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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ich möchte meinem Sohn ein Vorbild sein“

    „Ich möchte meinem Sohn ein Vorbild sein“
    Schlange stehen in den Tod / Illustration © Verstka 

    In Moskau bekommen Vertragssoldaten fast zwei Millionen Rubel (etwa 18.300 Euro), wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschreiben. Seit dem Sommer stehen im Butyrski-Rayon der Hauptstadt Männer im Alter von 18 bis 65 Schlange. Sie kommen aus ganz Russland, um sich zum Krieg zu melden. Frauen sind auch dabei.  

    Olessja Gerassimenko hat mit Mitarbeitern der Rekrutierungsstelle gesprochen und mit Dutzenden Männern und Frauen, die in den Krieg ziehen wollen. Wer sind diese Leute? Welche Motive haben sie? Und was könnte sie umstimmen? Ihre Eindrücke schildert sie in einer Reportage für das Portal Verstka

     

    Von der Metro-Station Timirjasewskaja sind es zehn Minuten Fußweg bis zu dem fünfstöckigen Gebäude in der Jablotschkow-Straße. Bei gutem Wetter kommt man unterwegs an einem Dutzend Ständen, Bannern, Litfaßsäulen und Autos mit Plakaten vorbei, die über den Dienst in der Armee informieren und kostenlose Ausrüstung versprechen. An jeder Kreuzung verteilen Promoter in Armeeuniform Flyer und werben für eine neue Arbeit: Krieg führen. Es gehen massenweise Studenten der Moskauer Staatlichen Juristischen Universität an ihnen vorbei. Die künftigen Juristen in farbenfrohen Blazern haben Pause zwischen den Vorlesungen. Den Plakaten mit der Zahl 5.200.000 schenken sie keine Beachtung (Diese Summe – umgerechnet etwa 47.600 Euro – wird jedem für das erste Jahr in der Armee versprochen, die einmalige Prämie von 1,9 Millionen bei Vertragsabschluss eingerechnet – dek). Vor dem Gebäude, in dem die Verträge mit dem Verteidigungsministerium abgeschlossen werden, vermischen sich Studenten und ältere Männer in khakifarbener Kleidung, Polizisten in Schutzwesten, Frauen und Kinder, die ihre Väter in den Krieg verabschieden. Die Studenten gehen an einem Polizei-Jeep vorbei und beachten die Menschenansammlung vor dem Gebäude gar nicht. 

    Vor der Türe stehen zwei Polizisten mit Maschinenpistolen. In zwei Glaskästen stehen Schaufensterpuppen in Militäruniform und ohne Gesichter. Ab neun Uhr morgens baut sich die Schlange auf: Als Erste kommen Leute aus entlegenen Regionen zur Rekrutierungsstelle, die mit dem Nachtzug nach Moskau gekommen sind. Drinnen sieht es hier aus wie in einem gewöhnlichen Moskauer Servicezentrum für Bürgerangelegenheiten. Wartenummern werden elektronisch aufgerufen. In den Tagen, als die Reporterin mit Wartenden sprach, waren bereits Nummern kurz vor hundert an der Reihe, dabei war es noch nicht einmal Mittag. Jedes Mal, wenn sie mit Bewerbern sprach, war der Saal voll.

    Warteschlange vor dem Rekrutierungsbüro in Moskau / Fotos © Verstka

    Die langen Schlangen vor der Rekrutierungsstelle haben sich nach dem 6. August gebildet, als ukrainische Truppen auf das Territorium der Oblast Kursk vorstießen. „Jetzt haben wir 500 Leute am Tag, wir kommen kaum hinterher“, berichtete ein Psychologe der Rekrutierungsstelle im August. „Normalerweise waren die Kollegen im Chill-Modus, gingen abends um sechs nach Hause und hingen tagsüber entspannt im Park ab. Dann passierte Kursk, und jetzt kommen sie, der Zustrom reißt gar nicht mehr ab. Wir arbeiten jetzt bis zehn Uhr abends.“ 

    Dieser Ansturm wurde nicht allein durch einen Überschwang patriotischer Gefühle verursacht. Am 23. Juli – gleichsam in Vorahnung des ukrainischen Vorstoßes über die russische Grenze – hatte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin einen Erlass unterzeichnet, der jedem Vertragssoldaten, der an der städtischen Rekrutierungsstelle zum Kriegsdienst angenommen wird, 1,9 Millionen Rubel [etwa 17.500 Euro] in Aussicht stellt. Der Bürgermeister rechnete vor, dass unter Berücksichtigung des Solds sowie der Zuschläge aus Moskau und von föderaler Ebene die Summe der Zahlungen an einen Vertragssoldaten „im ersten Dienstjahr über 5,2 Millionen Rubel [etwa 47.800 Euro] betragen wird.“ 

    Seitdem strömen Männer aus allen Regionen Russlands nach Moskau. „Wir haben den Eindruck, dass ein Viertel Moskauer sind, alle anderen sind Auswärtige. Wenn du in Ufa lebst, kannst du natürlich auch dort einen Vertrag schließen. Aber da zahlt dir die Stadt nur 400.000 als Anwerbegeld. Du kannst dir aber auch ein Ticket kaufen, fliegst nach Moskau, holst dir zwei Mille ab und ziehst von hier aus in den Krieg.“ 

    „Wenn sie mich töten, sei’s drum“ 

    Solche Summen würde die überwiegende Mehrheit der Bewerber normalerweise nie auf ihrem Konto zu sehen bekommen.  Im Zusammenspiel mit der Entscheidung Putins, dass erstmals Leute bis zum Alter von 65 Jahren einen Vertrag abschließen können, führte das dazu, dass neben jungen Berufsschülern und Männern in Tarnuniform mit dem Aufnäher „Z“ und Medaillen für die Einnahme von Bachmut nun auch Hunderte Familienväter im Vorrenten- und Rentenalter in der Schlange stehen. Deren Kalkül liegt auf der Hand: „Ich habe mein Leben gelebt, jetzt kaufen wir eine Wohnung für unseren Sohn; wenn sie mich töten, sei’s drum.“ In den Schützengräben hocken jetzt immer mehr Männer über 50, erzählt ein Offizier der Luftlandetruppen, der bei Cherson an der Front kämpft, im Gespräch mit Verstka. Er bezeichnet die Lage hinsichtlich der neuen Vertragssoldaten als „traurig“. „Jetzt stehen wir hier zusammen mit Mobiks [Mobilisierten – dek], und rund 40 Prozent sind älter als 50. Bei den Neuen sind sogar drei Viertel alt. Das ist bedauerlich, aber man muss mit dem arbeiten, was man hat.“

    Die Freiwilligen fortgeschrittenen Alters kommen in der Regel mit ihren Familien zur Rekrutierungsstelle, begleitet von ihren Frauen und Kindern. Einem der Männer fiel während des Gesprächs mit Verstka ein fünfjähriges Kind auf, das mit einer Uniformmütze auf dem Kopf durch den Saal lief, die ihm einer der Wartenden gegeben hatte. Ein Nachbar zwinkerte dem Mann mit Rangabzeichen am Ärmel zu: „Da wächst unsere Ablösung heran.“ 

    „Gott steht auf der Seite Russlands“ lautet die Schlagzeile einer Sonderausgabe der Moskauer Abendzeitung Wetschernaja Moskwa, die im Rekrutierungsbüro ausliegt. Darin ist ein Plakat von 1942 abgedruckt: „Das russische Volk wird niemals auf Knien stehen“ / Fotos © Verstka 

    In der Eingangshalle der Rekrutierungsstelle steht ein Automat für Kaffee, Chips und Brause. An den Wänden hängen Plakate: „Je ausgedehnter die Grenzen, desto weiter weg der Feind“ und: „Der Sieg ist nur eine Frage der Zeit! Zögere nicht!“ In der Ecke liegen frische Zeitungen aus. Einer der Gesprächspartner schickte uns das Foto einer Ausgabe von Wetschernjaja Moskwa. Dort war ein Plakat von 1942 abgedruckt, mit einer Leiche unter den Füßen eines sowjetischen Soldaten und der Aufschrift „Das russische Volk wird niemals auf Knien stehen.“ 

    Im gleichen Saal steht ein Fernseher mit Playstation; man kann dort Atomic Heart spielen, ein Egoshooter des russischen Studios Mundfish. Manche Bewerber würden sich hier die Wartezeit vor dem Bildschirm verkürzen, berichtet unser Gesprächspartner.  

    Wer an der Reihe ist, geht nacheinander zum Arzt, zum Psychologen, zum Juristen, zu Vertretern des Militärs, zum Notar und zu Bankangestellten. Alle, die einen Vertrag unterschreiben wollen, werden pro forma bei Mosgas, Moslift oder einer anderen Einrichtung der kommunalen Wohnungswirtschaft angestellt. Der Redaktion liegen einige dieser Verträge vor. Sie werden abgeschlossen, damit die Vertragssoldaten die zusätzlichen „Moskauer“ Gelder bekommen. Das sind monatlich 50.000 Rubel zusätzlich zum Sold. Ein weiterer Grund für diese Verträge ist die Auszahlung der fast zwei Millionen Rubel von der Moskauer Stadtverwaltung. Diese Zahlungen würden zusammen mit dem Gehalt von Mosgas oder Moslift auf Konten bei der Sberbank, der VTB oder anderen russischen Banken überwiesen, erklärt einer der Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle.

    „Was die Kinder und deren Zukunft betrifft – für die wird alles gut“ 

    Den Aussagen angehender Vertragssoldaten nach zu schließen, gehen Patriotismus und Geldnot Hand in Hand. Und die Beamten sind bereit, diese Not auszunutzen. Während diese Reportage in Arbeit war, übertrumpfte der Gouverneur der Oblast Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, die Moskauer Anwerbegelder noch einmal: Er versprach jedem Bürger drei Millionen Rubel, wenn er bis zum 31. Dezember 2024 in einem der Belgoroder Wehrersatzämter einen Vertrag unterschreibt.

    „Die meisten, die hierherkommen, verdienen wenig“, räumt einer der Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle ein. „Aber wenn du sie nach ihren Motiven fragst, reden fast alle von patriotischen Gefühlen. Einige erwähnen Schulden. Natürlich sind alle überzeugt, dass sie überleben werden. Aber ganz und gar nicht an den Tod denken, das können sie auch nicht. Und natürlich sind sie nicht bereit, für 30.000 Rubel zu sterben. Die allermeisten haben Kinder, und ihnen ist klar, was das bedeutet. Wenn sie aus patriotischen Motiven den Tod in Kauf nehmen, dann wissen sie, dass damit wenigstens ihre Kinder ‚etwas davon haben‘“.

    Musterung, Notar, Bankverbindung – vor dem Einsatz an der Front steht die Bürokratie: Aufnahme aus der Moskauer Rekrutierungsstelle / Fotos © Verstka 

    Nahezu alle Frauen wüssten das; sie ließen ihre Männer aus diesem Grund bewusst in den Krieg ziehen, ist ein Mitarbeiter überzeugt. „Nun, für die Frauen ist das doch super. Sie sind der Ansicht, dass das für ihre Kinder und für deren Zukunft gut ist. Welche Perspektiven hättest du denn, wenn du in einem Möbelunternehmen für 30.000 (etwa 285 Euro – dek) arbeitest?“ 

    Ein weiteres Motiv sind die kostenlosen AGs in der Schule, zusätzliche Bildungsangebote, Kita- und Studienplätze, die der Staat Kindern von Kriegsteilnehmern verspricht. 

    „Diese Männer denken zum Beispiel viel an eine Hochschulbildung für ihre Kinder. Es gibt immer weniger kostenlose Studienplätze. Und sie wissen, dass sie niemals drei Kindern ein Studium finanzieren können. 

    „Und die Männer selbst haben meist keine Hochschulbildung?“ 

    „Die meisten nicht. Mein Eindruck ist, dass 80 Prozent eine Fachoberschule absolviert haben, 15 Prozent nur die neunte Klasse und fünf Prozent eine Hochschule. Einige davon kommen mit gleich drei Abschlüssen daher. Philosophie, Geschichte. Man kann sie schon an der Kleidung erkennen: Einige kommen in Tarnmontur, Funktionstextilien, bequeme Kleidung… Andere kommen im Blazer. Und du fragst die dann: ‚Was meinen Sie, wie viele Leute kommen im Anzug hierher?‘“ 

    „Jahrelang habe ich am Computer gezockt. Und hier fragen sie dich: Willst du ein neues Spiel spielen?“ 

    In den Gesprächen mit denen, die kämpfen wollen, wird ein weiterer Grund für diese Entscheidung genannt: Die Hoffnung, wenigstens einmal im Leben etwas zu erreichen. „Ein großer Teil der Motive hängt damit zusammen, dass sie keinen Erfolg hatten“, sagt einer der Sozialarbeiter des Zentrums. „Die Kriegserfahrung ist für sie eines der wenigen Ziele im Leben, die sie wirklich erreichen können. Sie sagen das auch offen: Ich bin 35, ein vollkommener Loser, das ist meine letzte Chance.“ 

    Der 30-jährige Dimitri hat ein privates Gymnasium besucht, aber sein Studium an der Technischen Universität lief nicht besonders. Drei Jahre hat er durchgehalten, dann ging er zur Armee. Nachdem er 2019 demobilisiert wurde, arbeitete er auf dem Bau, bei der Feuerwehr, als Kellner, Packer. „Man hatte mir früher schon vorgeschlagen, zur Armee zu gehen, aber ich wollte es lieber im zivilen Bereich versuchen. Dort hat es nicht geklappt. Es gab keine Stabilität. Es hat nicht funktioniert.“ 

    Ein Schuster Namens Iwan sagt, dass er der Heimat etwas zurückgeben will, dass Verwandte von ihm in Kursk leben, dass ihm aber auch das Geld nicht ungelegen kommt. „Gestern war der Abschied. Ich trinke nicht. Ich will Auszeichnungen. Damit mein Sohn sieht, dass ich mich nicht nur im Zivilleben abstrample… Ich will mich verwirklichen.“ 

    „Heldentaten wiegen mehr als Worte“ steht an der Wand der Moskauer Rekrutierungsstelle / Foto © Verstka 

    Der Bauarbeiter Gennadi hat wegen Diebstahls gesessen, dann fand er eine Freundin. „Wir bekamen ein Kind, aber es hat nicht funktioniert. Wir waren aber nicht verheiratet. Und weiter? Ich habe gesoffen und gearbeitet, habe nicht gesoffen und gearbeitet. Ich musste gehen und den Vertrag unterschreiben, damit ich ein besseres Leben beginnen kann. Mein Leben wird in Ordnung kommen. Ich hatte nie einen Wehrpass, konnte nie eine normale Arbeit finden.“ 

    Nikolai war Polier, Schweißer, Bauarbeiter im Hohen Norden: „Es hat mich umhergetrieben. Nirgendwo hat‘s richtig geklappt. Vielleicht kann ich mich hier verwirklichen.“ Der 20-jährige Denis hat „im Zivilleben alles ausprobiert, nichts klappt, vielleicht kommt bei der ‚Spezialoperation‘ was raus.“ 

    Psychologen bezeichnen dieses Problem als „soziales Losertum“, als „Sehnsucht nach irgendeinem Erfolg, die ihnen von einer patriarchalen Gesellschaft auferlegt wird“, als „Streben nach Selbstverwirklichung, wenn sämtliche anderen Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg verschlossen sind“. „Für Leute, die in den sozialen Netzwerken leben, gibt es einen Leistungskult, und es scheint, dass der verdammt erfolgreich ist. Aber die harte Lebenswirklichkeit in Russland, ja in der Welt, sieht so aus, dass alles am Arsch ist. Und das ist irgendwie normal“, sinniert einer der Mitarbeiter. „Man kann alles in den Sand setzen, sich wegsaufen, hängenlassen, abkacken; Beziehung kaputt, keine Familie, Jahrelang auf der Couch verbracht, nur am PC gezockt. Und dann bieten sie dir ein neues Spiel an! Es gibt natürlich die Möglichkeit, dass das nicht gut ausgeht. Aber es winken Geld, Ausbildung, Status, Respekt und Aufmerksamkeit durch die Gesellschaft. Dann leuchten die Augen.“

    „Frauen sind lebensfroher, positiver“

    Auch Frauen kommen, um im Krieg Karriere zu machen. „Die sind alle lebensfroher, positiver, über ihnen hängt nicht diese patriarchale Verpflichtung, was zu erreichen, ‚ein Kerl zu sein‘; es gibt keine Enttäuschung von der eigenen Rolle“, sagt einer der Sozialarbeiter. Frauen können einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen, wenn sie jünger als 45 sind. Pro Woche kommen 15 bis 20 Frauen zur Rekrutierungsstelle. Es seien nicht nur Medizinerinnen und Köchinnen, sondern auch Scharfschützinnen dabei, berichten Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle. „Eine Frau hat genauso das Recht, einen solchen Vertrag zu schließen, wie jeder Mann. Aber als was sie mit diesem Vertrag losgeschickt werden, ist Sache der Kommandeure. Als Köchin, Krankenschwester oder mit der Option, mit einem MG in den Wald zu ziehen.“ 

    Eine von ihnen, unverheiratet, jung, schön, sagt: „Dort werde ich jemanden für mich finden.“ Eine andere erzählte, dass ihr Mann im Krieg sei; Kinder hätten sie keine: „Ich will nicht zu Hause sitzen und auf ihn warten; mir geht’s schlecht, ich gehe auch hin.“ Eine dritte ist Sängerin und Tänzerin in einem Ensemble. Nachdem sie zu Auftritten nach Syrien und in die besetzten Gebiete gereist ist, hat sie beschlossen, lieber mit einem militärischen Rang patriotische Lieder zu singen, als in Zivil. Auch eine Mutter mit zwei kleinen Kindern hat sich in der Rekrutierungsstelle gemeldet, eines war drei, das andere war ein Jahr alt. Einer der Informanten, mit denen Verstka sprechen konnte, fragte sie: „Und die Kinder?“ „Denen geht’s gut“, entgegnete die Frau, „die bleiben bei ihrer Oma und bei ihrem Vater.“

    „In den Krieg zu ziehen heißt, das Richtige zu tun“ 

    Die Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle in der Timirjasewskaja–Straße berichten, dass fast jeder zweite Bewerber schon einmal in einer Strafkolonie gesessen hat, und zwar wegen der unterschiedlichsten Delikte: von Raub in den 1990er Jahren bis Drogenhandel in den 2020ern. Für viele von ihnen ist der Dienst und ein Rang in der Armee ein Weg, „Jugendsünden“ wieder gut zu machen. „Das Brandmal eines Straffälligen loszuwerden, ist ein sehr starkes Motiv“, sagt einer der Juristen in der Rekrutierungsstelle. „Sie sagen das ganz offen: ‚Ich will nicht, dass meine Haftzeit ein Problem für meine Kinder wird. Eine abgesessene Strafe wäre für sie scheiße, eine Löschung der Vorstrafe ist für sie super. Was wäre, wenn sie zur Polizei wollen?‘ Sie betrachten ihre frühere Tat als Fehler und wollen, dass ab jetzt alles richtig läuft. Und das Richtige ist dann, in den Krieg zu ziehen.“ 

    5,2 Millionen Rubel winken Vertragssoldaten im ersten Jahr. Auf dem Plakat am Ende des Saales steht in weißer Schrift: „Denke daran: Wo du bist, ist Russland“ / Fotos © Verstka 

    Im August kamen auch Leute, gegen die ein Ermittlungsverfahren lief, die noch nicht vor Gericht standen, für die es aber die Möglichkeit gab, in den Krieg zu ziehen, um nicht auf ein Urteil warten zu müssen. Eine davon war eine junge Frau, die erzählte, dass Polizisten sie mit einem Kilo Hasch festgenommen hätten. Ein Strafverfahren wurde eröffnet: „Ich wurde erwischt und musste verschwinden. Und ich habe Kredite laufen… Also bin ich gefahren.“ Trotz des laufenden Strafverfahrens wurden ihr alle Papiere ausgestellt und sie wurde in die Ukraine geschickt. 

    Offiziell möglich wurde ein solcher Weg im September 2024: Die Staatsduma verabschiedete zwei Gesetze über die Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung von Straffälligen, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen und kämpfen. Jetzt können Beschuldigte in jeder Phase des Strafverfahrens an die Front gehen: direkt nach der Verhaftung, während der U-Haft, während der Gerichtsverhandlungen, und wenn jemand schon in der Strafkolonie ist. Es reicht ein Schuldeingeständnis. Schöner Nebeneffekt für die Polizei: Das steigert die Aufklärungsquote. Letztere ist bis heute das wichtigste Kriterium für die Arbeit von Strafverfolgern und Justiz. 

    „Sollen sie mich doch töten – was soll’s?“ 

    Michail war Schweißer. Vor drei Jahren hat er sich scheiden lassen, trotzdem hat er seine Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, mit seiner Exfrau besprochen. „Was sie gesagt hat? Ehrlich? Dass ich ein Scheißkerl bin. Aber mein Sohn ist jetzt eingezogen worden, sie wollten ihn gerade nach Belgorod schicken. Aber dann haben sie ihn aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt. Er muss operiert werden: Kiefernhöhlenentzündung. Seine Einheit ist schon los nach Belgorod. Ich will ihn schützen. Damit nicht die Wehrpflichtigen am Krieg teilnehmen müssen. Sonst… da passieren ja schlimme Sachen. Irgendeinen Beitrag werde ich schon leisten können. Schon drei meiner Kameraden sind gefallen, was soll ich da sagen… Ob der Krieg gerecht ist? Wie soll man überhaupt verstehen, ob ein Krieg gerecht sein kann? Seine Grenzen zu verteidigen, das ist natürlich… Aber warum wir über eine fremde Grenze rüber sind, ist auch nicht ganz…“ 

    Viktor ist Veteran des zweiten Tschetschenienkriegs. „Ich mach’s nicht wegen dem Geld. Meine Frau heult, weil ich denke, dass ich da hin muss. Nicht die Jungen sollen kämpfen. Es muss sein, und was soll ich zuhause sitzen, als älterer Mann. Wenn dort die Jungen kämpfen, von denen einige noch keine Frau gesehen haben…“ Drei Fragen später stellt sich heraus, dass Viktors Sohn sieben Monate im Krieg war, zurückkam und sich umgebracht hat. Er hat sich vor der Stadt erhängt und vorher noch seiner Frau die Koordinaten geschickt. Die blieb mit zwei Kindern zurück. Eines ist zehn Monate alt, das andere geht in die dritte Klasse. „Nun, ich hab‘ ihn beerdigt, einen Grabstein aufgestellt. Und jetzt geh‘ ich.“ 

    „Das Glück ist stets mit den Tapferen“ verspricht dieses Plakat / Foto © Verstka

    Jeder, der an die Front will, muss zehn Standardfragen beantworten: Welchen Bildungsstand er hat, wann er das letzte Mal getrunken hat, ob er Drogen nimmt, ob er mal beim Psychiater war, welche Tattoos er hat, was er über den Krieg denkt, warum er den Vertrag abschließen will. Das machen Mitarbeiter des Moskauer sozialpsychologischen Dienstes. Dort wurde 2024 stark gekürzt. Jetzt haben die Mitarbeiter, die früher Moskauern in Notlagen kostenlos geholfen haben, die Aufgabe, künftige Soldaten zu mustern. Einige der Vertragssoldaten haben Verstka erzählt, was sie geantwortet haben. 

    Sergej ist Maurer und neun Jahre zur Schule gegangen. „Warum ich den Vertrag schließe? Viele meiner Bekannten sind gegangen, und ich geh jetzt mit ihnen. Ob ich patriotische Gefühle habe? Nö, einfach viele Bekannte, und ich gehe mit, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Alkohol habe ich zuletzt gestern getrunken. Mir sind die Risiken bewusst, das ist mir alles bewusst. Ich lese buchstäblich jeden Tag über die Verluste. Was ich mache, wenn ich zurückkomme? Ich weiß ja nicht, ob ich zurückkomme oder nicht… nun, ich habe Kinder, Familie… Meine Frau hat nichts dagegen…“ 

    Wladimir ist 18. Wenn er den Vertrag erfüllt hat, will er Psychologe werden. „Meine Eltern sind seit meiner Kindheit, wie soll ich sagen, verantwortungslos. Sie haben uns ständig geschlagen. Um meine drei jüngeren Brüder habe ich mich gekümmert. Dann wurde ich meinen Eltern weggenommen und in ein Heim gesteckt, weil sie mich geschlagen haben. …Ich musste, wie soll ich sagen?, schneller erwachsen werden, nun, Verantwortung lernen. Nach der neunten Klasse habe ich ständig gearbeitet. In der Kantine, als Kurier, als Trainer in einer Paintball-Anlage… Ich will hinterher die 10. und 11. Klasse nachholen und an der Hochschule Psychologie studieren. Und weiter, nun, dann in dem Bereich weiterarbeiten. Damit ich was verändere, was besser mache. Ich weiß, dass ich getötet werden kann. Wenn ich falle, heißt das, also… Dann soll’s so sein, dass mein Weg dort zu Ende geht. Überhaupt habe ich, also, es gibt Pläne. Eine Bekannte aus dem Außenministerium hat gesagt, dass die Männer dort nicht hingehen, um zu sterben, sondern um zu siegen.“ 

    Wadim ist Geselle in einer Fabrik, verdient 50.000 Rubel im Monat (etwa 475 Euro – dek). „Ich gehe, damit ich finanziell über die Runden komme, nicht um Leute umzubringen. Ich hoffe, dass wir das in ein bis anderthalb Jahren hinkriegen und zurückkommen.“ 

    Nikolai hat drei Kinder, zwei, drei und fünf Jahre alt. „Mich hält hier nichts mehr“, sagt der dreifache Vater. „Ich muss da unbedingt hin. Mir ist völlig klar, dass ich dort sterben kann. Ein Freund ist schon da. Mich motiviert, dass es jetzt schon in Russland Kampfhandlungen gibt. Ich will, dass das schnell aufhört.“ 

    In der Nähe der Rekrutierungsstelle haben Bewerber ihr Gepäck abgestellt. Viele kommen von weit her, weil in Moskau die höchsten Prämien bezahlt werden / Foto © Verstka 

    Alexander ist Oberstleutnant der Reserve. Er hat 30 Jahre Militärdienst hinter sich, vom Fernen Osten bis nach Jaroslawl. „Ich will den Vertrag wegen der Kinder. Einer wird vier, die älteste ist 17. Meine Frau hat zuerst geschimpft, doch dann hab‘ ich mich durchgesetzt. Sie hat verstanden, dass es mir um die Kinder geht. Ob man den Krieg hätte vermeiden können? Natürlich. Wenn der Westen sich nicht eingemischt hätte, wenn sie unser Land nicht betrogen hätten, wenn sie unsere Kinder und unsere Nation nicht erniedrigt hätten, dann hätte man den Krieg natürlich vermeiden können. Ich denke, es ist richtig, dass wir für uns und unsere Kinder einstehen; das ist das Wichtigste. Der Krieg endet mit unserem Sieg. Ich denke, Odessa muss erobert werden, dann sehen wir weiter, wenn der liebe Gott uns beisteht.“ Wer genau auf welche Weise russische Kinder erniedrigt hat, erklärt der Oberstleutnant nicht. 

    Waleri hat 2016 schon einmal einen Vertrag als Soldat abgeschlossen. Danach arbeitete er auf dem Bau, dann fuhr er Taxi, dann war er wieder auf dem Bau. „Es gab einen Durchbruch in die Oblast Kursk, und ich beschloss hinzugehen. Ob ich wohl erfahren bin und mir das ganze Risiko wirklich bewusst ist? Ich bezweifle es. Wenn ich mir das gut überlegt hätte, wäre ich wohl nicht hier. 

    Aber mein größtes Problem ist ein finanzielles. Das mag einem vielleicht komisch vorkommen, aber ich liebe meine Heimat sehr. Ob ich meine, dass der Krieg gerecht ist? Na, ich weiß nicht, jetzt hat er schon begonnen… Meine Meinung ist, dass man den hätte vermeiden können, aber davon verstehen andere mehr als ich… Aber wenn es nun schon passiert ist, muss man bis zum Ende gehen, und das ist nicht abzusehen… Hauptsache zurückkommen.“ 

    Dmitri, der wegen drei verschiedenen Straftatbeständen verurteilt wurde, unter anderem wegen Flucht aus dem Arrest, ist mit seiner Frau nach Moskau gekommen. Die letzten fünf Jahre ist er für Yandex Taxi gefahren. „Warum ich so traurig bin? Ich bin alle. Bin lange nicht mehr in der großen Stadt gewesen. Und die Arbeit jeden Morgen, um vier aufstehen, bis drei oder fünf hinterm Steuer sitzen. Ich sag‘ meiner Frau immer, wie sehr ich das alles satt habe… Ich will wenigstens ein bisschen Veränderung. Wir haben uns hingesetzt und beschlossen, dass ich kämpfen gehe. Ich will den Mist wieder gut machen, den ich mit meinem Bruder gebaut habe. Der ist wegen einer Dummheit gestorben, sein Enkel ist für mich wie mein eigener. Von außen betrachtet, denke ich, dass der Enkel wenigstens stolz sein wird, dass sein Opa in den Krieg gezogen ist und sich verdient macht. Er ist für mich der einzige. Dem Enkel wird es besser gehen, wenn ich unsere ganze Vergangenheit wegwische. Mein Enkel macht Gott sei Dank Sport, der wollte hier auch an der Konsole zocken…“ 

    Sein eigenes Kind ist schon erwachsen, aber Dimitri hat keinen Kontakt zu ihm. 

    Andrej ist Militärangehöriger und erneuert seinen Vertrag, der in diesem Jahr auslief: Seine Brigade geht nach Syrien, aber er wartete auf einen Platz in der Einheit bei der „Spezialoperation“. „Ein Soldat lebt zu Friedenszeiten quasi ‚auf Pump‘. Und jetzt ist die Zeit, seine Pflicht dem Staat gegenüber zu erfüllen. Ist nicht alles so einfach – eine Hypothek aufnehmen und dann ein paar leichte Übungen mitmachen. Im Krieg entfalten sich die Menschen. Wenn sie versteckt schlechte Menschen waren, dann wird das dort sofort sichtbar. Das Alltagsleben verändert stärker als der Beschuss und das eigentliche Kriegsgeschehen. Erdunterstände, Schlamm, keine Gelegenheit, sich zu waschen. Am Kriegshandwerk gefällt mir das Kollektive, zusammen eine Sache und ein Ziel zu haben, das allen klar ist. Und nach dem Krieg gehe ich in Rente. Ich hab‘ immer davon geträumt, mir einen Brummi zu kaufen und Fernfahrer zu sein.“ 

    Wladimir ist Schweißer auf dem Bau und offensichtlich nicht mehr nüchtern. Er sagt aber, er habe nur Bier getrunken, und das gestern. Er sei gekommen den Vertrag zu unterschreiben, vor allem, um seinem Sohn ein Beispiel zu sein: „Er wird dieses Jahr 17; er soll wissen, dass man sich vor nichts zu fürchten braucht.“ Er ist sich der Risiken für Leib und Leben bewusst. Dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt, weiß er. Suizidgedanken hat er keine. 

