskomnadsor einen Brief, in dem den Freien vorgeworfen wurde, sie würden auf der alten Webseite keine Nachrichten mehr veröffentlichen, obwohl sie doch als täglich erscheinendes Internetmedium registriert sind. Das ist aber nicht wahr: Jeden Tag erscheint dort etwas aus dem Ticker. 

    Im Gespräch mit der Chefredakteurin verlangte eine Mitarbeiterin von Roskomnadsor eine schriftliche Erklärung der Redaktion, dass das Portal auf der gesperrten Seite nichts mehr schreiben werde. 

    Wenn wir eine solche Erklärung einreichen, entziehen sie uns die Lizenz“, erläutert Marija. „Wir haben keinen Plan, was wir tun sollen, wenn das passiert. Die Stadt ist recht klein, der Freiraum noch enger, und wo willst du hin, wenn du keine Möglichkeit hast zu emigrieren? Mein Mann und ich haben das nicht mal in Erwägung gezogen. Auch viele Kollegen haben einfach kein Geld, aber sie müssen ihre Hypotheken bedienen. Die Ersparnisse würden gerade einmal zwei Monate reichen, um etwa in Tbilissi zu leben. Außerdem nutzt unsere Reputation hier in Saratow anscheinend gar nichts. Im Gegenteil: Einer unserer ehemaligen Kollegen hat auf der Suche nach einem neuen Job zum Beispiel eine Absage mit der Begründung erhalten, er habe in einem Team zusammen mit einem ‚ausländischen Agenten‘ gearbeitet.“ 

    Seit diesem Jahr werden den Freien keine Studenten mehr für Praktika zugeteilt. Die erzählen, was ihre Betreuer sagen: „Die Universität unterschreibt niemals einen Vertrag mit einer Organisation, die vom Staat blockiert wurde.“ 

    „Das ist das Alltägliche des Schreckens und des Bösen: Die Gesellschaft ist den Repressionen gegenüber tolerant.“

    Bekannte aus Saratow, die jetzt in Moskau lebten, stellten alle dieselbe Frage, erzählt Iwanowa: „Warum haben sie euch noch nicht eingebuchtet?“.  „Das heißt, sie sind uns nicht feindlich gesonnen, sondern sind nur ganz ehrlich verwundert. Das ist das Alltägliche des Schreckens und des Bösen: Die Gesellschaft ist den Repressionen gegenüber tolerant.“ 

    Gleichzeitig wirft ein Teil des Bekanntenkreises den Freien Selbstzensur vor: „Eine meiner Freundinnen redet nicht mehr mit mir, weil wir ‚nicht oppositionell genug‘ seien“, sagt Marija. „Ein anderer aber, der stark in der Öffentlichkeit stand und jetzt aus Saratow emigriert ist, postet in seinem Kanal unsere Berichte – natürlich, ohne uns als Quelle zu nennen – und ergänzt das, was wir zwar eh wissen, aber nicht schreiben können, solang wir in Russland sind. Am Ende fügt er sarkastisch hinzu, die Freien seien ja irgendwie unfrei!“.

    Von den Mitarbeitern ist bislang keiner ins Ausland gegangen. „In einer Redaktion zusammenzuarbeiten ist ein großes Privileg“, findet Marija. „Du kannst jemandem einen Kaffee bringen, mit jemandem quatschen, jemanden umarmen. Weil es in letzter Zeit immer schwerer wird, sich zu erklären, was das Ganze soll.“  

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  • „Natürlich habe ich Angst, vor allem um meine Kinder“

    „Natürlich habe ich Angst, vor allem um meine Kinder“

    Jekaterina ist 50 Jahre alt und Mutter von sechs Kindern. Bis zum 24. Februar 2022 hat Politik in ihrem Leben keine Rolle gespielt. So wie bei den meisten Menschen in Russland, die gelernt haben, die Politik dem Kreml zu überlassen. Jekaterina studierte Psychologie und Pädagogik und kümmerte sich um ihre Kinder. Doch mit dem offenen Überfall auf die Ukraine änderte sich ihr Bild von der Welt grundlegend. Seitdem veranstaltet sie regelmäßig Protestaktionen. Auch wenn sie nicht viel bewirken – als gläubige Christin will sie nicht schweigen. Sogar in ihrer Gemeinde hat sie einige Gleichgesinnte gefunden. Nadezhda Beliakova und Kirill Emelianov haben Jekaterina für das Portal Christen gegen den Krieg interviewt – und zu ihrem Schutz auch ihren Namen geändert.

    Blumen am Solowezki-Stein niederzulegen, ist eine der wenigen Möglichkeiten, seine Haltung zum aktuellen Regime auszudrücken. Der Findling steht vor der Zentrale des Geheimdienstes in Moskau und erinnert an die Opfer des Totalitarismus / Foto © shaltnotkill.info

    Christen gegen den Krieg: Wann sind Sie erstmals öffentlich aktiv geworden? 

    Ich bin nie politisch aktiv gewesen. Ich habe studiert, dann habe ich gearbeitet. Nach zehn Jahren Ehe, nach vielen vergeblichen Versuchen, ein Kind zu bekommen, kam unser erstes Kind zur Welt. Drei Jahre später kam das zweite. Und dann im Abstand von jeweils einem Jahr zwei weitere, schließlich die Zwillinge … Ich war rundum mit der Familie beschäftigt und habe bis zum 24. Februar 2022 gedacht, dass alles in dieser Welt ohne mich entschieden wird. Ich war ehrlich der Ansicht, dass wir im 21. Jahrhundert leben und die Menschen human sind. Dass man sich mit Worten streiten, sich missverstehen kann, und dennoch niemals diese Grenze überschreitet, nämlich einen Angriff auf einen Nachbarstaat zu unternehmen. Und ich hatte gehofft, dass in der Politik die dort Verantwortlichen entscheiden und ich einfach gute Kinder großziehe, für unsere Zukunft. Jetzt erscheint mir das fast lächerlich, so zu reden. Aber bis zum Mittag des 24. Februar konnte ich nicht glauben, dass so etwas überhaupt möglich ist! Ich versuchte allen – vor allem mir selbst – einzureden, dass das manipulierte Videos sind, dass das Fake ist und einfach nicht wahr sein kann … Es war niederschmetternd für mich, für meine Weltsicht. Ich konnte einfach nicht glauben, das so etwas möglich ist. Ich setzte mich an den Computer und schaute nach … Ich fand die Orte, die beschossen wurden. Und ich fand Videos von dort vor dem Angriff. Ich verglich sie mit den aktuellen Bildern … und mir wurde schließlich klar: Die Videos waren keine Montage.

    Und schon am Abend des 24. Februar nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben an einer Protestaktion teil. Obwohl wir (die Protestierenden) recht schnell eingesammelt und in einen Gefangenentransporter gesteckt wurden, waren wir absolut glücklich. Wir waren überzeugt, dass sich nach uns das gesamte riesige Land erheben würde, dass dieser Irrsinn, der Krieg, beendet wird. Unser Transporter war bis zum Anschlag gefüllt – und er war bei Weitem nicht der einzige. Doch alle waren gehobener Stimmung und überzeugt, dass uns viele andere folgen würden. Während wir zum Polizeirevier fuhren, sangen wir Lieder, scherzten und freuten uns, dass wir zusammen sind und nicht allein.

    Wie lang hielt diese Euphorie an?

    Ja, Euphorie ist wohl das richtige Wort. Weil einfach niemand damals begriff, was vor sich geht. Von da an ging ich jeden Tag zu den Protesten, die immer um sieben Uhr abends stattfanden. In Telegram-Kanälen wurden ständig wechselnde Routen vorgeschlagen, damit die Polizeistreifen es nicht schaffen, rechtzeitig vor Ort zu sein.

    Die einen haben Briefe gegen den Krieg geschrieben oder unterschrieben, andere trugen Antikriegssymbole – weiße Tauben oder Buttons. Warum wollten Sie sich ausgerechnet an Straßenaktionen beteiligen?

    Ich trage seit dem 24. Februar Antikriegssymbole. Das ist sozusagen meine Erfindung, die „wandelnde Mahnwache“. Am Rucksack habe ich eindeutige Symbole befestigt, die nicht misszuverstehen sind: Bändchen, Buttons, Friedenszeichen. Gerade baumelt da auch eine Nawalny-Ente. Und ein Button mit dem durchgestrichenen Wort FREIHEIT. Es gab auch noch gewagtere: das durchgestrichene Wort „Krieg“. Wegen dieses Zeichens wurde ich dann auch festgenommen und der Diskreditierung der Streitkräfte Russlands beschuldigt. Dann noch die Aufschrift „Ich bin für Frieden“. Mit der bin eine ganze Weile rumgelaufen. Doch schließlich haben sie mich festgenommen und mir noch eine „Diskreditierung“ aufgebrummt. Mit diesen Zeichen und Symbolen bin ich auf den Roten Platz gegangen, auf den Manegenplatz, über die Twerskaja, in den Sarjadje-Park. Und ich sah, dass die Leute auf die Symbole reagieren. Einige kamen näher und gaben mir mit ihrer Mimik oder mit Gesten zu verstehen, dass sie das gut finden und unterstützen. Insgesamt gab es sehr viele positive Reaktionen. Und ich trage diese Symbole bis heute.

    Kann man Sie als christliche Aktivistin bezeichnen? Kann man sagen, dass Ihre Haltung auf Ihren christlichen Überzeugungen beruht? 

    Ja, unbedingt. Eine der Mahnwachen fand vor der Christ-Erlöser-Kathedrale statt, mit dem Plakat: „Gewöhnt euch nicht an den Krieg!“. Ich bin mit diesem Plakat eigens zur Kathedrale gekommen, weil es mir sehr wichtig war zu versuchen, wenigstens einige ein bisschen wachzurütteln, damit sie, wenn sie die Kathedrale besuchen, ins Nachdenken kommen.

    Kam jemand auf Sie zu? Gab es Reaktionen?

    Ich habe dort eigentlich nur acht Minuten gestanden. Sie haben mich recht schnell festgenommen. Aber wissen Sie, in diesen acht Minuten gab es doch einige Kontakte. Obwohl die Leute Angst hatten, zu mir zu kommen. Sie zeigten Ihre Solidarität aus der Distanz. Zwei auf einem E-Scooter – ein junger Kerl und seine Freundin – hielten an, machten das Victory-Zeichen, lächelten und winkten. Die Leute, die in die Kathedrale gingen, hielten inne, kamen aber leider nicht zu mir her. Darauf hatte ich da auch schon nicht mehr gehofft. Ich wollte nur, dass irgendwer vielleicht doch ins Grübeln kommt, dass wenigstens ein Samen gesät wird.

    Und was denkt man in Ihrer Gemeinde, in Ihrer Kirche über Ihre Aktionen? Gehen Sie immer in dieselbe Kirche, oder in unterschiedliche? 

    Wir gehen mit der ganzen Familie seit 17 Jahren in dieselbe Kirche. Ich fing an, dort hinzugehen, als ich schwanger war. Die Kirche war damals gerade erst gebaut worden, nicht weit von unserem Haus. Nach dem 24. Februar habe ich in der Sonntagsschule sofort allen freudig berichtet, dass ich bei der Mahnwache war und festgenommen wurde. Und was war ich schockiert darüber, wie negativ  das aufgenommen wurde! Die Lehrer und der Direktor der Sonntagsschule zeigten ganz deutlich ihre kategorische Ablehnung.

    Wie haben sie denn argumentiert? Gab es eine inhaltliche Diskussion? 

    Ich weiß nicht, ob man das eine Diskussion nennen kann? Sie reden nur von „acht Jahren im Donbass“, von gekreuzigten Jungen … Und so geht es bis heute weiter; leider hat sich in diesen zweieinhalb Jahren nichts geändert. Gleichzeitig hat sich in der Gemeinde eine Gruppe gebildet, wobei sich die Leute erst gewissermaßen „abgetastet“ und sich dann zusammengefunden haben. Das ist eine Gruppe von Kirchgängern, die kategorisch gegen den Krieg sind. Wir treffen uns und beten zusammen. Wir lieben unsere Gemeindemitglieder, unsere Gemeindepriester. Wir sind traurig und beten für sie; wir hoffen, dass ihnen die Augen geöffnet werden.

    Ist das eine große Gruppe?

    Nein, sie ist ganz klein, vier Leute. Aber wenn man die Kinder mitzählt, sind es sehr viel mehr. Eine Frau hat fünf Kinder, eine andere drei und noch eine zwei. Es sind nämlich alles Mütter. Und es war ein interessanter Prozess, wie wir einander „abtasteten“. Wir haben uns nicht sofort einander offenbart, wir waren uns nicht sofort im Klaren, dass wir auf der gleichen Seite stehen. Nachdem ich mir an der extrem negativen Haltung der Lehrer der Sonntagsschule die Finger verbrannt hatte, hatte ich Angst bekommen, dass mich auch andere enttäuschen würden. Deswegen tastete ich mich da ganz behutsam vor. Sehr vorsichtig. Und schließlich stellte sich heraus: Es gibt sie! Es gibt doch Leute, die den Krieg ebenfalls kategorisch ablehnen. Besonders deutlich wurde das beim ersten Osterfest nach Kriegsbeginn, als ich sah, wie die Leute ihre Kulitsche gestaltet hatten: Bei einigen war die Dekoration gelb-blau und einige Eier waren ebenfalls in dieser Weise gefärbt. Was für eine Freude! Ich habe es nicht geschafft, irgendwie zu reagieren. Ich hätte so gern mit diesen Leuten gesprochen. Aber ich wusste ja nicht, von wem welcher Kulitsch oder welcher Eierkorb kam! Jedes Mal, wenn du in blau und gelb geschmückte Oster-Gaben siehst, wird dir klar, dass du nicht allein bist. Ich kann kaum beschreiben, wie wichtig dieses Gefühl ist!
     

    Symbole für und gegen Krieg: Das orange-schwarze Sankt-Georgs-Band ist seit 2014 Erkennungszeichen russischer Militaristen. Die gelbe Badeente war ironisches Symbol in Alexej Nawalnys Wahlkampf 2018 / Foto © Shaltnotkill.info

    Zurück zu Ihren Protestaktivitäten. Sind Sie jedes Mal, wenn Sie auf Demonstrationen oder zu Mahnwachen auf die Straße gingen, festgenommen worden? 

    Nein, natürlich nicht. Es haben ja viele protestiert, die konnten unmöglich alle eingesammelt werden. Meine zweite Festnahme war am 6. März. Und am 13. März wurde ich zum ersten Mal mit Hilfe von Sfera in der Metro festgenommen. Da wurde klar, dass ich bereits auf irgendwelchen Listen stehe, von Personen, die regelmäßig an Protesten teilnehmen. Bis zum 21. September 2022 sind gegen mich acht Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten eröffnet worden. Darüber hinaus wurde ich drei Mal aufgrund von Sfera in der Metro festgenommen.

    Was passierte mit Ihnen nach den Festnahmen in der Metro? Gab es Verhöre, Anzeigen? Ließ man Sie einfach gehen?

    Unterschiedlich. Einmal ließen sie mich einfach gehen. Ein anderes Mal brachten sie mich aufs Revier und bedrängten mich lange mit Fragen. Sie wollten meine Fingerabdrücke nehmen und mich moralisch unter Druck zu setzen. Das dritte Mal hielten sie mich vier Stunden fest, zwei in der Metro und zwei auf dem Revier.

    Und was war währenddessen mit Ihren Kindern?

    Die Kinder sind meine verwundbare Stelle, und die Polizei weiß das genau! Gerade da können sie ihren Druck ansetzen. Jedes Mal, wenn ich [zu Protesten] aufgebrochen bin, hatte ich alles bis ins Detail durchgeplant. Jedes Mal waren mein Mann und die Oma (meine Mutter) zu Hause. Und im Kühlschrank standen Töpfe mit Essen. Die Schuluniformen der Kinder waren gebügelt und die Zimmer perfekt aufgeräumt. Sie drohten mehrfach mit dem Jugendamt und einer Pflegschaft. Ich habe alles so eingerichtet, dass sie [die Leute vom Jugendamt], wenn sie doch auftauchen sollten, ein ideales Zuhause vorfinden würden: ideale Kinder, die Hausaufgaben gemacht, der Kühlschrank gut gefüllt … Deshalb war ich, wenn beim Verhör das Thema auf meine Kinder kam und die Drohungen mit Entzug des Sorgerechts losgingen, gut vorbereitet: Kommen Sie nur, Sie werden erwartet! Von der Oma, meinem Mann, den Kindern … Das heißt, ich habe jede Mahnwache vorher intensiv zu Hause vorbereitet. Einmal war es so, dass einer unserer Freunde zu uns kam. Er hatte zufällig bei OWD-Info meinen Namen gelesen und dann meinen Mann angerufen, weil er wissen wollte, ob das stimmt. Er blieb dann bei den Kindern, während mein Mann zu mir aufs Revier fuhr. Unser Freund half der Oma dann, die Kinder ins Bett zu bringen, kam mit dem Auto zum Revier und wartete mit meinem Mann bis Mitternacht, bis mich die Polizei frei ließ.

    Ihre Verwandten unterstützen Sie also. Teilen sie Ihre Einstellung zum Krieg? 

    Meine Mutter steht felsenfest hinter Putin. Nach dem Tod meines Vaters haben wir sie zu uns genommen. Sie hat außer mir niemand mehr. Um die ohnehin angespannte Lage nicht noch weiter zuzuspitzen, reden wir nicht über Themen rund um den Krieg. Wenn ich in die Küche komme, schaltet sie das Radio einfach aus.

    Ihre Kinder hören wahrscheinlich auch Radio? Oder gibt es eine Abmachung, dass das Radio nur ohne Kinder läuft?

    Die Kinder sind ganz auf meiner Seite. Wenn sie in die Küche kommen, schalten sie sofort auf den Kinderkanal um. „Wenn wir in die Küche gehen“, erzählen sie mir, „sagen wir: Oma, Oma, es gibt jetzt ein super interessantes Märchen auf dem Kinderkanal. Wir schalten jetzt um, OK?“ Und sie schalten um, obwohl doch klar ist, dass sie längst aus dem Alter raus sind, in dem sie den Kinderkanal gehört haben. Einerseits kämpfen sie für reine Luft „in einer Wohnung“ [im Original eine Anspielung auf „Sozialismus in einem Land“ – dek]. Andererseits vermeiden alle Streit. Manchmal fragen sie: „Mama, wie kann Oma das alles nur glauben?“. Sie lieben ihre Oma, sie tut ihnen leid, sie finden, dass sie getäuscht wurde. Dass unsere gute, liebe Oma einfach getäuscht wurde. Und deswegen wollen sie nicht, dass sie weiterhin diese Lügen hört. Es war übrigens ihre Idee, diese Tricks mit dem Radio zu veranstalten. Ich habe sie zu nichts aufgefordert. Und dafür haben sie meine Hochachtung, dass sie einen wirklich sehr menschlichen Weg gefunden haben, der Lüge entgegenzutreten.

    Ihr Mann ist solidarisch mit Ihnen?

    Mein Mann ist einer von den „Uneindeutigen“. Wissen Sie, einer von denen, die oft sagen: „Krieg ist natürlich etwas Schlechtes, das ist schrecklich, aber alles ist nicht so eindeutig …“ Einerseits sieht er meine kategorische Haltung und meine Unbeugsamkeit, und er versucht, das zu akzeptieren. Andererseits, wenn wir dann doch mal darüber reden, dann gerät er wieder in die eingefahrene Spur, nach dem Motto: „Ja, Krieg ist schon schlecht, aber dir ist ja wohl klar, dass wir provoziert wurden. Es stimmt zwar, dass wir angefangen haben. Aber andernfalls hätten sie uns doch angegriffen …“ Er ist gegen die Luftangriffe, gegen eine Konfrontation; er ist für Verhandlungen. Ich dagegen bin für einen vollständigen Sieg der anderen Seite! Manchmal scheint mir, dass er eher auf der anderen Seite steht. Für ihn ist die NATO ein Feind, Amerika ist ein Feind … Putin hat er aber nie gemocht. Na immerhin.

    Hat dieser Krieg die Haltung Ihrer Familie zu Putin verändert? 

    Das kann man eigentlich nicht sagen: Mein Mann hat ihn nie gemocht, meine Mutter hingegen fand ihn immer gut.

    Haben Sie sich vor dem Krieg an Protestbewegungen beteiligt? Etwa an Nawalnys Bewegung gegen Korruption, oder haben Sie vielleicht an Protesten im Zusammenhang mit der Ermordung Nemzows teilgenommen?

    Es ist mir peinlich …, peinlich, das zu sagen, aber ich … ich habe mich ausschließlich um die Kinder gekümmert.

    Warum ist Ihnen das peinlich?

    Ich schäme mich vor mir selbst, weil ich nichts gesehen, nichts gemerkt habe. Schließlich hat der Krieg ja nicht aus dem Nichts begonnen. Und jetzt fragen mich viele, wo ich denn eigentlich früher war? Früher habe ich in einer Idealwelt gelebt.

    Haben Sie keine Angst, hinter Gittern zu landen? Sie haben in Gefangenentransportern gesessen, wurden auf dem Polizeirevier festgehalten. Haben Sie keine Angst vor dem russischen Gefängnis? 

    Natürlich habe ich Angst, aber längst nicht in dem Maße, wie ich Angst um meine Kinder habe. Es gab einen Augenblick, während einer der Festnahmen, da dachte ich, dass sie mich diesmal nicht wieder frei lassen. Das dauerte nur zwei Stunden. Aber ich dachte: Das war’s jetzt! Ich erinnere mich genau an meinen Zustand in diesen zwei Stunden, wenn man an die Kinder denkt. Als das Schloss der Zellentür eingerastet war und ich auf dem Boden lag und mit aller Kraft versuchte, Gedanken an die Kinder zu vermeiden, daran, was mit ihnen passieren wird. Weil mir ganz schrecklich zumute war: Was wird aus ihnen, wer wird ihnen bei den Schulaufgaben helfen, wer bringt sie zu den AGs, wer wird sie in ihrer Entwicklung fördern, und vor allem – wer wird sie vor der Propaganda schützen?

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    Lubjanka

  • Wie Russland den Krieg verdrängt

    Wie Russland den Krieg verdrängt

    Seit Wladimir Putin im Februar 2022 den Befehl zum Überfall auf die Ukraine gegeben hat, beschäftigt Beobachter im In- und Ausland eine Frage: Wie stehen die Menschen in Russland zu diesem Krieg? Umfragen haben in einer Diktatur nur begrenzte Aussagekraft. Nur sehr wenige sind überhaupt bereit, daran teilzunehmen. Und wenn für Kritik am Krieg hohe Strafen drohen, trauen sich viele Befragte nicht, ihre Ansichten frei zu äußern.