    In der Nähe des Rekrutierungsbüros versammeln sich die Bewerber / Foto © Verstka 

    „Warum ich in den Krieg ziehe? Waren Sie schon mal in Belgorod? Dann können Sie das nicht verstehen. Ich will nicht, dass sie zu mir kommen. Ich will, dass der Krieg so schnell wie möglich zu Ende ist. Warum er begonnen hat? Einerseits: Wenn nicht wir, dann wären die hierhergekommen. Obwohl, ich weiß nicht, ob sie gekommen wären?…“ 

    Pawel hat 25 Jahre gedient, zuletzt in der Nationalgarde. Seit 2017 ist er in Rente. Er habe sich mit allen gestritten, weil er den „Verfall und den Schweinkram“ gesehen habe. „Alle meine Freunde sind jetzt bei der Spezialoperation. Sie rufen an, wenn sie Heimaturlaub haben, erzählen… Ich habe beschlossen, zu ihnen zu fahren. Was soll ich hier noch? Meine Frau schimpft, was ich da will… Aber meine Kumpel sind alle dort, was soll ich da hier rumsitzen?“ 

    Alexander ist Direktor eines holzverarbeitenden Unternehmens. Bei seinem Vater wurde Darmkrebs entdeckt und er will ihm helfen: „Uns fehlt das Geld für die Operation. In der neuen Krebsklinik sagen sie, das kostet zusammen mit der Reha 35 Millionen Rubel [etwa 320.000 Euro – dek]. Wir haben bereits eine Hypothek auf dem Haus. Also bin ich sofort hierhergefahren. Die Lage ist natürlich so la la. Ich habe eine Vollmacht geschrieben, damit werden sie klarkommen. Einen Kredit bekomme ich nicht mehr, weder privat noch für die Firma. Meine Eltern arbeiten in einer Chemiefabrik, ständig sind sie dort Strahlung ausgesetzt. Wahrscheinlich hat das den Krebs ausgelöst. Jetzt stellte sich heraus, dass die Fabrik sie einfach so entlassen kann. Leute wie sie behält man dort nicht. Sie leben in Samara, dort verdient man im Schnitt fünfzigtausend [etwa 465 Euro – dek]. So ist eben unser Russland.“ 

    Ilja ist 53. Er sagt, dass man „für die Heimat“ in den Krieg ziehen müsse. „Ich bin Patriot und versuche, meine Tochter im gleichen Geist zu erziehen. Seit 2014 beobachte ich die Lage, sehe fern, meine Frau schimpft, dass ich den Kasten tagelang nicht ausschalte. Odessa, Transnistrien, das alles holen wir uns.“ 

    Der Traktorfahrer Arkadi unterschreibt den Vertrag, weil er „eine bessere Wohnung und die Kinder absichern“ will. „Die Risiken? Nun, wenn sie mich töten – was soll’s? Stimmt es denn, dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt? Nicht nur für ein Jahr? Na, dann bleibe ich eben bis zum Ende. Umentscheiden werde ich mich nicht. Wenn ich gehe, dann geh‘ ich!“ 

    Iwan ist Monteur. Er macht keinen Hehl daraus, dass es ihm ums Geld geht. „Was ich über den Krieg denke? Da habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Das ist eine politische Entscheidung, das geht mich nichts an. Kann sein, dass er gerecht ist, vielleicht ist er ungerecht. Aber die geringen Löhne in Russland… Du bist gut ausgebildet, du bist belesen, du arbeitest fleißig, aber Geld hast du keines. Wenn ich im zivilen Leben ein Gehalt von 200.000 hätte [etwa 1.865.- Euro – dek], würde ich um nichts in der Welt in den Krieg ziehen. Aber bei uns im Land sind nicht wir diejenigen, die über das Geld entscheiden. Es gibt Leute, die für uns die Entscheidungen treffen, das hängt nicht von uns ab. Ob ich zur Wahl gegangen bin? Ein paar Mal war ich da. Das letzte Mal habe ich für Putin gestimmt.“ 

    Der Bauarbeiter Sergej will den Vertrag unterschreiben, um „seinen Leuten zu helfen“. „Ich habe lange gedacht: zwei Jahre. Selbst wenn ich in einem zivilen Job 200.000 verdienen würde, würde ich trotzdem gehen. Stimmt es wirklich, dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt? Eigentlich war doch die Rede von einem Jahr … Nun gut, verstehe. Meine Jungs sind ja sowieso da. Hauptsache, der Krieg ist bald zu Ende.“ 

    Der Maurer Dimitri hat gestern ein alkoholfreies Bier und eine Flasche Wodka getrunken. Sein Bruder dient schon im Krieg, er hat keine Wohnung und mit seiner Schwester hat er sich zerstritten. „Rausgeschmissen hat sie mich, ich habe nichts, wo ich wohnen kann.“ 

    „Morde sind OK, Raub ist OK“ 

    Die Rekrutierungsstelle kann Bewerber ablehnen, wenn sie wegen sexualisierter Gewalt oder Extremismus in Haft sind oder ein entsprechendes Verfahren gegen sie läuft. „Drogen sind OK, solche Delikte sind ja weit verbreitet“, erklärt einer der Sozialarbeiter. „Mord oder Raub ebenfalls. Da kommt es darauf an, was die Leute so erzählen. Es gibt ja keine eigene Kompanie für solche Leute: Alle sitzen zusammen im Schützengraben, da kann man keine Konflikte zwischen den Soldaten brauchen“.  

    Vor der Rekrutierungsstelle segnet ein Priester die Neulinge / Foto © Verstka

    Ein weiterer Grund für eine Absage ist eine starke Drogenabhängigkeit, die beim Bewerbungsgespräch auffällt, oder eine Krankengeschichte beim Psychiater. Die Mitarbeiter schauen sich auch die Tätowierungen der Bewerber an. Leute mit aufwändigem Körperschmuck kommen selten in die Rekrutierungsstelle. Die meisten Anwärter haben ein, zwei Tattoos, die sie sich in der Armee oder in der Haft stechen ließen. Einen Stern, eine Rose… „Die ganze Welt liegt mir zu Füßen“ auf Latein, „Nur Gott ist mein Richter“… Während sich unsere Reporterin mit Bewerbern unterhielt, kam ein Mann in die Rekrutierungsstelle, der hatte auf dem Bein ein Hakenkreuz tätowiert. Ein andere hatte die Ziffern „14/88“ auf der Schulter. „Wir haben überlegt, ob wir denen absagen“, räumt einer der Mitarbeiter ein. „Aber sie waren beide schon bei der Spezialoperation, beide haben bei Wagner gedient. Sie hatten Medaillen für die Einnahme von Bachmut dabei und haben Fotos gezeigt.“ 

    „Ok, ich habe so ein Tattoo. Aber wer will mir was vorwerfen, wenn wir gegen die da kämpfen?“, rechtfertigt sich einer der beiden Wagner-Kämpfer, der nicht mehr bei privaten Militärunternehmen dienen wollte. „Ich will einen militärischen Rang und Sozialleistungen.“ „Der Grund dafür, dass wir Leute mit Hakenkreuz nicht haben wollen, ist nicht, dass wir persönlich etwas gegen Hakenkreuze hätten“, erklärt man uns die Kriterien der Rekrutierungsstelle. „Aber in einer Einheit dienen die unterschiedlichsten Leute. Sie waschen sich auch zusammen. Wenn jemand dieses Symbol sieht, könnte es zu einer Situation kommen, die wir vermeiden wollen.“  

    Die Mitarbeiter sagen selbst, dass es ihre Aufgabe sei, alle in den Krieg zu schicken. „Ich hab‘ noch niemandem abgesagt, sagen wir mal so. Warum? Nun, weil das schräg wäre: Da will jemand für Putin sterben, und ich soll ihn aufhalten? Im Gegenteil! Wenn da einer kommt, der sein Leben aufs Spiel setzen will, wäre es doch merkwürdig, wenn ich ihm sagte: Geh‘ beim Wachdienst arbeiten!“ 

    „Wenn ich aber merke, dass jemand Zweifel hat, dann helfe ich ihm zweifeln“, sagt der Mitarbeiter weiter. „Ich weiß nicht, ob ich der Einzige hier bin, der so ist. Wir haben keine Teamsitzungen, wo sie uns eine Linie vorgeben. Aber die Frage, ob jemand die Risiken für Leben und Gesundheit versteht, muss immer gestellt werden. Ich sage ihnen das auch offen: Sie können ums Leben kommen. Sie können sterben, du könntest ohne Beine zurückkommen. Das weckt manchmal Zweifel.“ 

    „Habe ich Sie richtig verstanden – ich kann nicht nach einem Jahr zurück?“ 

     Die Information, bei der einigen Bewerbern die Gesichtszüge entgleiten, ist der Umstand, dass der Vertrag keineswegs nur über ein Jahr läuft, sondern unbefristet. Ein typisches Gespräch hierzu sieht so aus: 

    „Das der Vertrag automatisch verlängert wird, wissen Sie?“ 

    „Nein, davon wurde nichts gesagt. Ich gehe für ein Jahr.“ 

    „Nein, Sie gehen nicht für ein Jahr.“ 

    „Aber ich höre das jetzt zum ersten Mal. Und wozu habe ich dann für ein Jahr unterschrieben?! Da steht’s doch.“ 

    „Ihr erster Vertrag gilt ein Jahr. Aber sofort nach Ablauf wird er automatisch verlängert. Der Grund dafür ist ein Erlass von Wladimir Putin vom September 2022. Demnach gelten alle Verträge mit der Armee unbefristet bis die Spezialoperation beendet ist. Das wurde so geregelt, damit die Soldaten, die über die Mobilmachung zwangsweise eingezogen wurden, sich nicht ärgern, weil sie dort schon das dritte Jahr hocken, während die Vertragssoldaten kommen und gehen. Also gilt der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation.“ 

    „Und könnte die in einem Jahr beendet sein? Ich hab‘ doch nur für ein Jahr unterschrieben…“ 

    „Ein Erlass des Präsidenten ist juristisch stärker als ein Vertrag mit dem Verteidigungsministerium. Deswegen werden Sie bis zum Ende des Krieges bleiben. Könnte das Ihre Entscheidung ändern?“ 

    „Nein doch… da kann man wohl nichts machen… Aber ich werde doch mal gehen können… Auf Fronturlaub, auf Dienstreise nach Hause…?“ 

    „Einige ‚Frischlinge‘ wissen nichts von der automatischen Verlängerung“, bestätigt einer der Juristen. „Die glauben, dass sie einen Vertrag über ein Jahr unterschreiben, dort die Ausbildung absitzen und reich zurückkommen.“ 

    Im Sommer werden vor dem Rekrutierungsbüro Erfrischungen angeboten / Foto © Verstka  

    „Bloß nicht ins Gras beißen“  

    Sergej ist keine dreißig, er nuschelt und zittert. „Warum der Vertrag? Ich hab‘ keine Wahl. Die Schulden, die Wetten. Eigentlich war das Mamas Entscheidung. Sie hat mich gezwungen. Ich bin ein Stück Scheiße. Ich hab‘ alle enttäuscht…“ Der Mann bricht in Tränen aus. Später stellt sich heraus, dass er spielsüchtig ist: Millionen Schulden, Verbraucherkredite, das Geld seiner Eltern und seiner Partnerin hat er verspielt, sein Lohn geht für neue Einsätze drauf. Nachdem er die Kontaktdaten einiger Suchtberatungsstellen erhielt, beschloss Sergej, nicht zu unterschreiben. 

    Vor einem Einkaufszentrum in der Nähe des Rekrutierungsbüros wird ebenfalls um Freiwillige für die Armee geworben / Foto © Verstka 

    Bei der Rekrutierungsstelle kann man sich nur so lange noch umentscheiden, bis der Anwärter und der Kommandeur den Vertrag unterschrieben haben. Sobald die Dokumente unterschrieben sind, besprechen die frischangeworbenen Soldaten mit den Offizieren, wo sie die nächsten Tage verbringen werden. Sie können nicht sofort zu ihrer Einheit, es gibt zwei, drei Puffertage. Man könnte nach Hause fahren, doch das macht kaum jemand. Deshalb setzen sich die meisten in die Busse zum Lager Avangard im Patriot-Park in Odinzowo. „Dort wohnen sie in Kasernen, werden verpflegt, es entsteht wohl ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Dann geht’s zurück zu uns, und sie werden mit dem Bus zu ihren Einheiten gebracht.“ 

    Jeden Tag werden Listen mit Personen, die es sich anders überlegt haben, an das Militär geschickt. Jede Absage wird dokumentiert, in die Listen werden die Gründe eingetragen, in welcher Phase sich jemand umentschieden hat, und mit welcher Begründung. Die Daten werden dann analysiert, „weil es für die Militärs wichtig ist, dass möglichst wenigen abgesagt wird und möglichst wenige sich weigern.“ Jeden Tag gibt es etwa hundert, mit denen aus medizinischen Gründen kein Vertrag zustande kommt. Von vierhundert, die übrig bleiben, wird nochmal etwa ein Dutzend nachträglich ausgemustert. Zum Beispiel weil sie schwer alkoholabhängig sind oder in der Vergangenheit Gewalttaten gegen Kinder verübt haben. 

    Niemand kann einfach so die Rekrutierungsstelle verlassen. Man muss sich in Zimmer 306 melden. Dort sitzt neben dem Notar ein Angestellter, der Passierscheine für den Ausgang ausstellt. Man muss dann erklären, warum man hergekommen ist, wenn man schon keinen Vertrag schließen wollte. Die Passdaten werden aufgeschrieben und man wird unter Begleitung zum anderen Ende des Gebäudes geführt, dann über den Busparkplatz zum Tor.

    Die anderen fahren von hier in den Krieg. 

    In schneeweißen Pavillons, die mit künstlichen Blumen geschmückt sind, warten die Soldaten und ihre Familien. Wenn die Männer den Befehl bekommen, steigen sie in den Bus und fahren zu ihrem Stützpunkt. 

    Ein folkloristisch gekleidetes Musik-Ensemble spielt auf dem Parkplatz hinter der Rekrutierungsstelle. Hier verabschieden sich die Männer von ihren Familien und steigen in die Busse, die sie zu ihrer Einheit bringen / Foto © Verstka 

    Als wir mit einem der Anwärter sprechen, spielen nebenan Musikerinnen Akkordeon und Zither. Sie sind in reich verzierte Kaftane gekleidet und tragen Kokoschniks mit künstlichen Perlen auf den Köpfen. Es ist eine der Kulturbrigaden von Moskonzert, die „sich an der Unterstützung der Streitkräfte Russlands und des Staates beteiligt“.  

    Wenn keine Musiker da sind, kommt die Musik draußen aus Lautsprechern. Während eines der Interviews ist im Hintergrund die Stimme von Viktor Zoi zu hören: „Wünsch mir Glück im Kampf, wünsch mir, dass ich nicht ins Gras beiße.“ Jeden Tag ist im Hinterhof ein Priester anwesend. Vor der Abfahrt zum Stützpunkt können die neuen Rekruten dort beichten, mit dem Priester sprechen und gemeinsam beten. Es gibt auch eine Feldküche, wo kostenlos Buchweizengrütze und Büchsenfleisch ausgegeben werden. „Wir ziehen guter Dinge los“, sagt einer der Beteiligten zu Verstka

    Aus Dokumenten, die Verstka vorliegen, geht hervor, dass seit August mehr als 14.000 Personen von dieser Rekrutierungsstelle aus an die Front geschickt wurden. Berechnungen der BBC und Mediazona zufolge hatte von den mehr als 70.000 Soldaten, die seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine getötet wurden, jeder Fünfte nach Kriegsbeginn einen Vertrag mit der Armee geschlossen. 2024 waren unter den Militärangehörigen aus Russland, deren Tod aufgrund offen zugänglicher Quellen bestätigt ist, immer häufiger Soldaten, die älter als 40, 50 oder gar 60 ware, und dabei weder Kampferfahrung noch eine spezielle Ausbildung hatten. 

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    Lieber tot als in Haft
    Auf der Krankenstation der Strafkolonie Nr. 2 im Gebiet Krasnodar misst ein Arzt Fieber bei einem Häftling. Ein neues Gesetz erlaubt es, jederzeit Strafverfolgung oder Haft gegen einen Einsatz an der Front zu tauschen / Foto © Roman Sokolov/ Tass/ Imago 

    Das Anwerben von Straffälligen für Russlands Krieg gegen die Ukraine ist innerhalb von zwei Jahren von einer Ausnahme zur Normalität geworden: 

    Im Juli 2022 kursierten erstmals Aufnahmen davon, wie Jewgeni Prigoshin in russischen Straflagern Gefangene für seine irreguläre Wagner-Truppe anwarb. Zu diesem Zeitpunkt gab es dafür keinerlei rechtliche Grundlage – weder für eine Anwerbung von Häftlingen noch für deren Entlassung aus dem Strafvollzug. Per Geheimerlass verfügte Wladimir Putin persönlich die Begnadigungen von Verbrechern, die bereit waren, sich dem privaten Militärunternehmen Wagner anzuschließen. Gemäß informellen Vereinbarungen sollten die aus den Strafkolonien Freigekommenen sechs Monate in Sturmeinheiten dienen, bevor sie dann ihre volle Freiheit erhalten würden.  

    Vom Herbst 2022 an begann auch das Verteidigungsministerium, Häftlinge für die reguläre russische Armee zu rekrutieren. Die Praxis weckte Erinnerungen an die berüchtigten Strafbataillone, die Stalin im Zweiten Weltkrieg aufstellen ließ. Ende des Jahres verlor Prigoshin sein informelles Recht, Häftlinge für Wagner anzuwerben; dieses Recht hatte jetzt nur noch das Verteidigungsministerium. 

    Im Juni 2023 – ein Jahr nachdem die Anwerbung von Häftlingen für die Front faktisch begonnen hatte – verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, das den ersten rechtlichen Rahmen schuf, um Verbrecher aus der Haft zu entlassen. In dem Gesetz gibt es die Bestimmung über eine „Entlassung auf Bewährung“ von Häftlingen, die einen Vertrag mit der russischen Armee geschlossen haben. Dasselbe Gesetz erlaubt es auch, Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft, für den Krieg anzuwerben. Die Begnadigung von Personen, die in den Krieg ziehen, wurde beendet. Seither können Strafgefangene oder Beschuldigte nur dann von ihrer strafrechtlichen Verantwortung befreit werden, wenn sie eine Auszeichnung erhielten oder wegen einer Verwundung aus dem Dienst entlassen wurden; oder wenn die militärische Spezialoperation beendet ist. Damit gilt der Vertrag mit der Armee für die Häftlinge jetzt unbefristet. Sie werden nicht mehr nach sechs Monaten entlassen. Diese Neuerungen wurden später als Änderungen im Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung festgeschrieben. 

    Seit September 2024 können Häftlinge in jeder Phase eines Strafprozesses in den Krieg ziehen, aus der Strafkolonie, nach der Urteilsverkündung, während der Ermittlungen, und jetzt auch direkt im Laufe des Gerichtsprozesses. Formal erfolgt eine Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung nur dann, wenn ein Vertragssoldat eine staatliche Auszeichnung erhielt oder den Vertrag aufgrund der Beendigung der Kriegshandlungen erfüllt hat. 

    Faktisch werde damit eine Parallelstruktur zum regulären Rechtsweg geschaffen, urteilt die Novaya Gazeta Europe: In jedem beliebigen Stadium eines Strafverfahrens hat der Beschuldigte nun die Wahl, an die Front zu gehen – von der Festnahme bis zur Ankunft in einer Strafkolonie. 

    Aus Gesprächen mit Polizisten, Anwälten, Beschuldigten und deren Angehörigen hat die Novaya Gazeta Europe den Eindruck gewonnen, dass diese Form der Anwerbung für die Streitkräfte inzwischen zu einer Routine geworden ist, mit der jeder konfrontiert sein kann, der ins Visier von Strafermittlungen gerät. Im folgenden Text schildern die Autoren, wie das Verfahren abläuft und wer davon profitiert. 

    Die Namen der Personen in diesem Text wurden geändert, um sie nicht zu gefährden. 

    Dmitri sitzt seit sechs Monaten in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis. Er ist 36. In Freiheit machte er Musik und konnte sogar davon leben. Nebenbei verkaufte er Drogen, deswegen ist er hier. „Ich war auf meinem Gebiet recht erfolgreich. Aber ich ließ mich auf Drogen ein“, erzählt Dmitri. „Vieles, was man mir vorwirft, stimmt, aber ich habe nicht gedacht, dass es dafür so harte Strafen gibt“, sagt er. „Ich wurde wegen des Handels mit Drogen verurteilt, die in vielen Ländern legal sind. Ich habe gestanden, wurde aber trotzdem abgeurteilt als wäre ich ein Drogenbaron.“ 

    Da Dmitri ein Geständnis ablegte, ging der Prozess schnell über die Bühne, endete aber mit einem harten Urteil. „Ich bekam zehn Jahre unter verschärften Bedingungen. Das finde ich ungerecht. Ich konnte das nur schwer verdauen und bin immer noch aufgewühlt“, berichtet er. Das ließ bei ihm den Gedanken aufkommen, in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. „Das allgemeine Gefühl der Machtlosigkeit wegen des harten Urteils brachte mich auf den Gedanken, dass das vielleicht keine schlechte Lösung wäre.“ 

    Ende September 2024 verabschiedete die Staatsduma zwei weitere Gesetze, die Verbrechern die Möglichkeit eröffnen, einer strafrechtlichen Verantwortung zu entgehen, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium schließen und an die Front gehen. Die Verfasser dieser Gesetzesvorlagen sagen, dass damit lediglich eine Gesetzeslücke geschlossen werde: Wenn zuvor nur Leute an die Front gehen konnten, die bereits verurteilt sind und im Gefängnis ihre Strafe verbüßen, könnten jetzt Leute in jeder Phase der Strafverfolgung angeworben werden. Das wird ihnen sowohl von Polizisten sofort nach der Festnahme angeboten, als auch in Untersuchungshaft, bei Gericht, während der Ermittlungen und während des Prozesses. 

    Die Praxis wirkte anfangs wie aus einem Actionfilm: Der Söldnerchef Jewgeni Prigoshin landete nachts mit einem Hubschrauber in den Strafkolonien und warb dort persönlich Häftlinge für die militärische Spezialoperation an, die schwere oder besonders schwere Taten verübt hatten, damit sie dann „als Helden zurückkehren“. Inzwischen ist daraus eine Routine geworden, die jeden erwartet, der in das russische System der Strafjustiz gerät. 

    Die Rekrutierung 

    Dmitri entschied sich, einen Antrag auf Entlassung an die Front zu stellen, nachdem er mit Zellengenossen gesprochen hatte. Die Idee, in den Krieg zu ziehen, taucht in der U-Haft sofort auf, wie aus dem Nichts. „Es ist inzwischen eine ganz gewöhnliche Sache: Sobald du ankommst, sollst du unbedingt einen Antrag beim Wehrersatzamt stellen, dass du bereit bist zu dienen“, beschreibt Dmitris Anwalt die Stimmung der Untersuchungshäftlinge. 

    Als nächstes bekommen diejenigen, die ein Gesuch gestellt haben, Besuch von Männern in Uniform vom Wehrersatzamt. Sie landen dann diejenigen Häftling zum Gespräch, die einen Antrag gestellt haben, oder diejenigen, die über Kampferfahrung verfügen. Die Einberufung erfolgt nicht sofort; einigen Häftlingen wird aus verschiedenen Gründen ein Wechsel an die Front verweigert. „Viele meiner Zellengenossen schreiben jeden Monat an die Meldestelle in der Jablotschkow–Straße [die Moskauer Meldestelle für die Einberufung in die Armee – Novaya Gazeta Europe]; sie bitten um beschleunigte Bearbeitung ihres Antrags auf einen Vertrag“, sagt Dmitri. 

    Eine fröhliche Winkfigur in Flecktarnkleidung wirbt an einer mobilen Rekrutierungsstelle in Weliki Nowgorod um Freiwillige für die Front / Foto © Pond5 Images, Imago 

    Mit der Anwerbung befassen sich jetzt auch Mitarbeiter von Polizei und Justiz – von einfachen Polizisten bis hin zu Ermittlern. 

    „Wir wurden etwa im März dieses Jahres angewiesen, Leute für den Krieg anzuwerben“, erzählte Alexej M. der Novaya Gazeta Europe. Er arbeitet als Fahnder in einer Polizeieinheit in der Leningrader Oblast. Im August berichtete der Telegram-Kanal Baza, dass Polizisten in einigen Regionen eine Prämie für jeden Festgenommenen ausgelobt wird, der einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben hat. Die Polizisten, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, haben solche Prämien zwar nicht erhalten; sie hatten jedoch andere Gründe, sich aktiv an der Anwerbung zu beteiligen.  

    „Voraussetzung dafür, dass ein Festgenommener zur militärischen Spezialoperation geschickt wird, ist ein Geständnis. Daraus ergibt sich, dass diejenigen, die bereit sind, in die Ukraine zu gehen, die Aufklärungsquote erhöhen (Schließlich haben sie gestanden!)“, erzählt Alexander S., ein Mitarbeiter der Fahndung in der Hauptverwaltung des Innenministeriums für St. Petersburg ganz offen. 

    „Für einfache Revierpolizisten, die ihren Dienst auf der Wache tun, ist diese Anordnung schlicht ein Geschenk des Himmels. Zunächst einmal aus dem Grund, dass es weniger Schreibkram gibt. Überhaupt wird die Arbeit weniger: Der Festgenommene unterschreibt ein Geständnis, schreibt einen Antragt auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation – und damit ist die Sache erledigt. Die Statistik verbessert sich, was gewisse Dividenden einbringt: Prämien, Vergünstigungen, Rangerhöhung außer der Reihe, Beförderung.“ 

    Die Vorschrift, dass ein Schuldeingeständnis Voraussetzung ist, wird in der föderalen Gesetzgebung nicht erwähnt. Polizisten berichteten der Novaya Gazeta Europe, dass die Anweisung, Festgenommene für den Krieg in der Ukraine anzuwerben, in einer internen Dienstanweisung des Ministeriums verankert ist, den in den lokalen Polizeidirektionen kaum jemand je gesehen hat. 

    An dieser Stelle kommen nun die Ermittler ins Spiel. Sie sind das Bindeglied im Strafprozess. Für sie ist es eigentlich ungünstig, wenn Verdächtige an die Front geschickt werden. „Ein Indikator für gute Ermittlungsarbeit ist eine Übergabe des Verfahrens ans Gericht. Wenn sich viele Beschuldigte jetzt in einem Frühen Stadium des Verfahrens an die Front melden, ruiniert das den Ermittlern die Statistik. Deshalb sind sie unzufrieden“, erklärt die Anwältin Jelisaweta. Die Strategie der Ermittler bestehe daher darin, den Moment hinauszuzögern, an dem die Beschuldigten einen Vertrag als Soldaten abschließen. „Bei Eingang eines entsprechenden Antrags versuchen die Ermittler, ihn möglichst auf die lange Bank zu schieben, um das Verfahren abschließen und ans Gericht übergeben zu können; alles Weitere ist dann Sache des Gerichts.“ 

    „Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden“  

    In einer VK-Gruppe zum Untersuchungsgefängnis Kresty gibt es einige Dutzend recht aktueller Posts und Kommentare, in denen Angehörige von Verhafteten schreiben, dass diese in den Krieg ziehen wollen. Neben Fragen zu Dokumenten und Kleidung interessiert die Nutzer zum Beispiel auch, wie man sich so scheiden lassen kann, dass die Ehefrau nichts davon erfährt. Denn im Falle einer Verwundung oder des Todes bekäme sie sonst die ganzen Entschädigungszahlungen. 

    Jelena, eine Frau fortgeschrittenen Alters, berichtet, dass ihr Sohn Jewgeni gleich nach Verkündung des Urteils aus dem Untersuchungsgefängnis an die Front gefahren ist, noch bevor er in eine Strafkolonie verlegt wurde. Dort ist er in der zweiten Julihälfte gefallen. Jewgeni war ebenfalls wegen des „Drogenparagrafen“ 228 verurteilt worden; er hatte elf Jahre bekommen. 

    „Er zog am 3. Juli los, ich konnte mich noch von ihm verabschieden“, erzählt Jelena. „Shenja [Jewgeni – dek.] hatte große Angst, dass er zu spät kommt und der Krieg ohne ihn zu Ende geht. Er war ein wunderbarer Sohn, aber diese verdammten Drogen… Als er elf Jahre bekam, sagte er, dass er in den Krieg zieht; dort habe er eine Chance, und das Gefängnis sei nichts für ihn. Er wusste nicht, der Gute, dass seine Chancen dort minimal sind!“  

    Die Mutter des gefallenen Verurteilten erzählte, dass dieser im Krieg Kommandeur eines Zuges war, von dem „fast keiner mehr übrigblieb“. Trotz dieser Tatsache, und obwohl Jewgeni starb, ist seine Mutter von seiner Tat begeistert und sagt, dass ihr Sohn als Held starb: „Shenja dachte, dass er Glück haben würde. Natürlich haben wir ihm gesagt, dass es dort gefährlich ist, aber er hat sich anders entschieden. Er hat den Vertrag und ist gegangen. Jetzt werden alle genommen, Hauptsache ohne AIDS oder Syphilis. Ich bin stolz auf meinen Sohn. Er starb als Held. Er wusste, wohin er geht. Ich muss ihn jetzt nur noch finden, damit ich ihn beerdigen kann. Da herrscht so ein Chaos auf dem Schlachtfeld, dass das schwer wird. Hoffen wir nur, dass er seine Erkennungsmarke noch bei sich hat!“ 

    Eine andere Frau, Anastassija, hat im Krieg ihren Mann verloren, der ebenfalls nach Paragraf 228 verurteilt wurde. Er war zunächst in U-Haft geblieben, in einer Hauswirtschaftsbrigade. Dort kommt man eigentlich nur schwer rein, sie nehmen nur Häftlinge mit mustergültiger Führung, weil die Bedingungen dort besser sind als in der Strafkolonie. Der Gefallene war lediglich zu drei Jahren verurteilt worden, für den Besitz psychotroper Substanzen. Aber schon anderthalb Jahren nach dem Urteil unterschrieb er einen Vertrag, obwohl die Verwandten ihm abrieten. „Ich weiß nicht, ob sie unter Druck gesetzt wurden, aber er ist guten Mutes losgezogen! Er hat auf niemanden gehört!“, sagt seine Witwe. 

    Angehörige von gefallenen Häftlingen behaupten oft, diese seien aus Patriotismus in den Krieg gezogen. Aber die Häftlinge, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, hatten unter ihren Zellengenossen keine sonderlich patriotischen Stimmungen festgestellt. „Ihre Einstellung zum Krieg ist so, wie es ihnen die Propaganda aufträgt. Sie wiederholen ihre Phrasen. Deshalb kann man mit ihnen gar nicht richtig diskutieren“, sagt Dmitri über die, mit denen er jetzt in Moskau in U-Haft sitzt. „Selbst die Ermittler ziehen sie auf: Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden.“ 

    Viele sagen ehrlich: „Jetzt hab ich wenigstens die Chance, freizukommen. Und obendrauf gibt es noch Geld.“ 

    Sogar Kriegsgegner lassen sich auf einen Deal ein 

    Anwälte, die Beschuldigte in politischen Prozessen vertreten, berichten, dass selbst diejenigen über eine Teilnahme am Krieg nachdächten, die wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ in Haft sind. „Einer meiner Mandanten, der in einem Untersuchungsgefängnis in Sankt Petersburg einsitzt [wiederum aufgrund dieses Paragrafen 228], hat dermaßen den Kopf hängen lassen und die Haft so unglaublich schlecht vertragen, weil er überhaupt nicht darauf vorbereitet war. Er wollte um jeden Preis raus, obwohl wenn er den Krieg total ablehnte“, erzählt Jelisaweta, die politische Gefangene verteidigt. „Es hat mich viel Geld und Nerven gekostet, um ihn von dieser tödlichen Entscheidung abzubringen.“ Letztendlich sei er doch nicht zur Armee gegangen. 

    „Das war für mich eine Frage des Prinzips. Er wurde keiner schwerwiegenden Straftat beschuldigt und hätte wahrscheinlich noch nicht einmal eine Freiheitsstrafe bekommen. In so einer Situation wäre es sehr dumm gewesen, in den Krieg zu ziehen, selbst wenn man die moralische Seite außen vor lässt“, fasst die Verteidigerin zusammen. 

    Sie erzählt, dass er im Untersuchungsgefängnis „einen derart tiefen Schock erlebte, und ihm in Gefangenschaft klar wurde, dass sein Leben gescheiter war“, dass er diesen Zustand um jeden Preis beenden wollte: „Egal was, nur nicht sitzen. Außerdem hatte er idealistische Vorstellungen von einem Vertrag mit der Armee. Als ob er dann als Feldarzt oder Koch davonkommen würde, obwohl er weder von Medizin etwas versteht noch vom Kochen“, erklärt sie weiter. 

    Abgesehen davon, dass die Anwältin nach eigenem Bekunden „sehr spezifische“ Mandanten hat, und die Paragrafen, nach denen diese beschuldigt werden, nahelegen, dass sie den Krieg und eine Rolle als Vertragssoldat entschieden ablehnen, wollen in ihrem Umfeld alle – Zellengenossen wie Weggefährten – „um jeden Preis aus dem Gefängnis raus“. Ein anderer ihrer Mandanten sitzt im Untersuchungsgefängnis Kresty in Sankt Petersburg mit einem einzigen Zellengenossen zusammen. Der ist Jurist, ein intelligenter Mann. Ihm wird Betrug vorgeworfen, und auch er will an die Front. „Leute, die wegen bandenmäßiger Verbrechen beschuldigt werden (§ 210 des Strafgesetzbuches), müssen ein Gesuch an Alexander Bastrykin persönlich schreiben, den Chef des Ermittlungskomitees. Er muss darüber entscheiden, dass dieser Punkt fallengelassen wird. Solange dieser Anklagepunkt besteht, kann man kann keinen Vertrag abschließen. Nach Einschätzung dieses Mandanten wird das Gefängnis [nach Verabschiedung der Gesetzesreform] wohl verwaisen – alle werden den Dienst als Vertragssoldat wählen.“ 

    Dmitri berichtet, dass das Untersuchungsgefängnis die Menschen schockiert und orientierungslos macht, dazu muss man noch nicht einmal gefoltert oder misshandelt werden. „Die U-Haft war von Anfang an ungewohnt, vor allem wegen der viele Leute in der Zelle. Die ständige Kontrolle und die Enge machen es unmöglich, sich zurückzuziehen und nachzudenken.“ 

    Fast jeder Dritte wählt die Front 

    Bei der Frage, wie viele der U-Häftlinge tatsächlich bereit sind, in den Krieg zu ziehen, weichen die Schätzungen der Polizisten ein wenig von den Angaben der Anwälte ab. „Es gibt keinerlei Statistik, doch meinem persönlichen Eindruck nach sind rund 30 Prozent der Häftlinge, die wegen schwerer oder besonders schwerer Taten sitzen, bereit, an die Front zu gehen. Und wenn die begangene Tat nicht besonders schwer war (also etwa Diebstahl, geringfügiger Betrug, Amtsanmaßung, oder sogar Raub, sofern er nicht gemeinschaftlich begangen wurde), dann lehnen die Beschuldigten meiner Erfahrung nach sofort ab“, sagt Alexander S. von der Fahndung in Sankt Petersburg. 

    „Vor zwei Wochen hatte ich einen Beschuldigten, der betrunken bei einer Prügelei einen Saufkumpan erschlagen hat“, berichtete Sergej T., ein Fahnder aus Sankt Petersburg der Novaya Gazeta Europe. Da er schon zwei Haftstrafen auf dem Buckel hatte, drohte ihm fast lebenslänglich. Als er hörte, dass man ein „Geständnis“ ablegen und dann einen Antrag auf drei Jahre Kriegsdienst stellen könne [und dafür nicht ins Gefängnis muss], hat der sich riesig gefreut. Da er aber schon Erfahrung hatte (immerhin zwei Haftstrafen!), verlangte er, den Erlass zu sehen, demzufolge ihm seine Strafe für eine bestimmte Zeit Kriegsdienst in der Ukraine vollständig erlassen würde. Da ich ihm den Erlass nicht zeigen konnte, weigerte er sich zu gestehen. Er sagte, es sei wohl besser, in der Strafkolonie zu leben als in der Ukraine beim Sturm im ‚Fleischwolf‘ zu verrecken.“ 

    „Mit reinem Gewissen zurück in die Freiheit“ – Inschrift am Ausgang der Strafkolonie Nr. 1 in Nertschinsk in der Region Transbaikalien / Foto © Yevgeny Yepanchitntsev, TASS, Imago 

    Alexander S., der Polizist aus Sankt Petersburg, räumt ein, dass die neuen Regelungen der Regierung zur Anwerbung für den Krieg bei ihm ambivalente Gefühle auslösen: „Für den Krieg melden sich gerade diejenigen, gegen die handfeste Beweise vorliegen. Wenn sie auf diese Weise einer Strafe entgehen und sich dann auch noch mit dem ‚Kampf gegen die Nazis‘ brüsten, begehen sie später auf Fronturlaub zuhause oft richtig schwere Straftaten. Sie sind überzeugt, dass sie selbst dann, wenn sie geschnappt werden, der Strafe entgehen, wenn sie erneut einen Antrag auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation stellen.“ 

    Dennoch überwiegt der potenzielle Nutzen in Gestalt einer guten Statistik, und bei den Einsatzkräften dominiert den Worten von Alexander zufolge das Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“. Insbesondere weil sie ja „faktisch keinen Straftäter freilassen, sondern diesen auf eine andere juristische Ebene überführen“. 

    Nach Berechnungen von Verstka sind in zweieinhalb Jahren Krieg mindestens 500 russische Bürger Opfer von Menschen geworden, die an der militärischen Spezialoperation beteiligt waren. Aus der Untersuchung geht hervor, dass ehemalige Häftlinge öfter morden und öfter Straftaten gegen Frauen begehen.   

    Nur die Angehörigen sind dagegen 

    Die wohl einzigen Menschen, die sich heftig gegen die Entsendung der Beschuldigten in den Krieg wenden, sind deren Angehörige. 

    „Sagen Sie Ihren Verwandten, dass sie da besser nicht hingehen sollen, dass das eine Einbahnstraße in den Tod ist. Wenn ihnen Lebenslänglich droht – meinetwegen. Aber alle anderen sollten besser ihre Strafe absitzen“, schreibt Alla Danilina in einer Gruppe für Angehörige von Häftlingen auf VK. „Ich habe versucht, das meinem Sohn auszureden; er hat von mir solche Flüche zu hören bekommen, er konnte sich gar nicht vorstellen, dass ich so schimpfen kann“, antwortet Irina. 

    „Mein Mann ist am 7. Juli zur Spezialoperation gegangen. Wir haben’s ihm nicht ausreden können; morgen ist die Beerdigung. Zwei Kinder hab‘ ich! Lasst das nicht zu!!!“ 

    In den Kommentaren gibt es viele ähnliche Geschichten: „Ende Juni sind 30 Mann aus Jablonewka zum Einsatz in der Spezialoperation aufgebrochen. Am 29. oder 30. Juni waren nur noch zwei am Leben, und selbst die waren verwundet.“ Viele Angehörige, die die Novaya Gazeta Europe angeschrieben hat, berichteten, dass ihre Verwandten innerhalb von Monaten nach ihrer Entsendung in den Krieg umgekommen sind. 

    Der Mann von Olga, die viel in der VK-Gruppe Kresty schreibt, war nach dem Urteil bereits in die Strafkolonie verlegt worden; er ist nicht in den Krieg gezogen. Aber ein enger Freund von ihm, mit dem sie sprach, der wollte da hin. „Er hat ‘ne lange Strafe, und niemand wartet draußen auf ihn. Einige dort werden moralisch unter Druck gesetzt. Natürlich nicht alle. Sie machen ihnen mit der Strafkolonie Angst. Jetzt hat er Kontakt zu seinen Eltern und seiner Freundin, bei der sein Kind lebt. Er wird wohl nicht gehen.“ 

    Dmitri, der noch aus der U-Haft ein Gesuch geschrieben hatte, um an die Front zu kommen, hat sich in Bezug auf den Krieg dennoch umentschieden. „Ich will einfach leben und meine Familie wiedersehen. Über die Zukunft habe ich noch nicht nachgedacht.“ 

     

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    Wenn russische Soldaten im Krieg gegen die Ukraine getötet werden, steht ihren Familien eine Entschädigung von umgerechnet 150.000 Euro zu. Und den Kommandeuren ihrer Einheit – neuer Truppennachschub. Der russische Staat aber will solche Zahlungen, Soldatenersatz und besonders verräterisch negative Statistiken vermeiden. Also kursiert innerhalb der russischen Armee eine inoffizielle Order, besonders schwer Verwundete und Getötete lieber auf dem Schlachtfeld liegen zu lassen. Dann kann der Tod nicht bewiesen werden und ein Verschollener ist kein Gefallener – und am Ende billiger. 

    Werden Ersatzansprüche geltend gemacht, muss ein Gericht entscheiden, ob – ohne Leiche – ausreichend Hinweise auf den Tod eines Soldaten vorliegen. Das russische Onlinemedium Verstka hat sich angeschaut, wie viele solche Anträge auf Anerkennung getöteter Militärangehöriger bei russischen Gerichten eingehen: seit dem russischen Überfall auf die Ukraine fast 3.000, zwei Drittel davon 2024. Die Gerichtsunterlagen zeigen auch, dass in der Hälfte der Fälle nicht die Familien den Antrag stellten, sondern die Kommandeure der Militäreinheiten – damit jene „toten Seelen“ auf dem Papier durch neue Kämpfer ersetzt werden können. 

    Verstka hat dafür aus 21.600 Fällen an russischen Bezirks- und Garnisonsgerichten, in denen Russen als tot oder verschollen anerkannt wurden, diejenigen Fälle seit Ende Februar 2022 herausgesucht, in denen eine militärische Einheit, das Verteidigungsministerium oder ein Militärstaatsanwalt beteiligt war. Von diesen 2.847 Fällen konnte die Redaktion die Urteile im Wortlaut zu fast 200 Fällen recherchieren. Dieser Datensatz verrät auch, welche Einheiten am häufigsten in diesen Verfahren figurieren – und offenbar die größten Verluste haben. 

    Seit März 2022 bearbeiten russische Gerichte schon fast 3000 Klagen, um Militärangehörige, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind, für tot oder verschollen zu erklären. Die kommen ebenso häufig von Familien wie von Kommandeuren. Illustration © Catherine Popov/Verstka
    Seit März 2022 bearbeiten russische Gerichte schon fast 3000 Klagen, um Militärangehörige, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind, für tot oder verschollen zu erklären. Die kommen ebenso häufig von Familien wie von Kommandeuren. Illustration © Catherine Popov/Verstka

    Seit März 2022 sind bei den Bezirks- und Garnisionsgerichten (Militärgerichte der ersten Instanz – dek) in Russland und der annektierten Krym mindestens 2.847 Klagen eingegangen, die das Ziel haben, Militärangehörige, deren sterbliche Überreste noch auf dem Schlachtfeld liegen, für tot oder verschollen zu erklären. Während 2022 nur vereinzelt solche Anträge eingingen, waren es ab Sommer 2023 monatlich bereits mehrere Dutzend.  

    2024 ging es, statistisch gesehen, schon bei jedem vierten Antrag auf amtliche Anerkennung als tot oder verschollen um Militärangehörige. Zwischen Juni und August 2024 registrierten die russischen Gerichte bereits über 1.300 Eingänge. Davon allein im August die bislang höchste Anzahl – mindestens 554. Rund drei Viertel der in diesem Sommer gestellten Anträge befinden sich noch in Bearbeitung, in 196 Fällen wurde der Klage bereits stattgegeben. 

    Spitzenreiter unter den Truppeneinheiten, aus denen solche Anträge eingehen, ist die Einheit Nr. 22179 in Nowotscherkassk (Oblast Rostow) mit insgesamt 221 Fällen. Hier ist eine Schtorm-Z–Einheit angesiedelt.  

    Andere Stützpunkte, die besonders häufig in den Verfahren zu gefallenen oder vermissten Militärangehörigen auftauchen, sind die Einheit Nr. 12721 in Klinzy (Oblast Brjansk) mit 119 Anträgen, Nr. 61899 in Moskau (mit 99), Nr. 06705 aus der Region Transbaikalien (mit 96) und eine weitere in Klinzy (Nr. 91704). 

    Wieso muss man für tote Soldaten vor Gericht ziehen? 

    Die russische Armee schafft es nicht, alle gefallenen Soldaten vom Schlachtfeld zu bergen. Das bringt sowohl für die Angehörigen wie für die Einheiten Probleme mit sich: Ohne Leichnam stellen die russischen Behörden keine Sterbeurkunde aus, und ohne juristisch bestätigten Tod gibt es keine Entschädigung. Zudem kann der Armeeangehörige nicht aus der Personalliste gestrichen werden. 

    Gibt es keinen Leichnam, kann ein Gericht einen Militärangehörigen erst für tot erklären, wenn es mindestens sechs Monate lang keine Nachricht von ihm gab. Verstka konnte allerdings keinen einzigen Fall finden, bei dem ein Soldat allein auf dieser Grundlage für tot erklärt wurde. In der Regel müssen Angehörige oder Vertreter der Einheiten für das Gerichtsverfahren Zeugenaussagen von Kameraden einholen, die den Tod des Betreffenden mitangesehen haben. 

    In den von Verstka recherchierten Fällen haben die Gerichte, wenn es keine Zeugen gab, die betreffenden Armeeangehörigen als verschollen [anstatt als tot – dek] eingestuft. Bei diesem Status kann man kaum mit einem „Sarggeld“ rechnen. Es kann aber beispielsweise Halbwaisenrente für die Kinder beantragt werden. In den zweieinhalb Jahren Krieg wird das Recht, einen gefallenen Armeeangehörigen als tot oder verschollen anerkennen zu lassen, sowohl von deren Familien wie auch von Kommandeuren aktiv genutzt. 

    „Wenn man die Leichen holen will,  
    kommen sofort Granaten geflogen“ 

    Einen Teil der Gefallenen lässt die russische Armee nicht bergen, wenn das betreffende Kampfgebiet von den ukrainischen Streitkräften beschossen wird. So erklärte im Mai 2024 ein Kämpfer der ehemaligen Gruppe Wagner, der vor einem Gericht in Saransk als Zeuge zum Tod eines Kameraden vernommen wurde: „Wenn man die Leichen holen will, kommen sofort Granaten geflogen, und dann sterben die Nächsten.“ Oder aus der schriftlichen Erklärung eines Feldwebels der Einheit Nr. 09332 vom Februar 2024 beim Bezirksgericht Adler: „Aufgrund des schwierigen Geländes und des dichten Feuers der überlegenen Kräfte des Feindes, erschien eine Bergung des Leichnams nicht möglich.“ Er habe gesehen, wie ein Gefreiter aus seiner Einheit „tot umfiel“, nachdem er am Kopf getroffen wurde.  

    In anderen Fällen gibt es nichts zu bergen, weil der Leichnam verbrannt ist oder vollständig vernichtet wurde. So stellte im Frühjahr 2024 ein Gericht in Stawropol zum Tod eines Schtorm-Z-Kämpfers fest: „Im Zuge der Kampfhandlungen verbrannte der Körper des Sohnes der Antragstellerin restlos unter direkter Einwirkung eines Explosivgeschosses, das von den Streitkräften der Ukraine abgefeuert wurde.“ 

    Es kommt auch vor, dass jemand einfach verschwindet und unklar ist, ob er gefallen ist oder nicht. So war es z. B. mit Major Lenar Karimow, der zehn Jahre in der Armeeeinheit Nr. 09332 im nordkaukasischen Adygeja gedient hatte und dann Kommandeur einer Funk- und Radarbatterie der Besatzungstruppen war. Im Zuge der Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte in der Oblast Cherson im Herbst 2022 musste Karimow mit seiner Einheit fliehen und ist seitdem spurlos verschwunden. Die Suche der Kameraden nach seinem Leichnam blieb vergebens. Niemand hat gesehen, was mit ihm geschah, seit anderthalb Jahren gibt es keinerlei Lebenszeichen. Der Kommandeur der Einheit zog vor Gericht, um Karimow für verschollen erklären zu lassen und ihn daraufhin aus der Personalliste streichen zu können.

     Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago
    Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago

    Warum schießen die Zahlen 2024 in die Höhe? 

    Die drastische Zunahme der Anträge, um Militärangehörige als gefallen oder verschollen anerkennen zu lassen, geht nicht nur auf den Wunsch von Angehörigen zurück, sondern oft auch auf das aktive Vorgehen der Einheiten. 

    Für die Kommandeure ist es wichtig, dass bei ihnen keine „toten Seelen“ gelistet sind. Sie können einen gefallenen Soldaten, der nicht geborgen wurde, nicht einfach streichen. Und solange jemand auf der Personalliste steht, kann er nicht „entlassen“, also aus dem Soldverzeichnis gestrichen und durch einen anderen ersetzt werden.  

    So erklärten im August 2024 Vertreter der Einheit Nr. 57367 vor dem Bezirksgericht Ussurijsk, dass sie den Unterfeldwebel mit Rufnamen „Deimos“, dessen Leichnam nicht geborgen werden konnte, aus der Liste streichen wollen, weil „die Einsatzfähigkeit der Einheiten in erster Linie von einer vollen Mannschaftsstärke abhängt“. Der Feldwebel war bereits im Oktober 2022 bei den Kämpfen um das Dorf Wolodymyriwka (Oblast Donezk) getötet worden. Seither, so die Annahme der Armee, liegt sein Leichnam auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Ein Kamerad des Feldwebels sagt vor Gericht aus, er habe einen Schrei gehört: „Deimos 200!“, und zwar wenige Minuten, nachdem die ukrainischen Streitkräfte das Feuer auf ihre Stellungen eröffnet hatten. Der Kommandeur der Kompanie habe den Befehl gegeben, den Toten zurückzulassen und sich zurückzuziehen. 

    Unseren Berechnungen zufolge wurden zwischen Januar und August 2024 insgesamt mindestens 2.303 Anträge gestellt, Militärangehörige als gefallen oder vermisst einzustufen. Die eine Hälfte wurde von Truppenstützpunkten gestellt, die andere von den Familien der Getöteten, entweder selbständig oder mit Unterstützung der Militärstaatsanwaltschaft. 

    „Wenn ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist,  
    kann man Aufstockung beantragen“ 

    Allein 70 Anträge sind 2024 von der Einheit Nr. 29297 eingegangen. Im September 2023 hatte der Telegram-Kanal Mobilisazija eine Videobotschaft veröffentlicht, die angeblich von Soldaten des 1008. Regiments jener Einheit aufgenommen wurde. Die uniformierten Männer berichteten von Regelverstößen und „kolossalen Verlusten“. Trotz allem habe die Einheit als einsatzfähig gegolten. 

    „Damit unsere Personallücken aufgefüllt werden können, muss aus den Unterlagen die Notwendigkeit dafür hervorgehen“, erklärt ein Vertragssoldat eines Bergungstrupps gegenüber Verstka; seine Leute sind für Suche und Abtransport von Verletzten und Getöteten zuständig. „Wenn etwa ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist, kann man eine Aufstockung beantragen. Bei Tschassiw Jar haben wir bis zu 60 Prozent verloren, aber die Leichname fehlen, wir können sie einfach nicht bergen. Wir versuchen, wenigstens die Dienstmarken zu holen, aber auch das ist nicht realistisch. Daher gibt es so viele Vermisste. Keiner mag es, so viele Vermisste nach oben zu melden, dafür kommen dann alle dran. Deswegen haben wir dort einen Monat lang unterbesetzt in der Luft gehangen. Dann brachten sie uns die Strafversetzten und die Häftlinge. Mit denen werden die Lücken gestopft.“ 

    Viele „Sturmtruppen“ bleiben auf dem Schlachtfeld 

    Der Stützpunkt Nr. 06705, der seinen Standort in der Stadt Borsja (Region Transbaikalien) hat, stellte im Mai und Juni 87 Anträge, Militärangehörige für gefallen oder verschollen zu erklären. Dabei wird bei sämtlichen Anträgen vom Juni eine andere Garnison als „interessierte Partei“ genannt: Nr. 22179. Auf deren Grundlage wurde eine Schtorm-Z–Einheit gebildet, die aus ehemaligen Häftlingen und strafversetzten Soldaten besteht. „Da sind nur lahme Kämpfer, Alkis, Junkies, Deserteure. Wenn der Kommandeur was gegen dich hat, kann der dich einfach da reinstecken. Wenn du nicht gehorchst oder widersprichst – zack, bist du weg. Im Grunde ist das ein Strafbataillon, nichts als Fleischwolf“, erklärte der Offizier Andrej (Name geändert) im Frühjahr 2024 gegenüber Verstka. Dass bei der Antragstellung zwei verschiedene Stützpunkte genannt werden, erklärt sich dadurch, dass die Kämpfer von Schtorm Z aus unterschiedlichen Einheiten kamen, um befestigte Stellungen des Feindes zu stürmen. 

    Die Beschlüsse zu den Anträgen von 2024 sind zwar noch nicht veröffentlicht, aber Verstka konnte 15 frühere Fälle ausfindig machen, die jene Einheit Nr. 22179 betrafen. Daraus geht hervor, dass Soldaten dieser Garnison an diversen Sturmangriffen beteiligt waren und zu unterschiedlichen Zeitpunkten an unterschiedlichen Orten starben: zum Beispiel in Kämpfen bei Kyryliwka (Oblast Saporishshja), Awdijiwka, Oleksandriwka, Marjinka, Swjatohirsk, Dubowo-Wassyliwka (Oblast Donezk) und Bilohoriwka (Oblast Luhansk). 

    So wurde ein Gefreiter der 63. Schtorm-Z-Kompanie aus der Region Krasnojarsk seiner Mutter zufolge im April 2023 für den Armeedienst angeworben, als er auf Arbeitssuche war, und landete in der Einheit Nr. 22179. Er sollte einen Sold von monatlich 51.900 Rubel [ca. 500 Euro – dek] bekommen. Bereits im Mai 2023 stürmte er ukrainische Stellungen. Seit einem dieser Sturmangriffe ist er verschollen. Ein Kamerad erzählte dann den Angehörigen, er sei „in einem Sumpfgebiet gefallen“. Das Bezirksgericht Suchobusimskoje (Region Krasnojarsk) kam 2024 zu dem Schluss, dass er „bei der Erfüllung seiner Aufgaben im Zuge der militärischen Spezialoperation“ ums Leben gekommen war. 

     Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago
    Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago

    Wie die Familien vor Gericht ziehen 

    Familien, die ihre Angehörigen nicht beerdigen konnten, die die Hoffnung verloren haben, dass sie vielleicht doch noch am Leben sind, und die das „Sarggeld“ beantragen wollen, können sich zusammentun und gemeinsam vor Gericht ziehen. Im Sommer 2024 haben Verwandte von Angehörigen der Einheit Nr. 95383 gleich 54 Anträge eingereicht, um ihre Söhne als tot oder verschollen anerkennen zu lassen. Die Soldaten waren mutmaßlich während der Kämpfe um das Dorf Klischtschijiwka bei Bachmut ums Leben gekommen. 

    Im Frühjahr 2024 hatten die Familien dieser Soldaten eine Petition ins Leben gerufen, die bis dato von fast 300 Personen unterzeichnet wurde. Der Text besagt, die Familien hätten seit Juli 2023 nichts mehr von ihren Söhnen gehört. Damals hatten ukrainische Truppen russische Stellungen bei Klischtschijiwka angegriffen. Zuvor waren Einzelheiten zu den Kampfhandlungen bekanntgeworden: In einer Videobotschaft an den Präsidenten behaupten Angehörige der Soldaten, der Kommandeur habe diese „unter Todesdrohungen gezwungen, zu den Stellungen zurückzukehren, die mittlerweile vom Gegner eingenommen waren. Sie konnten nirgendwo in Deckung gehen und bekamen keinerlei Artillerieunterstützung.“ 

    Prozess für einen „Helden“ 

    Vor Gericht muss man selbst dann ziehen, wenn der Betreffende selbst Kommandeur war und nach Ansicht der russischen Armee Heldentaten vollbracht hat. So ging beispielsweise 2024 die Frau von Major Pawel Saran vor Gericht, der in der Einheit Nr. 21634 gedient hatte. 

    Der Major hatte das Kommando über ein Panzerregiment eines Sturmbataillons und fiel mutmaßlich am 5. Juni 2023 bei Kämpfen in der Nähe von Lewadne (Oblast Saporischschja). Nach offizieller Version hatte Saran seiner Einheit befohlen, die Verteidigungslinie zu halten, wofür er posthum mit dem Titel eines „Helden Russlands“ und der Medaille Solotaja Swesda (dt. Goldener Stern) ausgezeichnet wurde. Im Gerichtsbeschluss heißt es, der Major und neun weitere Militärangehörige hätten sich in einem Unterstand befunden, der von ukrainischen Panzereinheiten beschossen wurde. Durch den direkten Einschlag einer Granate kam es in dem Unterstand zur Explosion, wodurch alle zehn ums Leben kamen. Ihre Leichen konnten nicht geborgen werden.  

    Sarans Ehefrau, vertreten durch die Militärstaatsanwaltschaft, stellte daraufhin einen Antrag an das Bezirksgericht Ussurijsk, wo die Einheit ihres Mannes stationiert ist. Aufgrund von Zeugenaussagen kam das Gericht zu dem Schluss, dass Pawel Saran in der Nähe von Lewadne „in Ausübung seiner militärischen Dienstpflichten gefallen“ sei. 

    Familien gewinnen die Prozesse nicht immer beim ersten Versuch. 

    Es gelingt den Familien jedoch nicht immer beim ersten Versuch, das Gerichtsverfahren zu gewinnen. Viktoria Dikarjowa aus Polessk in der Oblast Kaliningrad erzählte Verstka bereits im Sommer 2023, ihr Mann, der als Freiwilliger in einer Reservisten-Einheit gedient hatte, sei vermutlich im August 2022 beim Sturm des Dorfes Wolodymyriwka (Oblast Donezk) gefallen. Wjatscheslaw Dikarjow hatte Frau und Tochter zurückgelassen, um – so Viktoria – im Krieg „ein paar Groschen zu verdienen“ und im Haus einen Gasanschluss legen zu können. Er war nur eine Woche an der Front. Von Kameraden hatte Viktoria gehört, dass ihrem Mann bei einem Angriff die Beine abgerissen wurden. Er konnte nicht gerettet und sein Leichnam wegen des starken Beschusses nicht geborgen werden. 

    Doch Viktoria verlor das Gerichtsverfahren, in dem ihr Mann für tot erklärt werden sollte. Der Kommandeur der Einheit Nr. 22179 (derselben, aus der sich auch eine berüchtigte Schtorm-Z–Einheit rekrutierte) teilte dem Bezirksgericht Polessk mit, er könne keine Informationen zum Schicksal von Dikarjow geben – jener sei nicht in den Personallisten seiner Garnison, sondern bei einer Freiwilligeneinheit registriert gewesen. Letztlich entschied die Richterin, dass es zu wenig Beweise für den Tod Dikarjows gebe. 

    „Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen.“ 

    Also klagte Viktoria ein zweites Mal, diesmal für den Verschollenen-Status. Und diesmal mit Erfolg. Ohne diese Entscheidung, sagte sie, hätte sie nicht einmal Waisenrente für ihre Tochter beantragen können. Mitte August 2024, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, will Viktoria aber doch noch einen zweiten Versuch unternehmen, ihn amtlich für tot erklären zu lassen. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie das Gericht entscheiden wird“, sagt sie. „Seit zwei Jahren kämpfe ich nun dafür. Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen. Sein Körper wurde immer noch nicht heimgeholt, wer weiß, ob das überhaupt je geschehen wird. Obwohl doch das Gebiet, in dem er gefallen ist, längst zu Russland gehört, sucht niemand nach ihm. Was kann ich jetzt noch tun? Ich kann jetzt nur noch auf dem Papier seinen Tod feststellen lassen und alle Zahlungen beantragen, die meiner Familie zustehen.“ 

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  • Die Beziehung zwischen Belarus und der Volksrepublik China

    Die Beziehung zwischen Belarus und der Volksrepublik China

    Aufgrund der geographischen Lage zwischen der Europäischen Union und Russland ist Belarus dazu verurteilt, ständig zwischen zwei Machtzentren zu lavieren, um seine Interessen zu verfolgen. Die weitreichende Abhängigkeit von Moskau bei gleichzeitig begrenzten Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit dem Westen nötigen die belarussische Außenpolitik dazu, nach Alternativen außerhalb Europas zu suchen. In der belarussischen Diplomatie hat China, zu dem Belarus seit 1992 diplomatische Beziehungen pflegt, eindeutig Priorität, auch wenn diese bilateralen Beziehungen erst Ende der 1990er Jahre intensiviert wurden und in eine von Minsk und Beijing verkündeten „umfassenden strategischen Zusammenarbeit“ mündeten. Die beiden Seiten interpretieren die Ziele und Prinzipien dieser Kooperation jedoch unterschiedlich, was in den vergangenen 20 Jahren zu einer Reihe von Missverständnissen und Enttäuschungen führte. 

    Alexander Lukaschenko mit Xi Jinping, dem Präsidenten der Volksrepublik China, bei einem Treffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit im Jahr 2018 / Foto © Mikhail Metzel/TASS PUBLICATION/IMAGO 

    Ein strategisch wichtiges Land in der belarussischen Außenpolitik 

    Auf der Suche nach außenpolitischen Alternativen wartete das Außenministerium in Minsk bereits Ende der 1990er Jahre mit dem Konzept eines „weiten Bogens“ auf. Das bedeutete in der Praxis, Kontakte zu nichteuropäischen Ländern zu suchen.1 Angesichts seines demografischen, wirtschaftlichen und politischen Potenzials lag die Priorität für Minsk natürlicherweise bei China. Belarus suchte ein Gegengewicht zu seinen aus vielerlei Gründen problematischen Beziehungen zu Russland und der EU. Also arbeiten belarussische Diplomaten und hochrangige Staatsmänner – unter anderem Alexander Lukaschenko persönlich – seit den frühen 2000er Jahren intensiv daran, die bilateralen Beziehungen zur Volksrepublik auszubauen. Das belegen zahlreiche Gipfeltreffen, Erklärungen und Abkommen. Die belarussische Diplomatie verzeichnet sorgfältig jeden von Lukaschenkos Besuchen in Beijing (von denen es bislang 14 gab) wie auch sämtliche anderen Treffen auf unterer Ebene. 

    Aus der Sicht von Minsk bestand der größte politische Erfolg bis heute in einer gemeinsamen Erklärung, die die beiden Staatspräsidenten 2022 verabschiedeten und in der die bilateralen Beziehungen zur „strategischen Allwetter–Zusammenarbeit“ angehoben wurden. Für die belarussische Regierung ist dies ein „beispiellos hohes Niveau in der Geschichte der chinesisch-belarussischen Beziehungen“2. Zu verdanken sei dieses Ergebnis dem effektiven Vorgehen von Belarus auf der internationalen Bühne, zudem belege es die Attraktivität des Landes und entlarve die „unberechtigte Kritik“ aus dem Westen. Die Demonstration einer guten Zusammenarbeit mit der Volksrepublik ist Lukaschenko auch deshalb viel wert, weil die beiden Länder eine ähnliche Haltung zu Menschenrechtsfragen haben. Jahrelang konnte sein autoritäres Regime, das seit 2020 sogar totalitäre Züge annimmt, in Bezug auf westliche Sanktionen oder Kritik bei der UNO wenigstens auf Beijings Neutralität zählen.  

    Auch der wirtschaftliche Nutzen dieser „Partnerschaft“ mit China ist für Minsk von Anfang an wichtig gewesen, insbesondere im Kontext der chinesischen Verkehrsprojekte und Investitionen. Darüber hinaus versucht Minsk konsequent, seine Beteiligung an russischen Integrationsprojekten im postsowjetischen Raum (vor allem an der Eurasischen Wirtschaftsunion) an Beijing „weiterzuverkaufen” und sich chinesischen Exporteuren gegenüber als eine Art „Brückenkopf“ für deren potenzielle Expansion auf den viel größeren und viel aufnahmefähigeren russischen Markt zu präsentieren. 