    Eine Gruppe engagierter Sozialforscherinnen und Sozialforscher aus Russland hat sich bereits 2011 zum Public Sociology Laboratory (PS Lab) zusammengeschlossen. Weil Umfragen nur unbefriedigende Antworten zur Haltung der Russen zum Krieg geben konnten, versuchten sie einen anderen Ansatz: Die Methode der teilnehmenden Beobachtung geht auf den polnischen Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski zurück, der Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Monate auf den Trobriand-Inseln in der Südsee verbrachte, am Leben der Bewohner teilnahm und deren Gesellschaft in seinem Buch Argonauten des westlichen Pazifik beschrieb. Das Werk wurde zu einem Klassiker der Sozialanthropologie. Andere Forschende entwickelten die Methode der teilnehmenden Beobachtung weiter und wandten sie auch auf die eigenen Gesellschaften an.

    Im Sommer 2023 verbrachten Forscherinnen des PS Lab jeweils einen Monat in einer russischen Kleinstadt und führten ein wissenschaftliches Tagebuch über ihre Beobachtungen. Das Portal Re:Russia veröffentlicht die Beobachtungen aus einem Ort in der Oblast Swerdlowsk. In ihrem Feldtagebuch stellt die Beobachterin nüchtern fest: Jemand, der am 23. Februar 2022 eingeschlafen wäre und in Tscherjomuschkin im Herbst 2023 aufwachte, müsste sich ordentlich Mühe geben, um überhaupt zu merken, dass das Land sich im Krieg befindet.

    PARALLELES TSCHERJOMUSCHKIN. Gegenwart UND Abwesenheit DES KRIEGES IN EINER RUSSISCHEN PROVINZSTADT

    Über diesen Text

    Zu Beginn des Krieges war die wichtigste Frage für Experten, Politiker und Russen generell die nach den Merkmalen der Unterstützung für den Krieg: Wer unterstützt den Krieg, warum, und welchen Anteil machen diese Menschen an der Gesamtbevölkerung aus? Zwei Jahre später sind viele Bewohner Russlands unmittelbar vom Krieg betroffen. Weil sie an die Front müssen, Angehörige verlieren oder in grenznahen Gebieten Opfer von Beschuss werden. Derweil gewöhnen sich die Gesellschaft und die Wirtschaft an die Kriegswirklichkeit und passen sich an. Für Experten, Analytiker und das interessierte Publikum stellt sich damit eine neue Frage: Nehmen die Bewohner Russlands die Auswirkungen des Krieges auf ihr alltägliches Leben überhaupt wahr? Passen sie sich an das Geschehen an, und wenn ja, wie? Worüber freuen sie sich, womit sind sie unzufrieden?

    Umfragen und formalisierte Interviews allein sind nicht geeignet, die Frage zu beantworten, wie die Russen in dieser neuen Realität leben, von der der Krieg ein untrennbarer Teil ist. Dazu ist ein besonderer Forschungsansatz vonnöten, nämlich eine systematische teilnehmende Beobachtung. Wir wissen, dass Menschen brisante Themen untereinander ganz anders besprechen, als sie es Soziologen, also Fremden gegenüber tun würden. Trotz der vielen Risiken, die heute in Russland mit einem solchen Ansatz verbunden sind, war das Team von PS Lab mit seinem Projekt erfolgreich: Im Herbst 2023 fuhren die Mitglieder des Teams in drei russische Regionen – in die Swerdlowsker Oblast, in die Republik Burjatien und in die Region Krasnodar – und verbrachten dort jeweils einen Monat.

    Während ihrer ethnografischen Studien nahmen unsere Forscherinnen neben den Tiefeninterviews auch den öffentlichen Raum in den Städten in den Blick, und notierten, wie der Krieg sich dort niederschlägt. Sie besuchten öffentliche Veranstaltungen zum Krieg und zu patriotischen Themen, sprachen mit Taxifahrern, Verkäufern, Barmännern und mit Mitarbeiterinnen von Nagelstudios. Dabei fragten sie unschuldig, wie sich die „militärische Spezialoperation“ (russ. SWO) auf das Leben in der Stadt auswirke. Unmittelbar nach diesen Gesprächen hielten sie deren Inhalt sowie ihre Beobachtungen in ethnografischen Tagebüchern fest. Dadurch konnten neben den 75 Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern dieser drei Regionen 698 Seiten (rund 330.000 Wörter) detaillierter Beobachtungen zum Alltag in Kriegszeiten und aus Gesprächen über den Krieg festgehalten werden, die in einer Atmosphäre stattfanden, die nicht durch eine Interview-Situation verfälscht wurde.

    In diesem Beitrag veröffentlichen wir eine Analyse der Daten, die auf einer dieser Reisen erhoben wurden. Die Stadt Tscherjomuschkin, von der die Rede sein wird, sucht man auf der Karte der Swerdlowsker Oblast vergebens. Der Name ist erfunden, doch die Stadt, die sich dahinter verbirgt, ist real. Auch alle anderen Namen in diesem Text wurden geändert.

    Irgendwo im Ural: Eine Stadtlandschaft zu Kriegszeiten

    Die Swerdlowsker Oblast gehört zu den zehn industriell am stärksten entwickelten Regionen Russlands. Jekaterinburg ist die viertgrößte Stadt des Landes, die Oblast ist mit 4,2 Millionen Einwohnern die fünftgrößte Region Russlands, wobei 86 Prozent der Bevölkerung in Städten leben. Den Daten der Statistikbehörde Rosstat zufolge betrug 2023 das mittlere Einkommen 53.300 Rubel [derzeit knapp 560 Euro], es liegt damit leicht über dem russischen Durchschnitt von 51.300 Rubel [535 Euro]. Der Anstieg des Realeinkommens betrug gegenüber dem Vorjahr 6,5 Prozent und war damit höher als in ganz Russland (5,6 Prozent).

    Die Stadt Tscherjomuschkin gibt es nicht. Die Forschenden haben sich den Namen ausgedacht, um sich und ihre Gesprächspartner zu schützen. Die Bilder zu diesem Text wurden in anderen russischen Kleinstädten aufgenommen / Foto © Mikhail Sinitsyn/Imago/Itar-Tass

    Einer Recherche von Washnyje istorii und dem Conflict Intelligence Team zufolge liegt der Anteil der Männer, die in die Armee einberufen wurden, in der Swerdlowsker Oblast mit rund 10.000 Personen etwa im russischen Durchschnitt. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums haben 12.500 Einwohner der Oblast 2023 einen Vertrag über einen Einsatz im Krieg gegen die Ukraine abgeschlossen; bis April 2024 waren es weitere 2500. Wer einen solchen Vertrag unterschrieb, bekam von der Oblastverwaltung einmalig 100.000 Rubel [etwas mehr als 1000 Euro] ausbezahlt. Ab Juni 2024 wurde diese Summe auf 400.000 Rubel [knapp 4200 Euro] erhöht, wie regionale Medien berichteten.

    Die Zahl der bestätigten Toten durch den Krieg liegt (nach Angaben eines Projektes von BBC und Mediazona) bei 1820. Damit rangiert die Region in Russland ganz oben, was zum Teil auf ihre hohe Bevölkerungszahl zurückzuführen ist (2,9 Prozent der russischen Gesamtbevölkerung). Auf die Region entfallen 3,4 Prozent aller bestätigten Toten.

    Auf dem Gebiet der heutigen Swerdlowsker Oblast befanden sich bereits Anfang des 18. Jahrhunderts die wichtigsten Bergbauunternehmen Russlands. Rund um diese Industrieunternehmen entwickelten sich Siedlungen und in weiterer Folge Städte. In einigen Industriestädten der Uralregion hat der Krieg beträchtliche Auswirkungen auf die Wirtschaft: Produktionsstätten, die sich in den vergangenen Jahren im Niedergang befanden, sind nun auf Kriegswirtschaft umgestellt worden. Die Nachfrage schnellte in die Höhe, die Löhne stiegen, was Fachkräfte aus ganz Russland anlockte.

    In Tscherjomuschkin, wo wir die Studie durchführten, ist all das jedoch ausgeblieben. Das stadtbildende Unternehmen ist bereits in den 1990er Jahren geschlossen worden. Tscherjomuschkin hat rund 12.000 Einwohner. Ein beträchtlicher Teil ist im öffentlichen Dienst angestellt und bekommt bescheidene Gehälter. Als vergleichsweise einträglich gilt eine Beschäftigung in der Zellulosefabrik. Nach Kriegsbeginn und Verhängung der Sanktionen brachen jedoch nach Aussagen unserer Gesprächspartner die Geschäfte in diesem Bereich ein, weil vorwiegend für den Export produziert worden war. Eine Fahrstunde von Tscherjomuschkin entfernt liegt eine recht große Strafkolonie. Einige Einwohner der Stadt arbeiten entweder selbst dort oder kennen Mitarbeiter oder Häftlinge persönlich. Sie wissen, was sich in der „Zone“ tut. Nachrichten über die Anwerbung von Häftlingen sind für viele Bewohner der Stadt nichts Besonderes.

    Laut Aussage der Einwohner ist Tscherjomuschkin nach regionalen Maßstäben ziemlich arm. In vielen Häusern gibt es keine zentralisierte Versorgung mit Wasser und Gas. Das Verlegen einer Wasserleitung kostet rund 100.000 Rubel [etwa 1000 Euro], was für viele unerschwinglich ist. Unsere Feldforscherin, die rund einen Monat in der Stadt verbrachte, hatte den Eindruck, dass Tscherjomuschkin der Gebäudestruktur, den Alltagsbedingungen und der sozialen Organisation nach stellenweise an ein großes Dorf erinnert.

    In der Stadt gibt es das klassische Repertoire von Orten und Einrichtungen, die in fast jeder russischen Stadt dieser Größe zu finden sind: einen zentralen Platz, ein Haus der Kultur, ein Museum, eine Kirche, einige Verwaltungsgebäude, Schulen und Kindergärten. In Tscherjomuschkin gibt es mehrere Cafés, Lebensmittel- und Haushaltswarengeschäfte, Apotheken und Schönheitssalons. Trotz ihrer geringen Größe kann man nicht sagen, dass die Stadt von der Welt abgeschnitten wäre: Es kommen recht oft Touristen hierher, die im Ural umherreisen.

    Stellt man sich jemanden vor, der in Tscherjomuschkin am 23. Februar 2022 einschläft und im Herbst 2023 aufwacht, würde dieser schwerlich merken, dass seit über anderthalb Jahren Krieg herrscht. Unsere Feldforscherin hat in den Wochen, die sie kreuz und quer durch die Stadt lief, nur selten Symbole entdeckt, die auf den militärischen Konflikt hinweisen: zwei, drei Autos mit Z-Aufklebern und patriotischen Parolen, zwei verblichene Flaggen an der Fassade des Hotels (eine mit einem Z, eine in den Farben des Georgsbandes), die aber kaum zu sehen sind. In der Stadt waren keine Werbetafeln für einen Dienst als Vertragssoldat und keine einschlägigen Symbole an den Türen staatlicher Einrichtungen zu sehen.

    Nach Aussage der Unternehmerin Tonja, die mit den Ereignissen in ihrer Stadt gut vertraut ist, sind in Tscherjomuschkin sichtbare Hinweise auf den Krieg im Laufe des letzten Jahres fast vollkommen verschwunden. Die Leute haben die Aufkleber von ihren Autos entfernt. Verabschiedungen von Soldaten, die an die Front fuhren, Begräbnisse und Trauerfeiern für Gefallene, die früher Aufmerksamkeit erregten, ziehen kein unbeteiligtes Publikum mehr an. Die Leute in der Stadt unterhalten sich seltener über den Krieg.

    Jemand hat das Wort „Wozu?“ an die Fassade eines Plattenbaus gesprüht / Foto © Mikhail Sinitsyn/Imago/Itar-Tass

    In Tscherjomuschkin gibt es praktisch keinen öffentlichen Raum. Das Café Ulybka (dt. Lächeln) ist wohl der einzige Ort dieser Art. Unsere Feldforscherin besuchte es täglich, um dort zu Mittag zu essen, am Notebook zu arbeiten oder sich mit Informanten zu treffen. Sie versuchte zwar nach Kräften mitzuhören, worüber an den Nachbartischen gesprochen wurde, bekam jedoch nur einmal Gespräche über den Krieg mit. Eine Gruppe von acht, neun festlich gekleideten Männern und Frauen hatte sich dort tagsüber getroffen, etwa 50 bis 55 Jahre alt. Wie sich später herausstellte, handelte es sich wohl um ein Klassentreffen.

    Als die Musik mal leiser wird, kann ich einen Trinkspruch verstehen: „Also – auf den Sieg!“, sagt eine der Frauen. Die anderen stimmen ein: „Auf den Sieg!“, „Auf den Sieg!“ Das Klirren der Gläser verklingt, eine andere Frauenstimme ist zu hören: „Und wann kommt er endlich, unser Sieg?“ Die Frage geht an einen großgewachsenen, schwergewichtigen Mann mit tiefer Stimme. Von seiner Antwort verstehe ich nur einzelne Worte: „Polen“, „Faschisten“, „NATO“. Nach dem Monolog erfolgt die Reaktion der Frau: „Ah, das heißt also, dass es noch lange dauern wird …“ Eine andere Frau schaltet sich in das Gespräch ein: „Als ich jung war, dachte ich immer: Wie schade, dass ich nicht während des Zweiten Weltkriegs gelebt habe – wie gern hätte ich eine Heldentat vollbracht! Jetzt denke ich: Was war ich doch für eine Idiotin! Jetzt weiß ich, dass ich das sicher nicht könnte.“ Wieder ist die Antwort des Mannes nicht zu verstehen. Nur, dass es jetzt um Prigoshin geht. Etwa zehn Minuten nach dem Toast „auf den Sieg“ wechselt das Gespräch zu Alltagsthemen; über Politik und den Krieg wird nicht mehr gesprochen.
    Ethnografisches Notizbuch, August 2023

    Es ist nur schwer abzuschätzen, inwieweit der beschriebene Fall exemplarisch ist. Möglicherweise wurde das Thema nur deshalb aufgegriffen und von einer ritualisierten Oberflächlichkeit auf eine konkretere Ebene verschoben („Und wann kommt er endlich, unser Sieg?“), weil am Tisch ein „Experte“ saß. Später stellte sich heraus, dass der Mann ein pensionierter Mitarbeiter des FSB war. Bezeichnend ist, dass das Thema Krieg mit Leichtigkeit aufgegriffen wurde und bei den Anwesenden zu keiner Anspannung führte. Genauso leicht wurde es aber auch fallengelassen, da es kein besonderes Interesse hervorrief und im Alltagsgeplauder versank.

    Während es praktisch keinen öffentlichen Raum in der Stadt gibt, wird die Seite eines lokalen Mediums auf Social Media rege zum Austausch genutzt. Wie Informanten berichten, haben sich die Menschen dort in der ersten Zeit nach Kriegsbeginn geäußert und über den Krieg diskutiert. Mit der Zeit allerdings wurden „unliebsame“ Kommentare und Posts (mitunter zusammen mit den Verfassern) schnell aus den Chats entfernt, wohl von einer Beamtin mit Administratoren-Status.

    Alewtina Nikiforowna, eine Rentnerin, die sich mit Putzen und als Haushaltshilfe ihr Einkommen aufbessert und zu unserer Feldforscherin Vertrauen fasste, erklärte, dass auf kritische Kommentare zum Krieg „losgegangen“ wurde. Die Verfasser wurden mit den üblichen Beleidigungen überschüttet (Ukrop). Außerdem erhielt ein Einwohner von Tscherjomuschkin eine nach örtlichen Maßstäben empfindliche Geldstrafe, weil er ein Video mit Anti-Kriegs-Botschaften geteilt hatte. Diese Nachricht sprach sich herum (die Soziologin hörte von mehreren Seiten davon), woraufhin die Bewohner der Stadt keine Kommentare oder Reaktionen auf Nachrichten mehr in den sozialen Netzwerken hinterließen.

    Andacht, Festzelt, Konzert. Öffentliche Veranstaltungen und institutionelle Unterstützung des Krieges

    In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn und später, nach Verkündung der Mobilmachung im Herbst 2022, wurden in Tscherjomuschkin „patriotische“ und „Freiwilligen“-Veranstaltungen abgehalten, die der Heroisierung der „militärischen Spezialoperation“ (russ. SWO) und der Hilfe für die Front dienen sollten. Frisch eingezogene Soldaten wurden feierlich verabschiedet, für Bewohner der Stadt, die im Krieg gefallen waren, wurden öffentliche Beisetzungsfeiern abgehalten, das örtliche Museum veranstaltete Sammlungen, gemeinsam wurden Tarnnetze geknüpft und so weiter. Nach Aussagen von Informanten hat die Intensität dieser Veranstaltungen im Laufe des Jahres nachgelassen. Während unsere Feldforscherin in der Stadt war, konnten sich ihre Gesprächspartner an kein öffentliches Event aus den vergangenen Monaten erinnern, das mit dem Krieg zusammenhing.

    In Tscherjomuschkin gibt es keine Organisationen, die mit dem Krieg zu tun haben und permanent aktiv sind – weder Freiwilligenverbände, noch Zentren zur patriotischen Erziehung oder Spendensammelstellen für die Front. Gesellschaftliches Engagement kann sich nur auf der Basis bestehender Plattformen entfalten – des Kulturhauses, des Heimatkundemuseums, der Bibliothek, der Kirche, der Schule. Meist steht und fällt es mit dem Engagement Einzelner. So wurde der Soziologin zum Beispiel von einer Sammlung von Hilfsgütern für die Front berichtet, die der Museumsdirektor Pjotr Iwanowitsch organisiert habe. Als die Feldforscherin dort vorbeischaute, war von einer Sammlung nichts mehr zu sehen. Und im Interview erwähnte der Direktor die Sammlung mit keinem Wort.

    Von Ljubow Wassiljewna, einer Rentnerin, die in der Stadt häufig Veranstaltungen besucht, erfuhr unsere Feldforscherin, dass zu Beginn des Krieges das städtische Amt für Kultur- und Jugendpolitik halb freiwillige, halb erzwungene Spenden für die Front gesammelt habe: „Die von der ‚Kultur‘ sagten […]: Gebt so viel, wie ihr könnt“. Sie sprach über diese Initiative ohne Begeisterung und wie über etwas, das nicht mehr aktuell ist.

    Angesichts des allgemein gesunkenen Interesses am Krieg stach ein Bewohner der Stadt deutlich hervor, nämlich der Priester der örtlichen Kirche, Vater Konstantin. Er war vor kurzem an der Front gewesen, wo er Totenmessen abhielt und Soldaten segnete. In Tscherjomuschkin organisiert Vater Konstantin regelmäßig sogenannte Kriegerandachten. Entgegen den Erwartungen, ein Priester würde religiös argumentieren, sprach er gegenüber unserer Soziologin in weltlichen Worten und verwendete Klischees, die man aus dem Fernsehen kennt. So sprach er ernsthaft von den Gefahren durch „ausländische Agenten“ und „Vaterlandsverräter“. Auch die Priester zweier anderer Kirchen in benachbarten Dörfern ignorierten entweder alle Versuche, das Gespräch in eine religiös-dogmatische Richtung zu lenken, oder sie stemmten sich aktiv dagegen.

    Der Priester machte auf die Feldforscherin den Eindruck eines ideologisch überzeugten Verfechters des Krieges. Zumindest scheint sein öffentliches Engagement – die Andachten und die Reisen an die Front – einer persönlichen Begeisterung zu entspringen. Die Feldforscherin konnte zwei Andachten beiwohnen, die Vater Konstantin organisierte. Bei der ersten waren höchstens 15 Personen anwesend. Nach dem Gottesdienst erzählte der Priester kurz, wie er einen Monat an der Front verbrachte und Soldaten für den Kampf segnete. Er fügte hinzu, dass die sich alle „wacker halten und die Heimat verteidigen“, und dass sie „Gebete brauchen, Gott brauchen“.

    Bei der zweiten Andacht waren es doppelt so viele Besucher. Zur üblichen Gemeinde hatten sich Frauen gesellt, die nach Aussage von Darja, einer Pädagogin und aktiven Kirchgängerin, Angehörige gefallener Soldaten waren. Der Soziologin fiel auf, dass die Anwesenden Listen mit den Namen derjenigen in Händen hielten, für deren Heil gebetet werden sollte (allesamt Männer). Eine Liste trug die Überschrift: „Zivile Bewohner des Donbass“. Die einstündige Andacht endete mit einer Predigt von Vater Konstantin, in der er dazu aufrief „nicht nachzulassen“, „nicht nur an der Front zusammenzuhalten, sondern auch hier, in der Kirche“ und „möglichst viel zu beten, damit unsere Angehörigen lebend und gesund zurückkehren“. Schließlich sei der Sieg in der „heiligen militärischen Spezialoperation“ „mit uns“. Ethnografisches Notizbuch, September 2023

    Dadurch erzeugt Vater Konstantin zum einen in seinem Umfeld einen ideologisch aufgeladenen Raum. Andererseits zieht dieser Raum anscheinend nur einen begrenzten Kreis von immer denselben Leuten an. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Tscherjomuschkin nicht vom übrigen Russland, da insgesamt nur etwa neun Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Monat in die Kirche gehen.

    Vom ersten Tag an verfolgte die Feldforscherin die städtischen Bekanntmachungen und studierte eingehend Informationstafeln und Plakate. Sie erwartete, in Tscherjomuschkin die Früchte der massiven institutionellen Unterstützung für den Krieg zu finden. Als Erstes fand sie eine Ankündigung für den Film Swidetel (dt. Der Zeuge) im Kino des Kulturhauses. Es handelt sich hierbei um einen propagandistischen Film, der eine „alternative“ Sicht auf die Ereignisse in Butscha vermitteln und die Version in Zweifel ziehen soll, dass die Kriegsverbrechen dort von Soldaten der russischen Armee begangen wurden.

    In der Erwartung, etwas ethnografisch Wertvolles beobachten zu können, verlasse ich das Ulybka und gehe in Richtung Kulturhaus, das nicht weit entfernt steht. Es ist 17:55 Uhr, aber der Saal des Kulturhauses ist absolut leer. Ich frage die gelangweilte Kassiererin und erfahre, dass ich die Erste bin, die zur Vorstellung gekommen ist. Noch wurde keine einzige Karte verkauft. Ich setze mich auf die Bank gegenüber dem Eingang, aber die nächsten 15 Minuten kommt niemand. Ich frage bei der Kassiererin nach, ob das oft vorkommt. Sie meint: „Nicht oft, kommt aber vor.“ Ethnografisches Notizbuch, August 2023

    Bemerkenswert ist, dass auch eine weitere Filmvorführung (ein vom Kulturhaus angekündigter und organisierter Filmabend im Zelt auf dem Platz) auf ähnliche Weise nicht zustande kam. Die Soziologin wollte hingehen, weil ein propagandistischer Film auf dem Programm stand. Als sie jedoch auf den Platz kam, waren dort weder ein Zelt noch sonstige Anzeichen öffentlichen Lebens zu entdecken.