    „Unser Pakistan in Europa” 

    Die Haltung der chinesischen Regierung zur Zusammenarbeit mit Belarus ist sehr viel weniger emotional und gleichzeitig pragmatischer, was den ungleichen Verhältnissen zwischen den beiden Ländern geschuldet ist. Schließlich ist es nicht China, das die Rolle des Bittstellers innehat. Belarus ist für die Volksrepublik in erster Linie ein wichtiges (wenn auch nicht das einzige) Element in einer umfassenderen eurasischen Kooperationsstrategie, ist also einem höheren Ziel untergeordnet: China geht es vor allem um eine effiziente Organisation von Güterlieferungen nach Europa im Rahmen der One Belt and Road Initiative. Abgesehen davon ist China immer daran interessiert, seine Präsenz im Ausland zu verstärken, unter anderem durch Investitionen. So gesehen lässt sich Belarus als eine Art Laboratorium verstehen, in dem China sein Instrumentarium für die wirtschaftliche Expansion testet, das unter anderem in afrikanischen Ländern eingesetzt werden soll. Erwähnenswert ist hier, dass Belarus von chinesischen Experten als „unser Pakistan in Europa“ bezeichnet wird, was auf seinen vorrangigen Platz in der Hierarchie der kleineren (ungleichen) Partner verweist, zu denen u. a. Pakistan, Äthiopien, Serbien und Kasachstan gehören. Faktoren wie die Offenheit und Verbindlichkeit der Regierung sowie die strategisch günstige Lage auf der Ost-West-Achse sprachen hier sicherlich zugunsten von Belarus.3 Zudem trugen Phasen des Dialogs mit dem Westen (also etwa von 2015 bis 2020) dazu bei, dass der Wert von Minsk stieg. Belarus konnte für die chinesischen Transporte Stabilität gewährleisten, ohne das Risiko wirtschaftlicher Sanktionen oder Einschränkungen bei Grenzübergängen. Für Belarus sprach auch die schwierige Situation der Ukraine, die mit ihrem Zugang zum Meer und ihrer Hafeninfrastruktur potenziell ein attraktiverer Partner für Beijings Verkehrsprojekte gewesen wäre. Der Konflikt zwischen Kyjiw und Moskau, der in unterschiedlicher Intensität seit 2014 anhält, ließ Minsk als einzige „sichere“ Option erscheinen. 

    Erwartungen versus Realität 

    In der Praxis hat die belarussisch-chinesische Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren für beide Seiten eine Reihe von Enttäuschungen mit sich gebracht. Ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität ist das Projekt Großer Stein, ein chinesisch-belarussischer Industriepark, der 2012 eingeweiht wurde. Er war von beiden Seiten als Vorbereitung auf die Errichtung eines chinesischen Produktionsstandorts in der Nähe von Minsk gedacht und sollte nicht nur auf Belarus ausgerichtet sein, sondern auf alle Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), also u. a. Russland und Kasachstan. Darüber hinaus wurde der Große Stein als logistische Basis für den Transport bzw. die Lieferung chinesischer Waren entworfen, die dann zum Hafen Klaipėda oder über Polen nach Westeuropa gelangen sollten. Aufgrund mehrerer nicht gebührenbezogener Beschränkungen innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion ist es bislang nicht gelungen, einen gemeinsamen Markt mit freiem Warenverkehr aufzubauen. Das hat das Interesse chinesischer Kapitalgeber an Belarus als Standort für Produktionsstätten ernstlich beeinträchtigt, was wiederum die Entwicklung des Projekts behinderte.4  

    Der belarussisch-chinesische Industriepark Großer Stein bei Minsk im Jahr 2019 / Foto © CC BY-SA 3.0 

    Die Pläne, chinesische Investoren an der Privatisierung unprofitabler belarussischer Unternehmen zu beteiligen, waren ebenfalls schwierig umzusetzen. Bisher haben die Gespräche gezeigt, wie schwer es ist, den eher marktwirtschaftlich orientierten Ansatz der chinesischen Seite (die beispielsweise Personalkürzungen anstrebte) mit dem eher konservativen Ansatz von Minsk zu vereinbaren, der vom Investor die Erfüllung weitreichender sozialer Verpflichtungen erwartet.5 Nicht nur die geplanten, sondern auch die verwirklichten Investitionen in Belarus waren Anlass zahlreicher Kontroversen und Enttäuschungen. Da die meisten Investitionen in den belarussischen Markt bislang durch chinesisches Staatskapital erfolgt sind, dominieren hier Projekte zum Bau von Infrastruktur oder für Produktionsanlagen, die über chinesische Exportkredite finanziert werden. Wohlgemerkt wurden die Kredite unter der Bedingung vergeben, dass die chinesischen Unternehmen ihre Verfahren, ihre Komponenten und mitunter sogar ihre eigenen Arbeitskräfte mitbringen durften. Die Verpflichtung zur Kredittilgung und damit das Geschäftsrisiko schob man hingegen gern der belarussischen Seite zu. China hält sich zudem generell beim Transfer fortschrittlicher Produktionstechnologien zurück, weswegen Geschwindigkeit und Qualität der Arbeit bei den belarussischen Direktoren für Unzufriedenheit sorgten. Dadurch kam es zu langwierigen Auseinandersetzungen, in denen beide Seiten versuchten, die Schuld an den Ergebnissen (die weit hinter den Erwartungen zurückblieben) der jeweils anderen Seite zuzuschieben. Beispielhaft sind hier die gescheiterte Modernisierung zweier belarussischer Zementfabriken, die 2007 begann, und der Bau einer neuen Zellstoff- und Papierfabrik in Swetlahorsk, der 2010 startete.6  

    Die Enttäuschung der belarussischen Behörden wurde durch die anhaltend ungünstige Handelsbilanz mit China verstärkt. Diese war weitgehend auf die oben beschriebenen Muster bei den chinesischen Investitionen zurückzuführen. 2019 betrug das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern 4,1 Milliarden US-Dollar, wobei das Defizit auf belarussischer Seite sich auf 3,1 Milliarden USD belief. Das bedeutete im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg um 0,5 Milliarden USD.7

    Kühler Pragmatismus nach 2020  

    Die politische Krise in Belarus infolge der gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 führte zu einer Art Revision der chinesisch-belarussischen Beziehungen. Beijing reagierte auf die Repressionen nach den Wahlen und die vom Westen verhängten Sanktionen unaufgeregt und spärlich. Das zeigte, dass die chinesische Seite wenig Interesse an einer direkten politischen Unterstützung und an einem Kampf für das Überleben des Lukaschenko-Regimes hatte.8 Entgegen den Hoffnungen der Regierung in Minsk übernahm China also nicht die Rolle eines zweiten Alliierten (neben Russland), der bereit wäre, die russische Dominanz auszugleichen und die belarussische Wirtschaft zu subventionieren. Letztere wurde von den westlichen Embargos gebeutelt, die nach 2020 schrittweise ausgeweitet wurden. Die Sanktionen erfolgten unter anderem als Antwort auf die Migrationskrise an der EU-Grenze und die Mitwirkung beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.  

    Gleichzeitig hat Beijing die Zusammenarbeit mit Belarus aber auch nicht aufgegeben. Gestützt auf seinen Pragmatismus hat China höchst vorteilhafte Handelsverträge ausgehandelt, etwa für Kalidünger oder forstwirtschaftliche Produkte, die vom Westen sanktioniert wurden. Dadurch ist China nach 2020 bei den belarussischen Handelspartnern auf den zweiten Platz hinter Russland vorgerückt. Das Handelsvolumen nahm stetig zu und erreichte 2023 über acht Milliarden USD. Gleichzeitig besteht auf belarussischer Seite unverändert ein beträchtliches Außenhandelsdefizit, das im vergangenen Jahr 3,2 Milliarden USD erreichte.9 Chinas zentrales Interesse in Belarus betrifft Gütertransporte auf der Schiene, die zwischen drei und sechs Prozent des gesamten chinesischen Güterumschlags ausmachen. Trotz dieses geringen Anteils möchte Beijing den belarussischen Transitkorridor – gegenwärtig der einzige zwischen Ost- und Westeuropa – gern beibehalten. Und doch dürfte sich die chinesische Seite hinter den Kulissen (es gibt keine öffentlichen Erklärungen hierzu) wohl negativ zu Lukaschenkos konfrontativer Politik gegenüber dem Westen geäußert haben, die unter anderem dazu geführt hatte, dass Polen und Litauen einige Grenzübergänge zu Belarus schlossen. Man kann auch davon ausgehen, dass das Nachlassen des Migrationsdruck an der Grenze zu Polen im Sommer 2024 auf Signale aus Beijing zurückzuführen ist. 

    Im Großen und Ganzen betrachtet China Belarus weiterhin als interessantes Partnerland. Das belegt der Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang in Minsk am 22. August 2024 sowie das Manöver der belarussischen und chinesischen Streitkräfte im Juli 2024. Beijing verfolgt offen einen pragmatischen Ansatz, ist aber nicht bereit, die Rolle des wichtigsten Verbündeten von Belarus zu übernehmen. Schließlich würde dies eine Konfrontation mit Russland und eine kostspielige Subventionierung der maroden und vom Westen sanktionierten belarussischen Wirtschaft mit sich bringen. 


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  • Schulen im Untergrund

    Die russischen Besatzungsbehörden setzen an ukrainischen Schulen in den okkupierten Gebieten zunehmend eigene Lehrinhalte durch: Ukrainisch als Unterrichtssprache stirbt, auf dem Programm stehen vermehrt Militarisierung und anti-ukrainische Propaganda. Es gibt zahlreiche Meldungen über Drohungen, Haft und Folter an Lehrpersonen und Lernenden, die sich geweigert hatten, die oktroyierten Änderungen umzusetzen. 

    Laut Schätzungen vom April 2023 leben rund eine Million ukrainische Kinder im schulpflichtigen Alter in den von Russland besetzten Gebieten. Die Russifizierung des ukrainischen Bildungssystems verstößt unter anderem gegen ihr Recht auf Bildung. Etwa 62.400 Kinder nehmen laut ukrainischem Bildungsministerium weiterhin am Online-Unterricht von ukrainischen Sekundarschuleinrichtungen teil. Sie begeben sich in unmittelbare Gefahr und müssen zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. iStories fragt, wie Kinder aus Nowa Kachowka und Melitopol weiterhin an ukrainischen Schulen lernen.

     Foto / Collage: istories
    Foto / Collage: istories

    In den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine gibt es 901 Schulen. Ein Teil davon wurde geschlossen, in anderen geht der Unterricht mit Lehrbüchern aus Russland weiter. Es gibt aber auch Schulen, in denen weiterhin nach den Standards des ukrainischen Bildungssystems unterrichtet wird, und zwar online.  

    Diese Schulen zu besuchen, wenn man sich in den besetzten Gebieten befindet, ist gefährlich. Deshalb verstecken die Eltern die USB-Sticks mit den Hausaufgaben und Lehrmaterialien und ziehen sogar aus der Stadt aufs Land, um den Kontrollen zu entgehen. 

    Wie sich für Kinder in den besetzten Gebieten seit 2022 das Schulwesen verändert hat, berichten die Direktorin eines Lyzeums in Nowa Kachowka und eine Lehrerin eines landwirtschaftlichen Lyzeums in Melitopol. 

    „Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht.“ 

    Iryna Dubas begann ihre Karriere als Lehrerin für Grundschulklassen und leitet jetzt das Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka. Als sie noch stellvertretende Direktorin des Lyzeums war, machte sie ein Volontariat in den USA, um die dortigen Methoden kennenzulernen. Sie war beeindruckt, dass die Kinder in amerikanischen Schulen selbst entscheiden, was sie lernen, und dass die Lehrkräfte ihnen wie auf Augenhöhe begegnen. Als Direktorin veränderte sie den Bildungsansatz in ihrer Schule. Sie begann mit der Inneneinrichtung: Die Gänge wurden neu gestrichen, es wurden Blumentöpfe aufgestellt, in den Klassenräumen bekamen die Schüler Einzeltische, damit jeder seinen persönlichen Bereich hat. 

    „Die Reinigungsfrauen haben sich heftig beschwert: ‚[Iryna] Petrowna, die Kinder haben alle Spiegel beschmiert!‘ und ‚Petrowna, die Kinder haben die Blumentöpfe umgeworfen!‘ Ich habe da immer ruhig reagiert: ‚Das ist normal. Das heißt nur, dass die Spiegel geputzt und die Pflanzen in Ordnung gebracht werden müssen. Wir werden das so lange machen, bis sich die Schüler dran gewöhnt haben.‘ Ein paar Monate später hat niemand mehr die Blumen angerührt oder etwas auf die Spiegel geschrieben.“ 

    Die wichtigste Veränderung war der Umgang mit den Schülern: „Ich wollte, dass die Kinder fröhlich sind, dass sie zu Hause erzählen, was sie gelernt haben und wie sehr ihnen das gefallen hat. Ich habe die Lehrerinnen eindringlich gebeten, mit den Kindern tolerant und diplomatisch umzugehen, sie wie gleichberechtigt zu behandeln, und ihnen mehr Freiheiten zu lassen. Den Lehrern der älteren Generation missfiel das, ein Teil von ihnen ging. Dafür waren die Kinder glücklicher.“ 

    Foto / Archiv Irina Dubas
    Foto / Archiv Irina Dubas

    Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Anna But. Sie hat im Landwirtschaftlichen Lyzeum Melitopol Biologie, Deutsch und politische Bildung unterrichtet: 

    „Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht. Ich kann tausend Mal etwas aus dem Lehrbuch wiederholen, aber wenn die Kinder keinen Spaß am Unterricht haben, ist das nichts wert. Deswegen bin ich im Biologieunterricht mit den Kindern an den See neben dem Lyzeum gegangen, damit sie sich selbst alles ansehen können, anfassen können, begreifen können. Und bei der politischen Bildung sind wir ins Stadtzentrum gegangen, wo eine riesige Flagge hing. Ich fragte die Kinder, welche Emotionen das bei ihnen auslöst, und erzählte von meinen eigenen Gefühlen.“ 

    „Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘ “  

    Vom Beginn des großangelegten Krieges erfuhr Anna praktisch von den Schülern. Sie traf morgens auf dem Weg zur Arbeit einen Nachbarn, der sagte, dass die russische Armee den Flugplatz von Melitopol bombardiert. Anna glaubte ihm nicht, dachte nur, der Mann habe wieder mal einen über den Durst getrunken. Sie ging in ihre Klasse, schrieb auf Deutsch das Datum ‚24. Februar‘ und hörte Lärm aus dem schuleigenen Internat: ‚Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘. Ich geh zum Fernseher und sehe, dass es überall in der Ukraine brennt, überall gibt es Luftangriffe; die Sprecher reden von einer großangelegten Invasion.“ Die Direktorin stellte auf Online-Unterricht um, damit Schüler und Lehrer nicht ins Gebäude des Lyzeums kommen müssen. Am 26. Februar wurde Melitopol von der russischen Armee besetzt. 

    Ab dem 28. Februar ging sie zusammen mit ihrer Tochter, mit Kollegen, Schülern und anderen Bewohnern der Stadt jeden Tag zu den Protesten. Als das Militär begann, Aktivisten gefangen zu nehmen, und es nicht mehr möglich war, in Massen zu protestieren, verteilte Anna in der Stadt Flugblätter und Bändchen in den Farben der ukrainischen Flagge. Sie versuchte auch, ihre Schüler zu unterstützen: „Jetzt war ich nicht mehr Lehrerin, sondern Psychologin. Wir trafen uns mit den Schülern und ihren Eltern bei mir zuhause oder am See in der Nähe des Lyzeums. Ich sagte, alles werde gut, man müsse sich nur zusammenreißen und durchhalten. Mit denjenigen, denen die Flucht gelungen war, telefonierte ich. Ich habe den Schülern gut zugeredet, dass sie jetzt ruhig bleiben und auf sich aufpassen sollen.“ 

    Anna und ihre Tochter protestierten jedoch weiter. Sie machten keinen Hehl aus ihrer proukrainischen Haltung und berichteten in den sozialen Netzen, was in Melitopol vor sich geht. Nach einer Weile bekamen die Frauen Drohungen. Sogar Bekannte schrieben ihnen: ‚Schmort in der Hölle, ihr ukrainischen Schlampen.“ Zu jener Zeit wurden bereits proukrainische Aktivisten entführt, umgebracht und durch die „Keller“ geschickt. Als sie befürchten mussten, denunziert zu werden, verließen die beiden im April 2022 Melitopol. 

    Foto / Archiv Anna But
    Foto / Archiv Anna But

    Iryna Dubas blieb bis zum August 2022 in Nowa Kachowka. Sie war am 24. Februar gerade in einem Krankenhaus bei Kyjiw gewesen, als ihr Stellvertreter anrief und sagte, in der Stadt gebe es Explosionen und die Kinder seien zusammen mit ihren Eltern zur Schule gekommen. Iryna ordnete an, alle aufzunehmen: In der Schule gab es einen großen Kellerraum, in dem man vor den Angriffen Schutz suchen konnte. 

    Am nächsten Tag wurde in der Schule der Unterricht offiziell eingestellt; der Keller fungierte aber weiter als Luftschutzraum. Iryna beschloss, in die Oblast Cherson zurückzukehren. „Ich musste stark sein. Mein Stellvertreter war in Panik, die Eltern riefen an, und ich sollte allen mit fröhlicher Stimme sagen, dass alles gut wird.“ 

    Die Oblast Cherson war bereits besetzt. Iryna konnte erst am 14. März nach Nowa Kachowka zurückkehren, als eine Überquerung des Dnipro möglich wurde. Zusammen mit den anderen Lehrerinnen ging sie täglich in die Schule. Sie machten mit dem Unterricht weiter, allerdings online. 

    Im April veranstaltete Wladimir Leontjew, das von den Besatzungsbehörden eingesetzte „Stadtoberhaupt“, eine Sitzung. Er versammelte die Direktoren aller Schulen und Kindergärten von Nowa Kachowka. Dort versprach er hohe Gehälter und erklärte, Bildung für die Kinder sei wichtiger als jeder Konflikt. Der Unterricht müsse jetzt aber in russischer Sprache erfolgen, und mit Lehrbüchern aus Russland. 

    Iryna lehnte das sofort entschieden ab. Im Juli, als sie die Schule auf das neue Schuljahr vorbereitete, kamen Vertreter der neuen, prorussischen Verwaltung zu ihr, begleitet von bewaffneten Männern. 

    „Das war [Wjatscheslaw] Resnikow, der ehemalige Direktor der Schule Nr. 10. Den hatten die Besatzer zum Leiter der Bildungsverwaltung ernannt. Mit ihm war Sorjana Us gekommen, die sogenannte Pressesprecherin des ‚Gauleiters‘ und dann drei Typen mit Maschinenpistolen, arme Bengel, die kaum so groß waren wie ihre Knarren. 

    Sorjana und Wjatscheslaw setzten sich, die mit den MPs bauten sich hinter mir auf. Resnikow fing an: ‚Sie sollten mitmachen, Iryna Petrowna. Bei Ihnen läuft alles so gut, sie sind so fortschrittlich. Unsere [die Russen] haben schon fast Mykolajiw und Odessa eingenommen, das ist halt so. Wir sind für die Bildung zuständig. Wenn Sie nicht wollen, werden das andere Direktoren machen.‘ Er gab mir zwei Wochen Bedenkzeit. Für mich war da gar nicht dran zu denken. Ich wollte auf keinen Fall dieses Russland; ich glaubte an den Sieg und war bereit, meine Schule bis zum Letzten zu verteidigen.“ 

    Den Sommer über sammelte das Lyzeum neue Schüler und bereitete den Online-Unterricht auf Ukrainisch vor. Dann wurde die Schule durchsucht und am 18. August wurde Iryna gefangengenommen. 

    Auf der Polizeiwache wurde sie in die „Zelle“ gebracht; in einen Raum wo früher die Passstelle war. Es gab auch andere Gefangene: die Direktorin des Lyzeums Nr. 2 in Nowa Kachowka, Oksana Jakubowa, und ehemalige Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung. Die Frauen hatten praktisch nichts zu essen und zu trinken. Ein altes Dreiliterglas diente als Toilette. Aus Gesundheitsgründen musste Iryna täglich Spritzen bekommen. Jakubowa half ihr dabei. 

    Jeden Tag wurde Iryna zu „Gesprächen“ mit einem Mitarbeiter des FSB geführt, der Umar genannt wurde. Seinen wirklichen Namen kennt Iryna nicht: 

    „Er fragte mich, ob ich nun endlich bereit sei, die Schule ins russische Bildungssystem zu überführen. Er drohte mir, sagte, dass ich 15 Jahre kriege, wenn ich in Russland ukrainische Bildung verbreite. Er beschuldigte mich, Artillerieziele auszuspionieren, und dass meinetwegen ein Dorf beschossen wurde. Mich haben sie zwar nicht angerührt, aber die anderen Frauen wurden mit Strom gefoltert; mir sagten sie, ich wäre als Nächste dran“, erinnert sich Iryna. 

    Am 23. August, am fünften Tag ihrer Gefangenschaft, holte Umar sie wieder zum Verhör: Sie solle alle Geräte (Fernseher, Tablets und Laptops) einsammeln und Lilija Grischagina übergeben, damit diese zum neuen Schuljahr das Lyzeum Nr. 1 aufmachen könne. Erst dann wurde Iryna freigelassen. Sie floh nach Kyjiw. 

    „Nach all dem wandte ich mich an eine Psychotherapeutin und Psychiaterin, weil es Dinge gibt, die ich nur einem fremden Menschen erzählen kann, der sie dann tief in sich vergräbt. Ich dachte, die Zeit würde den Schmerz lindern, aber der will nicht verschwinden“, erklärt Iryna. 

    Foto / Archiv Irina Dubas
    Foto / Archiv Irina Dubas

    „Es wird immer schwieriger, sich zu verstecken“ 

    Am 26. August, ihrem ersten Tag in Kyjiw, brach Iryna in Tränen aus – zum ersten Mal seit Beginn des großangelegten Krieges. Am Abend legte sie sich Teebeutel auf die geschwollenen Augen, nahm Baldrian und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen machte sie sich sofort wieder daran, ihr Lyzeum aufzubauen. 

    Sie erkundigte sich, wer von den Lehrkräften mitmachen will, fand neue Mitarbeiter, teilte Klassenlehrerinnen ein und kontaktierte die Eltern der Schüler. „Ich konnte meine Schule nicht im Stich lassen. Ich hatte das Gefühl: Ich habe Gefangenschaft und Besatzung überstanden, also schaffe ich alles auf der Welt“, sagt Iryna. 

    Bis zum 1. September 2022 hatte Irynas Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka 647 Schüler für den Online-Unterricht beisammen, von denen sich ein Großteil im Ausland oder unter Besatzung befand. Vor der Vollinvasion waren hier 637 Schüler zur Schule gegangen. 

    Fernunterricht hatte man schon während der Corona-Pandemie eingeübt, doch neue Herausforderungen kamen hinzu. Aus Sicherheitsgründen unterrichteten an diesem Lyzeum ausschließlich Lehrende, die sich auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet oder im Ausland aufhielten.  

    Die Familien in den besetzten Gebieten mussten lernen, für sich und ihre Kinder ein sicheres Lernumfeld zu schaffen, um nicht von russischen Sicherheitskräften entdeckt und verfolgt zu werden. Dafür zogen viele von der Stadt aufs Land, wo es praktisch keine Militärs und keine Hausdurchsuchungen gab.  

    Auch das Landwirtschaftliche Lyzeum von Melitopol setzte seinen Betrieb online fort, ebenfalls mit Schülern, die unter der Besatzung lebten. Zu persönlichen Treffen kamen die Lehrkräfte in Saporischschja zusammen. 

    Im Schulgebäude in Melitopol wird der Unterricht fortgesetzt, allerdings nach russischen Lehrbüchern. Bücher in ukrainischer Sprache sollen die russischen Soldaten gar zusammen mit der ukrainischen Flagge auf dem Schulhof verbrannt haben. Die Traktoren und LKW für das Fahrtraining der Schüler nahmen sie einfach mit. Vier von den in Melitopol verbliebenen Mitarbeitern des Lyzeums kooperieren jetzt mit dem Besatzungsregime. Der Rest nahm Abschied.  

    Wie genau das Lyzeum jetzt funktioniert, weiß Anna nicht. Bekannte berichten aber, dass man das „kaum Unterricht nennen“ könne. Der Sportlehrer Alexander Sidorow unterrichte plötzlich vier andere Fächer, darunter Geografie und Wirtschaftskunde. 

    Annas Bekannte erzählen, dass in Melitopol überall Georgsbänder und Schriftzüge hängen: „Russland ist der Heimathafen“, „Melitopol ist Russland“. „Tausende Bewohner von Melitopol sind entsetzt über diese Propaganda. Das Schlimmste ist, wir Erwachsenen wissen ja, dass das Agitation ist, wenn auch nicht alle das verstehen. Aber die Kinder durchschauen das nicht, und keiner ist da, der es ihnen erklärt. Es gibt Jugendliche, die schon in T-Shirts und Kappen mit dem russischen Wappen rumlaufen“, erzählt Anna, was sie von Bekannten gehört hat. „Aber das macht mir keine Angst. Sie können ja nichts dafür, dass ihre Eltern sie nicht weggebracht haben. Ich habe Kinder und Jugendliche sehr gern, und wenn wir zurückkommen, wird dieses Zeug wieder verschwinden. Weil wir Lehrer alles tun werden, damit die Kinder die Ukraine wieder lieben. Wir werden an ihre Herzen appellieren und sie öffnen.“ 

    In Melitopol ist der Besuch einer russischen Schule Pflicht [wie überall in den russisch besetzten Gebieten – dek]. Anna sagt, die meisten Lehrerinnen, die sie kennt, hätten sich aus dem Bildungsbereich verabschiedet: Der Unterricht sei zu einer Propagandaveranstaltung geworden, und sie hätten keine Lust, die Kinder russische Trikoloren malen zu lassen. Anna sind Fälle bekannt, wo bewaffnete Soldaten zu den Familien kommen und mit vorgehaltener MP verlangen, dass sie ihre Kinder in eine russische Schule schicken.  

    Trotz aller Risiken gibt es in Melitopol immer noch Eltern, die ihre Kinder in ukrainische Online-Schulen schicken. Meist haben die Kinder dort abends Unterricht, weil sie tagsüber in eine russische Schule müssen. Um sich vor den Razzien der Soldaten zu schützen, gehen die Eltern während der Schulstunden für alle Fälle mit ihren Kindern in eine andere Wohnung. 

    Foto / Archiv Anna But
    Foto / Archiv Anna But

    „Es erfordert großen Heldenmut, unter der Besatzung weiterhin eine ukrainische Schule zu besuchen“, sagt Anna. „In Melitopol verraten sich die Leute gegenseitig. Jeden Moment kann dich ein Nachbar denunzieren, weil er gehört hat, dass du ukrainisch sprichst“. 

    Sich zu verstecken, wird immer schwieriger: Telefongespräche werden abgehört, auf der Straße können Eltern mit ihren Kindern jederzeit durchsucht werden, dann werden auch die Handys kontrolliert. Die Sticks mit dem Unterrichtsmaterial versteckt man in den hintersten Winkeln der Wohnungen.  

    „Die Kinder ergrauen unter der Besatzung. Das ist keine Übertreibung. Sie können einfach nicht wissen, wann das alles ein Ende haben wird.“ (Anna But, Lehrerin)  

    Deswegen haben die Kinder nach und nach aufgehört, am Unterricht [unseres Online-Lyzeums] teilzunehmen, wir mussten ganze Jahrgänge schließen. Am Ende des letzten Schuljahres [2023/24] hatten wir fast keine Schüler mehr.“ 

    Für 2024/25 hat das Landwirtschaftliche Online-Lyzeum gar nicht mehr genug Anmeldungen. „Diese Schule ist mein Leben, das ist für mich mehr, als meine Arbeit zu verlieren.“ Anna zufolge haben es nicht alle ihre Kollegen geschafft, bis zum Beginn des neuen Schuljahres an anderen Bildungseinrichtungen unterzukommen.  

    „Die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben“ 

    Wie Melitopol steht auch Nowa Kachowka unter Besatzung. Schulen gibt es dort aber so gut wie keine. Die von Russland eingesetzten Behörden haben Iryna zufolge den Schulbetrieb noch nicht in Gang gebracht. „2023 wurde in Nowa Kachowka nur die Schule Nr. 10 aufgemacht, und das nur online. Einige Eltern wurden genötigt, ihre Kinder dort anzumelden; dafür bekamen sie ein Lebensmittelpaket und zweitausend Rubel. Aber keiner kontrolliert, ob die Kinder dort am Unterricht teilnehmen.“ 

    Genau wie in Melitopol müssen Eltern es sorgfältig geheimhalten, wenn ihre Kinder online eine ukrainische Schule besuchen. Trotzdem hatte das Online-Lyzeum Nr. 3, das Iryna leitet, im Schuljahr 2023/24 ganze 568 Schüler und Schülerinnen. Zwei der fünf Absolventen mit Auszeichnung haben das ganze Jahr unter Besatzung verbracht. Zu ihrem Abschluss konnten sie in ukrainisch kontrolliertes Gebiet ausreisen (Details zur Strecke können aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden), um von Iryna ihre Zeugnisse und Medaillen entgegenzunehmen und sich an ukrainischen Hochschulen zu bewerben. 

    Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen im Krieg hat Dubas ihre Einstellung zur Schulbildung beibehalten: Oberste Priorität haben das Wohlbefinden und die Sicherheit der Kinder. „Seit der Befreiung von Cherson [am 1. November 2022] steht Nowa Kachowka unter ständigem Beschuss, sehr oft gibt es keinen Strom und kein Internet. Daher findet der Unterricht für die Kinder dann statt, wenn es wieder eine Verbindung gibt.“ 

    Das Thema Krieg vermeiden die Lehrenden während des Unterrichts. Sie erinnern nur an die Sicherheitsvorkehrungen: Sie bitten die Schüler in den besetzten Gebieten, auf der Suche nach Handyempfang, um die Hausaufgaben abzugeben, nicht auf Bäume zu klettern. So was ist nämlich schon vorgekommen. „Wenn ein Schüler seinen Test nicht besteht, ist das kein Drama. Wir wollen in Zeiten wie diesen die Kinder und Eltern nicht unter Druck setzen. 

    Ich schalte mich immer wieder zu den Online-Sitzungen dazu, um die Kinder zu sehen und einfach zu sagen ‚Passt auf euch auf‘. Die Kinder brauchen jetzt besondere Unterstützung, sowohl jene, die unter Besatzung leben, wie auch jene, die auf ukrainisch kontrolliertem Territorium immer wieder Beschuss erleben, und auch die, die fern von zuhause im Ausland sind. 

    Die Schüler sind ganz versessen auf den Unterricht. Sie wollen möglichst viel Zeit mit ihren Schulfreunden verbringen, wenigstens auf dem Bildschirm. Deswegen bieten die Klassenlehrerinnen auch Freistunden an, in denen die Kinder sich einfach unterhalten, und organisieren Feste für sie, um ihnen das zu geben, was der Krieg ihnen genommen hat: Spaß und Freude.“  

    Iryna steht auch den Lehrenden zur Seite, sie versucht nicht nur, Gehaltsaufbesserungen für sie herauszuschlagen, sondern kümmert sich auch um deren psychische Gesundheit: 

    „Eine Lehrerin muss ausgeglichen, gut gelaunt und für ihre Sache engagiert in den Unterricht gehen. Lernen muss für die Kinder interessant sein. Nach den Stunden können die Lehrkräfte so viel weinen und Angst haben, wie sie wollen, aber die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben. Das gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Nach dem Unterricht bekommt jede Lehrerin meine Unterstützung, ich rufe mindestens einmal im Monat jede einzelne an.“ 

    „Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist?“ 

    Für das neue Schuljahr 2024/25 hat das Lyzeum in Nowa Kachowka mehr Anmeldungen als vor dem großangelegten Krieg, nämlich 685. Viele der Schüler leben auf besetztem Gebiet [Iryna möchte keine Zahlen nennen, um die Familien nicht zu gefährden – Anm. d. Red.]: 

    „Die Lehrerinnen, die früher in Nowa Kachowka unterrichteten, haben unsere Schule ganzen Klassen empfohlen. Hinzu kommen die Erstklässler. Wir haben auf der Website und in sozialen Medien Werbung gemacht, ich habe alle Kindergärten der Stadt abtelefoniert, und die Eltern haben mir still und heimlich die Unterlagen geschickt. 