    Losungen zur Unterstützung der „Spezialoperation“ sind aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Veranstaltungen mit patriotischer Agenda locken kaum Besucher an / Foto © Mikhail Sinitsyn/Imago/Itar-Tass

    Die größten Erwartungen der Soziologin galten dem Konzert zum Saisonauftakt im Kulturhaus mit dem Titel Wir lassen unsere Spezialoperateure nicht im Stich. Das Plakat für das „Benefizkonzert zur Unterstützung der Teilnehmer an der militärischen Spezialoperation“ war zwei Wochen zuvor ans schwarze Brett gehängt worden.

    In der Halle des Kulturhauses hängt gegenüber dem Eingang das Rohmaterial für ein Tarnnetz. Daneben versucht eine Frau in einer Art Tracht herauszufinden, wie das Knüpfen geht. Eine Gruppe Kinder, vielleicht 12 Jahre alt, sitzt auf den Sofas und spielt auf Tablets. Rechts vom Tarnnetz eine Schautafel mit Fotos von Uniformierten mit der Bildunterschrift ‚Vaterlandsverteidiger‘. Die meisten Fotos zeugen von patriotischen Aktionen: Schüler schreiben Briefe an Soldaten, Frauen knüpfen Netze und stopfen Socken, Männer in Tarnkleidung verladen Kisten mit Hilfsgütern in Autos. Auf einem der Fotos entdecke ich Vater Konstantin, der mit einem Dosenlicht posiert. Auf der anderen Seite eine Installation und eine Fotostrecke à la ‚russisches Bauernhaus‘ mit Samowar und Trachtenhemden. Eine Frau sitzt in einem roten Kleid und einem Kokoschnik vor einem Haufen Birkenreisig für die Sauna (anscheinend ein Workshop für das Binden von Birkenreisig).

    Im Saal die erste Nummer: Rund ein Dutzend Leute auf der Bühne, alle mit Mikrofon. Darunter der Leiter des Ensembles des Kulturhauses, eine Mitarbeiterin der Bibliothek und ein Schauspieler des örtlichen Theaters. Eine Komposition in Dur:

    Wir wünschen dir Liebe
    Wir wünschen dir Reichtum …
    Du bekommst deinen Stern,
    und genießt den ersehnten Sieg.
    Du bekommst deinen Stern,
    und genießt den ersehnten Sieeeeehieeg.
    Ethnografisches Notizbuch, September 2023

    Später stellte sich heraus: Das Lied heißt eigentlich Zum Geburtstag!, der Wunsch wird in der ersten Person Einzahl gesungen. Die Komposition wurde wohl wegen des Wortes „Sieg“, das in der letzten Zeile des Refrains langgezogen wird, als Eröffnungsnummer gewählt. Im Originaltext geht es übrigens nicht um einen Sieg auf dem Schlachtfeld, sondern um eine abstrakte individuelle Leistung des Geburtstagskindes. Das Bild, das auf der Bühne erzeugt wurde, erinnerte in keiner Weise an den Krieg oder andere aktuelle gesellschaftliche oder politische Ereignisse. Alle weiteren Stücke waren für Kulturhäuser in Russland typisch und wurden kaum an das Veranstaltungsthema angepasst.

    Die Moderatorin betritt die Bühne und verkündet feierlich: „Heute eröffnen wir mit Ihnen die Kultursaison. Und das ist der Moment von jenen zu sprechen, die sich ihr Leben nicht ohne Kunst vorstellen können und uns mit ihren Werken beglücken … Erlauben Sie mir, das größte und berühmteste Ensemble der Stadt vorzustellen, das Tanzensemble Feuervogel!“ In einer Pause zwischen zwei Stücken schaue ich mich um und versuche, in der Dunkelheit des Saales zu erkennen, was für Leute im Publikum sitzen. Die allermeisten sind Rentner. Einige jüngere Frauen sind wohl Mütter, deren Kinder bei dem Konzert mitmachen. Außerdem einige Frauen mittleren Alters, die wie Lehrerinnen oder Beamtinnen des Kulturamtes aussehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie dienstlich auf der Veranstaltung.

    Nach Feuervogel treten noch einige Musikgruppen auf: Ehrfurcht, Singende Birken, Allegro … Das Repertoire besteht entweder aus Folklore bzw. russischer Volksmusik mit entsprechenden Kostümen und Videos, oder aus Schlagern (Evergreens aus der russischen und sowjetischen Schlagerwelt, schlecht vorgetragen). 
    Ethnografisches Notizbuch, September 2023

    Der einzige direkte Verweis auf die „militärische Spezialoperation“ kam von der Moderatorin ganz am Ende des Programms; er wurde aber auch nicht weiterentwickelt: 

    „Der heutige Abend steht unter der Devise: ‚Wir lassen unsere Spezialoperateure nicht im Stich‘. Das Konzert zur Eröffnung der Saison ist eine Benefizveranstaltung. Die gesamten Einnahmen fließen in die Unterstützung unserer Landsleute, die an der ‚militärischen Spezialoperation‘ teilnehmen. Wir bitten nun die Leiterin der Verwaltung für Kultur, Tourismus und Jugendpolitik der Stadtverwaltung Tscherjomuschkin, Walentina Subikowa, auf die Bühne!“ Entgegen meinen Erwartungen gab es auch in der Rede von Frau Subikowa nur einen indirekten Hinweis auf den Krieg („[…] den Ensembles möchte ich vor allem eines wünschen: künstlerischen Erfolg, neue Tänze, neue Lieder, neue Kompositionen. Ich wünsche allen Gesundheit, Gesundheit, Gesundheit! Und einen friedlichen Himmel über dem Kopf. Allen viel Glück!“). Ein Kindertanz mit Breakdance-Elementen schließt das Konzert ab. Die Kinder sind jetzt nicht mehr in russischer Tracht, sondern in Jeans und bunten T-Shirts. Das Lied heißt: ‚Vorwärts ihr Jungen, Verwegenen!‘…

    Alle verlassen das Kulturhaus. Nur am Fotostand bleiben zwei Frauen stehen. Sie reden über gemeinsame Bekannte, die sie auf den Fotos entdeckt haben.
    Ethnografisches Notizbuch, September 2023

    Während, wie gesagt, nach Aussagen von Gesprächspartnern unserer Feldforscherin in den ersten Monaten des Krieges in Tscherjomuschkin noch ganz unterschiedliche Veranstaltungen zur Unterstützung des Krieges stattfanden, blieben mit der Zeit nur die Unterhaltungsprogramme übrig. Diese berühren das Thema Krieg übrigens nur in den Titeln und Ankündigungen. Einige von ihnen existieren nur auf dem Papier. Andere unterscheiden sich kaum von Veranstaltungen, wie sie Bewohnern russischer Kleinstädte wohlbekannt sind. Und wieder andere, wie die beschriebenen Andachten, sind nur sehr schwach besucht und bleiben im Grunde eine Randerscheinung des gesellschaftlichen Lebens.

    Jemand, der am 23. Februar 2022 eingeschlafen wäre und in Tscherjomuschkin im Herbst 2023 aufwachte, müsste sich ordentlich Mühe geben, um seine Unkenntnis zu überwinden: Der Krieg ist in der Stadt nicht nur kaum spürbar, die Menschen reden auch nur selten davon, weder auf der Straße noch in den lokalen Kanälen der sozialen Netzwerke. Bei Veranstaltungen sind nur äußere Attribute des patriotischen Narrativs zu erkennen. Das Gefühl, dass der Krieg aus dem Alltag entschwindet, hat eine Informantin im Gespräch kurz und bündig zusammengefasst: „Wenn nicht immer wieder die Nachrichten von Toten und die Begräbnisse wären, könnte man glatt vergessen, dass Krieg ist.“ Die Aussage zeigt immerhin auch, dass der Krieg nicht komplett vergessen wird.

    Tod, Geld, Familie – der moralische Dreiklang einer Kleinstadt

    Einen Blick hinter die Alltagskulissen von Tscherjomuschkin verdanken wir Tonja, der wichtigsten Auskunftsperson unserer Soziologin. Die beiden kannten sich schon vor Beginn der Studie. Tonja ist eine junge Unternehmerin aus Tscherjomuschkin. Sie ist Eigentümerin des Schönheitssalons Stil und leitet gleichzeitig das erwähnte Café Ulybka. Tonja ist ein musterhaftes Mitglied der örtlichen Gesellschaft mit hohem sozialen Status und einem großen Bekanntenkreis. Die unterschiedlichsten Tscherjomuschkiner – vom Beamten über den Polizisten bis zur Hausfrau oder dem Fahrer – kommen ins Ulybka, um zu Mittag zu essen, Geburtstag zu feiern oder sich einfach zu unterhalten. Die älteren Stadtbewohner kennen Tonjas Eltern, die in der Stadt einen guten Ruf genießen. Wegen alldem ist Tonja überall im Ort hochangesehen. 

    Gleichzeitig ist Tonja ein Mensch mit „hauptstädtischem Background“: Ihre Hochschulbildung hat sie in Moskau erhalten, sie hat viele Freunde in Jekaterinburg, Sankt Petersburg und anderen Großstädten. Sie ist bei den tagesaktuellen Nachrichten immer auf dem neuesten Stand und liest alle wichtigen unabhängigen Medien. Im Kontakt mit anderen macht Tonja grundsätzlich keinen Hehl aus ihren oppositionellen Ansichten und ihrer Haltung gegen den Krieg, doch versucht sie diese auch niemandem aufzudrängen. Sie hält sich an die ungeschriebenen Gesetze des zwischenmenschlichen Umgangs, denen zufolge es eher nicht üblich ist, über Politik zu diskutieren. Im Gespräch mit anderen Bewohnern äußert sie immer wieder ihren Unmut über die Folgen des Kriegs (steigende Preise, drohende Einberufung ihrer Mitarbeiter und so weiter), spricht aber die Frage der moralischen, ethischen und politischen Rechtfertigung des Kriegs nicht an, weil sie weiß, dass sie nicht mit Verständnis rechnen kann. Wenn sie mit Vertretern der örtlichen Verwaltung zu tun hat, spart Tonja das Thema Krieg prinzipiell aus. 

    Tonja wurde in das Forschungsprojekt eingeweiht und zeigte sich sofort sehr interessiert. Dank ihrer Initiative und ihrer Position in der Gesellschaft konnte sie der Feldforscherin Zugang zu einem Kreis von Stadtbewohnern verschaffen, in dem ein freundschaftlicher Austausch im Alltag stattfand. Diese Menschen haben sich mit der Soziologin wohl gefühlt und ihr vertraut, obwohl sie eine Fremde war.                

    In den Gesprächen tauchten Themen rund um den Krieg selten von selbst auf. Öfter kam es vor, dass Tonja die Diskussion behutsam in die „nötige“ Richtung lenkte (zum Beispiel mit Fragen zu den damals aktuellen Nachrichten über Prigoshins Aufstand oder indem sie gemeinsame Bekannte an der Front erwähnte). Diese vorsichtigen Schritte zogen Gespräche über Themen rund um den Krieg nach sich. Einerseits verebbten diese wieder genauso leicht, wie sie begonnen hatten – die Beteiligten wechselten schnell zu anderen Themen. Es war klar, dass der Krieg in der Ukraine kein Thema war, das sie ständig beschäftigte. Andererseits hatten die Anwesenden immer etwas zu sagen, das auf die ein oder andere Weise mit dem Krieg in Zusammenhang stand. Im Gegensatz zu den Gründen und Zielen des Kriegs waren es vielmehr dessen Folgen und Auswirkungen, über die sie regelmäßig diskutierten.     

    Die Anzahl der Tscherjomuschkiner, die an die Front geschickt wurden, war nicht sehr hoch: Tonjas Bekannte zählten rund 20 Häftlinge auf, die aus der nahegelegenen Strafkolonie in den Krieg gezogen sind, rund 60 Einwohner wurden einberufen, weitere 20 meldeten sich freiwillig. Gleichwohl war jeder Tscherjomuschkiner wenn nicht direkt, so wenigstens über Eck mit jemandem bekannt, der aus dem Krieg zurückgekommen oder im Krieg gefallen war oder sich an der Front befindet. Insofern wurde jede Nachricht über einen Gefallenen, jede Einberufung oder Rückkehr aus dem Krieg allgemein bekannt. Tscherjomuschkin kennt keine Anonymität.    

    Im November 2022 warten frisch einberufene Soldaten am Bahnhof der Kleinstadt Jeworschino auf den Zug, der sie an die Front bringen wird. Anfangs war die Mobilmachung in Tscherjomuschkin ein wichtiges Gesprächsthema. Inzwischen hat die Stadtgesellschaft sich daran gewöhnt / Foto © Pavel Lisitsyn/Imago/SNA

    Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen vor allem Todesnachrichten über Bekannte. 

    „Aus unserer Verwandtschaft ist Wladik umgekommen. Den hat’s richtig zerfetzt. Wie war das noch? Im April ging’s los … Nein, es war März, als es ihn erwischte, aber zur Bestattung gebracht haben sie ihn erst im Juni“, erzählt Shanna, eine Krankenschwester im hiesigen Krankenhaus. Ethnografisches Tagebuch, August 2023 

    Der Tod eines Menschen kann kollektive Emotionen und Anteilnahme erzeugen, vor allem wenn ihn alle kannten und schätzten. Ein gutes Beispiel ist der Tod eines Lehrers, der einberufen wurde und sieben Tage, nachdem er Tscherjomuschkin verlassen hatte, im Sarg zurückkam, ohne überhaupt die Front erreicht zu haben. Der Tod des jungen Mannes, der mehreren Informanten zufolge wegen seiner menschlichen Qualitäten und seiner Liebe zu den Kindern „von allen vergöttert wurde“, war für die ganze Stadt eine Tragödie. Angeblich schluchzten die Trauergäste bei der Beerdigung vor Kummer und auch aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit.

    „In Gesprächen äußern die Tscherjomuschkiner Bedauern über die Todesfälle – vor allem, wenn es darum geht, dass ganz junge Menschen in den Krieg geschickt werden. „Sie sind gerade mal mit dem Wehrdienst fertig“, ruft zum Beispiel die Nagelpflegerin Aljona. Ihre Kollegin Ljuda pflichtet ihr bei: „Sie schicken Kinder in den Krieg!“
    Ethnografisches Tagebuch, August 2023

    Solche Erwägungen lösen Kritik am militärischen Konflikt aus, wobei die Schuld an dessen Beginn abstrakten „Mächtigen dieser Welt“ zugeschoben wird, die ihre Ziele auf Kosten der einfachen Leute verfolgen. „Diese Arschlöcher haben einfach die Welt unter sich aufgeteilt! Und unsere Jungs müssen sterben, weil diese Scheißkerle sich nicht einig werden!“, resümiert Ljuda. Diese Kritik mündet jedoch nicht in eine Kritik an der russischen Regierung (die ja eigentlich die Entscheidung über die Mobilmachung getroffen hat). Und die Frage nach der Verantwortlichkeit konkreter Personen wird gänzlich ausgespart.  

    Als deutliche Antithese zum Krieg tritt das Paradigma der familiären Werte auf, in deren Licht die Kampfhandlungen definitiv verurteilt werden können. Die Rentnerin Ljubow Wassiljewna, die viele Jahre lang im Kulturzentrum gearbeitet hat, erinnert sich an den Tod eines anderen jungen Mannes, dessen Leiche nie in Tscherjomuschkin ankam: 

    „War ein netter Kerl, hat Akkordeon gespielt … Es gab nicht mal was zu beerdigen! Einen Kampfstiefel und ein Bein drin!“ Und sie wechselt sogleich vom persönlichen Charakter des Toten zu einem breiteren familiären Kontext, der für sie wichtig ist: „Die Mutter hatte nur den einen Sohn , sie hat ihn allein großgezogen, ohne Mann. Also, den Mann gab es schon irgendwo, aber sie waren getrennt. Ein einziger Sohn, und alt genug … Wenn er wenigstens einen Enkel hinterlassen hätte. Mädels, so ein Krieg ist wirklich was Furchtbares!“
    Ethnografisches Tagebuch, August 2023 

    Genau wie andere Gesprächspartnerinnen der Soziologin auch, erlebt Ljubow Wassiljewna den Krieg als Bedrohung für die Familie, und zwar auch auf ukrainischer Seite: „Ich frage mich, wo die ukrainischen Mädchen jetzt, wo schon so viele tot sind, noch ihre Bräutigame finden sollen? Woher die Männer nehmen, wenn sie alle im Krieg fallen?“ Dabei sprach Ljubow Wassiljewna während der Begegnung mit Tonja und unserer Feldforscherin mehrmals von der „Unterdrückung russischer Bewohner der Krim und des Donbass“ und zog sogar den auch für sie selbst wenig tröstlichen Schluss: Um den Krieg bald zu beenden, muss unbedingt Kyjiw erobert werden. („Also, wenn es die Kiewer Rus gab – dann nehmt doch endlich Kiew ein. Besetzt die Oblast Kiew und Kiew.“) Die Unversehrtheit der Familie ist allerdings eine so zentrale Frage für sie, dass in diesem Kontext sogar die Meinungsverschiedenheiten mit dem „Feindesland“ an Bedeutung verlieren und das propagandistische Narrativ in den Hintergrund tritt.  

    Der Krieg scheint fern und unsichtbar. In bestimmten Zusammenhängen, wird doch über ihn gesprochen: Wenn es um das Geld geht, das sich mit einem Einsatz verdienen lässt. Und wenn er Auswirkungen auf die Familien am Ort hat / Foto © Pavel Lisitsyn/Imago/SNA

    Ein weiteres wichtiges Thema, das unmittelbar mit dem Krieg zu tun hat, ist Geld und alles, was damit zusammenhängt – Sold, Vergünstigungen, Kompensationszahlungen, Anschaffungen). Die Bewohner des eher ärmlichen Tscherjomuschkin beschäftigt dieses Thema nicht weniger als Tod und Familie. Im Unterschied zu großen Städten sind Fragen von Einkommen und Ausgaben hier alles andere als privat. Wenn sich jemand ein neues Auto kauft, seine Wohnung saniert oder ein hohes Gehalt bezieht, dann weiß man das in der Stadt. Der Krieg hat in Tscherjomuschkin eine Menge solcher „Wirtschaftsnachrichten“ mit sich gebracht.

    Die Leute diskutieren rege darüber, wie man am Krieg verdienen kann: den Sold an der Front, das „Sarggeld“ und die Sozialleistungen. Tonjas ehemalige Mitschüler Artjom und Witja erinnerten sich bei einem Besuch bei ihr an gemeinsame Bekannte, die in den Krieg gezogen sind:

    „Michailow sagt: ‚Ich krieg 180.000 [etwa 1900 Euro], geil!‘.“ Die Krankenschwester Shanna erzählt Tonja, was sie von einem aus dem Krieg zurückgekehrten Bekannten gehört hat: „220.000 [etwa 2300 Euro] im Monat – Nebenkosten, alles bezahlt.“ 

    Tonjas Freund Kolja, der als Jugendlicher ein paar Jahre hinter Gittern saß, erzählte von einer jungen Bekannten, die es zu Reichtum gebracht hatte: Sie hatte einen Häftling geheiratet, den sie nur per Briefkontakt kannte, als der noch im Knast war. Bald hatte ihn die Söldnertruppe Wagner angeworben. 

    „Drei Monate hat er gekämpft, dann hat es ihn erwischt. Er war ein Heimkind, hat ihr alles sofort überschrieben. Sie hat sieben Millionen [73.000 Euro] bekommen. Und das für drei Tage, die sie ihn besucht hat!“, schloss Kolja lachend. 

    Abgesehen vom Einkommen sprechen die Tscherjomuschkiner auch darüber, was sie sich für diese „Kriegsgelder“ kaufen: Autos etwa oder Goldschmuck, den Sweta zufolge, einer Teilnehmerin an der „Frauenrunde“, „nur Leute kaufen, die Geld aus der Spezialoperation bekommen“. Ethnografisches Tagebuch, August/September 2023      

    Geld ist auch ein wichtiges Motiv, wenn über ethische und familiäre Konflikte gesprochen wird, die im Zusammenhang mit dem Krieg in Erscheinung treten. Ein Beispiel ist das Verhalten der Witwe des an der Front gefallenen Lehrers. Für das Sarggeld kaufte sie sich ein teures Auto, und schon einen Monat nach dem Tod ihres Mannes tanzte sie „ausgelassen“ (wie Zeugen es beschrieben) in der Diskothek. Der Fall der Witwe wurde auch von der Krankenschwester Shanna aufgegriffen, als diese bei Tonja vorbeischaute. Shanna erzählte, die Witwe würde als „Flittchen“ und als „Rumtreiberin“ gelten. Shannas Urteil unterschied sich von jenem der Gesellschaft: „Was soll sie denn sonst tun? Das Leben geht weiter, ist doch so.“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023

    Ein vergleichbarer Fall wurde besprochen, als mehrere Frauen bei einer Mitarbeiterin des Schönheitssalons zusammensaßen. Die Nagelpflegerin Aljona erzählte von einer stadtbekannten Person: „Es gibt einfach solche Mädels à la Petrowa: Die hat sich für das Geld, das von ihrem Mann gekommen ist, eine Karre gekauft. Und in dieser Karre bumst sie ihren Liebhaber. Alle wissen das! Wenn er auf Fronturlaub ist, tut sie brav, hüpft und flattert um ihn rum, aber kaum ist er weg, geht es wieder rund.“  

    Über die Moral in „Kriegszeiten“ wird vor dem Hintergrund des Großen Vaterländischen Krieges geurteilt. Ljubow Wassiljewna nimmt den Krieg durch das Prisma ihrer sowjetischen Erziehung und ihrer Erfahrung in der Kulturarbeit wahr. Für sie ist „Krieg“ vor allem der „Große Vaterländische“. Und der beschäftigt sie vor allem als Thema, mit dem sie als Mitarbeiterin des Hauses der Kultur ihr ganzes bewusstes Leben lang zu tun hatte (sie wird noch immer bei Veranstaltungen der Stadt gebeten, Reden darüber zu halten, Gedichte über den „Großen Vaterländischen“ vorzutragen oder über den Krieg in Afghanistan). Im Gespräch mit Tonja und unserer Soziologin trug sie das Gedicht Offener Brief von Konstantin Simonow vor. Es erzählt von einer Frau, die nicht warten wollte, bis ihr Mann aus dem Krieg zurückkam, und sich einen anderen nahm. Bevor sie es las, rief Ljubow Wassiljewna: „Wobei dieses Gedicht auch heute noch aktuell ist! Auch jetzt ist Krieg, also ist es wieder aktuell.“ Nach dem Vortrag fügte sie hinzu: „Das ist von 1943, wenn ich mich nicht irre. Jetzt ist Krieg in der Ukraine. Mädchen, Ehefrauen, haltet aus! Benehmt euch nicht wie Schweine, die sich Geld überweisen lassen und inzwischen hier … In der Sowjetzeit, da wurde noch auf die Moral geschaut.“ Die konkreten Umstände des Kriegs in der Ukraine lösen sich vollkommen auf; der neue Krieg kommt gelegen, weil er diesem Gedicht wieder Frische verleiht.     

    Geld ist zweifellos ein Gradmesser des Erfolgs; da verwundert es nicht, dass sich daran moralische Dilemmata kristallisieren. Geld steht wiederum familiären Werten gegenüber. Meistens zweifeln die Gesprächspartnerinnen an der Zweckmäßigkeit der Einkünfte aus dem Krieg, die für die Familien zerstörerisch sind. Sie messen der Familie einen großen Wert bei. 

    Shanna zum Beispiel erklärt damit, warum ihr Bekannter nicht an die Front zurückwill: „Na ja, die Frau ist zu Hause, Kinder wollen sie auch. Ist ja nicht gesagt, dass er wieder zurückkommt. Oder er wird irgendwie verletzt und kann nur noch liegen, macht sich in die Hose. Und dann, wer braucht ihn dann noch?“ Shanna war es wichtig, das zu betonen: „Ich finde, kein Geld der Welt kann das Leben aufwiegen … Sogar wenn er umkommt und sie kriegen dieses Geld, ist das doch alles Bullshit – der Mensch ist weg.“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023.

    Die Frauen, die zusammensaßen und über Krieg und Geld sprachen, kamen mehr oder weniger alle zu dem Schluss: „Das ist es nicht wert.“  

    „Geh lieber ins Sägewerk schuften“: kritische Töne und Gender-Debatten   

    Abgesehen von den Anschaffungen besprechen die Tscherjomuschkiner auch die kriegsbedingten Ausgaben, die den Soldaten und ihren Familien schwer auf den Schultern lasten – für Schutzwesten, Ausrüstung, Technik, Benzin und sonstige Ausstattung. Dass diese Ausgaben fällig werden, bestärkt sie in ihrer Meinung, dass die Einkünfte es nicht lohnten. Die Krankenschwester Shanna sagte auf Tonjas Frage, warum der Mann ihrer Freundin nicht in den Krieg gezogen sei, obwohl er da doch gut verdient hätte, dass es nichts bringe: „Sie müssen alles auf eigene Kosten kaufen, Ersatzteile, Schuhe …“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023 

    Während der Frauenrunde fing Ljuda, eine Mitarbeiterin des Schönheitssalons, fast an zu schreien: „Ich sag dir jetzt mal was! Ich hab eine Bekannte, deren Sohn wurde eingezogen, und sie hat einen Kredit über 100.000 [1000 Euro] aufgenommen, um ihr Kind ordentlich auszurüsten!“ Ihre Kollegin Aljona pflichtete ihr bei:  Uns haben sie 180.000 abgenommen, 180.000 [1900 Euro]! Um das alles, diese ganze Ausrüstung zu kaufen!“ Ljuda fiel ihr ins Wort: „Verstehst du, die Eltern müssen selber die Schutzkleidung kaufen, Helme, Stiefel und diesen ganzen Scheißdreck, Handschuhe, alles!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023 

    Die Notwendigkeit, für die Ausrüstung Geld ausgeben zu müssen, empfanden die Sprecherinnen als unfair, und dieses Gefühl entlud sich bisweilen in kritischen Äußerungen über die Staatsmacht. Auf die vorsätzlich naive Frage der Soziologin an Ljuda und Aljona, warum einfache Menschen für den Krieg zahlen müssen, reagierte eine der beiden mit einem spitzen Kommentar: „Das fragst du mich? Frag doch die Regierung!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023

    Meistens begannen unsere Auskunftspersonen den Krieg dann zu kritisieren, wenn sie „Insider-Infos“ von Bekannten an der Front teilten, die nicht mit dem offiziellen, propagandistischen Bild der „militärischen Spezialoperation“ übereinstimmten. Der 30-jährige Witja, Mitarbeiter einer Autowerkstatt, erklärte den Anwesenden mit Feuereifer: „Was sie im Fernsehen sagen, ist nichts als gequirlte Scheiße! Die Jungs, die jetzt dort kämpfen, sagen, man dürfe bloß keinem glauben. Dass unser Verteidigungsministerium berichtet, unsere Verluste seien minimal – das ist alles Käse. Jeden Tag gibt es enorm viele Tote, auf deren Seite genauso wie auf unserer.“ Ethnografisches Tagebuch, September 2023 

    Nacherzählungen solcher Zeugenberichte „aus erster Hand“ zirkulieren ständig in der Stadt, sodass die Gesellschaft über die enormen Verluste auf beiden Seiten durchaus Bescheid weiß.        

    Die Situation des Kriegs macht für die Bewohner von Tscherjomuschkin die ukrainische Herkunft mancher Stadtbewohner auf unerwartete Weise aktuell. In der Frauenrunde wurde über eine Frau gesprochen, die nach den Ereignissen 2014 aus dem Donbas hierhergezogen war. Aus Aljonas und Marinas Sicht genießen solche Leute mit ukrainischem Pass großzügige Vergünstigungen: „Hypotheken und so, alles hat sie jetzt. Denen schenken sie alles, aber wir, wir müssen betteln, und dann? Nix!“ Bemerkenswert ist, dass sich die jungen Frauen ausschließlich für wirtschaftliche Aspekte interessierten, keine politischen oder ethnischen. In ihrer ganzen Zeit in Tscherjomuschkin hörte die Soziologin kein einziges Mal, dass jemand über Bewohner mit ukrainischen Wurzeln verächtlich oder misstrauisch sprach. Lediglich die „existenziellere“ Geldfrage veranlasste dazu, Ukrainer überhaupt als eigene Gruppe zu betrachten.         

    Witja und Artjom erwähnten in einer Männerrunde das Thema Ukraine auf ähnliche Weise. Sie sprachen darüber, wie teuer ein Gasanschluss für ein Grundstück in Tscherjomuschkin ist: „Gas ist in Russland die reinste Verarsche“, empörte sich Witja. „Die Hauptleitungen bauen sie ja, aber damit es zu dir nach Haus kommt – 200.000 [2000 Euro]“, fügte Artjom hinzu. „Aber drüben ist längst alles … Die Jungs, die jetzt im Krieg sind, erzählen: Alles voller Rohre, die ganze Ukraine!“, setzte Witja den Gedanken fort. „Auch in den Dörfern“, meinte Artjom, und Witja stimmte zu: „Ja, jedes Kaff hat sein Gas! Und das in der Ukraine!“ Ethnografisches Tagebuch, September 2023.

    Auf dieses überraschende Gefälle in den Lebensbedingungen reagierten die jungen Männer mit echter Empörung.  

    Für die meisten Tscherjomuschkiner ist „Politik“ selten Thema. Unsere Soziologin entdeckte bei ihren Gesprächspartnern ein ganzes Arsenal an Phrasen zur Abwehr „heikler“ Themen: „Lasst uns aufhören mit diesem Thema, mir reicht schon die ganze Politik im Fernsehen“, „Schluss damit, bloß nicht vom Krieg“. „Wir sind einfache Leute, wir verstehen nichts von Politik“ und so weiter. 

    Doch in Tscherjomuschkin gibt es auch Bewohner, die sich in dieser Hinsicht von der Mehrheit unterscheiden. Zum Beispiel Tonjas kleiner Kreis von oppositionell gestimmten Freunden: Pascha, der mit Autos handelt und oft nach Moskau fährt, und Kolja, ein charismatischer Typ, der in einer Besserungsanstalt für Kinder sozialisiert wurde. Der Abend mit ihnen unterschied sich deutlich von den anderen Zusammenkünften. Den Großteil der Zeit diskutierten die Anwesenden über politische Themen. Pascha, Kolja und Tonja tauschten sich über die jüngsten Nachrichten und Beiträge diverser oppositioneller Blogger aus. Für sie gehören solche Gespräche zum täglichen Leben, sie sind Teil ihrer Identität.    

    Übrigens sprechen auch jene Tscherjomuschkiner, die die Politik „im Fernsehen schon satt haben“, je nach sozialer und persönlicher Erfahrung in unterschiedlicher Weise über den Krieg. Zum Beispiel besteht bei der Betrachtungsweise ein Gender-Unterschied: In der „Männerrunde“ interessierten sich Witja, Artjom und Ljoscha intensiv für „technische Aspekte“ des Kriegs: Waffen, Transport, Ausrüstung, Ausstattung der Lager und in ihren Augen faszinierende Kampfepisoden. Sie tauschten sich über Inhalte von Videoaufnahmen von der Front aus, die sie sich des Öfteren ansehen, und stritten hitzig über Granaten, Kalaschnikows und MG-Nester. Für sie ist der Krieg wie eine TV-Serie mit betont „männlichen“ Merkmalen. Ethnografisches Tagebuch, September 2023       

    Die Frauen hingegen beschäftigt, wie bereits erwähnt, das Thema Familie, auf die sich die „Verlockungen des Kriegs“ zerstörerisch auswirken. Für sie ist der Krieg eine konkrete Bedrohung: Sie könnten ihre Männer oder Söhne verlieren. In der Frauenrunde wandte sich Ljuda aufgebracht an ihren Sohn (der zwar nicht an der Runde teilnahm, von dem aber alle Anwesenden wussten, dass er überlegte, in den Krieg zu ziehen): „Die gehen alle nur wegen dem Geld zur Armee. Einen Scheiß werd ich dich an die Front schicken!“ Aljona stimmte sofort ein: „Ich scheiß auf die verfickte Kohle! Die 200.000 verdien ich selber, dafür weiß ich dann, dass es mir an nichts fehlt und meine Familie gesund ist. Die Ohrringe kann ich mir selber kaufen, da hab ich lieber meinen Mann bei mir. Nie im Leben würd ich meinen Mann da hinschicken, in den sicheren Tod!“ 

    Die Gesprächsteilnehmerinnen üben sich in Solidarität, argumentieren gegen die vermeintliche „männliche“ Logik, dass Krieg leicht verdientes Geld bedeute. „Ihr geht wegen der Kohle? Was braucht ihr diesen Scheiß?“ Ljuda pflichtet bei: „Sie dackeln nur dem Geld hinterher. Mein Kind hat gesagt: Ich geh zur Spezialoperation. Aber ich sag ihm: Kommt gar nicht in die Tüte, nur über meine Leiche!“ Aljona schloss sich an und äffte die Männer nach: „‚Ich verdiene da mehr. Ich verdiene da 200.000, wieso sollte ich im Sägewerk schuften.‘ Tausendmal besser, du buckelst im Sägewerk!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023 

    Das parallele Tscherjomuschkin: Der „ausgeblendete“ Krieg und das Dilemma der Mittäterschaft 

    Sowohl die Beobachtungen unserer Soziologin als auch die Aussagen ihrer Gesprächspartner haben ergeben, dass die Menschen in Tscherjomuschkin vom Thema Krieg genug haben. In der Stadt weisen praktisch keine sichtbaren Zeichen mehr darauf hin. Die Stadtbewohner thematisieren den Krieg sowohl online als auch im direkten Kontakt zueinander seltener als früher. Auch die institutionelle Unterstützung des Krieges ist deutlich leiser geworden: Öffentliche Veranstaltungen finden entweder nur auf dem Papier statt oder sie sind auf eine formale Hülle reduziert. Sie haben ihren militärisch-patriotischen Inhalt verloren und lösen sich in gewohnten Formaten mit minimalen Anspielungen auf den aktuellen politischen Kontext auf.

    Seltene Ausnahmen in Form ideologisch aufgeladener Räume wie der Kirche stoßen nur bei einem beschränkten Kreis von immergleichen Gemeindemitgliedern auf Interesse. Die Situation ist heute eine andere als im ersten Kriegsjahr, als die Einbindung der Staatsbürger und die organisatorischen Bemühungen um eine „Solidarität mit der Front“ stärker waren.  

    Zugleich ist der Krieg im Leben der Kleinstadt im Hintergrund präsent. Nachrichten über Bekannte, die an die Front geschickt wurden oder dort gefallen sind, werden sofort zum Allgemeingut und sorgen für Resonanz. Der Tod von Einheimischen provoziert natürlich kollektive Emotionen. Zudem dringt der Krieg ständig in zentrale Lebenssphären ein, über die viel gesprochen wird: Familienverhältnisse und Einkommen. Die starken Sujets, die der Krieg im lokalen Leben erzeugt – vom Tod über Ehebruch bis hin zu Gehältern, Anschaffungen und den Verlust von Bekannten – bedeuten eine Herausforderung für die übliche Routine und stellen die Menschen vor neue moralische Dilemmata.   

    Je nach sozialem und persönlichem Hintergrund interessieren sich die Stadtbewohner für unterschiedliche Aspekte des Kriegs. Für einen kleinen Kreis von oppositionell eingestellten Tscherjomuschkinern stehen politische und mediale Ereignisse im Zentrum der Aufmerksamkeit und werden regelmäßig besprochen, während der Großteil der Leute sich im Gegenteil bemüht, Gespräche über Politik zu vermeiden.      

    Frauen sehen den Krieg als Bedrohung für die Gesundheit und das Leben ihrer Männer und Söhne. Junge Männer, die von Bekannten mit Nachrichten von den Kriegsschauplätzen versorgt werden, sind eher neugierig auf „interne Prozesse“ des Kriegs: Videos von Schusswechseln, Waffentypen, Transport, Verpflegung und so weiter. Ältere Generationen, die noch „sowjetische Kulturträger“ sind, sehen den aktuellen Krieg durch das Prisma tradierter Bilder vom Großen Vaterländischen Krieg. 

    Der hohe Sold und Prämien für Freiwillige und Vertragssoldaten erzeugen ein ganzes Feld von Themen, anhand derer über den Krieg gesprochen wird. Sie scheinen die Haltung zum Krieg jedoch nicht merklich zu beeinflussen. Einerseits sehen manche Männer den Krieg als Gelegenheit, Geld zu verdienen, vor allem, wenn das auf anderen Wegen schwierig oder unmöglich ist. Andererseits sind die Frauen, mit denen unsere Feldforscherin zu tun hatte, überzeugt, dass kein Geld der Welt den Tod im Krieg und die Zerstörung der Familie aufwiegen kann. 

    Die meisten unserer Gesprächspartner sind sich einig, dass die Leute entweder gezwungenermaßen in den Krieg ziehen (wenn sie eingezogen werden) oder wegen des Geldes, oder weil sie kein gutes Leben haben (wenn sie zum Beispiel nichts erreicht und keine Familie haben). Eine derartige Kritik lässt sie jedoch nicht an der Notwendigkeit und Unausweichlichkeit des Kriegs zweifeln, sie zieht auch keinen kritischen Blick auf das Vorgehen der russischen Regierung nach sich. Unangenehme Fragen zum „politischen“ Sinn des Kriegs wehren die meisten Gesprächspartner mit rhetorischen Plattitüden ab, die die Propaganda anbietet. Interessanterweise kommen diese Propagandamotive nicht zur Anwendung, wenn die Tscherjomuschkiner Probleme diskutieren, bei denen sie sich auskennen und die ihnen nahe sind. 

    Die Menschen in Tscherjomuschkin zeigen angesichts des Kriegs auf die eine oder andere Art Emotionen und klagen. Die Leute stoßen sich daran, dass im Krieg die Jungen sterben, und sind empört darüber, dass die Soldaten ihre Ausrüstung selbständig kaufen müssen: Waffen, Uniform, Proviant und Kleidung. Im Grunde würden alle unterschreiben, dass ein Krieg „schlecht“ und „schrecklich“ ist; manche Gesprächspartner räumten insbesondere ein, dass sie den Sinn dieses Kriegs nicht verstehen würden.

    Wie aus den Beobachtungen unserer Soziologin hervorgeht, sind Nachrichten über große Verluste im Krieg für die Stadtbewohner kein Geheimnis, und Beerdigungen von einberufenen und freiwilligen Soldaten aus Tscherjomuschkin gestatten es ihnen, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Trotz der großen Bandbreite an Emotionen im Hinblick auf den Krieg sprechen nur überzeugte Gegner der „Spezialoperation“ über den Schaden und das Leid, das er der Ukraine und ihren Bewohnern zufügt. Für die meisten Russen, die den Krieg rechtfertigen und gleichzeitig über etliche seiner Aspekte klagen, ist Kritik am Krieg als Verbrechen gegen die Ukrainer nicht relevant. Mehr noch, eine solche Kritik bringt sie dazu, zur Vermeidung des Dilemmas ihrer Mittäterschaft das Vorgehen Russlands zu verteidigen.

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  • Spiel mit dem Verwerflichen

    Spiel mit dem Verwerflichen

    Wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurden russische Fußballvereine und die Nationalmannschaft von allen europäischen und internationalen Wettbewerben ausgeschlossen. So durfte die Sbornaja auch nicht an der Qualifikation zur EM, die aktuell in Deutschland stattfindet, teilnehmen. Der russische Fußball ist also isoliert. Dennoch spielten über 50 ausländische Spieler in der abgelaufenen Saison in der höchsten Spielklasse des Landes (die mal wieder Zenit St. Petersburg für sich entscheiden konnte). 

    Das russische Online-Medium The Insider hat sich diese Spieler im Fußball (und im Eishockey) genauer angeschaut und recherchiert, dass Spieler aus dem Ausland bei russischen Clubs auch eine Anstellung finden, obwohl gegen sie ermittelt wird. 

    Orenburgs Jordhy Thompson feiert sein Tor gegen den FK Rostow. In seiner Heimat Chile ist er wegen häuslicher Gewalt angeklagt / Foto © IMAGO/ITAR-TASS/Erik Romanenko

    Ein Chilene, der seine Freundin brutal geschlagen haben soll

    Im Januar 2024 verpflichtete der Fußballclub FK Orenburg den 19-jährigen Linksaußen Jordhy Thompson vom chilenischen Verein CSD Colo-Colo. Der Fußballer wird in seiner Heimat des versuchten Totschlags beschuldigt. Im November 2023 hatte die ehemalige Partnerin Thompsons, Camila Sepúlveda, bei der Polizei Anzeige erstattet: Der Fußballer soll sie in betrunkenem Zustand aus Eifersucht grausam geschlagen haben. Auch soll er versucht haben, sie zu erwürgen. Das war nicht das erste Mal: Im vergangenen Frühjahr hatte Camila den Fußballer zwei Mal gewalttätiger Übergriffe beschuldigt. 

    Am 6. November 2023 wurden gegen den vielversprechenden Stürmer 45 Tage Haft verhängt. Die wurden nach einigen Tagen in Hausarrest umgewandelt. Am 19. Dezember erreichten Thompsons Anwälte, dass diese Sicherungsmaßnahme für ein halbes Jahr ausgesetzt wurde, wobei der Beschuldigte das Land gegen eine Kaution von 100 Millionen Peso (rund 105.000 Euro) verlassen konnte. Bereits am 3. Januar 2024 verkündete Orenburg, dass die Papiere über seinen Wechsel als Leihspieler unterschrieben sind.

    Im Januar, mitten in der Winterpause der russischen Premjer Liga, wurde der Fall Jordhy Thompson heftig diskutiert. Auslöser war ein höchst merkwürdiges Statement von Dmitri Andrejew, dem Sportdirektor von Orenburg. Der ehemalige Fußballer, der gleich nach seinem Karriereende 2019 zum Clubmanager aufstieg, wurde direkt gefragt, ob der Verein nicht von der Vorgeschichte des Chilenen irritiert sei.

    Das war aber keineswegs der Fall:

    „Eine dunkle Seite bei Thompson? Wer hat die nicht? Von den Problemen mit der Freundin haben wir gehört. Sie reden so, als ob er zwanzig Frauen plattgemacht hätte. Wir machen uns um das Ansehen von Orenburg keine Sorgen. Wem passiert das nicht? Wir haben ihn nicht unter die Lupe genommen. Uns war klar: Wenn es nicht die Probleme mit seiner Freundin gegeben hätte, hätten wir uns einen solchen Spieler nicht leisten können. Als er in diese Lage geraten war, haben wir alles drangesetzt, ihn zu bekommen“, führte Andrejew in einem Interview für Sport24 aus.

    Hätte es keine Probleme mit dem Gesetz gegeben, hätte sich Thompson sicher bei Colo-Colo weiterentwickeln können. Oder er hätte sogar mit dem Wechsel in eine stärkere europäische Liga liebäugeln können, wie sein ehemaliger Trainer Gualberto Jara meint, der mit Thompson im Jugendbereich des chilenischen Spitzenclubs gearbeitet hat. Im Gespräch mit The Insider bestätigte ein Experte, der in Spanien zum Staff von Racing Santander und Rayo Vallecano gehörte, dass Thompson dieses Potenzial hat.

    Jewgeni Jeremjakin, Präsident des Clubs und stellvertretender Generaldirektor von Gazprom Förderung Orenburg, räumte im Januar ein, dass ihm die Sache mit dem neuen Spieler trotzdem Sorgen bereitet: „Deswegen leihen wir ihn erstmal bis zum Saisonende aus. Und werden ihn erziehen.“

    Für den FK Orenburg, der die ganze Saison ums Überleben in der russischen Premjer Liga kämpfte, bedeutet Thompson zweifellos eine Verstärkung: Er stand bei allen Spielen in der Startelf und erzielte zwei Treffer (einen davon im russischen Pokal). The Insider hat beim FK Orenburg nachgefragt. Bis zur Veröffentlichung des Artikels ist keine Antwort eingegangen.

    Ein Niederländer, der bei einem Verkehrsunfall den Tod eines Kindes verschuldete 

    Rai Vloet, Legionär bei Ural Jekaterinburg, wurde im April 2023 in den Niederlanden zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil er angetrunken einen Verkehrsunfall verursachte, bei dem ein vierjähriges Kind starb. Sein Wagen hatte auf dem Weg zum Amsterdamer Flughafen Schiphol das Fahrzeug einer Familie mit zwei Kindern gerammt. Eines der beiden Kinder erlag seinen schweren Kopfverletzungen. Der Unfall ereignete sich am 14. November 2021. Vloet leugnete anfangs hartnäckig, dass er am Steuer saß (ein Freund war mit ihm im Wagen). Dann stritt er ab, dass er viel zu schnell gefahren war. Die Ermittlungen ergaben, dass sein Fahrzeug vor dem Aufprall eine Geschwindigkeit von 203 Stundenkilometern hatte. Der Alkoholpegel der beiden Männer lag beim Doppelten des Grenzwerts. Es stellte sich heraus, dass die beiden von einer Party zur nächsten unterwegs waren.