    Dieses Jahr werden wir als Experiment in der achten Klasse Finanzwissen einführen. Die Kinder haben sich dieses Fach selbst ausgesucht, dazu gab es am Ende des letzten Schuljahres eine Umfrage“, erzählt die Direktorin von den Plänen. 

    Anna But ist seit 1. September Dolmetscherin und Betreuerin der Hochschulgruppen an der Fachhochschule Melitopol, die zur Taurischen Staatlichen Universität in Simferopol gehört. Unterrichtet wird online, und die Lehrenden treffen sich wie die des Landwirtschaftlichen Lyzeums in Saporischschja. Auch in dieser Fachhochschule gibt es Studierende aus dem besetzten Melitopol.  

    Außerdem engagiert sich Anna weiterhin als Freiwillige. Seit 2014 knüpft sie Tarnnetze für die Armee. Solange sie in den besetzten Gebieten war, hat sie diese Tätigkeit unterbrochen. Für ihr ehrenamtliches Engagement und die Proteste in Melitopol hat ihr der Präsident der Ukraine die Auszeichnung „Nationale Legende der Ukraine“ verliehen: 

    Foto / president.gov.ua
    Foto / president.gov.ua

    „Es war schon die ganze Zeit so: Den halben Tag hab ich unterrichtet, die zweite Hälfte zusammen mit den Kindern Netze geknüpft. Das [die Unterstützung der Front] hat jetzt oberste Priorität. Wenn wir der Armee nicht helfen, dann wird es auch keine Bildung mehr geben. Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist? Danach werden wir Neuerungen beim Unterricht vornehmen.“ 

    Ehemalige Schüler von Anna und Iryna, unter anderem die, die 2021 ihren Abschluss gemacht haben, verteidigen jetzt die Ukraine. Manche von ihnen sind jetzt in russischer Kriegsgefangenschaft. 

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  • Kriegsferien in Mariupol

    Kriegsferien in Mariupol

    Zu den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten gehören auch beliebte Urlaubsorte am Asowschen Meer. Dort, wo noch vor Kurzem brutale Kämpfe stattfanden, hat die russische Besatzungsmacht mittlerweile eigene Behörden und ihren Sicherheitsapparat installiert. Arbeitskräfte und neue, dem Regime loyale Anwohner werden angelockt. Ebenso: Touristen. 

    Nun geht hier die dritte Urlaubssaison unter Besatzung zu Ende. Noch gibt es keine aktuellen Zahlen, dafür ehrgeizige Ziele: Berdjansk in der Oblast Saporischschja hoffte dieses Jahr auf bis zu 500.000 Touristen. In der Oblast Donezk rechnete man mit 134.000 Feriengästen, bis 2030 sollen es gar eine Million werden. Dabei ist Urlaub in diesen Regionen nicht ungefährlich. Einerseits gibt es immer wieder Beschuss, andererseits drohen bei auffälligem, womöglich regimekritischem Verhalten Verhöre bis hin zu Verschleppung.  

    Eine Korrespondentin des Online-TV-Senders Vot Tak hat dennoch mehrere Erholungsorte an der Küste des Asowschen Meeres besucht und nachgefragt, wer seine Ferien warum und wie in diesen besetzten Gebieten verbringt. Die Namen aller beschriebenen Protagonisten sind aus Sicherheitsgründen geändert.   

    Eine Urlauberin am Strand von Mariupol © Vot Tak
    Eine Urlauberin am Strand von Mariupol © Vot Tak

    Unser Bus erreicht Mariupol

    „War ganz schön was los hier, was?“, fragt mein Sitznachbar. Vor dem Fenster ziehen Masten mit abgerissenen Stromleitungen vorüber. Zerstörte, seit zwei Jahren leerstehende Häuser hinter Zäunen mit Aufschriften wie „Hier leben Menschen“ oder „Kinder“. Das rostig-betongraue Monstrum des zerbombten Asow-Stahlwerks.  

    „Und wie“, presse ich heraus.  

    „So ist es überall. Die Einen verteidigen, die Anderen befreien“, sagt der Mann kopfschüttelnd. 

    Nach 18 Stunden Seite an Seite auf schmalen Sitzen sind wir uns so nahegekommen, wie sich nur zufällige Weggefährten nahekommen können. Der Mann fährt bis zur Endstation, bis Wolnowacha. Von dort sind es noch 15 Kilometer bis zu seinem Dorf.  

    Er erzählt, wie der Krieg sein Dorf entvölkert und die Leute von der selbsternannten Donezker Volksrepublik (DNR) sein Haus geplündert haben („Sogar die Webcam vom Computermonitor haben sie mitgenommen!“). Und dass er zwar unter Beschuss lebe, aber nicht vorhabe, sein Haus zu verlassen. Die Schuld gibt er jedem ein bisschen, aber am meisten Janukowytsch, der den Maidan nicht rechtzeitig zerschlagen habe. Aber das alles kümmert ihn wenig: In einem Moskauer Hospiz liegt sein dreijähriger Enkel mit Krebs im Sterben.

    „Ich bin hier aufgewachsen, hab hier gewohnt … Hab das alles natürlich ganz anders gekannt.” 

    Eine Frau im Stricktop in der Reihe neben uns bricht in Tränen aus. Ich halte ihr ein Papiertaschentuch hin. „Das ist so ein emotionaler Schmerz …“, murmelt sie, während sie ihre Wimperntusche verschmiert. Alle Passagiere scheinen an den Fensterscheiben zu kleben: 47 Zivilisten und ein paar Militärangehörige mit Aufnähern „Ich spiele sehr gut pocher“.  

    Irgendwo am Stadtrand werden wir abgesetzt. Die Frau im Top fragt, ob jemand sie telefonieren lässt, damit man sie abholt. Ich gebe ihr noch ein Taschentuch. 

    „Danke, Schätzchen, das ist lieb“, sagt sie schluchzend. „Ich bin hier aufgewachsen, hab hier gewohnt … Hab das alles natürlich ganz anders gekannt. 2022 bin ich geflüchtet, es war eine schöne Stadt …“ 

    Sie erzählt, dass sie die letzten zwei Jahre in Kyjiw gelebt habe und nach Mariupol zurückziehen will, „wenn ich Fuß fassen kann“. Sie fragt, warum ich hier bin. Ich bringe es nicht über die Lippen zu sagen „wegen der Strände“, also gebe ich vor, auf die Krim zu wollen. 

    „Kommt man gut von hier auf die Krim?“, fragt sie erstaunt. „Ach ja, die ist ja jetzt Russland!“ 

    Aushänge im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak
    Aushänge im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak

    Die Unbekannte bedankt sich noch mal für die Taschentücher und verabschiedet sich. Ich gehe zur Haltestelle. Ein Bus mit der Aufschrift „Partnerstädte Sankt Petersburg und Mariupol“ bringt mich für 30 Rubel zum Theater, von wo aus ich durch Straßen, die sogar für einen Werktagsmorgen zu verlassen wirken, in Richtung Strand spaziere. Das Zentrum ist voller Gerüste und Anzeigenzettel. Angeboten werden Taxis auf die Krim und nach Donezk, Wehrdienstverträge und Wellness-Massagen „nur für echte Männer“.  

    Die Neugestaltung des Mariupoler Strandes ist in der Endphase. Ein Kinderspielplatz, Fitnessgeräte, zweieinhalb Kilometer Promenade mit Bänken und Schaukeln, Sonnensegeln und Umkleidekabinen, einer Rettungsstelle und Toiletten. Ich rüttle an der nagelneuen Plastikklinke – die Tür bleibt zu. 

    „Immer nur ins Meer“, rät mir ein grinsender Passant.   

    Urlauber am Asowschen Meer im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak
    Urlauber am Asowschen Meer im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak

    Unterm Sonnenschirm ist alles gut 

    Am Strand sind mehr Leute. Zwischen den im Sand ausgestreckten Leibern tummeln sich Händler mit Schmalzgebäck und heißen Maiskolben. Für 500 Rubel kann man sich Stand Up Paddles ausleihen oder auf einer aufblasbaren Banane reiten.     

    Jung und Alt, Freunde und Familien räkeln sich in der Sonne oder verstecken sich vor ihr unter Sonnenschirmen. Den Stadtstrand besuchen vor allem Einheimische, doch ich treffe auch Touristen an, vor allem aus der Oblast Donezk.  

    Im Schatten sitzen Nadeshda, ihr Mann Sascha und ihre etwa zehnjährige Tochter. Sie kommen aus Tschystjakowe (russ. Tores; Stadt 60 Kilometer östlich von Donezk, seit 2014 kontrolliert von der selbsternannten DNR), wollten eigentlich über Nacht bleiben, haben aber keine Unterkunft gefunden. 

    „Wir sind die Siedlungen abgefahren, die zerbombten Einfamilienhäuser stehen immer noch genauso da. Wir haben jeden Tag Vermieter angerufen, aber keiner hat sich zurückgemeldet. Dann baden wir eben ein bisschen, genießen die Sonne und fahren wieder zurück. Wir brauchen mit dem Auto drei Stunden“, sagt die Frau dennoch zuversichtlich. 

    „Es war ein ziemlicher Kontrast. Bei uns die DNR, alles grau, und hier die Ukraine: eine lebendige Stadt, schön war das.“ 

    Letzten Sommer seien sie fünf Tage in Anapa (Strandtourismus-Hochburg, Gebiet Krasnodar am Schwarzen Meer, Russland – dek) gewesen und danach einen Tag in Mariupol. Hier gefiel es ihnen besser: „Das Meer und der Strand sind sauberer, schöner.“ Ich frage, ob sich seit letztem Jahr viel verändert hat. 

    „Offenbar wird die Stadt hergerichtet. Die Strände werden saubergemacht, man kann das jetzt schon genießen. Letztes Jahr gab es hier noch Sand, Müll und Gestrüpp. Ausgebrannte Waggons standen herum. Am Stadtrand ist natürlich noch nichts gemacht: überall Unkraut und Schutt. Aber im Zentrum funktionieren sogar die Ampeln“, erzählt Nadeshda. „Heute ist nur ein Hubschrauber übers Meer geflogen, letztes Jahr flogen sie ständig. Es ist ruhiger geworden.“ 

    Urlauber am Asowschen Meer im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak
    Urlauber am Asowschen Meer im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak

    „Wir haben auch schon 2016 und 2018 hier Urlaub gemacht“, sagt nun auch der wortkarge Sascha. „Es war ein ziemlicher Kontrast. Bei uns die DNR, alles grau, und hier die Ukraine: eine lebendige Stadt, schön war das.“   

    „Jetzt kommt auch hier der Wiederaufbau; was denn sonst?”, sagt Nadeshda. „Halb so wild, es geht alles vorbei, dann ist Frieden.“ Diese Worte wiederholt sie so oft, als wollte sie noch sich selbst überzeugen. „Bei uns gab es zu Ukraine-Zeiten ja auch keine Straßen, und jetzt haben sie damit angefangen. Mein Mann witzelt gern: ‚Krass, was die Besatzer sich erlauben, überall bauen sie Straßen!‘“ 

    „Wie denken die Leute bei euch über das Geschehen?“ 

    „Die meisten sind dafür. Wir sprechen doch alle Russisch. Und Russland steht wegen der familiären und religiösen Werte hoch im Kurs. Keiner schreibt die Geschichte um, keiner reformiert den Glauben, keiner führt die Homo-Ehe ein.“      

    Während Sascha mit der Kleinen baden geht, erklärt Nadeshda, dass man Russland in Tschystjakowe „in Ordnung“ finde, sich aber wegen einzelner Ungerechtigkeiten beklage. 

    „Die pensionierten Minenarbeiter sind empört, weil sie in der Ukraine gute Renten hatten, aber die russische Verwaltung hat ihre Arbeit abgewertet. Auch wer 20 Jahre bei der Bergwerksrettung war, die bei Unfällen in den Minen stets im Einsatz ist … Denen wurden durch Russland die Renten neu berechnet. Umgerechnet 30.000 Rubel waren es, jetzt sind es 18.000“, rechnet sie vor.  

    „Unsere Leute kämpfen an vorderster Front, die Russen immer nur in zweiter Reihe.“ 

    Besonders böse ist Nadeshda auf Denis Puschilin, das Oberhaupt der DNR. Sie meint, erst durch seine Behauptungen bezüglich Kriegsbereitschaft seiner Armee sei es zu dieser Mobilmachung gekommen, die nun praktisch jeden betreffe.  

    „Er hat gesagt, die Armee sei bereit, und hat einfach die Männer aus den Bergwerken, den Fabriken, den Bussen eingezogen. Sogar die Wohnungen haben sie abgeklappert. Alle nur Kanonenfutter. Unsere Leute kämpfen an vorderster Front, die Russen immer nur in zweiter Reihe. Sie sagen: Ihr macht eure Landesverteidigung“, sagt sie aufgebracht.     

    Auch Sascha sei gleich am ersten Tag der großangelegten Invasion eingezogen worden, doch Nadeshda bekam ernste gesundheitliche Probleme, weswegen er als Vater zweier Kinder doch entlassen wurde. Da ist seine Frau dankbar für ihr Leiden: „Die meisten sind schon tot. Du hast einfach keine Chance, wenn du zwei Jahre ohne jede Erfahrung an der Front bist.“ 

    Gut gelaunt kommen Tochter und Papa aus dem Wasser, und die Familie will ein Café suchen, um zu Mittag zu essen.  

    „Ehrlich gesagt, dachten die Leute, es würde schneller gehen“, fasst Nadeshda zusammen. „Aber Enttäuschung oder ‘schon zweieinhalb Jahre, das wird nichts mehr‘ – so eine Stimmung gibt es nicht.“ Sie verstummt, dann fügt sie mit unverfälschter Freude hinzu: „Ich sitze hier unterm Sonnenschirm – ist doch fein! Sehr viele Leute sind hier, dicht an dicht … Aber was soll’s, es wollen halt alle [Urlaub am Meer machen].“ 

    Sportplatz im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak
    Sportplatz im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak

    „Die Stadt war schon ein Schock, aber die Kinder haben geschlafen “     

    Am östlichen Ende des Strandes steht in der Nähe eines Fitnessareals ein Zelt unter einem Baum. Ein Mann mit tätowierten Armen bläst ins Feuer eines Holzkohlegrills. Eine unfrisierte Frau treibt drei verdreckte Kinder unter die Plane und redet ihnen zu, ein wenig zu schlafen, bis das Meer wärmer wird. Sie stellen sich als Urlauber aus Moskau vor. Als sie mich als Russin erkennen, laden sie mich auf eine Tasse Tee ein. 

    „Der Strand ist schön, so eine tolle Pier, und die schicke Promenade“, schwärmt Katja, während das Wasser aufkocht. „Gefällt mir supergut hier.“ 

    Früher machten sie in der Region Krasnodar Urlaub, aber mit drei Kindern wurde es teuer: „In Gelendshik oder in Sotschi zahlst du überall für den Strand, 500 Rubel pro Kopf.“ Mariupol wurde ihr von Freunden empfohlen, die letztes Jahr hier waren. Katjas Bruder Sascha ist aus Kirow mitgekommen, bis Rostow sind sie mit der Bahn gefahren, den Rest mit dem Bus.  

    Die Familie will ungefähr zehn Tage in Mariupol bleiben, solange das Geld reicht. Am ersten Tag wollten sie sich ein Häuschen am Meer suchen, aber daraus wurde nichts: „Alles voll.“ Also beschlossen sie, im Zelt zu übernachten, das sie für alle Fälle mitgenommen haben.     

    „Wir leben ins Blaue hinein und genießen es. “ 

    „Ich hatte die schlimmsten Befürchtungen, ich dachte, hier würde es nur Bäume und Meer geben. Aber der Strand ist bewacht, es gibt Militär, keiner prügelt sich, es ist friedlich und still“, freut sich Katja. „Rund um die Uhr ist was los, bis drei Uhr nachts gehen die Pärchen spazieren. Hier ist es noch etwas wüster, aber da drüben liegen sie wie die Sardinen!“ 

    „Hatten Sie keine Angst?“ 

    „Wovor sollten wir Angst haben?“ Diese Frage scheint sie mir übelzunehmen. „Hier sind ständig Leute, alle machen Urlaub, alle sind wie wir.“ 

    „Es geht um was anderes!“, mischt Sascha sich ein. „Keiner von uns weiß, wann er sterben wird. Du kannst genauso zu Hause in der Badewanne ertrinken. Es gibt verschiedene Todesarten. Wir leben ins Blaue hinein und genießen es.“  

    Er fragt, ob ich einen Wodka mit ihm trinke. Ich lehne ab und bekomme Tee und Waffeln. 

    „Die Stadt wird neu gebaut“, erzählt er. „Aber die Bevölkerung ist nicht so offen, sag ich dir. Die Einheimischen sagen: Ihr habt uns noch gefehlt.“ Oder: „Fahrt doch in euer Sotschi oder nach Gelendshik“, bekräftigt Katja. 

    „Noch sind wir in ihren Augen Besatzer. Noch. Mit der Zeit wird sich das einrenken.“ 

    „Gestern sitz ich in einer Bar, frage, ob sie froh sind, dass sie jetzt zur Russischen Föderation gehören“, setzt Sascha fort. „Drei Männer saßen da – alle drei dagegen. Sie haben viel verloren hier, sind wütend: Der eine seine Firma, der andere seine Familie, der nächste sein Haus. Das gibt sich wieder, aber es wird mit einem Jahr nicht getan sein. Das kostet Zeit und Geld.“   

    „Krieg macht natürlich niemanden froh. Es ist ein wenig unangenehm, aber wir können sie verstehen“, sagt Katja versöhnlich. „Was sollen wir denn tun? Noch sind wir in ihren Augen Besatzer. Noch. Mit der Zeit wird sich das einrenken.“ 

    „Mariupol ist ja total zerstört, das habe ich beim Herfahren gesehen“, erzählt Katja. „Die Stadt war schon ein gewisser Schock, aber die Kinder haben geschlafen und nichts mitgekriegt.“   

    Zerbombtes Kurhotel Sdorowje (Gesundheit) im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak
    Zerbombtes Kurhotel Sdorowje (Gesundheit) im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak

    Ich sehe mich um. Solange man den Strand nicht verlässt, kann man nur an der am Horizont hochragenden Ruine des Sanatoriums Sdorowje (dt. Gesundheit) erahnen, was vor zwei Jahren in Mariupol passiert ist. Aber stehen nicht in jeder Stadt sowjetische Ruinen?      

    Ich frage Sascha, was genau die Leute in der Bar gesagt haben. „Ich hab nicht so genau nachgefragt. Sie haben mich in Ruhe gelassen und ich sie auch“, antwortet er. Dann fügt er hinzu: „Ihre Stadt. Sie meinen, das sei ihre Stadt. Aber das stimmt nicht, das ist unsere Stadt.“ 

    Ich bedanke mich für den Tee. Katja sagt zum Abschied: „Mariupol kann ich wirklich allen empfehlen.“  

    „Der traurigste Ort von allen“ 

    Das Dorf Melekine ist ein Ferienort in unmittelbarer Nähe zu Mariupol. Laut der Donezker Komsomolskaja Prawda war das früher ein Nachteil war: „Die größten Mariupoler Umweltverschmutzer liefen auf vollen Touren: die Metallurgiekombinate Asowstahl und Iljitsch-Eisen- und Stahlwerke. Aber damit ist es jetzt vorbei“, beruhigt ein Werbeartikel potenzielle Urlauber.  

    Das russische Tourismus-Portal nasche-more.rf (dt. unser-meer.rf), das ebenfalls Urlaubsziele in den besetzten ukrainischen Gebieten anpreist, verspricht hier „viele Sehenswürdigkeiten“, „ausgezeichnete Infrastruktur“ und „entspannte Atmosphäre“. „Auch Mariupol ist ganz in der Nähe, eine hinreißende Stadt mit reichem Kulturleben und historischem Flair“, heißt es auf der Website.  

    „Mit Urlaubern rechnet hier keiner, nicht mal frisches Fleisch wird geliefert.“ 

    „Das ist am Asowschen Meer der traurigste Ort von allen – null Infrastruktur und null Unterhaltung“, erklärt mir dagegen die blondierte und stark geschminkte Olga bereits auf der Schwelle. Sie ist in Melekine geboren und aufgewachsen, lebt aber schon lange in Donezk. Sie kommt jedes Jahr, um Urlaub zu machen und einer Verwandten zu helfen. Diese betreibt die Pension, in der ich mich eingemietet habe. „Es hat sich nichts verändert, weder vor noch nach dem Krieg. Wenn du die Zeit auf 1989 zurückdrehen willst, dann komm nach Melekino (russ. für Melekine – dek).“ 

    Ihr zufolge seien seit 2014 kaum noch Touristen aus den besetzten Teilen der Oblasten Donezk und Luhansk hierher ins „Feindesland“ gekommen, was ein schwerer Schlag für die lokale Tourismuswirtschaft war. Ab 2022 kamen nach und nach wieder Erholungssuchende nach Melekine, auch Armeeangehörige und Bauarbeiter vom Wiederaufbau in Mariupol wohnten da. Was allerdings für die Entwicklung als Ferienort kaum förderlich gewesen sei.    

    „Dieses Jahr sind keine Bauarbeiter da, die Soldaten sind auch weg, Schluss, game over. Mit Urlaubern rechnet hier keiner, nicht mal frisches Fleisch wird geliefert“, beschwert sich Olga. „Wladimir Wladimirowitsch [Putin] hat uns das ultimative Feng Shui versprochen. Hoffen wir’s!“

    Urlauberinnen am Strand des von Russland besetzten ukrainischen Melekine © Vot Tak
    Urlauberinnen am Strand des von Russland besetzten ukrainischen Melekine © Vot Tak

    Semjon aus dem Moskauer Umland ist mit seinem halbwüchsigen Sohn im Urlaub. „Im vergangenen Jahr waren wir in Berdjansk. Da war die Hälfte der Hotels zu. Und als ich jetzt bei der alten Unterkunft anrief, war alles belegt.“ 

    Semjon sagt, am Asowschen Meer würden „viele von uns“ Urlaub machen, und dass es mit den Einheimischen keine Probleme gebe. „Alle sind missmutig. Die Dickköpfigsten sind weggegangen, wer nur mittel-störrisch ist, hat sich russifiziert“, meint er. „Na ja, es sind auch welche geblieben. Auf meiner Tasche steht ‚Russland‘, die habe ich zufällig dabei. Da hat mich einer so [missbilligend – Vot Tak] angesehen. Aber die meisten sind schon für uns. “  

    Olga sagt, in ihrer Pension sei ich die Erste aus den [international – dek] anerkannten Territorien Russlands. „Am Strand [traf ich Touristen – Vot Tak] aus Woronesh, aus der Oblast Kursk. Viele [Russen – Vot Tak] kämpfen hier, und holen ihre Familien her“, sagt sie. „Aber die meisten kommen aus Donezk.“ 

    „Hier sind nur Flieger und Hubschrauber unterwegs, die sind harmlos. Bei uns fliegen die Granaten.“ 

    Von dort braucht man nur einige Stunden, es gibt sogar Tagesstouren mit dem Bus – am Wochenende und an Feiertagen. „Es ist das erste Jahr, dass die Leute in Ruhe ans Meer fahren können. Ohne Angriffe, ohne Checkpoints“, erklärt ein Verkäufer im Laden. „Du packst einfach deine Sachen und fährst los.“ Gefahren durch den Krieg machten diesen Urlaubern nichts aus, zu Hause sei es ja noch gefährlicher. 

    „Hier ist es ruhig, hier sind nur Flieger und Hubschrauber unterwegs, doch die sind harmlos. Bei uns fliegen die Granaten. Jeden Tag Luftangriffe, Luftangriffe, Luftangriffe. Du gehst zur Arbeit und weißt nicht, ob du zurückkommst“, erzählt auch Witali, der mit seiner Frau und zwei Kindern in Melekine Urlaub macht. 

    Das Paar bereut, dass sie nicht nach Ursuf gefahren sind, ein Dorf auf halber Strecke zwischen Mariupol und Berdjansk. Sie sagen, dort sei das Wasser sauberer und die Infrastruktur besser. Es gebe sogar einen Freizeitpark. Auch andere Einheimische empfehlen mir Ursuf, warnen aber: Die Strände seien „rappelvoll“. 

    „Drei Mal hat’s geknallt – wir blieben sitzen, als ob nichts wäre“  

    In Ursuf herrscht Geschäftigkeit, Leben pur, wie es sich für einen Urlaubsort in der Hochsaison gehört. Auf der Straße, die zum Hauptstrand führt, schlendern spärlich bekleidete Touristen. Der Verkauf von Souvenirs läuft auf Hochtouren. An Pensionen sagen Schilder: „Belegt“. Der Strand ist mit bunten Schirmen und erhitzten Körpern übersät. 

    Ein nicht mehr ganz junger Mann mit „Russland“–Cap und seine stämmige Gattin schützen sich vor der Mittagssonne unter einem Schirm. „Wir sind aus der DNR, wir haben nur eine Woche Urlaub und sind nach Ursuf gekommen, weil wir nicht so viel Zeit für die Fahrt opfern wollten. Na, und wir wollten sehen, was sich hier so verändert hat“, erzählt Tatjana. 

    Die letzten Jahre habe das Paar auf der Krim Urlaub gemacht, jetzt sind sie vom Service hier enttäuscht. „Ich komme an, seh‘ das Zimmer, und traue meinen Augen nicht: Wofür zahl ich denn solch ein Geld? [4.000 Rubel pro Nacht – Vot Tak; ca. 40 Euro – dek]. Für dieses Geld bekommst du auf der Krim ein zweistöckiges Apartment! Wenn man den Vergleich hat, ist das natürlich eine Riesenenttäuschung“, entrüstet sie sich. „Ich war außer mir, habe die Kinder angerufen, wollte gleich wieder abreisen.“ 

    Ihr Mann schaltet sich ein. Er ist empört über die Preise in den Geschäften: „Jetzt im Krieg verdienen die Leute ganz gut, es gibt viele Militärangehörige, die können sich das leisten. Die gleichen Lebensmittel wie bei uns kosten hier doppelt so viel.”  

    „Und dann wird das noch so verkauft, als ob sie uns einen Gefallen tun würden und wir ihnen was schuldig wären“, beschwert sich Tatjana. 

    „Hier stehen Autos mit Moskauer Nummern, sogar welche aus Murmansk. Mein Gott, von Murmansk bis hierhin!“, ruft die Urlauberin. „Wir sind doch nur deshalb hier, weil es nur zwei Stunden Fahrt sind.“ 

    Ein Stückchen weiter hat sich eine Familie aus der Stadt Charzyssk mit ihrer neunjährigen Tochter im Schatten eines Bungalows niedergelassen. „Super! Uns hat es sehr gut gefallen, alles top“, erzählt Vater Jegor. Früher hätten die Eheleute auf der Krim Urlaub gemacht. „Hier ist es ruhiger“, sagt seine Frau. „Drei Mal hat es geknallt, aber nicht laut. Wir blieben sitzen, als ob nichts wäre.“ 

    Der Vater fragt seine Tochter nach ihrer Meinung: „Es gibt eine einzige Sache, die blöd ist“, sagt sie bestimmt. „Zwei Tage gab es Quallen.“ 

    Am vielbevölkerten Strand kann man wohl leicht den Krieg vergessen. 

    Urlauber am Strand der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Berdjansk © Vot Tak
    Urlauber am Strand der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Berdjansk © Vot Tak

    Kriegsrealien treffen Tourismuspläne 

    Vor dem großflächigen Überfall Russlands auf die Ukraine galt Berdjansk, Oblast Saporischschja, als einer der beliebtesten Urlaubsorte der Ukraine. Pro Saison konnten bis zu anderthalb Millionen Touristen hier unterkommen. Nach zwei Jahren Krieg hoffen die Besatzungsbehörden der Region, wenigstens eine halbe Million anlocken zu können. 

    In meiner Pension mit zwölf Zimmern sind außer meinem nur drei Zimmer belegt. Der Wirt Sergej gibt mir großzügig ein Sechsbettzimmer. Das Interesse sei sowieso nicht groß. Im Vergleich zum Vorjahr gebe es allerdings schon zwei- bis dreimal mehr Besucher. 

    „Vor allem Leute aus Donezk sind hier. Donezk ist quasi unterwegs“, erklärt er mir. „Wie Sie vielleicht wissen, haben sie dort die Leute scharenweise für den Krieg ‚abgegriffen‘. Und mit wem willst du Urlaub machen, wenn dein Mann sich unter der Bettdecke versteckt und nicht mal für ‘ne Dose Bier aus dem Haus gehen kann? Jetzt ist das etwas besser geworden.“ 

    „Was meinen Sie, würde jemand aus Moskau hier Urlaub machen wollen?“ 

    „Kommen auch Leute aus Russland?“, frage ich. „Na ja, aus Rostow, aus der Nähe. Aus Moskau sind Sie die Erste; Sie kommen auf die Ehrentafel“, lacht er. „Wir sind hier ganz schön abgelegen, nicht wahr? Was wäre von Moskau aus eine Alternative? So ganz spontan gesagt, los!“ 

    „Nach Sotschi fliegen“, schlage ich vor. „Nach Sotschi fliegen“, wiederholt Sergej. „Fliegen kannst du hier vergessen. Touristen brauchen Verkehrsverbindungen: Bahnstrecken, Fluglinien, Busse. Nicht jeder hat ein Auto. Der Bahnhof hat früher dafür gesorgt [dass Touristen kommen – Vot Tak]. Sobald es wieder einen Bahnhof gibt, wird alles anders.“ 

    Später ergänzt Sergej allerdings, dass nicht nur die zerstörte Logistik ein Problem ist: „Wir werden hier erstmal keine Sommergäste aus Moskau oder Rostow haben. Selbst wenn es Transportmöglichkeiten gibt. Womit wollen wir sie denn beeindrucken? Weil’s billig ist? Sollen wir schreien: ‚Bei uns gibt’s den billigsten Urlaub‘? Was meinen Sie, würde jemand aus Moskau hier Urlaub machen wollen? Sie kennen ja Ihr Umfeld.“ 

    „Ein bisschen wie ausgestorben“ 

    Berdjansk spricht Propaganda mit mir. Als ich am Stadtstrand entlangschlenderte, erfahre ich, auf welchem Sender man Putin sehen kann, welche Zeitung man kaufen soll, um „mit dem Präsidenten“ zu sein und ausgewählte Zitate von ihm zu lesen. In der Fußgängerzone sitzen ein paar Rentner auf einer Bank. Auf dem Plakat über ihnen heißt es: „Wir wissen, dass wir in den angegliederten Gebieten auf alle zählen können“.  

    Auf der Uferpromenade spazieren Urlauber und Einheimische. Es sind nicht wenige, aber das alles erinnert nur entfernt an die Berdjansker Sommer vor dem Krieg. Ich begegne tatsächlich nur Touristen aus den Oblasten Donezk und Luhansk. Ihre Beweggründe gleichen einander, als ob sie sich abgesprochen hätten: Sie seien hier, weil es nah ist und sie den Ort kennen. Aber: „Die Stadt ist ein bisschen wie ausgestorben.“ Vor 2022 „war alles proppevoll“. Mit dem Urlaub sind sie zufrieden, „nur die Quallen haben etwas gestört“. Vor Beschuss haben sie „schon keine Angst mehr“. 

    Urlauberin am Strand der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Berdjansk © Vot Tak
    Urlauberin am Strand der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Berdjansk © Vot Tak

    In den Geschäften wird kein hochprozentiger Alkohol verkauft. Bier geht nur bis 17.00 Uhr über den Ladentisch. Ich komme mit drei jungen Männern ins Gespräch, die auf der Brüstung der Promenade Bier aus Plastikbechern trinken. Sie sind aus Horliwka gekommen, um sich hier für eine Woche zu erholen. 