    Anfangs versuchte Vloets Bekannter, mit einer Falschaussage die Schuld auf sich zu nehmen. Letztendlich sagten aber beide wahrheitsgemäß aus. Die Verteidigung hob darauf ab, dass das getötete Kind nicht angeschnallt war. Vor dem tödlichen Unfall hatte Vloet, der bei PSV Eindhoven ausgebildet wurde, einem der erfolgreichsten Vereine des Landes, in der Eredivisie, der höchsten niederländischen Liga gespielt. Bei Heracles Almelo, das im Mittelfeld rangiert, war er einer der Führungsspieler. Nach dem Prozess gegen ihn meldeten sich aktive Fans des Clubs zu Wort: Sie bekräftigten, dass es beschämend und unmöglich sei, ihn aufs Feld zu schicken, als ob nichts gewesen wäre. Selbst, wenn die Berufung noch laufe. Danach nahm Heracles die gleiche Haltung ein. Vloet wurde vom Training suspendiert und verkündete im Januar 2022, dass er nicht mehr für die Mannschaft spielen werde.

    Um nicht ohne Spielpraxis und Gehalt dazusitzen, fand er einen neuen Job in Kasachstan: Astana FK verpflichtete ihn ablösefrei. Dort wusste man bestens über die Situation Bescheid. Innerhalb der Mannschaft war das Thema aber tabu, erläuterte der Sportdirektor von Astana FK, Igor Pawljuk, gegenüber The Insider. Er war seinerzeit leitend in der Verwaltung tätig. Für Ural Jekaterinburg, das den schillernden und umstrittenen Holländer im September 2022 für 250.000 Euro verpflichtete, spielten moralische Fragen überhaupt keine Rolle. Das hatte der Vizepräsident des Clubs, Igor Jefremow, seinerzeit eingeräumt. In der YouTube-Show Das ist Fußball, Bruder erinnerte sich der nun schon ehemalige Mitarbeiter von Ural:

    „Wenn du die Situation nicht kennst, stellt sich die Frage: Warum spielt dieser Spieler in Kasachstan? Wir haben uns mit der Situation beschäftigt und alles diskutiert. Als Vloet bei Ural unterschrieb, hatte es noch keine Entscheidung des Gerichts gegeben. Ich sage ganz ehrlich: Die moralische und ethische Seite wurde überhaupt nicht erörtert.“

    Auf die Frage der Moderierenden, ob das in Ordnung sei, bemerkte Jefremow: „Sagen wir mal so: Gibt es wirklich viele Leute, die in ihrem Leben immer nüchtern hinterm Steuer sitzen?“ Und er fasste zusammen: „Wir diskutieren diese Situation hier jetzt länger, als wir sie damals diskutiert haben.“ Der Anwalt des Fußballers Erik Thomas kommentierte die Lage, indem er das Offensichtliche aussprach: „Es ist nicht so interessant, in Kasachstan oder Jekaterinburg zu spielen, wenn du Europa gewohnt bist. Aber kein einziger europäischer Club wollte ihn bei sich sehen.“

    Sowohl der frühere Anwalt des Fußballers als auch der ehemalige Vizepräsident von Ural, Igor Jefremow, behaupteten: Sobald das abschließende Urteil nach der Berufung feststeht, wird sich Vloet nicht mehr verstecken und in den Niederlanden seine Strafe verbüßen. Ihren Aussagen zufolge ist der Spieler bereit für eine Gefängnisstrafe, wie lang sie auch sein mag. The Insider hat bei Ural Jekaterinburg nachgefragt. Bis zur Veröffentlichung des Artikels ist keine Antwort eingegangen.

    Ein Niederländer, der mit Kokain handelte

    Der aufsehenerregendste Kriminalfall im russischen Fußball steht allerdings nicht mit einer Verstärkung eines Clubs in Verbindung, sondern mit einem Abgang. Der Niederländer Quincy Promes, Führungsspieler bei Spartak Moskau, saß bis zuletzt noch in einem Gefängnis in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), und zwar wegen eines Auslieferungsantrags aus den Niederlanden. Im vergangenen Sommer war Promes dort zu anderthalb Jahren verurteilt worden, weil er seinen Cousin im Laufe eines Streits in der Familie mit einem Messer verletzt hatte. Im Winter kamen wegen Kokainschmuggels sechs Jahre hinzu. Zwischen diesen Verfahren besteht allerdings keine Verbindung. Die Ermittlungen wegen Drogenschmuggels hatten bereits 2018 begonnen, während der Konflikt mit dem Cousin erst 2020 erfolgte.

    Quincy Promes war schon 2014 zu Spartak gewechselt und wurde dort nicht nur zu einem Star, sondern zu einer echten Legende. Er war 2017 Mitglied der Mannschaft, die die Meisterschaft holte, zum ersten Mal nach 16 Jahren. Im Mai 2023 wurde er zum besten Stürmer des Clubs in der postsowjetischen Vereinsgeschichte. Und er wurde zum erfolgreichsten ausländischen Torschützen der russischen Ligageschichte.

    Es gab einen dritten Vorfall mit Promes, der an sich relativ unbedeutend war. Doch ohne diesen Fall wäre er wohl nicht hinter Gittern gelandet. In der Winterpause 2023-2024 flog Quincy in den Urlaub nach Dubai (in der Europäischen Union wollte er sich nicht sehen lassen, weil er in Abwesenheit wegen des Angriffs auf seinen Cousin verurteilt worden war). Dort hatte er mit einem Mietwagen einen Unfall mit einem Bus verursacht und war vom Unfallort geflüchtet. Bald darauf flog er nach Moskau, um danach mit Spartak ins Trainingslager in die Emirate zurückzukehren. Dem Verein hatte er dabei nichts von dem Unfall erzählt.

    Das Urteil von sechs Jahren Gefängnis wegen des Drogenschmuggels wurde am 14. Februar bekannt, als Promes sich mit Spartak in den Emiraten aufhielt. Zwei Wochen später wurde er nicht in den Flieger seines Vereins gelassen, der ihn zurück nach Russland bringen sollte. Das erfolgte aufgrund der Rechtsverletzung in den Emiraten. Der Grenzschutz der Emirate hatte die Informationen zur Flucht vom Unfallort erhalten. Bald schon wurde die niederländische Seite aktiv. In den Emiraten ging ein Auslieferungsantrag ein, und der Fußballer wurde festgenommen. Ende März berichtete De Telegraaf, Promes habe ein Gerichtsverfahren zu erwarten. Bis zu einer Entscheidung über die Auslieferung bleibe er unter gewöhnlichen Bedingungen in Haft. In seiner Zelle, die für sechs Personen ausgelegt ist, sitzen rund 20 weitere Häftlinge. Am 17. Mai wurde berichtet, dass der Fußballer auf Kaution freigelassen wurde, die Emirate aber nicht verlassen darf.

    Aus den niederländischen Ermittlungen geht hervor, dass für Promes zwei Lieferungen Kokain aus Brasilien im Hafen von Antwerpen eintrafen mit einem Gesamtgewicht von 1362 Kilogramm. Die Ware war als Meersalz in Säcken getarnt. Nach Angaben der Ermittler hatte der Spieler von Spartak 200.000 Euro investiert, um sechs Millionen herauszuholen. Promes hatte Komplizen (darunter seinen Onkel), stand aber an der Spitze dieser Miniorganisation. Daher wurde für ihn das höchste Strafmaß von allen gefordert. „Allem Anschein nach hält sich Promes für unantastbar, sei es in Russland oder in anderen Ländern. Mich würde interessieren, wie ein erfolgreicher Fußballer sich derart in Verbrechen verstricken konnte“, zitiert die NL Times den Staatsanwalt.

    Spartak verweist die ganze Zeit auf das laufende Berufungsverfahren und löst den Vertrag mit Promes nicht auf. RBK zufolge ist es für den Club juristisch möglich, den Vertrag zu kündigen: Als er 2021 unterzeichnet wurde und die Ermittlungen zum Angriff auf seinen Cousin schon bekannt waren, hatte Spartak eine Klausel darüber eingefügt, dass der Vertrag ohne weitere gegenseitige Ansprüche aufgelöst werden kann, falls der Spieler nicht mehr für die Mannschaft spielen kann.

    Höchstwahrscheinlich wird Promes nicht mehr für Spartak spielen, auch wenn der Vertrag bis Juni nächsten Jahres läuft. Wenn der Unfall mit dem Mietwagen nicht gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich mit der Mannschaft nach Russland zurückfliegen und weiter in der Premjer Liga spielen können. Aus Russland hätte man ihn wohl kaum an die Niederlande ausgeliefert. Darauf wies gegenüber The Insider Andrej Morosow hin, ein Anwalt der Kanzlei Feokistow und Partner: „Die Entscheidung über eine Auslieferung trifft praktisch die Generalstaatsanwaltschaft. Das ist ein außerordentliches Verfahren, weswegen eine Auslieferung aus politischen Motiven erfolgen kann (oder eben nicht erfolgen kann).“

    Bereits vor seiner Inhaftierung in Dubai hatte Promes wohl versucht, sich durch eine russische Staatsangehörigkeit abzusichern. Vor einem Jahr wurde bekannt, dass ihm Spartak dabei half. Das russische Sportministerium verweigerte jedoch wegen des laufenden Gerichtsverfahrens seine Mitwirkung. Wenn der Niederländer die russische Staatsangehörigkeit erhalten hätte, wäre er auf russischem Hoheitsgebiet in Sicherheit gewesen, weil Russland seine Staatsangehörigen nicht ausliefert. Übrigens droht Promes auch in Russland ein Strafverfahren, nämlich wegen systematischer Nichtzahlung von Steuern. Dem Portal Mash zufolge schuldete er dem Finanzamt 397.000 Rubel, bevor er zum Trainingslager in die Emirate flog.

    Ein Amerikaner, der Polizisten angriff

    Im Sommer 2023 unterzeichnete SKA Petersburg, einer der Spitzenclubs der Kontinentalen Eishockeyliga (KHL), finanziert von Gazprom, einen Vertrag mit Alex Galchenyuk, einem US-Amerikaner belarussischer Herkunft. In seiner Jugend hatte er einen russischen Pass und eine Einladung in die russische Sbornaja. Galchenyuk lehnte jedoch sowohl eine Nominierung wie auch den Pass ab. Er war dann aber genötigt, über Angebote aus Russland nachzudenken, nachdem der gerade erst unterschriebene Vertrag mit den Arizona Coyotes aus der National Hockey League aufgelöst wurde.

    Mitte Juli letzten Jahres war Galchenyuk wegen eines Angriffs auf Polizisten verhaftet worden. Er war mit seinem Vater mit einem BMW in einen Unfall verwickelt. Der Wagen war gegen den Bordstein geraten und hatte ein Verkehrsschild und ein Auto daneben beschädigt. Als die Polizei am Unfallort eintraf, fand sie den Eishockeyspieler einige Meter vom Wagen liegend betrunken vor. Bei der Festnahme leistete er Widerstand, wurde grob und drohte den Polizisten. Auf einem später in Umlauf gebrachten Video der Polizeikameras ist deutlich zu hören, was Galchenyuk den Polizeibeamten sagte: „Ist dir klar, dass ich dich einfach absteche? Die Kehle schneide ich dir durch … Du weißt, dass ich Abramowitschs Nummer habe… Und ihr alle seid am *** … Lass mich aus dem Wagen, sonst werden alle eure Kinder, alle eure Frauen, alle eure Töchter sterben. Ein Anruf von mir, und ihr seid tot“. Darüber hinaus erlaubte er sich rassistische Äußerungen gegenüber einem der Polizisten.

    Der Spieler entschuldigte sich später öffentlich, doch gab es bereits keinen Weg zurück in die NHL. In solchen Fällen bieten die Clubs den Betroffenen gewöhnlich einfach keinen Vertag mehr an, zumindest bis zu einer Rehabilitierung. Galchenyuk erhielt nun Angebote aus Russland, wobei er sich für SKA Petersburg entschied. Roman Rotenberg, der Cheftrainer von SKA und gleichzeitig dessen Vizepräsident und stellvertretender Vorsitzender des Direktorenrats (sowie Sohn des Geschäftsmanns Boris Rotenberg), war begeistert, dass Galchenyuk sich für seinen Club entschied: „Wir sind froh, dass ein Hockeyspieler von diesem Niveau zu uns gestoßen ist. Wie man so sagt, ein Gottesgeschenk. Weil es ganz und gar nicht einfach ist, einen solchen Spieler zu bekommen.“ 

    Und bei der Vorstellung des neuen Spielers erklärte Rotenberg noch vor den Fragen zu dem Vorfall: „Alex passt rundum in unser System. Von den menschlichen Qualitäten her wie auch als Spieler.“ Auf Nachfragen von The Insider an SKA über die Vertragsunterzeichnung und die Zukunft von Galchenyuk gab es keine Antwort.

    Was die Sportfunktionäre sagen

    Der Fall Quincy Promes verlangt in Bezug auf den Zustrom von Spielern mit Reputationsproblemen nach einer Stellungnahme führender Vertreter des russischen Fußballs. Maxim Mitrofanow, Generaldirektor des Russischen Fußballverbandes erklärte auf die Frage nach dem Image der russischen Premjer Liga als einer Liga von Kriminellen, dass man die russische Meisterschaft so nicht bezeichnen könne und fügte hinzu: „Das ist eher eine Frage an die Arbeitgeber. Hier entscheidet jeder selbst, ob er bereit ist, mit einem Menschen zusammen zu arbeiten, der eine Straftat begangen oder nicht begangen hat.“ Und der Chef der Premjer Liga Alexander Alajew formulierte es nach einer Mahnung daran, dass bis zum Ende des Berufungsverfahrens niemand als Verbrecher bezeichnet werden dürfe wie folgt:

    „Wenn die Schuld eines Spielers bewiesen ist, kann er nicht mehr in der Premjer Liga spielen. Fußballer sind ein Vorbild für Kinder; für meinen Sohn ist Promes ein Heiliger. Wir verfolgen die Situation von Promes und von Vloet mit Hilfe von Juristen. Wir können ihnen nicht verbieten zu spielen. Wir werden verfolgen, wie die Sache ausgeht. Aber Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, sollten kein Teil der Liga sein. Das ist meine Meinung.“

    Juristische Instrumente, um Verträge mit solchen Spielern zu verbieten, gibt es weder bei den Ligen (der Premjer Liga und der KHL), noch bei den Verbänden.

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  • Eine neue „goldene Generation“ im ukrainischen Fußball

    Eine neue „goldene Generation“ im ukrainischen Fußball

    Das ganze Land steht hinter der Sbirna, der ukrainischen Nationalmannschaft, die gegen Rumänien in die Fußball-Europameisterschaft startet. Der Druck ist groß, die Erwartungen sind hoch – man will  der eigenen Bevölkerung, die sich im Abwehrkampf gegen den russischen Angriffskrieg befindet, ein paar Momente des Glücks und der Genugtuung bescheren. Entsprechend groß ist auch die Hoffnung auf das Weiterkommen des Teams von Trainer Serhij Rebrow, das sich auch in Zeiten des Krieges weiterentwickelt hat. 

    Der ukrainische Journalist Yuriy Konkevych erklärt die Gründe für den kleinen Aufschwung im Fußball seines Landes und die Bedingungen, unter denen der Ballsport in Zeiten des Krieges stattfinden kann.

    Russisches Original

    Während eines Spiels in der Region Iwano-Frankiwsk knien Kinder nieder, um einem gefallenen Soldaten zu gedenken / Foto © Oleksandr Bondarenko

     

    Russland beschießt nach wie vor jeden Tag ukrainische Städte mit Raketen und Kamikaze-Drohnen, und dennoch wurde seit Februar 2024 erlaubt, dass ein Teil der Fans wieder in die Stadien zurückkehrt. Viele Teams hatten gefordert, das Reglement zu ändern und wieder Zuschauer zuzulassen. Es geht nicht ums Geschäft. Der Erlös aus dem Ticketverkauf kann gerade mal die Kosten der Spiele decken. Die Clubs wollten, dass die Arenen nicht verwaist sind, auch nicht während des Krieges. Präsident Wolodymyr Selensky  hatte seinerzeit, im Sommer 2022, die Entscheidung zur Wiederaufnahme des Profifußballs in der Ukraine – damals noch ohne Zuschauer – als Versuch deklariert, zu einem „normalen Leben“ zurückzukehren.

    „Wenn es erlaubt ist, große Konzerte zu veranstalten, wenn die Theater und Kinos geöffnet sind, warum sollen dann Fußballspiele mit Zuschauern untersagt sein? Die Fußballer spielen für die Fans.“ So fasste dann Ihor Nadein, der Präsident von Weres Riwne, gegenüber der Leitung des Ukrainischen Fußballverbandes (UAF) das Problem zusammen. Er und die Manager anderer Clubs wurden dann im Winter 2024 erhört. In dem neuen Reglement wurden rund 100 Anforderungen aufgestellt, die zu erfüllen waren, bevor man wieder Zuschauer in die Stadien lässt. Die wichtigste war, dass es in mindestens 500 Metern vom Stadion Luftschutzräume geben muss, die zu Fuß innerhalb von zehn Minuten erreichbar sind. In die Stadien werden genauso viele Fans gelassen, wie die Schutzräume aufnehmen können. Der Zugang zum Stadion muss durch Metalldetektoren erfolgen.

    Die Fußballer waren von den Neuerungen begeistert. „Das letzte Mal haben wir vor der Coronapandemie so viele Zuschauer gesehen“, sagte mir der Verteidiger bei Weres Riwne Olexander Kutscherenko nach einem Heimspiel. Es wurde nicht von Luftalarm unterbrochen. Das war eher eine Ausnahme als die Regel. Manchmal wurden die Begegnungen aber gleich mehrere Male durch russische Luftangriffe unterbrochen.

    Andrij Schewtschenkos Reformen im ukrainischen Fußball

    Dass die Fans wieder in die Stadien gelassen werden, ist nicht die einzige Reform, die Andrij Schewtschenko, Superstar des ukrainischen Fußballs und seit Januar 2024 Präsident des UAF, anstieß. Der Verband war über ein Jahr praktisch führungslos gewesen. Gegen den vorherigen Präsidenten Andrij Pawelko liefen Ermittlungen in einem Korruptionsfall. Die Probleme im ukrainischen Fußball sind durch den Krieg natürlich nur größer geworden. Ein Teil der Clubs ist von der Bildfläche verschwunden. Einige Hundert Schüler von Fußballakademien der Vereine sind ins Ausland gegangen. In der Liga gab es viele Schiedsrichterskandale und die Eigentümer der Vereine konnten sich nicht auf gemeinsame Übertragungsrechte für das Fernsehen einigen.

    Die Umstände der Rückkehr von Schewtschenko in die Ukraine, dessen Familie in London lebt, wurden von Fans und Journalisten viel diskutiert. Es wurde vermutet, dass dessen Wahl zum Präsidenten des UAF nicht ohne administrativen Druck seitens der Kanzlei des Präsidenten erfolgt sei. Dieser wollte wohl an der Spitze des ukrainischen Fußballs einen „seiner Leute“ sehen. Die Führungsstruktur des ukrainischen Fußballs ist derart aufgebaut, dass die regionalen Verbände von Leuten angeführt werden, die der Exekutive nahestehen. So war es wohl nur schwer zu bewerkstelligen, einen UAF-Kongress einzuberufen, auf dem Schewtschenko einstimmig zum neuen Präsidenten gewählt wurde, ohne dass es dann wenigstens indirekte Hinweise auf die Präsidialkanzlei gab.

    Schewtschenko, der legendäre Spieler und Trainer, begann seine neue Aufgabe mit abrupten Schritten: Fans wurden zu den Spielen zugelassen, im Verband wurde das gesamte Management ausgewechselt, bei den Spielen der Premjer-Liha werden die Schiedsrichter jetzt per Los angesetzt, und die Referees werden mit Lügendetektoren gecheckt. Die Premjer-Liha hat eine eigene Plattform zur Übertragung der Spiele geschaffen und will damit Geld machen. Im Verband gibt es jetzt eine Stelle für interne Ermittlungen, die die Korruption im ukrainischen Fußball bekämpfen soll.

    Investitionen und neue Spieler auf dem Markt

    Es klingt absurd, aber die Situation des ukrainischen Fußballs hat sich im dritten Jahr der russischen Vollinvasion verbessert. In den drei Profiligen spielten in der abgelaufenen Saison 50 Clubs: 16 in der Premjer-Liha, 20 in der Ersten Liga und 14 in der Zweiten Liga. Mehr noch: Auf dem Fußballmarkt der Ukraine gibt es jetzt neue Spieler, weil große Unternehmen nun in den Fußball investieren. Dabei werden die Gelder nicht nur für den Kauf neuer Spieler eingesetzt wie zu Zeiten des sogenannten Oligarchen-Fußballs, sondern auch für Marketing und Jugendakademien.

    Um Erfolge auf der europäischen Ebene kämpfen jetzt nicht nur Dinamo Kyjiw und Schachtar Donezk, sondern auch Dnipro-1 aus Dnipro. Krywbas trägt seine Spiele in Krywy Rih aus, unweit der Front. Der Club, der von Leuten wiederbelebt wurde, die Präsident Selensky nahestehen, gehört in der Premjer-Liha zur Spitzengruppe. In Lwiw hat zwischen den Vereinen Karpaty und Ruch ein Wettringen um Talente und Zuschauer begonnen. Ersterer ist traditionell ein Aushängeschild der Stadt und wird von dem Zuckermagnaten Wolodymyr Matkiwski gesponsort. Karpaty konnte mit einem zweiten Platz sogar seine Rückkehr in die Premjer-Liha sichern. Die Mannschaft wird von Miron Markewitsch trainiert, der Dnipro 2015 bis ins Finale der Europa League geführt hatte.

    Die ukrainische Nationalmannschaft singt die Nationalhymne beim Freundschaftsspiel gegen Polen in Warschau am 7. Juni / Foto © Maciej Rogowski/ZUMA Press Wire/IMAGO

    Ruch wurde von Hryhorii Koslowsky aufgebaut, dem reichsten Unternehmer der Stadt, der auch weiter in den Verein investiert. Die Fußballakademie von Ruch gilt als die beste in der Ukraine. Die U 19 ist stets bei den Jugendturnieren der UEFA vertreten. Und dann sorgte Polissja Schytomyr für Aufsehen. Der Club wurde im Herbst 2021 von Hennadii Butkewytsch gekauft. Er besitzt ATB, die größte ukrainische Einzelhandelskette. Der Krieg hat seinen Investitionen in den Fußball kein Ende gesetzt. In Schytomyr gibt es zwei Stadien und viele Plätze, eine Fußballakademie, und Spieler, die vom gleichen Niveau sind wie die von Dinamo und Schachtar. Noch fehlen aber die Ergebnisse. Am Ende der Saison ergatterte Polissja gerade noch den fünften Platz und konnte sich somit für die Conference League qualifizieren.

    2023 machten zwei weitere Clubs von sich reden, in die viel Geld floss. LNZ aus Tscherkassy (LNZ steht für die LNZ Group bzw. die Lebedynsky-Saatgutfabrik) hat es in die Premjer-Liha geschafft, kaufte dann bekannte Spieler und baut jetzt in Tscherkassy ein Fußballzentrum auf. Der Chef des Aufsichtsrates der Agrarholding LNZ Group, Dmytro Krawtschenko, steht auf Platz 86 der reichsten Ukrainer.

    Metalist 1925 Charkiw hat wegen der russischen Angriffe auf die ukrainische Industrie den Besitzer gewechselt. Nach einer Reihe von Raketenangriffen verlor die AES Group, der der Verein früher gehörte, sämtliche Unternehmen in den Sparten Petrochemie, Spirituosen, Bau und Energie. Neuer Besitzer des Vereins wurde im September 2023 Wolodymyr Nossow, der Begründer und Geschäftsführer von WhiteBIT, einer der größten europäischen Kryptobörsen, die in der Ukraine gegründet wurde.

    Geld für den Fußball und Rückstellung für die Spieler

    Wenn zu Kriegszeiten Profifußball gespielt wird, geht es nicht nur um gewonnene Matches, sondern auch um die moralische Komponente des Geschäfts. Wie verantwortbar ist es, Millionen Euro für das Spiel mit dem Ball auszugeben? Pawlo Petritschenko, Veteran der Streitkräfte der Ukraine, hat im Januar dieses Jahres einen Sturm der Emotionen losgetreten. Als Reaktion auf den Kauf von teuren Legionären durch Schachtar Donezk postete er auf X folgenden Tweet: „Rinat Achmetow  hat sich für 15 Millionen Euro ein brasilianisches Spielzeug gekauft. Das ist ungefähr so viel wie Sternenko [ein ukrainischer Freiwilliger – dek] in all der Zeit für FPV-Drohnen gesammelt hat. Achmetow ist der Krieg egal; seine Mannschaft spielt jetzt einfach nicht mehr in Donezk, sondern in Kyjiw“.

    Diejenigen, die Ausgaben für Fußball befürworten, verweisen beharrlich darauf, dass alle Vereine in einem gewissen Umfang für die Armee spenden und der Kauf von Spielern als Investition gilt. Schachtar verdient auch nach Beginn des großangelegten Krieges weiter. Nach Schätzungen des Portals Transfermarkt.de hat der Club aus Donezk seit 2022 für 125 Millionen Euro Fußballer verkauft. Nicht nur Schachtar ist zu einer Politik der großen Investitionen zurückgekehrt. Fast alle Clubs der Premjer-Liha haben aufsehenerregende Transfers getätigt, über die in der Ukraine diskutiert wurde. Eine klare Antwort, ob es richtig ist, während des Krieges mit Geld um sich zu werfen, das in den Fußball fließt, ist nicht in Sicht.

    Eine andere problematische Frage: Wie soll man mit Fußballern umgehen, die dienstpflichtig sind und unter die Mobilmachung fallen? Eine der Lösungsvarianten ist hier der Status eines strategisch wichtigen Unternehmens, der eine Rückstellung der Spieler ermöglicht. Mit Stand vom 1. April haben fünf Vereine diesen Status: Schachtar, Dinamo, Obolon Kyjiw, Dnipro-1 und Krywbas.

    Schewtschenko und Rebrow: das Star-Duo im ukrainischen Fußball

    Die Nationalmannschaft, die Sbirna, ist immer noch das stabilste Aushängeschild des ukrainischen Fußballs. Sie wird von allen geliebt und die Übertragungen sorgen für gute Einschaltquoten, im Hinterland wie in Frontnähe. Das war nicht immer so. Die Nationalmannschaft startete ohne Cheftrainer in die EM-Qualifikation. Die Lage wurde allmählich schwierig. Im März 2023 übernahm diese Funktion vorübergehend Ruslan Rotan, ein ehemaliger Spieler von Dnipro, der gleichzeitig die Mannschaft des Erstligaclubs Oleksandrija und die Jugendauswahl der Ukraine trainierte. Erst im Juli unterzeichnete der Verband den Vertrag mit Serhij Rebrow. Mit ihm qualifizierte sich die Ukraine dann in den Play-Offs  gegen Bosnien-Herzegowina und Island für die EM in Deutschland.

    Rebrow kehrte mit seiner Familie in die im Krieg stehende Ukraine zurück. Zuvor war er in Ungarn tätig gewesen, wo er mit Feréncvaros Budapest zweimal die Meisterschaft geholt hatte und sogar in die Gruppenphase der Champions League eingezogen war. Außerdem hatte er zuvor einen guten Vertrag mit al-Ain in den Vereinigten Arabischen Emiraten unterschrieben und dort die Meisterschaft geholt.

    „Ich persönlich werde weiterhin die Armee und diejenigen unterstützten, die Opfer des russischen Angriffskrieges wurden. Ich freue mich, dass ich in die Ukraine zurückgekehrt bin, und werde für unseren Staat arbeiten. Meine Familie kehrt ebenfalls zurück. Ich bin sehr froh, dass meine Frau meine Entscheidung so angenommen hat“, sagte Rebrow damals. Schewa [Schewtschenko – dek] und Rebrow sind wieder – wie vor 20 Jahren bei Dinamo Kyjiw – die wichtigsten Akteure im ukrainischen Fußball.

    „Der Krieg in der Ukraine geht weiter. Das ist für die Spieler schwierig, die ständig aufs Handy schauen und die Nachrichten verfolgen. In einer solchen Atmosphäre fällt die Arbeit nicht leicht. Wir verstehen, dass wir ein starkes Land repräsentieren. Wir müssen Charakter zeigen“, hatte Rebrow vor dem Spiel gegen Bosnien-Herzegowina gesagt.

    Eine neue „goldene Generation“ in der ukrainischen Nationalmannschaft

    Die Spieler der aktuellen ukrainischen Nationalmannschaft werden wieder die „goldenen Jungs“ genannt. Dort gibt es erfahrene Führungsspieler und junge Talente. Andrij Jarmolenko und Taras Stepanenko werden von der Motivation getrieben, mit der Sbirna endlich etwas zu gewinnen. Die jungen Spieler wollen sich bei einem großen internationalen Turnier zeigen und beweisen. Die meisten Spieler der heutigen Sbirna hatten es schon 2020 geschafft, bis ins Viertelfinale der EM vorzustoßen. Und sie sind Stammspieler bei Vereinen der europäischen Top-Ligen.

    Andrij Lunin hütet bei Real Madrid das Tor, Anatolii Trubin bei Benfica Lissabon. In England ist jetzt eine ganze Brigade Ukrainer am Start: Olexander Sintschenko ist eine zentrale Größe bei Arsenal. Der Transfer des 21-jährigen Mychailo Mudrik von Schachtar zu Chelsea vor zwei Jahren war eine Sensation. Witalii Mikolenko ist bei Everton ein wichtiger Verteidiger, ganz wie Illja Sabarny bei Bournemouth. Viktor Syhankow und Artem Dowbik haben in dieser Saison den spanischen Club FC Girona mit in die Champions League gebracht. Ruslan Malinowsky und Roman Jaremtschuk spielen bei Genua und Valencia. Für Mykola Schaparenko und Wolodymyr Braschko (beide bei Dinamo Kyjiw) sowie für Heorhii Sudakow (Schachtar Donezk) bedeutet die Qualifikation für die EM in Deutschland die Chance, einen europäischen Spitzenclub zu finden und einen vielstelligen Vertrag zu ergattern. Wie dem auch sei: Sie alle werden nicht nur für eine gute Platzierung bei der EM kämpfen, sondern auch für ihr Land. 

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  • Alternative Wahlen für Belarus

    Alternative Wahlen für Belarus

    Vom 25. bis 27. Mai finden die Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition im Exil statt. Das Organ wurde während der Proteste im Jahr 2020 gegründet, um einen möglichen Machtwechsel vorzubereiten. Viele Mitglieder des Rates, die die Zivilgesellschaft, Wirtschaft oder Kultur repräsentierten, wurden damals inhaftiert oder mussten das Land verlassen, wie beispielsweise die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.

    Die Opposition um Swetlana Tichanowskaja institutionalisiert seit dem Gang ins Ausland die Arbeit der demokratischen Bewegung, es wurde ein Übergangskabinett geschaffen, nun soll der Koordinationsrat in eine Art Proto-Parlament umgebaut werden, das die Interessen der Belarussen vertritt und die Arbeit der Oppositionsführung kontrolliert. Die Wahl läuft digital ab, dazu wurde speziell eine App entwickelt, über die sich Wähler registrieren lassen können. So sollen auch Belarussen im Inland an der Wahl teilnehmen können. Zur Wahl stehen 256 Kandidaten, die als zwölf Gruppierungen ins Rennen gehen.

    Für das Online-Medium Pozirk beschäftigt sich der Journalist Alexander Klaskowski mit diesen Gruppierungen und ihre politischen Ausrichtungen, mit den Wahlen und mit dem Sinn eines solchen Organs im Exil. 

    Auf die Wahlen zum Koordinationsrat (KR) reagieren Aljaxandr Lukaschenka und seine Geheimdienste sehr viel lebhafter als der belarussische Durchschnittswähler. Bereits fünf Koalitionen, die zur Wahl in den KR antreten, sind zu extremistischen Vereinigungen erklärt worden.

    Die bevorstehenden Wahlen zum Koordinationsrat (KR) hatte Lukaschenka genau einen Monat vor dem Wahltag erwähnt, nämlich am 25. April vor der VII. Allbelarussischen Volksversammlung: „Jetzt sind sie sogar bis zu den Kalinouski-Leuten gekommen. Da ist es eh schon zum Bruch gekommen. […] Sie wissen nicht, wen sie aufstellen sollen. […] Das ist ein Hauen und Stechen.“

    Der Herrscher hat zwar Schadenfreude gezeigt und versucht, die politischen Opponenten als bedeutungslose Gestalten hinzustellen, doch ist schon dieser Kommentar als solcher bezeichnend. Es scheint, als würde den Führer des Regimes etwas umtreiben, nämlich sein Komplex von 2020. Damals hatte es geschienen, als sei alles im Kasten; die wichtigsten Widersacher saßen hinter Gittern. Doch dann tauchte wie aus dem Nichts diese Hausfrau Zichanouskaja auf. Also sollte man jetzt lieber übervorsichtig sein.

    Durch die Brandmarkung als Extremisten sollen in der Vorstellung der Regierung sowohl die weniger standhaften Kandidaten für den KR eingeschüchtert als auch potenzielle Wähler abgeschreckt werden. Die Letzteren bekommen das Signal, dass eine Stimmabgabe für „kriminelle Elemente“ lange Haftstrafen nach sich ziehen könnte.

    Für alles Gute, gegen alles Schlechte

    Unterdessen ist der politisch aktive Teil der Diaspora in Bewegung geraten. Zu den KR-Wahlen sind zwölf Listen mit 265 Kandidaten zugelassen. Die Wahlen finden nach einem Verhältniswahlrecht statt. Für europäische Demokratien ist das eine gewöhnliche Sache, für Belarussen jedoch etwas Neues.

    Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja und der Oppositionspolitiker Pawel Latuschko (rechts) am 26. März 2022 beim Tag der belarussischen Freiheit in Warschau / Foto © Aleksander Kalka/IMAGO/ZUMA Wire

    Salidarnasc

    Wenn man sich anschaut, wer auf den Listen zusammengefasst wird, erscheinen einige Bündnisse aus der Situation geboren. So haben sich die Sozialdemokraten der Narodnaja Hramada (dt. Volksgemeinschaft) mit einem Teil der Christdemokraten zum Bündnis Salidarnasc (dt. Solidarität) zusammengeschlossen. In normalen Demokratien stehen Sozialdemokraten und Christdemokraten für recht unterschiedliche Ideologien. Unter den Bedingungen in Belarus aber bedeuten Parteietiketten kaum etwas, insbesondere nach 2020.

    Das Programm von Salidarnasc besteht lediglich aus vier Punkten und fällt durch Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler auf. Kurzum: Es wirkt wie in der U-Bahn geschrieben. Die Thesen sind äußerst allgemein und plakativ.

    So steht da als erster Punkt „Einsatz für möglichst baldige, freie, faire und transparente Wahlen auf dem Gebiet der Republik Belarus nach den Standards der OSZE“. Ein prächtiger Wunsch. Dumm nur, dass Lukaschenka diese Standards nicht anerkennt. Und mit dem politischen Ruhestand hat er es überhaupt nicht eilig. Wie also wollen sie ihn dann überreden oder zwingen? Mit einer Resolution des Koordinationsrats?

    Wolja

    Die Bewegung Wolja (dt. Freiheit) beispielsweise hat nicht vor, irgendwen zu überreden. Sie verkündet „die Befreiung des Landes von der hybriden Besatzung“, „die Entfernung von Personen aus der Staatsmacht in Belarus, die diese verfassungswidrig innehaben“.

    Hierzu wird unter anderem die Bildung einer belarussischen Befreiungsarmee vorgeschlagen. Die Frage ist: Woher kommen die Ressourcen (Menschen, Waffen)? Und: Welches Land würde es erlauben, dass auf seinem Territorium ein solches Heer aufgestellt wird? Spoiler: Die herrschenden Eliten der Nachbarländer haben wohl kaum den brennenden Wunsch, sich auf diese Weise Probleme aufzuhalsen.

    Unabhängige Belarussen

    Die Unabhängigen Belarussen versprechen im Falle ihrer Wahl, drei Pläne zur Befreiung von Belarus auszuarbeiten: einen operativ-taktischen, einen strategischen und einen Reserveplan. Die Autoren des Programms konstatieren dabei „eine tiefgreifende Diskreditierung des nicht umgesetzten Mobilisierungsplans Peramoha (dt. Sieg) der Organisation BYPOL sowie das totale Scheitern der demokratischen Kräfte im Bereich der strategischen Planung“.

    Gesetz und Rechtsordnung

    Wenn man sich vorstellt, dass Aljaxandr Asarau, der Leiter von BYPOL mit seiner Liste Gesetz und Rechtsordnung in den KR einzieht, lässt sich eines erwarten: Die Diskussionen im „Protoparlament“ zwischen den Gruppen, die den Schwerpunkt auf einen gewaltsamen Kampf gegen das Regime legen, werden heftig.

    Im Großen und Ganzen sind die Szenarien eines gewaltsamen Machtwechsels in Belarus bislang höchst illusorisch. Und der aktuelle Verlauf des Krieges in der Ukraine fördert diese Perspektiven nicht.

    Ein Land für das Leben

    Eine Reihe von Programmen ist nach dem schlichten Prinzip „für alles Gute, gegen alles Schlechte“ geschrieben. So setzt sich die Koalition Ein Land für das Leben die „Vereinigung aller demokratischen Kräfte“ zum Ziel.

    Eine derartige Idylle hat es noch nie gegeben, seit eine Opposition gegen Lukaschenkas Regime besteht. Und wird es wohl nicht geben. Eine Allianz von Sjanon Pasnjak, Walery Zapkala und Swjatlana Zichanouskaja wäre unvorstellbar.

    Stimme der Diaspora

    Das Bündnis Stimme der Diaspora – Geschlossenheit über Grenzen hinweg wird dafür kämpfen, „dass die Stimme der belarussischen Diaspora in aller Welt bei Entscheidungen der demokratischen Kräfte in Belarus erhört wird“. Das Programm dieser Liste ist ebenfalls sehr allgemein gehalten.

    Team Latuschka und die Bewegung „Für die Freiheit“

    Das Programm der Koalition Team Latuschka und die Bewegung „Für die Freiheit“ (die Anführer sind Pawel Latuschka, der eine Masse von Titeln besitzt, sowie dessen Mitstreiter Jury Hubarewitsch) sieht solide und sorgfältig durchgearbeitet aus. In dem Dokument gibt es konkrete Punkte, zum Beispiel, dass der KR ein Programm zur Förderung der nationalen Wiedergeburt von Belarus verabschieden sollte.

    Eine andere Frage ist, wie wirksam die Beschlüsse des KR sein werden. Welche Dokumente man auch verabschiedet, das Regime von Lukaschenka wird weiter die Souveränität des Landes abgeben. Er hat das Tor zur „russischen Welt“ weit aufgestoßen.

    Unsere Sache

    Die Vereinigung Unsere Sache mit der Politologin Rosa Turarbekowa an der Spitze hat folgende Devise gewählt: „Nein zum eisernen Vorhang zwischen Belarus und Europa!“ Dieses Team hat einen konkreten Zweijahresplan formuliert. Unter anderem soll durch die Arbeit des KR mit Regierungen demokratischer Länder erreicht werden, dass „mindestens auf dem Niveau von 2019 humanitäre, Arbeits- und Touristenvisa für Belarussen ausgestellt werden“.

    Beim Werben um Stimmen aus Belarus setzen andere Kandidatengruppe für den KR ebenfalls den Akzent darauf, dass man die Mitbürger nicht in der Diktatur eingepfercht lassen dürfe und sie nicht ohne Möglichkeit bleiben sollten, nach Europa zu fahren.

    Jugendoffensive und Es reicht mit der Angst

    Für ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt von Visa und Dokumenten zum Studium oder für Reisen tritt auch die Jugendoffensive ein. Die Liste Es reicht mit der Angst will ebenfalls Lobbyarbeit für offene Grenzen für ihre Landsleute betreiben. Daneben ist sie für einen verstärkten Druck auf das Regime (das sei wohl „die einzige Sprache, die der Diktator und seine Junta verstehen“).

    Europäische Wahl

    Die Europäische Wahl mit Aljaxandr Dabrawolski an der Spitze, einem leitenden politischen Berater von Zichanouskaja, verspricht, „sich aktiv an der Ausarbeitung und Erörterung von Reformprogrammen zu beteiligen, die auf den Aufbau eines Rechtsstaates und einer effizienten Wirtschaft in Belarus nach europäischen Standards abzielen“. Allerdings stellt sich die Frage, wie lang man Reformpläne für die Schublade schreiben wird. Werden die nicht schon überholt sein, wenn die lichte Zeit eines neuen Belarus anbricht?

    Block Prakopjeu-Jahorau

    Der ehemalige Gastronom und leidenschaftlicher Regimekritiker Wadsim Prakopjeu und der Vorsitzende des jetzigen KR, Andrej Jahorau, haben den Block Prakopjeu-Jahorau aufgestellt, der ebenfalls ein konkretes Zweijahresprogramm anbietet. Vorgesehen ist dort unter anderem „ein Übergang der demokratischen Kräfte zur Selbstfinanzierung (Kaffeekasse)“. Das klingt spannend. Ist aber, sagen wir es mal so, eine Herkulesaufgabe.

    Auch sollen „überflüssige politische Entitäten entfernt werden“. Und eine „Optimierung der Struktur [der demokratischen Kräfte, ist hier wohl gemeint – A. K.] sowie die Vereinigung doppelnder Organisationen erreicht werden, damit die Ressourcen besser koordiniert und genutzt werden“. Eigentlich eine hochaktuelle Idee, weil sich die Ressourcen zusammenziehen wie Chagrinleder. Nur dass diejenigen, die unters Messer der Optimierung sollen, sich mit einem solchen Schritt wohl kaum abfinden werden.

    Zauberstab gesucht

    Insgesamt ist die Qualität der Programme sehr unterschiedlich. Einige sind eindeutig in Eile geschrieben und bestehen aus leeren Parolen. Andere enthalten konkrete Ideen. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit und auf welche Weise der KR bei der Umsetzung helfen kann. Welchen Zauberstab bekommen jene, die in den neuen Rat einziehen?

    Das Personal des aktuellen KR hat jedenfalls, milde gesagt, nicht zusammengefunden. Seine Legislaturperiode bleibt vor allem durch Skandale und nicht eingehaltene Deadlines in Erinnerung. Immerhin wurde die Entlassung eines Ministers von Zichanouskaja erreicht, nämlich die von Asarau.

    Eine starke Alternative?

    Der größte Reinfall war, dass die Frist für die nächste Wahl zum KR nicht eingehalten wurde. Schließlich bestand der Clou ja darin, diese Wahl parallel zu der „Nichtwahl“ des Lukaschenka-Regimes am allgemeinen Wahltag abzuhalten, dem 25. Februar. Man hatte verkündet: Wir bieten den Belarussen eine starke Alternative.

    Es wurde lange klug geredet, doch ist es nicht gelungen, sich rechtzeitig auf ein Wahlsystem zu einigen. Und hier hat nicht das Regime Knüppel zwischen die Beine geworfen; das haben sie selbst verbockt.

    Aber lieber spät als nie. Die Kandidaten rufen engagierte Belarussen verstärkt dazu auf, an der Wahl teilzunehmen. Von der Wahlbeteiligung wird die Legitimität des neu zusammengesetzten KR abhängen.

    Allerdings ist die Lage hier dramatisch. Es lässt sich leicht vorhersagen, dass vor allem die Diaspora zur Wahl gehen wird (und selbst die Frage, wie aktiv das sein wird, ist noch offen).

    Nachlassendes Interesse, Angst und begrenzte Legitimität

    Innerhalb von Belarus hat selbst bei denen, die man als Verfechter von Veränderungen bezeichnen könnte, allgemein das Interesse an der Tätigkeit der Oppositionsstrukturen im Ausland nachgelassen. Das geschieht vor allem deshalb, weil letztere offensichtlich nicht ernsthaft auf das Geschehen im Land Einfluss nehmen können, weil Lukaschenka die Lage dort zementiert hat. Er stützt sich dabei recht stark auf den Kreml, und die Wirtschaft wächst trotz der Sanktionen.

    Hinzu kommt, dass selbst der politisierte Teil der Bevölkerung durch ganz banale Angst von einer Stimmabgabe abgehalten werden kann. Die Silowiki waren bemüht, diese Angst durch Bots, Fake News und Videos mit Bekenntnissen von Leuten anzufachen, die angeblich bei der Registrierung beim Peramoha-Plan erwischt wurden. Und so sehr die Organisatoren der Wahlen auch versichern, dass die Plattform absolut sicher ist, wird ein gewisser Teil der Belarussen im Land lieber nichts riskieren.