    „Wir sind so richtig am Arsch“, erzählt der 26-jährige Ruslan, kahl rasiert und im T-Shirt. Er ist der Gesprächigste und der Jüngste, die anderen sind um die dreißig. „Alle wollen, dass es so schnell wie möglich vorbei ist. Dass alles ins Lot kommt und man in Frieden sein Leben lebt. Ich sitz zuhause, musst du wissen, und jeden gottverdammten Tag fliegen 20 Meter überm Dach Flugzeuge drüber. Und wir haben ein Baby. Das ist hart, sehr hart, wirklich brutal. Nie ist man ausgeschlafen; permanent kracht es, ständig fliegt was. Wir kennen das ja, waren auch an der Front.“ 

    „Die haben alle in den Fleischwolf getrieben.“ 

    Alle drei sind in den Schützengräben gewesen, wurden verwundet und deshalb entlassen. Sie hatten schon 2021 des Geldes wegen als Vertragssoldaten angeheuert. 

    Zweihundert [Tausenddek, haben sie gezahlt – Vot Tak]. So viel kostet wohl ein Leben, wie es aussieht. Sergej und ich haben den Feind husten hören“, erzählt Ruslan. „Wir waren bei den Sturmeinheiten.“ 

    „Da ging es hart auf hart …“, bestätigt Sergej. „Wir sind in ein Bataillon geraten, das total scheiße war.“ 

    „Die haben einfach alle in den Fleischwolf getrieben.“ 

    „Als ob wir keine Menschen wären.“ 

    „Hätten Sie den Vertrag kündigen können?“, frage ich nach. „Nein, nur wenn du stirbst“, antworten alle drei im Chor, „oder schwer verwundet wirst.“ 

    „Sind Sie wütend, dass Sie als Kanonenfutter herhalten mussten?“ 

    „Natürlich sind wir sauer, stinksauer“, meint Ruslan. „Obwohl… ehrlich gesagt, tut es mir eher um die Kameraden leid. So viele tolle Jungs, verdammt …“ 

    Die jungen Männer erinnern sich an ihre Freunde, die im Krieg umgekommen sind. Da wird Ruslan von einem Kameraden angerufen. Er unterhält sich lachend und scherzend; dann legt er auf und erklärt beiläufig: „Er sagt, gestern sind 20 Raketen ins Zentrum von Horliwka geflogen … Mit dem Auto sind das 15 Minuten von uns.“ 

    „Gab’s viele Opfer?“ 

    Statt einer Antwort reicht er mir den Plüschdelfin, den er im Lunapark gewonnen hat. „Das ist für dich, zur Erinnerung an den Donbas. Von einem echten Krieger“, sagt er beharrlich, bis ich sein Geschenk endlich annehme. 

     Geisterbahn im Vergnügungspark im besetzten Berdjansk © Vot Tak
    Geisterbahn im Vergnügungspark im besetzten Berdjansk © Vot Tak

    Ein Straßenmusiker macht mich darauf aufmerksam, dass bald [um 23.00 Uhr – Vot Tak] die Ausgangssperre beginnt und es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Ich verabschiede mich von den Jungs aus Horliwka, gehe die Promenade entlang, vorbei an leuchtenden Cafés, wo getrunken, gegessen und gelacht wird. Ich biege in eine dunkle Seitenstraße; nach zehn Minuten bin ich in meiner Pension, ohne auf dem Weg auch nur einer Menschenseele begegnet zu sein. 

    Der Betreiber Alexander empfängt mich am Gartentor und fragt, wie mein Spaziergang war und was ich fotografiert habe. Ich zeige ihm meine Fotos vom Strand, auf denen zufällig auch der Hafen zu sehen ist. Er rät mir, das Bild zu löschen oder gut zu verstecken, damit ich nicht … Er zeigt mit zwei Fingern nach unten, um die „Keller“ anzudeuten. 

    „Ich will Ihnen ja keine Angst machen, aber diese Ecken, die sind spitz…“ 

    „Den Hafen sollte man besser in Ruhe lassen, damit es keine Fragen gibt. Wir wollen ja alle leben; wir leben ja unter einem Staat“, sagt Alexander. 

    „Und was passiert mit mir, wenn sie mich in die ‚Keller‘ bringen?“ 

    „Das wünscht man keinem. Es kommt vor, dass Leute verschwinden. Da geht jemand aus dem Haus und kommt nicht mehr zurück.“ 

    „Kennen Sie jemanden, der verschwunden ist?“ 

    „Ich will Ihnen ja keine Angst machen, aber diese Ecken, die sind spitz…“, weicht er meiner Antwort aus. „Wenn bei Ihnen Fotos gefunden werden, dann werd‘ ich davon nie erfahren und kann auch nichts davon erzählen.“ 

    Ich lösche für alle Fälle die Fotos und lege mich schlafen. Am nächsten Morgen mache ich mich auf den Heimweg. Auf dem Rückweg sitzt im Bus eine rothaarige Swetlana neben mir. Sie war zur Erholung in Berdjansk, und um sich mit ihrer Freundin und deren Mutter zu treffen. Die leben in den besetzten Gebieten. 

    Swetlana hatte in Bachmut gelebt und die Stadt im Sommer 2022 verlassen. „Mein Mann wollte eigentlich nicht weg. Wir dachten, das sitzen wir aus, oder wir bleiben eine Weile im Keller, und das wär’s dann. Eines Tages gab’s einen Angriff, der traf unser Haus, wir waren rechtzeitig unten. Alles ist in Stücke geflogen, gleich am nächsten Tag sind wir los. Kein Wasser, kein Licht, kein Gas, auf offener Flamme kochen … Und überall donnerte es.“ 

    Swetlana ist mit ihrem Mann in Balaschicha bei Moskau untergekommen. Sie haben nun die russische Staatsangehörigkeit, damit sie Arbeit finden können. Ihr Einfamilienhaus in Bachmut und ihre Wohnung in Soledar wurden durch Beschuss zerstört. „Wir sind nach Russland gekommen, bekamen eine Einmalzahlung von 10.000 Rubel und einen russischen Pass. Geht arbeiten, ihr seid jetzt Staatsbürger! Ich hatte mein eigenes Dacht über dem Kopf, ein Haus und eine Wohnung. Jetzt bin ich obdachlos und habe nichts“, sagt sie wehmütig. 

    „Die Einen befreien, die Anderen verteidigen.“ 

    An der Grenze wird Swetlana ewig ausgefragt, ihr Telefon wird lange geprüft, sie ist den Tränen nah. Sie wird verdächtigt, nach Soledar (aktuell direkt an der Frontline – dek) gefahren zu sein. Die Stadt ist in ihrem neuen roten Pass als Geburtsort eingetragen. 

    „Wie kann ich in Soledar gewesen sein? Dort ist niemand, nur die Armee“, ist sie anschließend empört. „Ich bin eine, wie ihr immer sagt, Bürgerin der Russischen Föderation. Aber irgendwie sind wir wohl doch was anderes! Wieso gebt ihr uns dann einen Pass? Keine Entschädigung, nichts. Keine Wohnung, nichts. Die Einen befreien, die Anderen verteidigen.“ 

    Ich frage nach, was dieser Satz bedeutet, den ich auf dieser Reise schon zum zweiten Mal höre. 

    „Ich gehe auf die fünfzig zu. Mein Vater ist Belarusse, meine Mutter Ukrainerin, in Sankt Petersburg habe ich Schwester und Bruder. Wir haben immer gut zusammengehalten. Es ist doch überall dasselbe“, antwortet Swetlana. „Wir brauchen die alle nicht, weder die Einen noch die Anderen. Wir hatten einfach in Ruhe unser Leben. Alle bekriegen einander, und die Menschen haben zu leiden.“ 

    Swetlana dreht sich zum Fenster und schweigt. Ich schaue auch aus dem Fenster, sehe Sonnenblumenfelder vorbeiziehen. Wie in den besetzten Gebieten der Ukraine. Nur ohne Panzersperren. 

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  • Hilflose Helfer

    Die Stiftung Nushna pomoschtsch (dt.: Hilfe gesucht) war die größte nichtstaatliche Hilfsorganisation in Russland. Ihren Ursprung nahm die Organisation nach einer Flutkatastrophe in Südrussland im Juli 2012: Nach heftigen Regenfällen kam es damals zu Überschwemmungen und Erdrutschen in Krymsk im Gebiet Krasnodar. Mehr als 160 Menschen kamen ums Leben. Weil die Hilfe durch staatliche Institutionen nur schleppend anlief, organisierten Bürgerinnen und Bürger in Moskau und anderen Großstädten Hilfstransporte. Sie konnten dabei auf Strukturen zurückgreifen, die im Protestwinter 2011/2012 gewachsen waren, als Hunderttausende gegen den Ämtertausch zwischen Dimitri Medwedew und Wladimir Putin auf die Straßen gingen. Die Netzwerke aus dem Protestwinter und die Reichweite in Social Media halfen jetzt, schnelle Hilfe in einer Situation zu organisieren, in der der Staat seinen Aufgaben nicht nachkam. Eine Besonderheit war, dass bei der Organisation der Krymsk-Hilfe Aktivistinnen und Aktivisten aus der Protestbewegung und Vertreterinnen und Vertreter Kreml-freundlicher Jugendorganisationen punktuell zusammenarbeiteten. 

    Eine zentrale Rolle spielte damals der Moskauer Fotograf und Aktivist Mitja Aleschkowski. Aus der Erfahrung mit der Krymsk-Hilfe entwickelte er Nushna pomoschtsch. Ziel der Initiative war es, soziale Projekte dabei zu unterstützen, professioneller zu arbeiten. Dazu gehörten Fortbildungen zu Fundraising, Workshops zu wirksamer sozialer Arbeit, zu Transparenz und dazu, sich im Dschungel russischer Gesetze zurechtzufinden. Nushna pomoschtsch entwickelte zugleich eine Art Gütesiegel für private und zivilgesellschaftliche Initiativen: Einer Initiative, die von Nushna pomoschtsch empfohlen wurde, konnte man vertrauen.  

    Als Nebenprojekt entstand das Online-Medium Takie Dela, das über soziale Themen in allen Regionen des Landes berichtet und Spenden für die vorgestellten Projekte sammelt. Bis 2024 sammelte Nushna pomoschtsch nach eigenen Angaben mehr als zwei Milliarden Rubel (heute etwa 19 Millionen Euro) an Spenden. Damit wurden Hunderte, meist kleine Initiativen unterstützt.  

    Am 7. August 2024 gab Nushna pomoschtsch ihre Schließung bekannt. Im März hatte das Justizministerium die Organisation als „ausländischen Agenten“ eingestuft. Das toxische Label macht eine Zusammenarbeit mit der Stiftung für andere zur Gefahr. Meduza fasst zusammen, was das Ende von Nushna pomoschtsch für den sozialen Bereich und für die Bedürftigen in Russland bedeutet. 

    Im Juli 2012 sammelten Freiwillige in Moskau Hilfsgüter für die Bewohner der überfluteten Stadt Krymsk. Viele hatten vorher an Protesten teilgenommen. Soziales Engagement schien eine Möglichkeit zu sein, jenseits der Politik etwas zum Besseren zu verändern / Foto © ITAR-TASS Imago

    Die Nachricht ist für den Sozialbereich in Russland niederschmetternd. Besonders stark sind kleinere Stiftungen betroffen. Die Stiftung Nushna pomoschtsch ist 2015 zu einer eigenständigen Organisation geworden. Sie leistete selbst keine konkrete Hilfe für Bedürftige, was in jener Zeit eine Seltenheit war. Stattdessen unterstützte sie nichtkommerzielle Organisationen (im Weiteren: NGOs) in ganz Russland dabei, effektiver zu arbeiten und Spenden zu akquirieren. Theoretisch können Stiftungen auch selbst die Erstellung von Rechenschaftsberichten, das Etablieren von Prozessen, das Akquirieren neuer Spenderinnen und Spender und die Ausbildung von Mitarbeitern übernehmen. Doch das ist alles schwer zu organisieren, insbesondere, wenn es sich um eine kleine NGO handelt, die kaum über genügend Ressourcen verfügen. Daher musste eine Stiftung, die bei all diesen Fragen hilft, schnell und unweigerlich zu einer der wichtigsten Strukturen für den Sozialbereich in Russland werden. Die Stiftung Nushna pomoschtsch unterstützt nicht nur bei Verwaltungsfragen, sondern setzte auch Qualitätsstandards und half Organisationen dabei, neue Gruppen von Spendern zu erschließen. 

    Die Stiftung bewertete die Transparenz russischer NGOs und führte eine Liste jener Organisationen, die sauber arbeiten. Das war eines der wenigen Verzeichnisse, denen man vertrauen konnte. 

    Die Stiftung unterstützte NGOs mit Infrastruktur. Dabei handelte es sich um IT-Dienstleistungen zur Analyse von Spendenstatistiken und zur Berichterstattung gegenüber Förderern. Darüber hinaus bot die Stiftung Online-Schulungen an, die NGOs dabei unterstützten, die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter zu erhöhen (mit der Ausbildung von Menschen, die im Nonprofit-Bereich arbeiten wollen, gibt es nach wie vor große Probleme). Die Stiftung verfügte auch über ein gleichnamiges Medium zu karitativer Arbeit, eine Forschungsabteilung zum Nonprofit-Sektor und eine Plattform, mit deren Hilfe jedermann eine Initiative empfehlen oder Bekannten vorschlagen konnte, Geld an eine Stiftung zu überweisen. Das alles brauchen NGOs. Theoretisch können sie das auch selbst machen, doch zweifellos dürften nur wenige die Ressourcen dafür haben. 

    Die Stiftung half Hunderten NGOs, ein zuvor nur schwer zugängliches Publikum zu erreichen und die Zahl der Zuwendungen zu erhöhen. Nushna pomoschtsch hat Aktionen durchgeführt, durch die Spendensammlungen unterstützt wurden, darunter auch regelmäßige Spenden. Selbst weniger bekannten NGOs wurde so geholfen. Es gab zum Beispiel die Aktion Ein Rubel am Tag, bei der man eine ganz kleine Dauerspende einrichten konnte („Ein Rubel am Tag ist viel, wenn wir viele sind“). Oder die Aktion Einer für alle, deren Sinn darin bestand, dass man nicht eine einzelne NGO auswählte, der das Geld zugutekam, sondern die allgemeine Richtung der Hilfe (für Tiere, Kinder, die Natur…); die Spende wurde dann zwischen denjenigen NGOs aufgeteilt, die in diesem Bereich tätig sind. Laut Angaben der Stiftung wurden in all den Jahren über zwei Milliarden Rubel gesammelt. 

    Seit Kriegsbeginn sind die Spenden stark zurückgegangen 

    2023 wurde Jelisaweta Wassina Direktorin von Nushna pomoschtsch. Sie hat im Oktober des gleichen Jahres in einem Interview von den Plänen der Organisation erzählt: 

    „Einer der Orientierungspunkte ist jetzt die Begleitung von NGOs. Wenn wir uns früher eher der Überprüfung von Stiftungen gewidmet haben, so geht unsere Arbeit jetzt dahin, sie bei der Weiterentwicklung zu unterstützen. 

    Darüber hinaus ist unser Ziel, bereits bestehende Produkte und Angebote bekannter zu machen und den NGOs zu helfen, sie einzusetzen. So vermitteln wir NGOs, wie Freiwillige Fundraising betreiben können, indem unsere Plattform Polsujas slutschajem [dt. Bei der Gelegenheit] behilflich sein kann, mehr Mittel für ihre Klientel zu sammeln. […] 

    Jetzt arbeiten wir erfolgreich mit Dienstleistungen für Unternehmen. Wir helfen ihnen, Sozialprogramme aufzulegen und Aktionen zu starten. Hier ergibt sich ein dreifacher Effekt: Wir selbst verdienen als Berater, die Unternehmen können ihren Mitarbeitern oder Kunden verschiedene soziale Aktionen vorschlagen. Und die NGOs bekommen die Gelegenheit, Unterstützung durch große Unternehmen zu erhalten. Wir planen aktuell, ein Projekt für den Einzelhandel zu entwerfen. Wir wollen dort helfen, Discounts und Prämienpunkte in Spenden umzuwandeln.“ 

    Nach Beginn des Krieges sind die Spenden stark zurückgegangen. Nushna pomoschtsch weigerte sich, die Armee zu unterstützen, und einige der Mitarbeiter unterzeichneten einen Brief gegen den Krieg. 

    „2023 war für den Nonprofit-Bereich ein Jahr der Stagnation; diese hatte bereits 2022 eingesetzt. Einige Gebiete der sozialen Arbeit erlebten eine Krise, die durch äußere Faktoren ausgelöst wurde“, schrieb Nushna pomoschtsch in ihrer Spendenanalyse über 2023. 

    Um ihre Arbeit fortzuführen, kürzte die Stiftung ihre Ausgaben. Unter anderem wurde die zusätzliche Krankenversicherung für die Mitarbeiter gestrichen. Den Partner-Stiftungen werden die Gebühren für Zahlungssysteme nicht länger erstattet. 

    Ein Teil der Projekte musste aus der Stiftung ausgegliedert werden: 

    Das Publikationsprogramm Jest smysl [dt. Es hat Sinn] hatte in der Vergangenheit eine Vielzahl von Büchern über karitative Arbeit und soziale Probleme veröffentlicht. Nach dem Finanzierungsstopp durch die Stiftung erschienen einige Bücher gemeinsam mit einem anderen Verlag.  

    Der Marktplatz, auf dem NGOs ihre Merchandising-Artikel verkauften, wurde geschlossen. 

    Das Online-Medium Takie Dela trennte sich von Nushna pomoschtsch. 

    Das Projekt Jesli byt totschnym [dt. Um genau zu sein], das offen zugängliche Daten zu sozialen Problemen sammelt und analysiert, arbeitet jetzt ebenfalls eigenständig und mit Hilfe selbst gesammelter Spenden weiter. 

    Die Stiftung weigert sich, Geld für militärische Zwecke zu sammeln. Im Frühjahr wurde sie als „ausländischer Agent“ eingestuft 

    Nach Beginn des großangelegten Kriegs gegen die Ukraine unterschrieben 470 NGOs einen Brief gegen den Krieg (die Unterschriftensammlung wurde am 4. März wegen der Einführung von Zensur und repressiver Gesetze gestoppt). Zu den Unterzeichnenden gehörten auch einige Mitarbeiter der Stiftung Nushna pomoschtsch, unter anderem deren damalige Direktorin Sofja Shukowa. Sie hat diesen Schritt in einem Interview mit Meduza im November 2022 folgendermaßen kommentiert: 

    „Ich bedaure kein bisschen – nicht eine Sekunde! – dass ich unterschrieben habe. Ich denke, ich habe richtig gehandelt: Das ist die Position von Sofja Shukowa! Ich habe vollends das Recht darauf, und dieses Recht habe ich deutlich gemacht. Was hat sich für uns verändert? In diesem Jahr wurde uns drei Mal nahegelegt, meine Unterschrift unter den Brief zurückzuziehen. Das haben wir nicht getan.“ 

    „Wer hat Ihnen das nahegelegt?“ 

    „Ein hervorragender Mensch, ich werde den Namen nicht nennen. Das war die Bedingung dafür, dass wir bekannter, populärer werden können. Damit wir die Zahl der Kontakte und Spender zurückholen können. Ich bin von dem begeistert, was von diesen Leuten für den Nonprofit-Bereich getan wurde [die forderten, die Unterschrift zurückzuziehen]. Die haben gerade selbst ihre eigenen Probleme. Kurz gesagt, wir haben es nicht gemacht. 

    Wir haben bei den letzten Ausschreibungen keine Fördermittel bekommen. Ob das an den Unterschriften unter dem Brief liegt? Das kann ich nicht sagen. Ich vermute aber, es hängt damit zusammen. Ich meine, unsere Mitarbeiter haben gute Anträge geschrieben. Und ich kann garantiert sagen, dass in 90 Prozent der Fälle NGOs, die mit den Behörden zusammenarbeiten und Fördermittel erhielten [auch nach Kriegsbeginn – Meduza], keine Briefe unterschrieben haben. Ich weiß aber auch von Organisationen, die einen Brief gegen den Krieg unterschrieben haben und Fördermittel erhielten.“ 

    Die Haltung der Stiftung bestand grundsätzlich darin, kein Geld für Waffen und andere militärische Zwecke zu sammeln: „Es gibt NGOs, die soziale Probleme lösen wollen. Für die Sicherheit des Landes zu sorgen, ist die Aufgabe des Staates“, heißt es auf der Internetseite der Stiftung. 

    Andere NGOs fürchten, ebenfalls als „ausländische Agenten“ eingestuft zu werden. Also beendeten sie die Zusammenarbeit mit Nushna pomoschtsch 

    2024 wurde die Stiftung zum „ausländischen Agenten“ erklärt, worauf sie geschlossen wurde. 

    „Eines der Projekte, das unserer Prüfung nicht standhielt, schwärzte uns 2023 an“, schreibt die ehemalige Direktorin Sofja Shukowa. „Ich denke, das ist einer der Gründe, warum das Justizministerium auf uns aufmerksam wurde. In dem Beschluss stand geschrieben, dass wir ausländische Agenten seien, weil wir Studien zu professioneller karitativer Arbeit durchführen, oder weil wir ausländische Agenten unterstützen, was grundsätzlich nicht verboten ist.“ 

    In dem Augenblick, als die Stiftung als „ausländischer Agent“ eingestuft wurde, gab es auf der Liste von ihr verifizierter NGOs 787 Organisationen. Fünf Monate später, im August 2024, waren es nur noch 385. Obwohl die Zusammenarbeit mit einer zum „ausländischen Agenten“ erklärten Stiftung legal ist, kann sie unerwünschte Folgen haben. Unter anderem den Status eines „ausländischen Agenten“. Deshalb nahmen NGOs Abstand von einer Zusammenarbeit mit Nushna pomoschtsch. Das Gleiche galt für Förderer. Die Tinkoff–Bank [seit Juni 2024: T-Bank – dek.] stoppte die Möglichkeit, Cashback-Zahlungen in Spenden zugunsten der Stiftung umzumünzen. 

    Die Organisation versuchte, mit Hilfe der Aktion „Nushna pomoschtsch braucht Hilfe“ Gelder zu sammeln. Das gelang jedoch nicht. Seit März 2024 sind die Spenden von monatlich 28 Millionen Rubel bis Juni dieses Jahres auf 2,6 Millionen Rubel zurückgegangen. 

    Eine neue Organisation soll die Arbeit fortsetzen 

    Der diskriminierende Status brachte eine Vielzahl offizieller Beschränkungen für die Arbeit mit sich. Vor allem die Rechenschaftslegung ist erheblich komplizierter geworden. Das Risiko von Geldstrafen wächst, und auf staatliche Förderung ist nicht zu hoffen. 

    Schließlich beschloss der Stiftungsrat von Nushna pomoschtsch, dass die Organisation geschlossen werden müsse. Das wurde am 7. August 2024 bekannt gegeben. Tatsächlich war die Entscheidung den Worten der ehemaligen Direktorin Sofja Shukowa zufolge bereits einen Monat früher gefallen: In einem Rundschreiben an Geldgeber wurde das allerdings recht nebulös formuliert. In dem Schreiben wurde mitgeteilt, dass Spenden an Stiftungen jetzt über die neue Stiftung Prodolshenije (dt.: Fortsetzung) abgewickelt werden, die ihre Tätigkeit im Juni 2024 aufnahm. Prodolshenije plant, eine Verifizierung von NGOs vorzunehmen (was bereits bei 400 NGOs geschehen ist) und dann deren Arbeit zu unterstützen. Ein Teil des Teams von Nushna pomoschtsch wird dort weitermachen. 

  • Christlicher Untergrund

    Christlicher Untergrund

    Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist ein wichtiger Stützpfeiler des Putin-Regimes. Patriarch Kirill rechtfertigt den russischen Überfall auf die Ukraine als „Heiligen Krieg“ und ehrt den Chefpropagandisten Dimitri Kisseljow mit einem Orden. Der Klerus unterstützt diesen Kurs mehrheitlich. Priester reisen mit wundertätigen Ikonen an die Front. Viele waren früher selbst Offiziere der russischen Armee. Es gibt aber auch in der Russisch-Orthodoxen Kirche Einzelne, die ihrem Gewissen folgen und es ablehnen, das obligatorische Gebet für den Sieg zu sprechen. Angehörige des Klerus, die sich offen gegen den Krieg aussprechen, riskieren viel. Von Deutschland aus versuchen Glaubensbrüder, sie zu unterstützen.  

    Der Fotograf Vadim Braydov hat einige von ihnen in ihren neuen Gemeinden in Deutschland und den Niederlanden besucht und sie für OVD-Info porträtiert. Er selbst ist im Frühjahr 2022 mit Unterstützung von Reporter ohne Grenzen aus Russland geflohen und lebt jetzt in Köln. 

    „Flieht! Hier gibt es keinen Gott mehr!“ 

    Ein Birkenwäldchen, wie es viele gibt in Russland. Es liegt aber im Grenzgebiet zwischen Deutschland und den Niederlanden. Hier geht Pater Andrej Kordotschkin häufig spazieren / Foto © Vadim Braydov
    Ein Birkenwäldchen, wie es viele gibt in Russland. Es liegt aber im Grenzgebiet zwischen Deutschland und den Niederlanden. Hier geht Pater Andrej Kordotschkin häufig spazieren / Foto © Vadim Braydov

    „Im Koordinatensystem dieses faschistischen Regimes sehe ich für mich keinen Platz[…] Passen Sie auf sich auf, und auf Ihre Familie. Es wird niemandem leichter ergehen, wenn Sie eine Geldstrafe erhalten oder ins Gefängnis wandern. Flieht! Hier gibt es keinen Gott mehr.“ Damit endet die Videobotschaft des Priesters Nikolai Platonow. Nach diesem Clip wurde er beschattet. Er selbst rechnete mit „Bettelsack und Kerker“, aber er fand Beistand. OVD-Info sprach mit den Begründern eines Projektes, das Priestern der Russisch-Orthodoxen Kirche hilft, die wegen ihrer Haltung gegen den Krieg zu leiden haben. Und mit Menschen, die dort Hilfe fanden. 

    Vater Nikolai ist ein ehemaliger Priester der Diözese Tscheljabinsk. Er postete seinen Antikriegsclip, als er schon in Armenien war, nämlich am 16. April 2022. Darin erklärt der Priester, er habe selbst um Entlassung gebeten, weil er nicht mehr länger zum Krieg schweigen konnte. Nach dem Video werde „die kirchliche Obrigkeit mich aufgrund irgendeines schändlichen Paragrafen entfernen wollen“. 

    „Ich erinnere mich sehr genau an den Tag nach Kriegsbeginn“, erzählt er. „Mein Vater hat am 25. Februar Geburtstag. Es war der letzte Tag, an dem wir uns gesehen haben. Seit mehr als zwei Jahren habe ich jetzt schon keinen Kontakt mehr zu meinem Vater und meinem Bruder. Für sie bin ich ein Verräter. Mir war damals noch nicht klar, dass der Einmarsch zu hunderttausenden Toten führen würde, mir war aber klar, dass man von mir verlangen würde, die Soldaten zu segnen, damit sie in einen verbrecherischen Bruderkrieg ziehen. Ich verstand, dass der Diktator endgültig den Verstand verloren hat und es Zeit ist, sich einen Reisepass zu besorgen. Was ich dann auch machte.“ 

    Die Gemeinde von Vater Nikolai in Tscheljabinsk war klein. Er kannte alle Mitglieder persönlich. Er versuchte mit jenen zu reden, die den Einmarsch unterstützten. Er traf aber, so formuliert er es, „auf eine absolute Ablehnung der Bergpredigt Christi“. Es gab allerdings auch solche, die durch das Geschehen genauso erschrocken waren wie er. Es dauerte nicht lange, da riefen ihn Bekannte aus dem Bergwerks– und Metallurgie–Kombinat Tominski an, das seine Kirche unterstützt hatte. Sie warnten ihn, dass eine Aktion in Vorbereitung sei, und man ihm die Priesterwürde entziehen werde. 

    „Die Zeit lief. Der Reisepass war fertig. Ich verabschiedete mich von der Gemeinde und setzte mich ins Flugzeug“, erinnert sich Platonow. 

     

    Videobotschaft des Priesters Nikolai Platonow, aufgezeichnet im Frühjahr 2022 

    So kam er nach Armenien. Nach dem Video wurde ihm sofort untersagt, Gottesdienste abzuhalten. Und er bekam Drohungen: Andrej Remisow, der stellvertretende Generaldirektor des Tominski-Kombinats, schrieb ihm, nannte ihn ein hinterhältiges Arschloch und verlangte das Geld zurück, das das Kombinat für den Bau der Kirche gespendet hatte. 

    „Remisow sagte, dass ich es bereuen werde, und dass er mir das nie verzeiht“, erinnert sich Platonow. „Er forderte, dass ich das Video aus dem Netz nehme. Stattdessen habe ich seine Drohungen veröffentlicht.“ 

    Später erzählten ihm Bekannte, dass ihn an seiner neuen Wohnung gewisse Leute gesucht hätten. Er musste mit einer fremden SIM-Karte leben und in Jerewan ständig umziehen. „Drei Monate habe ich in Armenien gelebt“, sagt der Priester. „Dann bin ich zurückgekehrt, weil ich kein Geld mehr hatte und meine Mutter krank geworden war. Mir war aber klar, dass ich nicht lange bleiben konnte. Schon am Flughafen hielten sie mich zwei Stunden lang fest. Sie veranstalteten eine zusätzliche, strengere Überprüfung, fragten: ‚Warum bist du zurückgekommen?‘…“ 

    Doch auch in Russland hörte er nicht damit auf, Videos gegen den Krieg aufzunehmen und seine Haltung öffentlich zu äußern. Er wurde nun beschattet. Unbekannte folgten dem Priester und fotografierten ihn aus einem Auto heraus, wenn er ans Fenster trat. 

    „Ich habe mir eine Wohnung genommen und bin praktisch nicht mehr auf die Straße gegangen. Egal, in welches Geschäft ich ging, immer wurde ich ‚begleitet‘ “, erzählt er. „Menschenrechtler, die ich kenne, sagten mir, das sei ein Anzeichen dafür, dass ich bald verhaftet werde. Ich bereitete mich innerlich auf das Gefängnis vor, weil in Russland für ähnliche Äußerungen schon andere Priester verurteilt wurden. Es gab aber auch jene, die mich überredeten, nicht zu warten, bis ich eingesperrt werde.“ 

    „Die Menschen konnten überhaupt nicht verstehen, was das für einer ist: ein Priester, der den Krieg ablehnt… Das gibt’s doch gar nicht!“ 

    Nikolai Platonow war der erste Schützling der neuen Organisation Mir Vsem [dt. „Friede für alle“ oder auch „Der Friede sei mit euch“]. Sie entstand im Oktober 2023 und hilft Dienern der Kirche, die wegen ihrer Ansichten verfolgt werden oder schlichtweg die Ideologie des Staates nicht teilen. Das Projekt wurde von drei Männern und einer Frau gegründet: den Priestern Andrej Kordotschkin und Walerian Dunin-Barkowski, dem Musiker Pawel Fachrtdinow und der Journalistin Swetlana Neplich-Tomas. 

    „Die Menschen konnten überhaupt nicht verstehen, was das für einer ist: ein Priester, der den Krieg ablehnt… Das gibt’s doch gar nicht! Also mussten wir aller Welt erklären: Doch, das kann sehr wohl sein!“, erklärt Dunin-Barkowski. 

    Vater Walerian Dunin-Barkowski spendet während eines Gottesdienstes der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf die Heilige Kommunion / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian Dunin-Barkowski spendet während eines Gottesdienstes der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf die Heilige Kommunion / Foto © Vadim Braydov

    Vater Walerian dient als Priester in einer Düsseldorfer Kirche des Erzbistums der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition in Westeuropa. Vor Empfang der Priesterwürde war er Mitglied einer Menschenrechtsorganisation, die unter anderem Aktivisten half, humanitäre Visa zu erlangen. 

    „2023 sprach mich eine der Leiterinnen dieser NGO an: ‚Wir haben da einen Priester und wissen nicht, was wir mit dem machen sollen. Es gibt Stiftungen, die Journalisten, Aktivisten und Künstlern helfen. Aber was sollen wir mit euren Popen tun? Sie sind doch einer, kümmern Sie sich bitte darum‘…“ erinnert sich Walerian. Der Priester, um den es ging, war Nikolai Platonow. 

    Nach diesem Gespräch begann Vater Walerian, Aktivisten zu suchen, die russischen Priestern helfen. Es stellte sich jedoch heraus: Das tut niemand.“

    Vater Walerian schwenkt in seiner privaten Kapelle das Weihrauchfass / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian schwenkt in seiner privaten Kapelle das Weihrauchfass / Foto © Vadim Braydov

    „Der Krieg, die Morde, die Besetzung fremden Landes – Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Menschen erklären muss, dass das etwas Böses ist“ 

    Vater Nikolai Platonow, mit dem die Geschichte von Mir Vsem begann, erhielt kürzlich in Frankreich politisches Asyl, wurde wieder in die Priesterwürde erhoben und möchte jetzt seinen Dienst in der Kirche fortsetzen. Er ist jetzt Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine.

    „Ich war der Meinung und bin es weiterhin, dass es meine pastorale Pflicht ist, meine Haltung deutlich zu machen“, sagt er. „Es ist unsere Pflicht, dem Bösen offen entgegenzutreten. Denn wie sagte Maximus Confessor doch: ‚Über die Wahrheit zu schweigen kommt ihrer Leugnung gleich.‘ Der Krieg, die Morde, die Besetzung fremden Landes – Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Menschen erklären muss, dass das etwas Böses ist.“ 

    Es gibt aber auch andere Geschichten bei Mir Vsem – allerdings mit tragischem Ausgang: Sie haben mit den besetzten Gebieten der Ukraine zu tun. Vater Feognost Puschkow ist ein Priester der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) aus dem Ort Markiwka in der Oblast Luhansk, das 2022 von den russischen Streitkräften besetzt wurde. Die Hilfe des Projektes hat er ausgeschlagen. Er ist seit 2014 offen gegen die russische Invasion in die Ukraine aufgetreten. Er unterhält einen Blog und einen YouTube-Kanal.  

    Am 20. Juni schrieb er auf seinem Telegram-Kanal: „Mir geht es miserabel, Zittern und Husten in der Brust. Habe eine Tablette gegen meinen Blutdruck genommen. Die Polizei hat mich vorgeladen…“. 

    Fast sieben Stunden später ein weiterer Post: „Ich bin im Krankenwagen. Die wollen mich in der Polizei einsperren… Ich steh zwischen Leben und Tod… Helft, wer kann. Meine Mutter überlebt das nicht! Es bleibt mir nur Selbstmord…“ 

    Seitdem schweigt sein Kanal.

    Vater Feognost Puschkow / Foto ©: Telegram-Kanal „Stein, den die Bauleute verworfen haben

    „Man hätte ihn natürlich sofort da rausholen müssen“, sagt Vater Walerian niedergeschlagen. „Die Polizeibehörden [der „Volksrepublik Luhansk“] haben ihn geschnappt, zwei Wochen schon gibt es keinerlei Nachricht von ihm, und wir haben keine Ahnung, wo er ist. So etwas passiert in den besetzten Gebieten; dort herrscht völlige Gesetzlosigkeit. Wir hätten ihm gern geholfen, aber jetzt bleibt uns nichts anderes mehr übrig, als die gesamte zivilisierte Welt auf die Situation aufmerksam zu machen. Er hat nur noch seine bettlägerige Mutter, die er als einziger pflegte. Was mit der wird, wissen wir nicht. Die Situation ist mehr als fürchterlich.“ 

    „Wenn der Priester zu einem Beamten und zu einem Teil der Staatsmaschine wird, dann stimmt etwas nicht“ 

    Ich kenne noch einen anderen Priester, der war früher fast schon das Klischee von einem Popen: ein rundlicher, gütiger Vater. Er hat 50 Kilo abgenommen, während er im Keller saß. Weil der einzige Ort, wo man sich vor den Bombenangriffen verstecken konnte, der Kirchenkeller war. Ein Jahr hat er dort verbracht, jetzt ist er dünn wie ein vertrockneter Stängel, nur die Augen sind noch so groß wie früher. Er war wie der Priester aus dem Märchen über den Popen und seinen Arbeiter Balda; jetzt wirkt er wie ein fastender Mönch aus den Heiligenbüchern. Er hat sehr vielen Menschen geholfen. Er hat den Keller nicht verlassen, ging nicht nach draußen, kümmerte sich um die Kranken, weil er rund um die Uhr seinen Dienst versah.“ 

    Vater Walerian Dunin-Barkowski ist studierter Physiker, war früher Musiker und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Seelsorger als IT-ler. Er sagt, dass es in Westeuropa nicht üblich ist, sein Geld ausschließlich durch den Dienst als Priester zu verdienen. Alle Priester haben auch noch eine weltliche Arbeit: „Das ist im Christentum nichts Neues: Der Apostel Paulus hat ebenfalls gearbeitet. Es ist eher so, dass das System nicht stimmt, wenn der Priester zu einem Beamten und zu einem Teil der Staatsmaschine wird.“ 

    Vater Walerian Dunin-Barkowski beim Gebet in seiner Kapelle / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian Dunin-Barkowski beim Gebet in seiner Kapelle / Foto © Vadim Braydov

    Ihm zufolge gibt es unter Physikern viele Gläubige, auch solche, die in den Priesterstand eingetreten sind. Weil der Mensch, „wenn er die Welt zutiefst ergründet, früher oder später versteht, dass sie mit physikalischen Gesetzen allein nicht gänzlich beschrieben werden kann. Und dass das geistliche Leben in diesem Sinne nicht nur an die Geisteswissenschaften grenzt, sondern auch an die Physik und die Biologie.“ Auch unter den Unterstützten von Mir Vsem gibt es einen Priester, der Astronom ist. 

    „Der Beginn des Krieges war ein tiefer Schock – nicht nur für unsere ukrainischen Gemeindemitglieder, sondern auch für die russischen“ 

    Vater Walerian ist mit seiner Familie vor sechs Jahren nach Deutschland gekommen, aus politischen Gründen: „Mein Sohn war in der Organisation von Alexej Nawalny aktiv“, erzählt er. Unsere ganze Familie hat Alexej Anatoljewitsch Nawalny unterstützt. Ich habe viele Bekannte in Nawalnys Stiftung zur Korruptionsbekämpfung und war Freiwilliger in einem seiner Stäbe. 2018 drohten sie meinem Sohn, meiner Frau und mir selbst mit Strafverfahren. Da wurde uns klar, dass wir gehen müssen.“ 

    Auch Andrej Kordotschkin lebt jetzt in Deutschland. Er hat einen Bachelor in Theologie an der Universität Oxford gemacht und einen Magister im gleichen Fach an der Universität London. Nach 2002 wurde er Priester und diente als Vorsteher einer Gemeinde der Russisch-Orthodoxen Kirche in Madrid. Die Gemeinde war klein und national sehr gemischt; die meisten waren Ukrainer. Im Laufe von zwanzig Jahren wurde eine Kirche gebaut; die Gemeinde ist gewachsen. 

    Vater Andrej Kordotschkin in einem T-Shirt der russischen Rockband DDT. Er betreut jetzt eine kleine Gemeinde in Tilburg in den Niederlanden, die von Gläubigen verschiedener Nationalitäten besucht wird / Foto © Vadim Braydov
    Vater Andrej Kordotschkin in einem T-Shirt der russischen Rockband DDT. Er betreut jetzt eine kleine Gemeinde in Tilburg in den Niederlanden, die von Gläubigen verschiedener Nationalitäten besucht wird / Foto © Vadim Braydov

    „Der Beginn des Krieges war ein tiefer Schock – nicht nur für unsere ukrainischen Gemeindemitglieder, sondern auch für die russischen“, erinnert sich Kordotschkin. „Im Laufe der ersten Tage und Wochen wurde klar, dass es nicht nur um einen Einmarsch auf das Territorium eines anderen Staates geht, sondern auch um tiefgreifende und schnelle Veränderungen auf dem Gebiet Russlands. Die Gesetze wurden zielstrebig verändert und machten jetzt praktisch jede kritische Haltung zum militärischen Vorgehen zu einem Verbrechen. 

    Auch in meiner Gemeinde kam es zu einer Spaltung. Allerdings verlief die nicht nach nationaler Zugehörigkeit. Sie war sehr viel tiefgehender und komplexer: Es gab in unserer Gemeinde Ukrainer, die die russische Regierung unterstützten. Und es gab auch eine Reihe von Russen, die nicht für den Einmarsch waren.“ 

    Nicht nur in Russland werden Priester verfolgt. Es gibt auch im Ausland Gemeinden, die dem Moskauer Patriarchat unterstellt sind 

    Nach Informationen der Zeitung Nowaja Gazeta Europe haben seit dem 24. Februar 2022 bis zum Mai dieses Jahres 59 Priester wegen ihrer Haltung gegen den Krieg Repressionen von Seiten der Russisch-Orthodoxen Kirche oder des Staates erlitten. Und diese Zahl wächst. Von Seiten der Kirche wurde den Priestern untersagt, den Gottesdienst zu feiern, sie wurden ihrer Priesterwürde enthoben und aus den Reihen der Kirche entfernt. Von Seiten des Staates wurden ihnen wegen „Diskreditierung“ der Armee Geldstrafen auferlegt oder Strafverfahren gegen sie eröffnet. Priester wurden nicht nur in Russland verfolgt: Es gibt auch im Ausland Bistümer und Gemeinden der Russisch-Orthodoxen Kirche, die dem Moskauer Patriarchat unterstellt sind.  

    Vater Andrej hat zwanzig Jahre in der Kirche der Heiligen Maria Magdalena in Madrid gedient. Im Februar 2023 wurde ihm für drei Monate untersagt, Gottesdienste zu zelebrieren. Und im Herbst reichte Kordotschkin dann ein Gesuch über die Entlassung aus dem Dienst ein. 

    „Da ich nach Beginn des russisch-ukrainischen Krieges öffentlich auf eine Art Stellung bezogen habe, die mit der von der russischen Regierung verkündeten Position unvereinbar war, musste ich meine Gemeinde in Spanien Ende letzten Jahres verlassen“, berichtet er. 

    Jetzt befindet sich Vater Andrej nicht mehr unter der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats, sondern unter der des Patriarchen von Konstantinopel. Seine Gemeinde befindet sich in den Niederlanden. 

    „Das Jüngste Gericht erwartet jeden“ 

    Gottesdienst der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf. Die Gemeinde ist in der katholischen Sankt Josephskapelle im Stadtzentrum untergekommen / Foto © Vadim Braydov
    Gottesdienst der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf. Die Gemeinde ist in der katholischen Sankt Josephskapelle im Stadtzentrum untergekommen / Foto © Vadim Braydov

    „Das Jüngste Gericht erwartet jeden. Keine irdische Macht, kein Arzt, kein Wächter bewahrt vor diesem Gericht. In der Sorge um die Rettung jedes Menschen, der sich als Kind der Russisch–Orthodoxen Kirche begreift, wünschen wir nicht, dass jemand vor dieses Gericht tritt und mit einem mütterlichen Fluch belastet ist. Wir erinnern daran, dass das Blut Jesu Christi, das der Erlöser für das Leben der Welt vergoss, im Sakrament der Eucharistie von jenen, die mörderische Befehle erteilen, nicht zum Leben, sondern zu ewiger Pein empfangen wird. Wir sind in Trauer um die Prüfungen, denen unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine ohne Schuld unterzogen werden.“ 

    Das ist ein Auszug aus einem offenen Brief russisch-orthodoxer Priester „mit einem Aufruf zur Versöhnung und Beendigung des Krieges“. Initiiert wurde der bereits am 1. März 2022 veröffentlichte Brief von Andrej Kordotschkin. Bis heute haben ihn 293 Geistliche unterzeichnet, auch Vater Walerian. 

    „Was soll man mit Menschen tun, die die Fakten leugnen? Für sie beten, weil sie fehl gegangen sind und der Lüge folgen“ 

    „Ganz zu Beginn haben wir noch nicht verstanden, was vor sich geht. Es gab ja keine massenhafte Verfolgung von Priestern“, sagt er. „Dass wegen der Haltung gegen den Krieg Verbote ausgesprochen werden, Gottesdienst zu feiern oder die Priesterwürde entzogen wird, hatte noch nicht begonnen. Das begann alles 2023. Anfangs gab es spontanen Protest von Priestern, die sagten, dass der Krieg den Geboten, der Heiligen Schrift und dem Willen Gottes widerspreche. Es sei Frevel und Gotteslästerung, den Krieg mit geistlichen Begründungen zu rechtfertigen. Es gibt Menschen, die einen Krieg begonnen haben, und es gibt einen Staat, der den Krieg entfesselt hat. Es gibt Fakten, die das belegen. Was soll man mit Menschen tun, die die Fakten leugnen? Für sie beten, weil sie fehl gegangen sind und der Lüge folgen.“ 

    Einige russische Priester predigen aggressiv den Krieg. Andrej Tkatschow zum Beispiel, der von einem heiligen Krieg spricht und sagt, wenn es den Krieg nicht geben würde, „wären wir alle zugrunde gegangen“. Oder Artemij Wladimirow, der im Fernsehsender Sojus von einer „wundersamen Heilung“ eines chinesischen Soldaten im Krieg erzählt, wo seinen Worten zufolge „der Chinese und seine Familie den orthodoxen Glauben annahmen und Jünger der Russisch-Orthodoxen Kirche wurden.“ 

    „Es gibt aber auch das direkte Gegenteil“, sagt Vater Walerian: „Menschen, die ihrem Bekenntnis folgen und offen ihre Haltung gegen den Krieg kundtun. Sie gehen praktisch den Weg des Kreuzes und der Leiden. Es gibt viele Menschen, die fernab in den Regionen der Kirche dienen, etwa einer meiner Freunde. Er unterstützte nicht den Krieg und hat keinerlei Illusionen. Er ist mit Ukrainern befreundet und will das auch bleiben. Allerdings ist er noch nicht so weit, sich heldenhaft zu bekennen. Ihm ist klar, dass er dort, wo er sich jetzt befindet, mit seinen Möglichkeiten helfen kann und wird daher nicht in eine offene Konfrontation gehen. 

    Er verliest zwar das Gebet über die Heilige Rus. Er versucht aber, in seinen Predigten nicht über Politik zu sprechen und niemanden zu etwas aufzurufen. Menschen wie diesen Freund kann ich nicht verurteilen. Das steht mir nicht zu, schließlich befinde ich mich in Sicherheit. Ich weiß, dass es in seinem Herzen kein Hass gegen die Ukraine und die Ukrainer gibt. Es stimmt, aus geistlicher Sicht sollte er das Gebet nicht lesen. Ich hoffe aber, dass der Herrgott ihm verzeiht.“ 

    „Wir legen Zeugnis davon ab, dass sich nicht alle dem Teufel verschrieben haben“ 

    Vater Walerian und Vater Andrej feiern regelmäßig den Gottesdienst in ihrem Düsseldorfer Exil in der St. Josephskapelle / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian und Vater Andrej feiern regelmäßig den Gottesdienst in ihrem Düsseldorfer Exil in der St. Josephskapelle / Foto © Vadim Braydov

    Die Gründer des Projekts Mir Vsem sammeln über die Plattform Saodno (dt.: Gemeinsam) Mittel für die Priester und helfen bei der Erlangung europäischer Visa für diejenigen, die das Land verlassen wollen. Diese sind, den Worten der Priester zufolge, jedoch in der Minderheit. Mit Erlaubnis der Priester werden ihre Geschichten auf der Internetseite von Mir Vsem veröffentlicht, in der Rubrik Bekenner

    „Einigen ist es sehr wichtig, dass ihre Haltung gegen den Krieg öffentlich wird“, sagt Vater Walerian Dunin-Barkowski. „Wir veröffentlichen ihre Beiträge, wir geben ihnen eine Stimme. Unter jedem unserer Videos und Posts schreiben die Leute: ‚Wir haben ja nicht gewusst, dass es noch eine Geistlichkeit gibt, die den christlichen Prinzipien treu ist.‘ 

    Für uns ist es eine existenzielle Frage: Wir legen Zeugnis davon ab, dass sich nicht alle dem Teufel verschrieben haben, sondern in diesen schweren Zeiten weiterhin ihren Glauben predigen. Für uns ist wichtig, dass diese Flamme in ihnen nicht erlischt, dass sie ihrerseits Menschen inspirieren, ihre Gemeinde, die sie nicht im Stich lässt. Dadurch bewahren wir dieses Licht des Friedens und der christlichen Liebe.“ 

    Vater Wadim Perminow ist 48 Jahre alt. 27 Jahre schon trägt er die Robe. Er hat das Priesterseminar Tomsk absolviert. Nach der Schule hat er eine Weile als Tischler gearbeitet, bevor er dort eintrat. Wadim war Vorsteher einer orthodoxen Kirche in Kuibyschew (Oblast Nowosibirsk). Er ist einer der Priester, die sich weigerten, das Gebet über die Heilige Rus zu verlesen. Am 3. Juli wurde bekannt, dass ihm der Gottesdienst untersagt wurde. 

    „Im März 2022 erging aus dem Patriarchat die Anordnung an alle Gemeinden über die verpflichtende Verlesung des Gebets über die Wiederherstellung des Friedens während der Gottesdienste, und wir haben gebetet“, erzählt er. „Und bereits im September ersetzte der Patriarch Kirill es durch das Gebet über die Heilige Rus. Im ersten Gebet wurde Frieden erbeten, im zweiten jedoch der Sieg.“ 

    „Es ist unchristlich, vom Herrgott den Sieg in einem Bruderkrieg zu erbitten. Das wäre so, als ob Kain Gott um Hilfe bittet, während er dabei ist, seinen Bruder Abel zu erschlagen“ 

    Den Worten des Priesters zufolge wussten die Gemeindemitglieder praktisch nichts über das neue Gebet, einige vermuteten allerdings etwas. Es gab ja Meldungen, dass Priester wegen ihrer Haltung gegen den Krieg ihrer Priesterwürde enthoben wurden. Einmal kamen Angehörige russischer Soldaten zu ihm und baten, dass regelmäßig für diese gebetet werde. Perminow war einverstanden, wandte aber ein, dass das kein Gebet für den Sieg der einen und die Niederlage der anderen sein werde. Vielmehr werde es um die schnellstmögliche Rückkehr der Soldaten zu ihren Familien und die Genesung der Verwundeten gehen. 

    „Es ist unchristlich, vom Herrgott den Sieg in einem Bruderkrieg zu erbitten. Das wäre so, als ob Kain Gott um Hilfe bittet, während er dabei ist, seinen Bruder Abel zu erschlagen“, erklärt er. „Die Laien haben auf das Geschehen überwiegend so reagiert, wie es ihnen der Fernseher eintrichterte. Der ist hier stärker gewesen als das Evangelium. Ich habe nicht versucht, jemanden umzustimmen. Psychologen sagen, dass das nicht möglich ist, wenn jemand durch Propaganda vergiftet ist und weiter damit gefüttert wird. Das wäre genau so, als wolle man einem nichtgläubigen Menschen beweisen, dass es Gott gibt.“ 

    Vater Wadim glaubt, dass irgendjemand aus der Gemeinde ihn denunziert hat. Als das Bistum im Frühjahr einen neuen Bischof bekam, lud dieser den Priester zum Gespräch vor. Perminow zufolge sei der Bischof dabei laut geworden und habe „merkwürdige Fragen“ gestellt: Warum er und seine ältesten Söhne nicht in der Armee gedient hätten? Warum seine Eltern keine echten, vollwertigen Kirchgänger seien, wo doch die Familie von der Gemeinde einen Unterhalt erhält, der über dem Existenzminimum liege? Warum er das Gebet des Patriarchen über den Sieg nicht verlese? Und schließlich, ob er gleichgeschlechtliche Ehen unterstütze? 

    Vater Wadim Perminow will seine Heimat nicht verlassen. In seiner Gemeinde in Kuibyschew in Sibirien darf er nicht mehr Gottesdienst feiern / Foto: istories, YouTube
    Vater Wadim Perminow will seine Heimat nicht verlassen. In seiner Gemeinde in Kuibyschew in Sibirien darf er nicht mehr Gottesdienst feiern / Foto: istories, YouTube

    „Es wurde mir verboten, Gottesdienste abzuhalten, den Segen zu spenden und das Kreuz zu tragen. Mehr ist ihnen wohl nicht eingefallen“ 

    „Zu meinen Argumenten, dass der Unterhalt eines Priesters nach der Anzahl der zu versorgenden Familienmitglieder berechnet wird, lachte er mir nur ins Gesicht“, erinnert sich Vater Wadim. „Auf jedes Familienmitglied entfallen rund 25.000 Rubel, das ist etwas mehr als das Existenzminimum in der Oblast Nowosibirsk. Der Bischof hielt das für ungerechtfertigten Luxus.“ 

    Es kam der Moment, dass Perminow auf Druck des Bischofs einfach den Mund hielt. Nach dem Gespräch wurde er in ein Dorf versetzt. Dann schrieb der Priester eine offizielle Weigerung, „für den Sieg in einem Bruderkrieg zwischen orthodoxen Christen zu beten“. 

    „Als ich der Metropolie Nowosibirsk und dem Patriarchat die offizielle Weigerung schrieb, dieses verfehlte Gebet des Patriarchen zu verlesen, fuhr ich noch weiterhin in die neue Gemeinde. Und dann trat der Diözesenrat des Bistums zusammen. Ich war beim Rat nicht dabei, da ist mir die Gesundheit wichtiger… Dort wurde ich freigestellt, es wurde mir verboten, Gottesdienste abzuhalten, den Segen zu spenden und das Kreuz zu tragen. Mehr ist ihnen wohl nicht eingefallen“, sagt er. 

    Im Bistum erklärte man, dass Perminow der Gottesdienst verboten wurde, weil er „seine Vollmachten als Kirchenvorsteher missbraucht“ und „einen unberechtigt großen Unterhalt“ bezogen habe. Weiter hieß es: „Ja, es gab einen Moment, dass Besucher der Kirche sich zu Wort meldeten, weil Vater Wadim das Gebet über die Heilige Rus nicht gelesen hat. Es gab Äußerungen von ihm, die sich gegen die ‚militärische Spezialoperation‘ richteten. Das war aber nur eine der Fragen. Nicht die wichtigste.“ 

    Im Text des Erlasses über das Gottesdienstverbot für Vater Wadim ist weder von Unterhalt noch von Missbrauch der Vollmachten die Rede: „Sie werden von den Pflichten des Vorstehers der Kirche des Heiligen Sergius von Radonesh im Dorf Ubinskoje (Oblast Nowosibirsk) entbunden, aus den Reihen des Bistums entlassen, und Ihnen wird die Feier der Heiligen Liturgie untersagt, weil Sie sich geweigert haben, den kanonisch festgelegten Gottesdienst zu halten und die Pflichten eines Kirchenvorstehers zu erfüllen.“ 

    „Üblicherweise wird in derartigen Erlassen nicht als Grund genannt, dass das Gebet über die Heilige Rus nicht gelesen wurde. Es wird auf mangelnden Gehorsam gegenüber der kirchlichen Obrigkeit oder disziplinarische Gründe verwiesen“, sagt Perminow. „Im Erlass über die Versetzung in eine dörfliche Gemeinde wurde überhaupt kein Grund genannt; einfach eine Versetzung ohne Angabe von Gründen. 

    Im Dorf Ubinskoje [wo sich die neue Gemeinde befand] habe ich den Unterhalt nur einmal erhalten: 30.000 Rubel für die ganze Familie. Eine entlegene dörfliche Gemeinde ist nicht in der Lage, eine Familie mit mehreren Kindern mit finanziellem Unterhalt zu versorgen. Daher konnte ich an Werktagen die Kirche nicht aufsuchen und versuchte in der Stadt, in einem weltlichen Beruf Geld zu verdienen. Ich habe mich nicht geweigert, Gottesdienste abzuhalten, wie dort geschrieben steht. Wir haben zusammen mit den Gemeindemitgliedern gebetet, die heiligen Gaben empfangen, Oblaten backen gelernt. Ich habe getauft, Trauermessen gelesen, die Strafkolonie besucht.“ 

    „Solidarität gibt genauso viel Kraft wie das Gebet“ 

    Wie Vater Walerian berichtet, verlieren die meisten Priester, die mit Verboten belegt sind, ihren Lebensunterhalt. Die Mehrheit von ihnen braucht Zeit, einen neuen Beruf zu erwerben und ein weltliches Leben zu beginnen. In dieser Phase hilft Mir Vsem. So geschah es auch mit Wadim Perminow. 

    „Auf der Internetseite von Mir Vsem gab es einen Artikel über einen mit Verboten belegten Priester; da habe ich in den Kommentaren geschrieben: ‚Mich hat man gestern auch entlassen und unter Verbot gestellt‘ “, erzählt Wadim darüber, wie er das Projekt kennenlernte. „Vater Andrej Kordotschkin bat mich in seiner Antwort, meine Geschichte zu erzählen. Auch Vater Walerian schrieb mir, der Mitbegründer der Organisation. Daraufhin hatte ich etwa 400 neue Abonnenten auf meinem Telegram-Kanal. Ich hatte noch nie derartige Worte der Unterstützung gehört. Eine solche Solidarität gibt genauso viel Kraft wie ein Gebet. Ich habe ein wenig finanzielle Unterstützung bekommen, weswegen mich die ‚Patrioten‘ schon des Verrats und der Käuflichkeit beschuldigt haben.“ 

    Vater Walerian meint, das größte Problem seien jene, die Priester, die gegen den Krieg sind, denunzieren: „Das Umfeld ist das Problem: Gibt es dort einen Judas, einen Verräter, oder nicht? In dieser Hinsicht hat sich seit 2000 Jahren nichts geändert.“ 

    Vater Andrej Kordotschkin hat die Organisation Mir Vsem gegründet, weil es sonst niemand gab, der Priester unterstützte, die von ihrer Kirche verstoßen wurden / Foto © Vadim Braydov
    Vater Andrej Kordotschkin hat die Organisation Mir Vsem gegründet, weil es sonst niemand gab, der Priester unterstützte, die von ihrer Kirche verstoßen wurden / Foto © Vadim Braydov

    Von offiziellen Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche erhalten die gegen den Krieg eingestellten Priester keine Unterstützung. Nach dem offenen Brief erklärte Wachtang Kipischidse, der stellvertretende Vorsitzende der Abteilung des Moskauer Patriarchats für die Beziehungen der Kirche zur Gesellschaft und den Medien, dass in dem Schreiben mit dem Aufruf eine Gefahr enthalten sei, weil die Unterzeichner versuchen, „Konflikte zu schüren“. 

    „Die Kirche wird nicht Teil einer politischen Opposition werden, weil sie jenseits der Politik steht. Sie befindet sich auf der Seite des Volkes, sie befindet sich auf der Seite jener, denen sie ihre pastorale Fürsorge gewähren muss. Und unter diesen Menschen stehen Militärangehörige nicht an letzter Stelle“, erklärte er. 

    „Wenn gesagt wird, die Popen mischen sich in die Politik ein, ist das oft ein schlecht maskierter Versuch, den Menschen den Mund zu verbieten.“ 

    Vater Andrej Kordotschkin widerspricht dem: „Die Kirche ist keine Partei, wo die da oben im Namen der da unten sprechen. In ihr haben alle eine Stimme: Priester wie Laien, und auch jene Leute, deren Ansichten von der offiziellen Position abweichen. Es gibt die verbreitete Ansicht, dass die Kirche sich nicht in die Politik einmischen dürfe.  

    Wenn wir von Politik als Kampf um die Macht sprechen, so kann die Kirche in diesem Spiel natürlich nicht als Akteur auftreten. Wenn wir aber von Politik als aktiver Beteiligung am Leben des Landes sprechen, und von der Kirche nicht nur als einer administrativen Struktur, sondern einer Gemeinschaft von Menschen, so gibt es keinerlei Grund, warum die Menschen nicht am Leben ihres Landes teilhaben sollen. Wenn gesagt wird, die Popen mischen sich in die Politik ein, ist das oft ein schlecht maskierter Versuch, den Menschen den Mund zu verbieten.“ 

    In der Kirche sollten alle eine Stimme haben, Priester wie Laien, findet Vater Andrej / Foto © Vadim Braydov
    In der Kirche sollten alle eine Stimme haben, Priester wie Laien, findet Vater Andrej / Foto © Vadim Braydov

    Der Priester meint, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche bereits gespalten sei. Es gebe dort keine „totale Unterstützung für die Diktatur und den Krieg, obwohl der offizielle Diskurs mit dem des Staates übereinstimmt.“ Das werde längst nicht von allen Laien und Priestern geteilt. Eines der Ziele des Projektes Mir Vsem bestehe darin, das zu zeigen. Damit nicht nur die bekannten, öffentlich auftretenden Priester zu Wort kommen, sondern auch jene fernab in den Regionen. Allerdings bitten viele von ihnen, da sie sich weiterhin in Russland befinden, dass ihre Namen und Lebensgeschichten nicht genannt werden. Sie wollen nicht unter noch größeren Druck von Seiten kirchlicher oder staatlicher Institutionen geraten. 

    „Ich bin von der Standhaftigkeit derjenigen beeindruckt, die uns aus abgelegenen Regionen schreiben“, sagt Andrej Kordotschkin. „Diese Menschen können nicht mit Medienpräsenz und damit auch nicht auf größere Unterstützung rechnen. Joseph Brodsky erinnerte sich, wie er im Zug in ein Dorf bei Archangelsk unterwegs war, wohin er wegen ‚Schmarotzertums‘ verschickt wurde. Dabei traf er einen Menschen, der mit ihm verlegt wurde. Das war ein Bauer, der wegen einer Nichtigkeit verurteilt worden war. Brodsky schreibt, dass niemand dessen Namen kannte und deshalb niemand ihm je helfen konnte. 

    Für einen Priester in der Provinz ist es schwierig, für sich und seine Familie eine andere Unterhaltsquelle zu finden. Und es sind Menschen, die oft nicht zu einer Emigration bereit sind. Sie haben eine große Familie, viele Kinder, und sie können sich nicht so recht vorstellen, in einem anderen Land zu leben. Ihr Mut begeistert mich. Diesen Leuten helfen wir über die Plattform Saodno.“ 

    Die Organisation ist jetzt dabei, sich als juristische Person in Deutschland registrieren zu lassen. Die Gesprächspartner von OVD-Info berichten, dass keiner der Gründer der Organisation Geld für seine Arbeit bekommt, und dass das Projekt in dieser Zeit auch keine Fördermittel erhielt. Es lebt von privaten Spenden. 