    Der Koordinationsrat hat selbst dazu beigetragen, das Ansehen dieser Institution zu diskeditieren

    Schließlich muss deutlich gesagt werden, dass der jetzige KR selbst einiges dazu beigetragen hat, das Ansehen dieser Institution zu diskreditieren.

    Der Vorsitzende Jahorau erklärte Anfang April, dass man bei einer erfolgreichen Kampagne „mit einer Wahlbeteiligung von 50.000 und mehr“ rechne. 50.000 sind weniger als ein Prozent der belarussischen Wahlberechtigten. Wenn also eine derartige Ziffer erreicht wird, wäre die Legitimität der neuen Abgeordneten zwar größer als die ihrer Vorgänger, aber dennoch recht begrenzt.

    Keine Schwatzbude

    Am schwierigsten wird es für die neuen Abgeordneten zu beweisen, dass der KR keine Schwatzbude ist und keine zusätzliche Quelle von Zwist und Reibereien, sondern genau die Struktur, die die Anhänger eines Wandels in Belarus brauchen.

    In den KR ziehen ambitionierte politische Akteure ein. Einige Experten gehen davon aus, dass Latuschka, der mit der längsten Liste antritt (47 Kandidaten), das Protoparlament als Bühne nutzen wird, um seine politische Position zu stärken. Er selbst wendet sich leidenschaftlich gegen jeden Verdacht, er wolle die Stellung von Zichanouskaja untergraben.

    Trotzdem sprudelt das Thema hoch: Wenn er mit seinen Anhängern im KR die Mehrheit erringt, wird es dann zu einem Tauziehen kommen? Gerät diese Struktur zu einem ernsthaften Opponenten des Büros von Zichanouskaja? Wir können annehmen, dass die Mission des erfahrenen Dabrawolski mit seiner Liste darin besteht, ein solches Szenario zu verhindern und dem Team von Zichanouskaja ausreichend Einfluss im KR zu sichern.

    Und das ist nicht das einzige Spannende bei den anstehenden Wahlen.

    Wenn der Koordinationsrat lediglich zu einer Kampfarena gerät, wird sich die Krise der Opposition nur verstärken

    Wettbewerb ist natürlich gut. Er ist das Markenzeichen der Demokratie. Allerdings ist zu bedenken, dass die belarussischen demokratischen Kräfte sich unter extremen Bedingungen bewegen. Wenn der KR lediglich zu einer Kampfarena gerät, die ständig neue Kluften erzeugt, wird sich die Krise der Opposition nur verstärken. Wenn dort einhellig leere Beschlüsse verabschiedet werden, wird von ihm ebenfalls keine große Wirkung ausgehen.

    Für den neuen KR wird es äußerst wichtig sein, endlich eine überzeugende Mission dieser Institution auszuloten und seine Notwendigkeit nicht durch schöne Erörterungen zu beweisen, sondern in der Praxis. Diese Legislaturperiode wird für das weitere Schicksal des Koordinationsrates entscheidend sein.

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  • Geschäfte und Geopolitik in Afrika

    Geschäfte und Geopolitik in Afrika

    Seit dem vergangenen Jahr spricht Putin in seinen Reden so häufig wie nie zuvor über Afrika. Woher kommt das gesteigerte Interesse? Der Ökonom Wladislaw Inosemzew beleuchtet auf Riddle die Geschäfte russischer Militärunternehmen, antikoloniale Rhetorik und geopolitische Ambitionen des Kreml auf dem Kontinent.

    Wladimir Putin empfängt im September 2023 seinen südsudanesischen Amtskollegen Salva Kiir Mayardit im Kreml. Russland hatte dessen Armee an einem UN-Embargo vorbei mit Waffen versorgt. / Foto © IMAGO, ITAR-TASS

    Vor 30 Jahren gab Wladimir Shirinowski, ein mittlerweile verstorbener russischer Politiker, der damals große Hoffnungen weckte, ein Buch heraus. Er drängte dort auf ein Ausgreifen Russlands in eine Richtung, die heute als „globaler Süden“ bezeichnet wird. Und schrieb von der Hoffnung, dass russische Soldaten einst ihre Stiefel im Indischen Ozean säubern würden. Seitdem haben die Bestrebungen, im Raum zwischen der Türkei und Indien, zwischen dem Persischen Golf und China einen Krieg zu führen, bei vielen abgenommen. Die Interessen der Großmächte haben sich Richtung Afrika verschoben. Auch Russland wurde in dieser Region aktiv und ist es immer noch, und zwar auf die ihm eigene, spezifische Weise.

    Militärunternehmen mischen sich in die inneren Angelegenheiten der Länder ein

    Präsident Putin hatte sich in den 2000er Jahren noch hauptsächlich mit der Wiederherstellung der Verbindungen zu den ehemaligen Satelliten der Sowjetunion befasst. Dazu gehörte, dass die Schulden recht erfolgreicher afrikanischer Staaten abgeschrieben wurden (bis 2008 wurden Schulden von über 14,5 Milliarden US-Dollar erlassen, unter anderem die von Libyen und Algerien). Ab 2012 verschoben sich die Akzente jedoch beträchtlich. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Kreml und seiner Stellvertreter gerieten nun die tyrannischsten Staaten des Kontinents, die von inneren Konflikten zerrissen und reich an wertvollen Bodenschätzen sind: der Sudan, die Zentralafrikanische Republik, Mali, Niger und eine Reihe anderer Staaten. Die RAND Corporation, ein US-amerikanischer Thinktank, hat jüngst in einer Studie 34 Fälle aufgeführt, in denen sich Russland seit 2005 in die inneren Angelegenheiten dieser Länder eingemischt hat. Dieses Vorgehen erfolgte zum Großteil nicht durch offizielle Stellen Russlands, sondern durch private Militärunternehmen und diverse Berater.

    Hier ist anzumerken, dass sich insbesondere nach 2012, nach Putins Rückkehr in den Kreml, dieses gesteigerte Interesse Russlands auf Nord- und Zentralafrika konzentrierte: Russland unterstützte die ihm nahestehenden Kräfte im Bürgerkrieg in Libyen. Und es versuchte, im Sudan Präsident Umar al-Baschir beim Machterhalt zu helfen. Gleichzeitig hat Russland die Armee des südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir Mayardit bewaffnet, wobei das von der UNO verhängte Embargo auf Waffenlieferungen nach Südsudan umgangen wurde. Nachdem der Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik 2016 einigermaßen beendet war, schickte Russland erstmals offiziell Waffen und Militärausbilder in das Land (meist Angehörige privater Militärstrukturen). Zuvor hatten sich die europäischen Staaten und vor allem Frankreich unfähig gezeigt, diesen Konflikt zu schlichten: Sie zogen den größten Teil ihrer Kontingente ab; die letzten französischen Soldaten verließen das Land 2022. Die Gewinne der Wagner-Gruppe in dieser Region beliefen sich bald schon auf mindestens mehrere Hundert Millionen Dollar. In Russland kamen Gerüchte auf, dass die Zentralafrikanische Republik quasi als „Tresor“ für Vermögen diene, die die russische politische Elite zusammengeraubt hatte. Die russische Expansion ging aber weiter: 2021 beteiligten sich kremlfreundliche Kräfte am Putschversuch im Tschad, indem sie die regierungsfeindlichen Aufständischen im Süden Libyens trainierten. Dann wurden Wagner-Leute in Mali gesichtet, wo sie auf Seiten der Regierungstruppen kämpften und in massenhafte Repressionen gegen Zivilisten verwickelt waren. Und im vergangenen Jahr wurden in Niger überall russische Flaggen geschwenkt, um Jewgeni Prigoshin zu grüßen, der gerade seine letzten Tage verlebte – zuvor hatten dort Militärs den rechtmäßigen Präsidenten Mohamed Bazoum durch einen Putsch gestürzt.

    Lukrative Geschäfte mit afrikanischen Bodenschätzen

    All diese Jahre machten Angehörige privater russischer Militärfirmen einträgliche Geschäfte: Sie sicherten die Förderung von Edelsteinen und -metallen, die sie wiederum als Bezahlung für ihre Waffen und Dienste erhalten hatten. Es besteht kein Zweifel, dass die Einnahmen mit Offiziellen in Moskau geteilt wurden, umso mehr, als Putin 2023 selbst einräumte, dass die Wagner-Gruppe aus Haushaltsmitteln finanziert wurde. Die Beseitigung Prigoshins und die anschließende „Wiederherstellung der alleinigen Befehlsgewalt“ in der russischen Armee führten zu Korrekturen in der russischen Politik in Afrika: Der stellvertretende russische Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow war allein in den letzten Monaten auf Staatsbesuchen in Sudan, Libyen und Niger. Seither sollte man von neuen „aussichtsreichen“ Plänen sprechen, die der Kreml ausbrütet.

    Je mehr Wagner den russischen Einflussbereich erweiterte, desto stärker begann man wohl im Kreml, auch größer zu denken

    Afrika wurde bislang von Putin und seiner engsten Umgebung als eine Region betrachtet, in der Russland eine gewisse (wenn auch nicht unbedingt sehr große) Präsenz haben sollte. Das Beispiel China mit seinen gigantischen Investitionen erschien attraktiv, für Russland aber kaum realisierbar. Westliche Experten sprechen heute eher davon, dass Russland sein eigenes autoritär-kleptokratisches Modell und nicht die chinesische Variante von Wirtschaftsentwicklung nach Afrika trägt. Je mehr Wagner mit minimalen Ausgaben (und mit Gewinn für sämtliche Nutznießer) den russischen Einflussbereich erweiterte und dadurch zeigte, wie einfach die ehemalige koloniale Präsenz in der Region zu entwurzeln ist, desto stärker begann man wohl im Kreml, auch größer zu denken.

    Ein Korridor bis zum Atlantik

    Seit dem Beginn der intensiven Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Sudan hatte es in der Presse Berichte über eine russische Initiative für einen eigenen Marinestützpunkt am Roten Meer gegeben. Moskau strebte eindeutig nach Präsenz in dieser strategisch wichtigen Region, wo bislang nur die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen ihr Unwesen treiben. Dieser Plan wurde bislang nicht verwirklicht. Dafür bilden die immer neuen Einflussgebiete Russlands in Afrika allmählich eine Art Korridor, der sich vom Roten Meer in Richtung Atlantik erstreckt, zu dessen Ufern der Kreml sehr gern einen Zugang hätte. Stand heute, nach dem kürzlich erfolgten Umsturz in Burkina Faso, ist es bis zum Ozean nur noch ein kleiner Schritt: In dem Land sind zwar nicht eindeutig prorussische Kräfte an die Macht gekommen (auch wenn der neue Regierungschef als erster auf dem Russland-Afrika-Forum eintraf), aber immerhin antiwestliche.

    Werden die Europäer weiter ihre Positionen aufgeben oder versuchen sie, eine Zunahme der russischen Präsenz aufzuhalten?

    Westliche Experten verweisen in letzter Zeit auf diese Prozesse, auch wenn sie diese noch nicht direkt mit dem Einfluss Moskaus in Verbindung bringen. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist der Artikel von Comfort Ero und Murithi Mutigi in der neuen Ausgabe von Foreign Affairs. Die Autoren stellen dort einen „Coup-Korridor“ fest, der sich von Ost nach West durch die zentralen Regionen des Kontinents zieht. Allerdings sollte man nicht allein auf die Umstürze verweisen, sondern auch deren Folgen berücksichtigen. Im Fall Guinea arbeitet die neue Regierung etwa an einer Rückkehr zu demokratischen Verfahren und fördert Beziehungen zu europäischen Staaten. Die Frage ist jetzt vielfach die: Werden die Europäer ihre Positionen in Westafrika (wo lange Zeit der französische Einfluss groß war) weiter aufgeben oder versuchen sie, eine Zunahme der russischen Präsenz dort aufzuhalten?

    Antikoloniale Rhetorik und bescheidene Wirtschaftshilfen

    Moskau setzt jetzt erkennbar eine in der Region populäre antikoloniale Rhetorik ein. Oft werden jene Politiker und Aktivisten unterstützt, die einen Panafrikanismus verfechten, selbst wenn sie in Europa geboren sind und dort ihre Bildung erhielten. Ein Beispiel ist Kémi Séba, der seine Bewegung schwarzer Suprematisten und Antisemiten begründete, nachdem er seine Bildung in Frankreich und den USA erhalten hatte.

    Anders als Peking investiert Moskau keine Riesensummen in afrikanische Volkswirtschaften. Russland geht in der Region aber viel härter vor und schreckt auch nicht vor politischer Destabilisierung zurück. Für eine Vollendung eines solchen Korridors, der den afrikanischen Kontinent durchschneidet, muss der Kreml die Kontrolle über sämtliche dieser kleineren, aber eng mit Frankreich verbundenen Länder herstellen. Hierzu gehören die Elfenbeinküste, Senegal und Kamerun, wo sich antikoloniale Stimmungen bemerkbar machen. Diese Länder versuchen aber auch, nachhaltige Beziehungen zu Frankreich aufrechtzuerhalten, weil sie auf Hilfe bei der Lösung interner Probleme hoffen. 

    Russland erzeugt eine Vielzahl von Problemen und beteiligt sich bei keinem davon an einer Lösung

    Vor kurzem noch hatten viele westliche Experten zu der Ansicht geneigt, dass „ohne Russland keines der globalen Probleme gelöst werden“ könne. Jetzt aber muss man sich eingestehen, dass Russland eine Vielzahl von Problemen und Konflikten erzeugt, und sich bei keinem von ihnen an einer Lösung beteiligt. Das ist auch in Afrika zu sehen. Ganz gleich, wohin nun die russischen Interessen durchgedrungen sind: Es ist weder ein stabiler Frieden hergestellt noch eine nennenswerte Prosperität erreicht worden. Afrika ist bekanntlich eine der ärmsten Regionen der Welt. Allerdings sind auch hier Unterschiede zu beachten. Bei einem durchschnittlichen afrikanischen BIP pro Kopf von 2150 US-Dollar ist der russische Einfluss in den ärmsten Ländern am deutlichsten spürbar: in Mali (875 USD), im Tschad (703 USD), in Niger (631 USD), in der Zentralafrikanischen Republik (539 USD) und im Südsudan (417 USD). Allerdings sind jetzt auch die wohlhabenderen Länder Senegal (1637 USD), Elfenbeinküste (1668 USD) und Kamerun (2560 USD) in Gefahr. Es bleibt zu hoffen, dass die russischen „Influencer“ nicht zum Ozean durchkommen und ein „Einflusskorridor“ den Kontinent niemals zweiteilen wird. Damit das nicht geschieht, muss sich allerdings die Haltung in den europäischen Hauptstädten gegenüber den Problemen in Afrika wandeln – von Gleichgültigkeit zu Interesse.

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  • „In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden”

    „In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden”

    Zehntausende Belarussen wurden nach den Ereignissen im Jahr 2020 Opfer von Repressionen und Verfolgungen, Hunderttausende haben aus Angst und Perspektivlosigkeit das Land verlassen. Auch der russische Krieg gegen die Ukraine beeinflusst die Stimmung in der belarussischen Gesellschaft. Eine Studie hat genau die untersucht. Sie zeigt, dass die Konfrontation zweier nationaler Ideen kritische Formen annimmt und einen Dialog zwischen Vertretern dieser polarisierten Gruppen praktisch unmöglich macht. Das Online-Medium Reform.by hat sich die Studie angeschaut. Hier die wichtigsten Ergebnisse.

    Die Studie Belarussische nationale Identität im Jahr 2023 wurde im November von unabhängigen Soziologen mithilfe der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt. Die Daten wurden mittels einer Online-Umfrage erhoben, bei der die Fragebögen von den Befragten selbst ausgefüllt wurden (Computer Assisted Web Interviewing – CAWI). An der Umfrage nahmen 1205 Personen aus belarussischen Städten mit über 20.000 Einwohnern teil. Die Stichprobe ist hinsichtlich von Geschlecht, Alter und Bildungsstand repräsentativ.

    Die Soziologen stellen fest, dass die politische Krise, die 2020 in Belarus einsetzte, weiterhin die Lage im Land beeinflusst. Hinzu kommen der russisch-ukrainische Krieg und weltpolitische Veränderungen. Die Menschen in Belarus sind durch eine ganze Reihe von Ansichten polarisiert, eine zentrale ist dabei die nationale Identität. Diese wurde für viele zu einem Prisma, durch das die Bewertung des aktuellen Geschehens und der Zukunft des Landes erfolgt.

    Zwei nationale Projekte

    In Belarus existieren heute zwei konkurrierende nationale Projekte, die von Wissenschaftlern als russisch-sowjetisch bzw. als nationalromantisch beschrieben werden. Das erste greift auf das sowjetische Erbe zurück, ist auf Russland ausgerichtet und stellt den Staat als nationsbildende Institution in den Vordergrund. Das zweite ist eher proeuropäisch, bezieht sich auf die vorsowjetische Geschichte und betrachtet die belarussische Kultur als wesentliches Element der Nation. Der Kampf und die Wechselbeziehungen dieser Projekte wie auch der Einfluss der gegenwärtigen Identität Russlands, des Kosmopolitismus und national indifferenter Haltungen bestimmen die Besonderheiten der nationalen Identität der Belarussen.

    An den äußeren Identitätspolen sind zwei Gruppen angesiedelt, die „[National]bewussten“ (13 Prozent) und die „Sowjetischen“ (37 Prozent). Erstere engagieren sich für einen nationalromantischen Entwurf und orientieren sich an der belarussischen Kultur und Sprache sowie an der vorsowjetischen Geschichte des Landes. Für sie sind nationale Symbole und bedeutsame Gedenkdaten wichtig, etwa das Pahonja-Wappen, die weiß-rot-weiße Flagge, volkstümliche und geschichtsbezogene Feiertage wie der Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik.

    Die Gruppe der „Sowjetischen“ hängt – wie der Name schon sagt – einer Vorstellung an, die sich auf das russisch-sowjetische Imperium, das Erbe der belarussischen Sowjetrepublik und die Nähe zu Russland bezieht. Angehörige dieser Gruppe vertreten die Vorstellung von der Dreieinigkeit einer [ost]slawischen Nation. Zu ihren Symbolen und Gedenktagen gehören die rot-grüne Flagge, Staatsunternehmen, die Paraden [zum offiziellen Unabhängigkeitstag – dek] am 3. Juni und [zum sowjetischen Tag des Sieges – dek] am 9. Mai.

     

     

    Zwischen diesen beiden Polen liegen die Gruppen der „sich Entwickelnden“ (19 Prozent), der „Gleichgültigen“ (27 Prozent) und der „Russifizierten“ (4 Prozent). Für die „sich Entwickelnden“ sind die Merkmale beider Nationalideen kennzeichnend, sowie ein beträchtliches Interesse an globaler Identität und Multikulturalität. In diesem Segment gibt es viele junge Leute, oft mit einem guten Bildungsniveau. Die „Gleichgültigen“ hingegen sind praktisch kaum in den nationalen Projekten involviert und ihr Bildungsgrad ist beträchtlich geringer. Die „Russifizierten“ schließlich halten sich schlichtweg für Russen, und nicht für Belarussen.

    Linien der Spaltung

    Abhängig vom Grad des Vertrauens in staatliche und nichtstaatliche Strukturen und Gruppen in der belarussischen Gesellschaft haben die Soziologen hier vier Bereiche eines sozialen Konflikts identifiziert. Zwei von ihnen befinden sich an den Polen der politischen Konfrontation: Es sind die „überzeugten Gegner“ der derzeitigen Regierung und deren „überzeugte Anhänger“.

    Die „überzeugten Regierungsgegner“ machen 10 Prozent aus. Für sie ist einerseits ein hohes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und Gruppierungen kennzeichnend, und andererseits ein Vertrauen zu nichtstaatlichen Strukturen. Die „überzeugten Regierungsanhänger“ belaufen sich auf 23 Prozent. Und hier ist es genau umgekehrt: Sie vertrauen staatlichen Strukturen und misstrauen nichtstaatlichen Akteuren.

    Gleichzeitig habe sich – so die Soziologen – im Laufe des letzten Jahres die Anzahl der „überzeugten Regierungsgegner“ beträchtlich verringert, während die der „überzeugten Regierungsanhänger“ gestiegen ist. Zwischen diesen beiden Gruppen liegen zwei gemäßigtere. Das sind einerseits die „gemäßigten Regierungsgegner“ (28 Prozent). Diese ist die am stärksten zentristische Gruppe, die weder den staatlichen noch den nichtstaatlichen Strukturen groß vertraut. Wenngleich sie dazu neigt, eher den letzteren Vertrauen entgegenzubringen. Die Soziologen stellen fest, dass diese Gruppe in wesentlich geringerem Maß mit der Agenda der demokratischen Bewegung in Berührung kommt. Es wird für die Bewegung ein harter Kampf werden, Vertreter dieser Gruppe auf ihre Seite zu ziehen.

    Wie sind also die Wechselbeziehungen zwischen den politischen und wertebezogenen Gruppen und die Haltung der Anhänger und Gegner der Regierung zu den beiden Ideen, der nationalromantischen und der russisch-sowjetischen? Wir sehen deutlich, dass die „überzeugten Regierungsanhänger“ hauptsächlich aus „Sowjetischen“ bestehen (69 Prozent), während die „überzeugten Regierungsgegner“ über die Hälfte „[National]bewusste” sind.

     

     

    Dabei verweisen die Soziologen darauf, dass der Anteil [in Bezug auf die nationale Idee] von „Gleichgültigen“ angestiegen sei, und zwar unter den „gemäßigten Regierungsanhängern“ wie auch bei den „gemäßigten Gegnern“ [der Regierung]. Bei denen, die der aktuellen Regierung vertrauen, betrug der Anstieg 12 Prozentpunkte. Bei jenen, die nichtstaatlichen und oppositionellen Strukturen vertrauen, waren es 14 Prozentpunkte. Was bedeutet, dass die politischen Gruppen und die Identitätsgruppen eng zusammenhängen. Dies ist auch am Grad des Vertrauens in staatliche und nichtstaatliche Strukturen erkennbar.

    Doch insgesamt halten die Soziologen fest: 2023 ist das Vertrauen in staatliche Strukturen und Gruppierungen im Vergleich zum Vorjahr weiter gestiegen. Das Vertrauen in sämtliche nichtstaatliche Strukturen hingegen ist deutlich zurückgegangen: Weniger als ein Drittel der Befragten ist geneigt, ihnen zu vertrauen. Gleichzeitig hat sich im Laufe des Jahres der Anteil „der überzeugten Regierungsgegner“ beträchtlich verringert und der „überzeugten Regierungsanhänger“ erhöht.

    Hervorzuheben sind auch erhebliche Unterschiede zwischen „überzeugten Regierungsanhängern“ und „gemäßigten Regierungsanhängern“ hinsichtlich des Vertrauens in staatliche Organisationen und Institutionen. Das betrifft das Vertrauen in die staatlichen Medien und in die Beamtenschaft: Die „Gemäßigten“  bringen ihnen in erheblich geringerem Maße Vertrauen entgegen. Zudem äußert über die Hälfte der „gemäßigten Regierungsanhänger“ ein Misstrauen gegenüber nichtstaatlichen Strukturen. Am häufigsten werden dabei nichtstaatliche Medien genannt sowie Menschen, die aus Angst vor Repressionen das Land verlassen haben, und jene, die die Wahlergebnisse von 2020 nicht anerkennen.

    Naturgemäß unterscheiden sich die Gruppen der „[National]bewussten” und der „Sowjetischen“ am stärksten voneinander. Im Grunde wiederholt sich hier das gleiche Muster wie bei den „überzeugten Regierungsgegnern“ und „überzeugten Regierungsanhängern“. Die „[National]bewussten” vertrauen in höherem Maße allen nichtstaatlichen Strukturen und vertrauen staatlichen Institutionen seltener. Die „Sowjetischen“ hingegen vertrauen staatlichen Strukturen in sehr hohem Maße und wesentlich seltener nichtstaatlichen oder oppositionellen Stellen. Für die „gemäßigten Regierungsgegner“ wiederum ist ein gleich großes Vertrauen gegenüber beiden Strukturen typisch.

    Die Lage könnte wegen des Krieges und der Sanktionen nämlich beträchtlich schlechter sein. Das wird auch den Leistungen der Regierung zugeschrieben

    Was ist der Grund für das gewachsene Vertrauen gegenüber staatlichen Institutionen? Einer der Autoren der Studie, der Soziologe Filipp Bikanow, ist der Ansicht, dass hier ein ganzes Bündel von Faktoren bestimmend sei. Zum einen wäre da der Konsens gegen den Krieg: Die Mehrheit ist überzeugt, dass sich die belarussische Armee so weit wie möglich aus dem russisch-ukrainischen Krieg heraushalten sollte. Und die Regierung unterstützt diese Haltung zumindest verbal. Zweitens steigt der Lebensstandard der Belarussen zwar nicht rapide, er sinkt aber auch nicht katastrophal. Und die Menschen spielen gedanklich verschiedene Szenarien durch – denn die Lage könnte wegen des Krieges und der Sanktionen beträchtlich schlechter sein. Das wird auch den Leistungen der Regierung zugeschrieben.

    Bikanow nimmt an, dass das Jahr 2020 für viele schon der Vergangenheit angehört. Und alle, die nicht zur Gruppe der „überzeugten Regierungsgegner“ zählen, leben ihr eigenes, gewohntes Leben weiter. Aber auch die erzwungene Emigration sollte nicht außer Acht gelassen werden: Viele, die der Regierung  nicht trauten und nicht trauen, haben das Land verlassen, was die Ergebnisse der Studie beeinträchtigt. 

    Informationskokon

    Ein weiterer Faktor, den Bikanow anführt: Die meisten Belarussen befinden sich heute im Informationsraum der staatlichen belarussischen und der russischen Medien. Die Konfliktparteien leben in unterschiedlichen medialen Blasen: Die „überzeugten Regierungsanhänger“ sind hauptsächlich Konsumenten der staatlichen Medien, während die „überzeugten Regierungsgegner“ vorwiegend nichtstaatliche Medien nutzen.

     

     

    Das ergibt sich aus der Säuberung des Mediensektors: In den vergangenen drei Jahren hat die Regierung der Bevölkerung den Zugang zu unabhängigen Medien aktiv versperrt, besonders zu jenen, die über Politik berichten. Gleichzeitig werden verstärkt die eigenen und die russischen Narrative verbreitet, die – das sehen wir jetzt – höchst destruktive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben.

    Mangel an Empathie

    Ein Aspekt der Studie verdient besondere Aufmerksamkeit. Hier gibt es Grund zur Sorge.Die Studien vergangener Jahre haben gezeigt, dass die „überzeugten Regierungsanhänger“ und die „überzeugten Regierungsgegner“, die höchst unterschiedliche Ansichten zur Weiterentwicklung des belarussischen Staates haben, eine starke gegenseitige Abneigung hegen. Diese geht so weit, dass Kontakt vermieden wird. Dabei blieb diese Frage jedoch unbeantwortet: Wie tief geht diese Abneigung, und betrifft sie nur die politischen Meinungsunterschiede?

    Die Forscher wollten überprüfen, wie schwer es Anhängern und Gegnern der Regierung fällt, Empathie und Mitgefühl für politische Opponenten zu bekunden. Empathie wurde in dieser Studie als Verständnis für das Unglück eines anderen Menschen definiert, und als Einfühlungsvermögen aus dem Bedürfnis heraus, die Leiden des Anderen vermindern zu wollen.

    Es scheint, dass die Vertreter der beiden politischen Pole in geringerem Maße bereit sind, mit jemandem mitzufühlen, der in eine schwierige Lage geraten ist, wenn dieser der jeweils anderen Gruppe angehört. Das gilt übrigens unabhängig von der Art der schwierigen Situation, sei es eine politisch motivierte Entlassung oder eine Alltagssituation wie eine Erkrankung.

    Mit der Zeit wird es immer schwieriger werden, auf einen konstruktiven Dialog zwischen den beiden Polen zu hoffen

    Die Soziologen konstatieren, dass die gesellschaftspolitische und  identitätsbezogene Spaltung auch von einer psychologischen unterfüttert wird. In dieser Hinsicht bilden die Vertreter der „überzeugten Regierungsgegner“ und der „überzeugten Regierungsanhänger“ die Protagonisten dieses heftigen gesellschaftlichen Konflikts. Sie zeigen die geringste Empathie füreinander. Auch wenn sie den eigenen Leuten gegenüber sehr empathisch sind. Wobei die „überzeugten Regierungsgegner“ sowohl gegenüber den Eigenen wie auch gegenüber einer außenstehenden Gruppe etwas empathischer sind als die „überzeugten Regierungsanhänger“.

    Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass ein Dialog zwischen den beiden Gruppen praktisch unmöglich ist. Die „überzeugten Regierungsanhänger“, die ihre Gegner nicht verstehen, werden wohl dazu neigen, den „Fremdlingen“ sofort mit Aggression zu begegnen. Und die „überzeugten Regierungsgegner“, bei denen die Unterstützung für die eigenen Leute am größten ist, und die zusammenhalten, wenn sie angegangen werden, sehen sich genötigt, bei ihrem Kurs zu bleiben und sich zu verteidigen.

    Die gemäßigten Gruppen sind erheblich empathischer gegenüber Menschen mit gegenteiligen Standpunkten. Somit ist ein aktiver gesellschaftlicher Dialog anscheinend nur zwischen den Gemäßigten möglich, weil sie ungefähr in gleichem Maße mit der eigenen und der anderen Gruppe mitfühlen. Gleichzeitig äußern auch die „Sowjetischen“ und “die „[National]bewussten” – ganz wie die „überzeugten Regierungsgegner“ und die „überzeugten Regierungsanhänger“ – gegenüber einer fremden Gruppe weniger Mitgefühl, Verständnis und empathische Regungen.

    Die Polarisierung der belarussischen Gesellschaft beunruhigt die Soziologen. Das Vorgehen der Regierung und ihrer Propagandisten, das die Belarussen auseinanderbringen soll, bleibt nicht ohne Wirkung. Dadurch wird die identitätsbezogene Konfrontation der beiden nationalen Ideen zu einem Faktor, der sogar auf der Empathie-Ebene wirkt.

    In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden. Für die „sowjetischen“ Anhänger der Regierung würden politische Veränderungen ebenso ein Trauma bedeuten, wie die aktuelle Stagnation und die Repressionen für die „[National]bewussten” und die Verfechter der nationalromantischen Idee ein Trauma darstellen. Diese Eisschollen werden wohl weiter auseinanderdriften. Mit der Zeit wird es immer schwieriger werden, auf einen konstruktiven Dialog zwischen den beiden Polen zu hoffen. Die Lösung dieses Problems wird wohl eine der wichtigsten Aufgaben sein, die die derzeitige Situation im Land für die gesamte Gesellschaft ergibt. Die Frage ist äußerst weitreichend: Schließlich könnte die ideologische Konfrontation der beiden nationalen Ideen sehr wohl blutig enden.

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  • „Das Imperium muss sterben“

    „Das Imperium muss sterben“

    Belarus ist nahezu vollständig aus der Diskussion um den russischen Krieg gegen die Ukraine verschwunden. Dabei ist das Schicksal des Landes eng mit dem Ausgang des Krieges verbunden. Die demokratische belarussische Opposition hat im Dezember 2023 ein lang angekündigtes Strategiepapier vorgelegt, in dem sie verschiedene Szenarien für einen Regimewechsel formuliert. Ausgehend von der Annahme, dass Russland den Krieg verliert oder in seinen Handlungsmögichkeiten stark eingeschränkt wird. 

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat sich das Papier für das Online-Medium Pozirk genau angeschaut – und er fragt sich, ob ein Machtwechsel in seiner Heimat tatsächlich unausweichlich ist, wenn Russland im Zuge des Krieges entscheidend geschwächt wird.

    Im Dezember, kurz vor Jahresende, haben die demokratischen Kräfte um Swetlana Tichanowskaja endlich einen Strategieentwurf für den Übergang zu einem neuen Belarus vorgelegt. In dem Dokument wird umrissen, wie der Staat neu geordnet werden soll, wenn die demokratischen Kräfte an die Macht kommen. Für jene, die sich Veränderungen herbeisehnen, ist aber vielmehr die Frage wichtig, wie die derzeitige Tyrannei zu beenden wäre, damit der Weg in diese lichte Zukunft beschritten werden kann. Diese Frage wird jedoch nur sehr spärlich in Anhang 1 des umfangreichen Dokuments behandelt. Vier denkbare Szenarien werden skizziert.

    Ist ein Dialog zwischen Opposition und Regime überhaupt denkbar?

    1. Gehen wir die Szenarien einmal durch. Das erste geht davon aus, dass „Russland durch den Krieg geschwächt wird und dann nicht mehr in der Lage ist, Belarus im gleichen Maße wirtschaftlich, militärisch und politisch zu unterstützen“. Dadurch würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage verschlechtern. Die Nomenklatura würde versuchen, „Verhandlungen mit den Ländern des Westens und den demokratischen Kräften aufzunehmen, um ein Ende der Sanktionen und eine Wiederaufnahme der Beziehungen zu erreichen“. Es würde ein nationaler runder Tisch eingerichtet und eine Übergangsregierung gebildet, zu der laut dem Szenario Vertreter der Nomenklatura wie auch der demokratischen Kräfte gehören würden.

    Hier stellt sich umgehend die Frage, ob es die Nomenklatura eilig haben wird, diejenigen zum runden Tisch einzuladen, die jetzt verächtlich als „Abtrünnige“ bezeichnet werden, und sie zudem noch an der Macht zu beteiligen. Die Einführung wie auch die Aufhebung der Sanktionen hängt in erster Linie von den Staaten des Westens ab. Die belarussische Opposition hat hierauf nur einen sehr mittelbaren Einfluss. Somit wäre wohl eher ein Deal mit den Führungen westlicher Staaten wahrscheinlich. Die Vertreter des Regimes dürften dabei eher auf Realpolitik setzen und versuchen, eine Demokratisierung zu vermeiden.

    Es hat zwar auch 1989 in Polen einen runden Tisch zwischen der kommunistischen Regierung und der Gewerkschaft Solidarność gegeben. Doch stellte die Solidarność da eine einflussreiche Kraft dar. Das damalige Regime dort wurde durch wirkungsmächtige Streiks erschüttert.

    In Belarus sind die Schrauben heute derart fest „angezogen“, dass nicht einmal eine individuelle Mahnwache möglich ist. Ganz zu schweigen von einem Massenstreik. Der ist undenkbar. Die oppositionellen Kräfte sind – anders als die Solidarność – ins Ausland verdrängt worden. Sie können kaum auf die Situation im Land einwirken, wo die Bevölkerung zunehmend entpolitisiert wird.

    Wie wahrscheinlich ist ein Volksaufstand?

    2. Das zweite Szenario geht davon aus, dass in Russland nach einer Niederlage im Krieg gegen die Ukraine ein Regimewechsel erfolgt: „Russland ist durch den Krieg und die Sanktionen erschöpft, und es kann sich nicht mit Belarus befassen“. Auch hier würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage drastisch verschlechtern, Streiks würden aufflammen und sich ausbreiten, was zu Zusammenstößen mit Truppen des Innenministeriums führen würde. Das Militär würde jedoch „seine Neutralität wahren“, „in den Sicherheitsstrukturen“ würde „eine Spaltung erfolgen“, Protestierende würden die Präsidialadministration und andere Objekte der kritischen Infrastruktur stürmen. Alexander Lukaschenko würde „entweder verhaftet oder ins Exil fliehen“.

    Auch dieses Szenario wirft viele Fragen auf. Die Angst vor Repressionen ist jetzt in Belarus derart groß, dass es selbst bei einem beträchtlichen Absacken des Lebensstandards nicht viele sein werden, die sich den Schlagstöcken der OMON entgegenstellen. In Nordkorea ist das Leben mehr als aussichtslos, und dennoch probt die Bevölkerung nicht den Aufstand. Und Lukaschenkos Regime bewegt sich jetzt in Richtung Nordkorea.

    Darüber hinaus sind die Sicherheitskräfte gut ausgebildet und ausgerüstet. Viele, besonders die mit Blut an den Händen, sind überzeugt, dass sie nach einem Machtwechsel vor Gericht landen (oder gar das Ziel von Selbstjustiz) würden. Sie würden erbittert um ihr Schicksal und das ihrer Familien kämpfen.

    Und wenn die Armee, die schon 2020 an den Repressionen beteiligt war, nicht neutral bleibt? Lukaschenko hatte ja seinerzeit Schützenpanzer vor seinem Palast auffahren lassen und gezeigt, dass er bereit ist, auf Menschenmassen zu schießen. Und dass er nicht das Land verlassen werde, wie einst Janukowitsch die Ukraine. Der Ausgang eines solchen hypothetischen Maidan in Belarus ist also keineswegs ausgemacht.

    Und wer sagt schließlich, dass nach einem Machtwechsel in Russland ein Liberaler oder Friedenswilliger in den Kreml einzieht? Was wäre, wenn dann ein völlig archaischer Imperialist an die Macht kommt, der beschließt, den Misserfolg in der Ukraine durch einen Anschluss von Belarus wettzumachen?

    Was, wenn Belarus die Unabhängigkeit tatsächlich an Moskau verliert?

    3. Das dritte Szenario geht davon aus, dass Lukaschenko – aus welchem Grund auch immer – nicht mehr das Präsidentenamt ausüben kann (wegen schwerer Krankheit oder durch sein Ableben) und sein aus der Nomenklatura stammender Nachfolger angesichts der Last der ererbten Probleme eine Deeskalation im Verhältnis zum Westen und einen Systemwandel unternimmt. Hierbei wird vorausgesetzt, dass „Russland durch den Krieg geschwächt ist und nicht mehr das volle Repertoire seiner Instrumente einsetzen kann, um auf Belarus einzuwirken“.

    Aber halt! Wenn nun aber Lukaschenko stirbt und Russland noch stark genug ist? Und was, wenn der Nachfolger prorussisch gesinnt ist und beschließt, sich der ererbten Probleme dadurch zu entledigen, dass die Reste der belarussischen Souveränität einfach dem Kreml übertragen werden?

    4. Das vierte Szenario postuliert, dass „die belarussische Armee sich unmittelbar und auf Seiten Russlands an dem Krieg in der Ukraine beteiligt und auf ukrainisches Territorium vorrückt“. Dann werde es Lukaschenko voll erwischen: „Ukrainische Truppen würden, mit belarussischen Freiwilligenverbänden an der Spitze, nach Belarus einmarschieren“, und die Zerschlagung des Regimes wäre dann nur noch eine Frage der Technik.

    Mag sein, doch bislang hat es der belarussische Herrscher erfolgreich verstanden, eine direkte Beteiligung seiner Streitkräfte am Krieg zu vermeiden. Und es ist ja nicht so, dass Putin ihm deswegen an die Kehle geht. Im Gegenteil: Moskau ist so großzügig wie noch nie. Das heißt, es ist zufrieden mit den anderen Diensten seines Verbündeten.

    Wie gefällt Ihnen diese Variante: Lukaschenko schließt sich der „militärischen Spezialoperation“ Russlands symbolisch in einer Phase an, in der Kyjiw am Rande einer Niederlage steht, nicht die Kraft zu einer Gegenoffensive hat und die beiden Verbündeten dann gemeinsam ihre Ziele erreichen?

    Die Opposition hat kaum Einfluss auf das Geschehen 

    Ich kritisiere natürlich bewusst an diesen Szenarien herum, um aufzuzeigen, dass sie alle viel zu glatt sind und auf einer Menge Annahmen beruhen, die für die Regimegegner günstig sind. Es mag ja tatsächlich zu dieser Verkettung von Umständen kommen. Allerdings wäre es besser, von Anfang an auch höchst wahrscheinliche negative Hindernisse zu berücksichtigen.

    Es fällt auf, dass sämtliche Szenarien mehr oder weniger auf der Annahme beruhen, dass Russland durch den Krieg geschwächt sein wird oder überhaupt eine Niederlage erleidet, also kurz gesagt, dass es sich überhaupt nicht mit Belarus befassen kann. Der Krieg ist jetzt aber in einer Phase, in der sich – seien wir ehrlich! – viele bereits fragen, ob die Ukraine standhalten wird. Also verdüstert sich die Aussicht auf ein Fenster der Möglichkeiten für einen Wandel in Belarus noch stärker.

    Es stimmt zwar, dass sich die Lage in einer für die demokratischen Kräfte günstigeren Richtung verändern kann. Doch rechnen all diese Szenarien vor allem mit externen Faktoren wie etwa großen Erfolgen der Streitkräfte der Ukraine, einer durchschlagenden Wirkung der westlichen Sanktionen usw. Die demokratischen Kräfte können diese Faktoren aber nur unwesentlich beeinflussen. Es liegt auf der Hand, dass das Büro von Tichanowskaja die ukrainischen Streitkräfte nicht mit Storm Shadow-Raketen, Patriot-Systemen oder mit F-16 versorgen kann. Der Westen verhängt seine Sanktionen nach eigenem Gutdünken, flammende Aufrufe des Leiters des Nationalen Anti-Krisen-Management, Pawel Latuschka, spielen da keine große Rolle. Und es ist heute erkennbar, dass der Westen nicht in der Lage ist, Sanktionen gegen die [russische – dek]  Atomwirtschaft durchzusetzen.

    Hier ist zu erwähnen, dass auch Vertreter des Kalinouski-Regiments versuchen, eine Strategie zur Befreiung von Belarus zu entwickeln. Die Konferenz, die Ende November in Kyjiw stattfand, hat diese Aufgabe nicht bewältigt. Es wurde lediglich beschlossen, eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung einer Strategie einzurichten. Auch das Kalinouski-Regiment macht keine großen Sprünge. Es gibt zwar die belarussischen Freiwilligen dort, doch ist es ein Teil der ukrainischen Streitkräfte. Kyjiw hat derzeit nicht Absicht, gegen Lukaschenko zu kämpfen, solange dieser nicht selbst vorrückt.

    Wenn der Rückhalt durch den Kreml tatsächlich bröckelt

    Mit der Präsentation der Strategie für den Übergang zu einem neuen Belarus hat sich Tichanowskajas Team deutlich Zeit gelassen. Logischer wäre es gewesen, dieses Werk auf der Konferenz Neues Belarus 2023 im August vorzustellen. Dort wurden aber lediglich einige Deklarationen verabschiedet. Gleichzeitig muss man verstehen, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, sich eine Wunder wirkende Strategie einfach aus den Fingern zu saugen.

    Putin und Lukaschenko sitzen derzeit fest im Sattel und feiern (wenn auch eindeutig zu früh). Die russische Wirtschaft hat den Schlag der Sanktionen überstanden und ist eine Stütze für die belarussische Volkswirtschaft. Die russischen Streitkräfte gehen in der Ukraine zum Gegenangriff über, während der Westen Zeichen der Ermüdung offenbart, was die Unterstützung der Ukraine angeht. Mehr noch: Ein Teil der westlichen Politiker möchte nicht, dass der Kreml eine ernste Niederlage erfährt, weil sie einen Zerfall Russlands und eine Verbreitung von Atomwaffen befürchten.

    Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus

    Die Welt befindet sich heute in der dramatischen Phase einer Konfrontation der Autokratien mit den Demokratien. Die genannten Szenarien der demokratischen Kräfte gehen davon aus, dass es Russland nicht mehr um Belarus geht. Wir können es aber offen aussprechen: Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus.

    Die demokratischen Kräfte sollten einerseits – geb’s Gott – dafür sorgen, dass die belarussische Frage auf der Agenda des Westens bleibt. Andererseits sollten sie wenigstens irgendein Interesse der protestbereiten Bevölkerung für sich wecken. Es wäre gut, wenn sich die politisch motivierten Emigranten nicht untereinander überwerfen und sich endgültig marginalisieren würden, wenn die demokratischen Kräfte sich die nötigen Ressourcen zum Selbsterhalt sichern sollten, damit ihre Mission zur Stunde X denn erfüllt werde. Zudem ist es wichtig, nicht in ein klischeehaftes Pathos zu verfallen, dessen bereits viele Anhänger eines Wandels müde sind.

    Wenn denn die Zeit eines Wandels anbricht, so werden sich zweifellos Führer finden, und das können ganz neue Leute sein. Aber sonst: Es wühlt sich der Maulwurf durch die Geschichte. Lukaschenko hat zwar die Kontrolle über die Gesellschaft verloren und das Land eingefroren. Bislang steht der Kreml hinter ihm. Das Regime zu zerstören ist kaum denkbar. Es ist ein Fest der Finsternis; das Böse könnte länger dauern.

    Russland wird wohl früher oder später den Weg anderer Imperien gehen. Die Herausforderung, die Putin dem Westen entgegenschleudert, ist abenteuerlich. Sie verdammt Russland zum Niedergang und ist für den Kreml letztlich tödlich. Das Imperium muss sterben. Wichtig ist, dass für Tichanowskaja und ihr Team ein antiimperiales Narrativ zum Axiom wird.

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    FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

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