    Eine vertraute Hierarchie 

    „Es hat sich herausgestellt, dass der Fernseher stärker ist als das Evangelium“, sagt Vater Wadim Perminow resigniert. In der St. Nikolaus-Gemeinde in Düsseldorf hat die Heilige Schrift noch Wirkung / Foto © Vadim Braydov
    „Es hat sich herausgestellt, dass der Fernseher stärker ist als das Evangelium“, sagt Vater Wadim Perminow resigniert. In der St. Nikolaus-Gemeinde in Düsseldorf hat die Heilige Schrift noch Wirkung / Foto © Vadim Braydov

    „Leider kamen in den 2000er Jahren, als die Personalstärke der Streitkräfte zurückgefahren wurden, kamen viele ehemalige Offiziere des Militärs zur Kirche“, erzählt Walerian. Die haben ein System des Gehorsams verinnerlicht: Was der Chef sagt, das ist richtig. Die sind nur sehr schwer von etwas anderem zu überzeugen: Der Patriarch sagt, man müsse für den Krieg sein, also sind sie für den Krieg. Für sie ist das eine vertraute Hierarchie: Es gibt Generäle und den Oberkommandierenden. Ich kenne viele Priester, die ehemalige Militärs sind. Viele von ihnen unterstützen tatsächlich die „militärische Spezialoperation“ und „unsere Jungs“. Das ist für sie ganz selbstverständlich. Nur haben sie übersehen, dass das absolut dem Evangelium widerspricht.“ 

    Andrej Kordotschkin erinnern die Repressionen im heutigen Russland zum Teil an die Situation in der Sowjetunion: „Erinnern wir uns nur an markante Figuren wie Vater Alexandr Men: Wenn die Menschen damals nicht zu Protesten auf die Straße gingen, bedeutete das absolut nicht, dass sie den Diskurs teilten, unter dem sie sich befanden. Der kirchliche Untergrund, den es in der UdSSR gab, den gibt es auch jetzt. Es ist noch nicht genug Zeit vergangen, um zu vergessen, wie man das macht.“ 

    Vater Wadim Perminow, dem Mir Vsem seit kurzem hilft, hat bereits angefangen, eine Umschulung zu machen. Nachdem er in das Dorf kam, hat er werktags Arbeit gesucht. Sonntags fuhr er über hundert Kilometer mit dem Auto seines Vaters zu den Gottesdiensten. Seine Familie hat kein eigenes. So ging es bis zum Verbot. Die Familie hat fünf Kinder. Sie haben nicht vor, das Land zu verlassen. 

    „Ob ich mich vor 2022 mit dem politischen Geschehen beschäftigt habe? Natürlich!“, sagt er. „Ich war Anhänger von Solowjow, Kisseljow und Skabejewa. Ich habe keine einzige Sendung verpasst. Als ich aber dann mal einen Recherchefilm von Alexej Nawalny sah, habe ich den Fernseher für immer ausgeschaltet. 

    Ich erinnere mich an die Meldung, dass russische Truppen die Grenze zur Ukraine überschritten haben. Das konnte ich für mich im Kopf nicht klarkriegen, habe aber geschwiegen. Mein Schweigen war nicht mit Angst verknüpft. Die ganze Zeit versuchte ich, die Informationen zu verarbeiten, war Beobachter. Mit den Gemeindemitgliedern habe ich das nicht diskutiert und vom in meinen Predigten bat ich nur um eines, nämlich den Fernseher auszuschalten. Weil die Gemeindemitglieder über eine unerklärliche Gereiztheit und Schlafstörungen klagten.“ 

    Von den Priestern haben nur drei angerufen und ihn unterstützt. Sein geistlicher Vater war nicht dabei. Perminow führt weiter seinen Telegram-Kanal Kainsker Pavillon

    „Die Gemeindemitglieder verhalten sich wie immer und überall. Sie werden laut, sie klagen, und dann gewöhnen sie sich an alles. Auf die Frage ‚Wie geht’s?“ würde ich mit einer Zeile von Puschkin antworten: ‚Mir ist so schwer und leicht ums Herz, licht ist mein Schmerz‘.“

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  • Hass im Donbas

    Hass im Donbas

    Dieses Warum beschäftigt mindestens Europa seit mehr als zehn Jahren: Warum haben russische Propaganda, Geld und Waffen in den ukrainischen Donbas-Regionen Donezk und Luhansk so viel stärker verfangen als in anderen Gebieten? Es kann nicht nur an der russischen Sprache oder dem früher hohen Anteil der sich als Russen identifizierenden Menschen liegen, betonen ukrainische Wissenschaftler und Publizisten. Denn dies trifft auch auf Teile der Regionen Odesa, Charkiw und Saporischschja zu.  

    Vielmehr sei schon der Begriff eines vermeintlich homogenen Donbas’ ein Teil der (pro-)russischen Propaganda, während die gesamte Region vielfältiger sei, sich im ländlichen Raum viel mehr ukrainische Traditionen und Sprache sowie Minderheiten wie etwa die griechische Gemeinschaft fänden. Das Warum-im-Donbas erklären sie mit einer besonders aggressiven Propaganda, die eine laute Minderheit zum Volkswillen erhebt.  

    Wie sich das genau entwickelt hat, skizziert auch Konstantin Skorkin: In seinem Artikel für die russischsprachige Ausgabe von The Moscow Times beschreibt er die Ursprünge und Entwicklungsstufen der russischen Einmischung in die politische Entwicklung der ostukrainischen Regionen bis zum Beginn des Kriegs 2014. Der Journalist Skorkin stammt selbst aus Luhansk und berichtet seit Jahren aus seiner Heimat, später aus Moskau, mittlerweile aus dem westlichen Ausland über den Donbas. 

    Graffiti mit dem Schriftzug Noworossija und PTN und den Farben der sogenannten Volksrepublik Donezk © ZUMA Press / Imago

    Dem Krieg im Donbas ab 2014 ist eine jahrelange mediale Hassspirale vorausgegangen. So sehr der Euromaidan selbst auch polarisiert haben mag, ohne ein schrittweise gefestigtes ideologisches Fundament hätte es nie zu diesem durch Russland militärisch unterstützten Separatisten-Aufstand kommen können. Der Donbas wird in die Geschichtsbücher eingehen als Paradebeispiel: So erzeugt man künstlich einen bewaffneten Konflikt – durch Missbrauch lokalpatriotischer Bewegungen und medialen Hass. 

    Bergmann im Donbas statt Bürger der Ukraine  

    Beim Referendum 1991 stimmte noch die Mehrheit der Bewohner des Donbas für die ukrainische Unabhängigkeit – jeweils fast 84 Prozent in den Oblasten Donezk und Luhansk. Doch diese anfängliche Unterstützung wich schnell einer wachsenden Unzufriedenheit. Dafür gab es mehrere Gründe:  

    Erstens litt der Donbas stärker als andere Regionen unter dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft. Viele Unternehmen hier waren stark auf den gesamtsowjetischen Absatzmarkt ausgerichtet und erwiesen sich als ineffizient für den geöffneten Weltmarkt.  

    Zweitens spielte – aufgrund der industriellen Prägung der Region [die viele Arbeiter aus allen Teilen der Sowjetunion in die industriellen Zentren des Donbas’ brachte – dek] – die sowjetische Ideologie eine große Rolle. Später erfasste die verarmte Bevölkerung dann schnell eine UdSSR-Nostalgie. Bis 2004 galten die meisten Sympathien dort der Kommunistischen Partei der Ukraine.  

    Drittens: Es überwiegt eine russischsprachige Bevölkerung mit einer verwaschenen Identität, die stärker in einem lokalen oder beruflichen Selbstverständnis wurzelt – „Wir aus dem Donbas“, „Wir Bergleute“ – als in einer Identifikation mit der Gesamtukraine. Ebenso in Bezug auf Russland. 

    Der japanisch-amerikanische Historiker Hiroaki Kuromiya, der sich auf den Donbas spezialisiert, bezeichnete die Region einmal als „Problemkind“ von Kyjiw und Moskau. 

    Was lockt den Donbas gen Osten? 

    Bereits in den späten 1980er Jahren strebten im Donbas erste Organisationen eine Autonomie oder sogar Abspaltung der Region von der Ukraine an, etwa die Internationale Bewegung des Donbas in Donezk oder die Volksbewegung der Region Luhansk – häufig unterstützt von lokalen Gruppen der Kommunistischen Partei, die versuchten, ein Gegengewicht zur ukrainischen national-demokratischen Bewegung zu schaffen. Sie blieben jedoch eine marginale Kraft, die nach der Gründung der unabhängigen Ukraine wieder verschwand.  

    Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

    Mit der Zeit aber nutzten die lokalen Eliten die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung für ihre Zwecke: Während der Bergarbeiterstreiks 1993/94 forderten sie unter anderem die Schaffung einer ostukrainischen Autonomie und die Erhebung des Russischen zur Amtssprache. Es gab sogar ein regionales Referendum zu diesen Fragen, dessen Ergebnisse jedoch nie offiziell anerkannt wurden. Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

    Später räumten die Donbas-Aktivisten selbst ein, dass der wichtigste Faktor für das Scheitern der ersten Abspaltungsversuche die fehlende externe Unterstützung durch Russland gewesen sei. In den Beziehungen zwischen Kyjiw und Moskau war in den 1990er Jahren eher die Krim der Zankapfel. Erst 2004 änderte sich die Situation dramatisch. 

    Wahlen, Angst und Hass im Donbas 

    Da standen sich bei den Präsidentschaftswahlen der regierungsnahe Kandidat Viktor Janukowytsch, ehemaliger Gouverneur der Oblast Donezk, und Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko gegenüber. Die Kandidaten verkörperten zwei gänzlich unterschiedliche Entwicklungsrichtungen der Ukraine: Juschtschenko setzte sich für eine europäische Integration ein, während Janukowytsch sich an Russland orientierte.  

    Der Kreml machte Juschtschenko das Leben schwer: Ein Trupp Polittechnologen unter der Leitung von Gleb Pawlowski reiste nach Kyjiw. Da Juschtschenko in den westlichen Regionen der Ukraine mehr Unterstützung genoss, setzte Janukowytschs Stab unverfroren auf eine Spaltung des Landes, indem er den russischsprachigen Südosten gegen den national ausgerichteten Westen ausspielte. 

    Die Propaganda machte aus Viktor Juschtschenko – einem gemäßigt liberalen Banker mit einer Leidenschaft für ukrainische Geschichte – einen radikalen Nationalisten. Als Juschtschenko dann zu einem Treffen mit Anhängern nach Donezk kam, erwarteten ihn in den Straßen riesige Plakate, die ihn in Nazi-Uniform zeigten. 

    Ein regionaler Fernsehsender in Luhansk zeigte zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell.  

    Die Flut der „schwarzen“ Negativ-PR nahm nach Beginn der Proteste auf dem Maidan im Herbst 2004, die als Orangene Revolution in die Geschichte eingehen sollten (Orange war die Wahlkampffarbe Juschtschenkos), noch weiter zu. Während die landesweiten Medien nach und nach auf die Seite der Revolution wechselten, verbreiteten die von Janukowytsch-Anhängern kontrollierten regionalen Fernsehsender in den südöstlichen Regionen Hass und Propaganda.  

    So zeigte beispielsweise ein formell staatlicher regionaler Fernsehsender in Luhansk zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell: Protestierende Ukrainer wurden mit wilden Tieren und Nazis verglichen. Bilder vom Maidan wurden zu einer suggestiven Videosequenz zusammengeschnitten. „Da wurden heulende Wölfe gezeigt, marschierende Militäreinheiten, eine Gottesanbeterin in Angriffshaltung, springende Affen, Obst, das im Zeitraffer verfaulte“, erinnert sich ein Luhansker Journalist. Viele zweifelten schon damals, ob solch ausgefeilte Beispiele hybrider Kriegsführung wirklich von einem Provinzsender produziert werden konnten. 

    Gleichzeitig wurden lokale Oppositionelle massiv unter Druck gesetzt. So wurde [Ende November 2004 – dek] Juschtschenkos Hauptquartier in Luhansk angegriffen. Einige Tage später ging eine Gruppe angeheuerter Hooligans mit Baseballschlägern auf eine „orange“ Kundgebung im Zentrum von Luhansk los. Im Grunde wurde im Donbas 2004 eine Strategie angewandt, die 2014 landesweit ausgeweitet wurde: Ihr Ziel war organisiertes Chaos und Polarisierung. 

    Trotz allem: Juschtschenko gewann die Wahlen, Janukowytsch verlor. 

    Die Spaltungsideen nahmen neue Formen an. Am 28. November 2004 fand in Sewerodonezk (Oblast Luhansk) ein Kongress mit Lokalpolitikern statt, auf dem eine neue autonome Südost-Republik konzipiert wurde – ihre vorgesehenen Grenzen deckten sich übrigens mit dem vom Kreml 2014 verkündeten Konzept Noworossija (dt. Neurussland). Am Kongress nahm auch der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow teil. Russische Sender, die im russischsprachigen Teil der Ukraine traditionell beliebt waren, präsentierten diesen Kongress als Ausdruck des Volkswillens.  

    Vom Maidan zum Euromaidan – eine Eskalation  

    Den Sieg des ersten Maidan fasste der Kreml als existenzielle Bedrohung auf. Der amerikanische Politikwissenschafter Paul D’Anieri schrieb, die orange Revolution habe der Erwartung vieler Russen, die Ukraine würde eines Tages doch „wieder heimkommen“, einen Dämpfer verpasst und ihren möglichen, unwiederbringlichen Verlust vor Augen geführt. Daher erhielten von nun an alle prorussischen und separatistischen Bewegungen im Donbas jede größtmögliche Unterstützung vonseiten Moskaus. Der Donbas gilt seitdem – wie die Krim – als Vorposten des russischen Einflusses. 

    Einschlägige Organisationen schossen wie Pilze aus dem Boden – wie Donezkaja respublika (dt. Donezker Republik) in Donezk, Molodaja gwardija (dt. Junge Garde) in Luhansk. Trotz ihrer verfassungsfeindlichen Rhetorik drückten die regionalen Behörden ein Auge zu und förderten sie sogar heimlich. Alle diese Organisationen bekamen Unterstützung von ultrarechten Bewegungen in Russland, die wiederum vom Kreml gesteuert wurden – allen voran von Alexander Dugins Eurasische Union. Pawel Gubarew, später Mitbegründer der selbsternannten „Donezker Volksrepublik“, ließ sich in Lagern der Russischen Nationalen Einheit ausbilden.  

    Die Region wurde von einer massiven Propagandawelle überschwemmt, die den lokalen Donbas-Patriotismus über den gesamtukrainischen Patriotismus setzte und ständig die angeblich besonderen Beziehungen des Grenzgebiets zu Russland unterstrich. So wurde zum Beispiel in Luhansk ein Denkmal für „die Opfer der UPA“, errichtet. Dabei waren OUN–UPA praktisch nie im Donbas aktiv gewesen (abgesehen von episodischen Ausflügen, die Vertreter dieser Organisation während des Zweiten Weltkriegs unternahmen). Das war eine zutiefst propagandistische Geste. Sie zielte darauf ab, die Bewohner des Ostens und des Westens, die die dunklen Kapitel der ukrainischen Geschichte auf unterschiedliche Weise wahrnehmen, gegeneinander aufzuhetzen.  

    Eine Partei provoziert medialen Schlagabtausch 

    Zur wichtigsten Plattform dieser spalterischen Ideen entwickelte sich die Partei der Regionen, die im Donbas praktisch ein Machtmonopol innehatte. Der Rat der Oblast Luhansk beschloss zum Beispiel das regionale Programm Patriot Luganschtschiny (dt: Patriot des Luhansker Landes), in dem eine ganze Reihe kultureller Symbole aus Sowjetzeiten als Alternative zum nationalen Projekt der Ukraine präsentiert wurden.  

    Solche lokalen Bemühungen stützten sich auf Beistand aus Russland: Regelmäßig fanden im Donbas runde Tische zu Themen wie „Föderalisierung des Landes“ [als Kontra-Forderung gegen den Euromaidan – dek] oder „Schutz der russischen Bevölkerung“ statt, an denen immer auch Gäste aus Moskau teilnahmen. Die Stiftung Russki Mir (dt. Russische Welt) eröffnete in Luhansk eine Filiale.  

    Die über die Jahre entstandene Entfremdung des Donbas und das hohe Maß an Identifikation mit der Region boten diesen polittechnologischen Übungen eine gute Angriffsfläche. 2014 verstanden sich laut einer Studie der Luhansker Nationalen Universität 35,8 Prozent der Bevölkerung der Oblaste Donezk und Luhansk in erster Linie als Bewohner ihrer Region, während sich nur 28,1 Prozent als ukrainische Staatsbürger fühlten. Ein weiterer beliebter Identitätsmarker war die Antwort „Sowjetmensch“ mit 14,4 Prozent.  

    Zur Verstärkung dieser Spaltung übten sich Wortführer der Partei der Regionen in einer Rhetorik der feindseligen und diskriminierenden Sprache. Der Regionen-Politiker Nikolaj Lewtschenko aus Donezk sagte: „Ukrainisch ist die Sprache der Folklore. Wenn Russisch Amtssprache ist, dann gibt es einfach keine Notwendigkeit mehr, Ukrainisch zu sprechen. […] Seien wir doch realistisch. Die zweite Amtssprache ist lediglich pro forma. In der Ukraine soll es nur eine Amtssprache geben, nämlich Russisch.“ Sein Kollege Juri Boldyrew formulierte es noch radikaler: „Ich bin dafür, dass die Ukraine Galizien loswird. Wenn man Galizien aus meinem Land entfernt und die echte Ukraine mit dem Donbas und der Krim übrig lässt, dann wird sie jenes erste [und echte] Russland sein […] Galizien ist eine Geschwulst am Leib der Ukraine.“  

    Darauf folgte eine Welle negativer Reaktionen aus der patriotischen ukrainischen Intelligenzija und von Vertretern des westlichen Teils der Ukraine. Diese Konfrontation verhärtete sich besonders nach Janukowytschs erfolgreicher Revanche bei den Präsidentschaftswahlen 2010, die er größtenteils den Wählerstimmen aus dem Süden und Osten zu verdanken hatte.  

    Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ hatte Russland leichtes Spiel.

    Der prominente ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, gebürtig aus Iwano-Frankiwsk, erklärte 2010, die Ukraine solle eher den Donbas und die Krim abschütteln, deren Bevölkerung die Ukraine fremd sei. Sein mit dem Schewtschenko-Preis ausgezeichneter Kollege Wassyl Schkljar schlug noch schärfere Töne an: „Wenn die Nation krank ist und dieses Territorium nicht verträgt, nicht verdauen kann, dann ist es besser, sich davon zu verabschieden.“  

    Der Historiker Hiroaki Kuromiya sieht darum auch bei den ukrainischen Intellektuellen einen Teil der Schuld an der ukrainischen Spaltung: „Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ – als ob das, sozusagen, die unzivilisierten Hinterhöfe der Ukraine wären –, hatte Russland leichtes Spiel.“ 

    So verstärkte sich die Spaltung. Bis kurz vorm Euromaidan Russlands Bemühungen praktisch offene Formen annahmen: Im September 2013 fuhr Putins Berater Sergej Glasjew nach Luhansk zu einer bizarren Parade prorussischer Kräfte, nämlich einer Konferenz über die Perspektiven der Ukraine, der Eurasischen Zollunion beizutreten. Die Veranstaltung wurde von Viktor Medwedtschuks Bewegung Ukrajinski wybor (dt. Ukrainische Wahl) organisiert. Viele der Delegierten sollten ein halbes Jahr später zum aktiven Kern der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gehören. 

    Wichtigster Destabilisierungsfaktor: Russland 

    Im Laufe eines Jahrzehnts hatte sich im Donbas immer mehr Hass angestaut. Feindselige Rhetorik und eine Politik der Polarisierung führten zu einem bewaffneten Konflikt. Dabei trafen unterschiedliche Faktoren aufeinander: Politiker und Intellektuelle, die aus einem Zwiespalt politisches Kapital schlagen wollten, alte Traumata und Komplexe, Probleme bei der Entwicklung des ukrainischen Staates. Doch der schwerwiegendste Destabilisierungsfaktor war eine externe Macht: Putins Russland. Ohne dessen Einmischung hätten sich selbst die heftigsten Spannungen zwischen Kyjiw und dem Donbas, zwischen Osten und Westen gelöst – nämlich im Zuge der Evolution einer vielfältigen ukrainischen Gesellschaft. 

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  • „AntifaschiZmus“ – Früher linker Straßenkampf, heute Kriegsfront

    „AntifaschiZmus“ – Früher linker Straßenkampf, heute Kriegsfront

    Zur Geschichte der linken Subkulturen im postsowjetischen Russland gehört viel Gewalt: von Straßenschlachten gegen brutale Neonazis bis zur zunehmenden Verfolgung durch den staatlichen Sicherheitsapparat. Der Krieg bietet den Antifa-Veteranen von damals nun eine Chance weiterzukämpfen. Viele nutzen sie und melden sich zur ukrainischen Armee, andere aber gehen für Russland an die Front. 

    Das russische Online-Portal no Future hat sich die Gewaltgeschichte der Antifa-Szene genauer angeschaut und mit einigen selbsterklärten Antifaschisten über ihre Motivation gesprochen, teils Seite an Seite mit russischen Neonazis in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. 

    Collage mit Bildern von Antifaschisten und ihren rechtsextremen Gegnern in Straßenkämpfen in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion, Illustration © Pascha Barli/no Future
    Collage mit Bildern von Antifaschisten und ihren rechtsextremen Gegnern in Straßenkämpfen in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion, Illustration © Pascha Barli/no Future

    Kaum jemand erinnert sich noch an die Antifa-Ära der 2000er und 2010er Jahre. Die Antifa selbst ist gealtert, hat sich Kredite und Bauchspeck zugelegt oder sitzt immer noch im Knast. Die mit Mutters billigem Haarspray aufgestellten Irokesen, der Straight-Edge-Lifestyle, die Nebelgranaten, die in die Stadtverwaltung von Chimki flogen, weil man den örtlichen Park abholzen wollte, die Demos im Moskauer Zentrum unter Antifa-Parolen wie „Nein zu Faschismus aller Art, vom Hinterhof bis zur Regierungsmacht“ – all das existiert nur noch in ihrer Erinnerung. Genau wie die Straßenkämpfe und bewaffneten Zusammenstöße mit Neonazis, die eingeschlagenen Schädel und toten Genossen, die wildesten Hardcore-Konzerte und die Bullen, die am Ende doch sämtliche Subkulturen plattgemacht haben.  

    Noch vor ein paar Jahren hörte man die Alt-Antifa sagen, das alles würde der Vergangenheit und einer fernen Jugend angehören, als alles noch einfacher, klarer, eindeutiger war: Die Einen schlachten Nicht-Russen ab und schüren Fremdenhass, die Anderen setzen sich zur Wehr und helfen den Schwachen. Manchmal unter Einsatz ihres Lebens. Doch der Krieg in der Ukraine hat nicht nur entlang der „Kontaktlinie“ für ein Aufflammen von Mord und Gewalt gesorgt, sondern auch auf Russlands Straßen. Wobei heute nicht mehr alles so klar und eindeutig ist. So manche, die vor 15 Jahren noch für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und gegen Faschismus protestiert haben, ziehen heute in den Krieg, um Ukrainer zu töten.  

    Anna Worobjewa hat für no Future mit selbsterklärten Antifaschisten – im Text sind alle Namen geändert – darüber gesprochen, warum sie Seite an Seite mit Neonazis in Schützengräben gegen sogenannte „Ukronazis“ kämpfen und darin nichts Schlechtes sehen.

    Irokesen, Hakenkreuze und Blut auf dem Asphalt 

    Eine kleine Kreisstadt an der Wolga. Eine verlassene Bauruine. Anfang der 2010er Jahre. Die Wände vollgeschmiert mit Hakenkreuzen, ein ebenso geformtes Lagerfeuer. Jeden Abend versammeln sich hier um die 30 Leute in schwarzen Bomberjacken mit orangefarbenem Innenfutter (so erkennt man im Kampf schneller die eigenen Leute) und Hosen mit heruntergelassenen Hosenträgern (ein Zeichen für Kampfbereitschaft), in DocMartens, Springerstiefeln oder Billigtretern vom Markt mit weißen Schnürsenkeln (heißt: Ich habe Nicht-Russen auf dem Gewissen). 

    Hier werden Attacken geplant: Wer ist als nächstes dran? Das „Schlitzauge“ vom Gemüsestand oder der obdachlose Usbeke, der auf der Bank am Bahnhof schläft? Jeden Tag konnte man zusammengeschlagene „Nichtarier“ auf den Straßen finden. Hier kloppte man sich mit den hiesigen Informellen, Alternativen, einer Handvoll Jugendlicher mit Irokesenschnitt, die bei den Zusammenstößen unweigerlich unterlegen waren und danach blutüberströmt nach Hause krochen. 

    Die Alternativen nannten sich Antifaschisten, oder kurz: Antifa. Eines Tages, nach einer weiteren Niederlage, baten die jungen Antifas die älteren und stärkeren um Unterstützung. Am Tag darauf fuhr im Morgengrauen ein nicht mehr ganz neuer Neuner [Lada – dek] an der Bauruine vor. Ein paar Typen mit Schlagstöcken und Leuchtpistolen stiegen aus. Ein Skinhead im „Ich bin Russe“-Shirt kam auf sie zu. Die Männer aus dem Neuner umzingelten ihn, zogen ihm das Shirt aus, verdrehten seine Arme, zerrten ihn unter Schlägen ins Auto und fuhren los. 

    Der Lada hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt.  
    „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. 

    Der erste Halt ist ein normaler Innenhof. An einem Hauseingang rauchen drei. Allesamt kahlrasiert. Der Neuner hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt. „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. Den ganzen Tag kreuzen sie so durch die Wohnviertel. Als es dunkel wird, bringen sie den „Führer“ zur Baustelle zurück. Bei der großen Versammlung, die dort geplant war, tauchen nach dem Streifzug nur wenige Leute auf, die die Antifa sogleich mit Schüssen aus den Leuchtpistolen und Schlagstöcken begrüßt. Der „Führer“ bettelt inzwischen um Gnade. Die Antifas lassen ihn erst gehen, nachdem er sich vor der Kamera entschuldigt und versprochen hat, dass er „nie wieder andere Leute belästigen und die Antifa beleidigen wird“. 

    Antifa schlägt zurück, bis Silowiki kommen 

    Einer jener jungen Antifas damals war Denis Chromow. Er ist in der Kreisstadt aufgewachsen und schon als Teenie zu der Clique gestoßen. Die nach außen hin so gefährlich wirkenden Punks verbrachten ihre Zeit meist mit harmlosen Dingen, besprühten Wände mit Antifa-Slogans, kochten und verteilten vegane warme Mahlzeiten an Obdachlose. Diese Aktion hieß Essen statt Bomben. So protestierten Antifaschisten in aller Welt gegen Krieg und Autoritarismus. Außerdem gingen sie viel auf Konzerte. Kein Gig lief ohne Angriffe bewaffneter Neonazis ab. Die wurden auch „Bones“ genannt, vom englischen „Bonehead“, das als „Glatze“ oder auch „Volltrottel“ übersetzt werden kann. 

    Die Bones bewarfen die Antifa mit Steinen und Flaschen, verdroschen sie mit allem, was sie finden konnten, sprühten ihnen Pfefferspray in die Augen. Sie machten weder vor Messern noch vor selbstgebauten Bomben halt. 

    Ende der 2000er Jahre verübten Neonazis bis zu 500 Morde im Jahr. Die Subkultur der Pazifisten begann sich zu organisieren und zu wehren, bis sie selbst gefährliche Straßenbanden hervorbrachte. Genau die wurden schließlich mit dem Begriff Antifa assoziiert. Die Bewegung entstand also als Reaktion auf die Aggression der Rechtsradikalen, die in den 2000er Jahren unkontrolliert im ganzen Land wütete.  

    Irgendwann übernahmen die Antifaschisten selbst die Initiative; mindestens ein Neonazi wurde dabei getötet. Innerhalb der Bewegung wurde die Gewalt verurteilt, aber Iwan Chutorskoi, genannt Kostolom (Knochenbrecher) – ein bekannter Antifa, der seinen Spitznamen dem erfolgreichen Einsatz in Straßenkämpfen verdankte – befand, es sei besser „jetzt als Unmensch zu gelten, als später vor der Tür zur Gaskammer über die richtige Taktik zu diskutieren“. 2009 wurde Chutorskoi am Eingang seines Hauses durch einen Genickschuss getötet. 

    Anfang der 2010er hörten die Schlägereien praktisch auf.  
    Es gab niemanden mehr, der sich hätte prügeln können. 

    Denis Chromow dagegen machte sich zu seinen Antifa-Zeiten keine Gedanken über Humanismus. Er ging regelmäßig „Glatzen klatschen“ und hielt das für den einzig richtigen Weg. Parallel schloss er die Berufsschule ab, verlobte sich, nahm in Moskau einen Schicht-Job auf dem Bau an.  

    Anfang der 2010er Jahre dann hörten die Schlägereien praktisch auf. Es gab schlichtweg niemanden mehr, der sich hätte prügeln können: Die Silowiki hatten in dem Straßenkrieg zwischen Neonazis und Antifa bald eine handfeste Bedrohung erkannt und waren dazu übergegangen, die Einen wie die Anderen konsequent einzubuchten

    Wohin mit dem Hass der Antifa-Veteranen? 

    Die Frage war nun: Wohin mit der ganzen Energie und all den Überzeugungen? Die Einen verfielen dem Alkohol, die Anderen – so wie Denis – gingen in die politische Opposition. „Ich bin nach Moskau zu den ‚Märschen der Millionen‘ gefahren, lernte dort Anarchisten und Antifas kennen“, erzählt Chromow. „Ich hab schon als Kind die ganze Ungerechtigkeit der herrschenden Klasse, der Sicherheitsorgane usw. kapiert. Ich hatte Hass auf die jetzige Regierung, das ganze Regime. Wirklichen Hass.“ 

    Den Krieg im Donbas [ab 2014 – dek] hat Chromow dann so ähnlich verstanden wie die Straßenschlachten mit den Neonazis: Mutige, knallharte Jungs organisieren sich und kämpfen gegen „Glatzen“, die sie allein deshalb vernichten wollen, weil es sie gibt. „Ich hatte dann im Fernsehen gesehen, dass Neonazis die Zivilbevölkerung angreifen und dass die Leute sich zu Bürgerwehren zusammenschließen und dagegenhalten. Also habe ich mich auch dazu entschlossen … Na, wegen der Faschos, Nationalisten halt, weiß nicht …“, erinnert sich Denis. Er fuhr im Herbst 2014 als Freiwilliger in den Donbas – ohne Vertrag, ohne Wehrpass, ohne ärztliches Attest, ohne Geld. Er war 20 Jahre alt. 

    Denis wurde der Drohnenaufklärung zugeteilt. Er soll feindliche Stellungen aufspüren und deren Koordinaten an die Artillerie übermitteln.  

    „Männer wie wir“ und „Vögel des Todes“ 

    Auf dem Laptop erscheint ein Bild: rechteckige Felder mit grünen Waldflächen. Über den Wäldern blinken blaue Symbole, dort sind Handys aktiv. Wenn es drei oder mehr sind, ist das eine „Anhäufung“. Eine Anhäufung im Wald bedeutet Schützengräben und Unterstände: Erdbunker, in denen die Soldaten an forderster Front leben. Um einen Treffer zu landen, muss man nun möglichst nah ran, dorthin, wo man vom Artilleriedonner fast taub wird. Dann einen guten Startplatz suchen, eine Wiese vom Gestrüpp befreien, eine möglichst ebene Fläche für besseren Halt schaffen. Dann bastelt man den „Vogel“ zusammen, schraubt die drei Meter langen Flügel an und den Schweif, legt einen Fallschirm hinein, um ihn später sicher zu landen, wenn das Ziel erledigt ist. Außen, vorne oder unten trägt der „Vogel“ eine Kamera, ein Wärmesichtgerät und einen Fotoapparat. Die Koordinaten der Handy-Signale werden an die Artillerie übermittelt. Die beschießt dann die Bunker mit Grad (Hagel, Mehrfachraketenwerfer – dek] oder Haubitzen wie der D-30er. Aus der Vogelperspektive sieht man, wie dicker Rauch aus den Schützengräben quillt, Bretter in die Luft fliegen, eine Hose sich in einem Baum verfängt. Man hört wildes Geschrei, einer ist bis zum Hals mit Erde verschüttet, aus einem anderen pulsiert eine Blutfontäne. Einem drittem hat es den halben Körper weggerissen.  

    „Wir wurden ganz nah bei den Ukropy abgesetzt, und dann ging die Arbeit los. Wir ließen den Vogel fliegen, holten ihn zurück, gaben die Koordinaten an die Artillerie weiter. Die machen ihren Job, wir schicken den Vogel wieder los und bestätigen“, berichtet Denis. 

    Ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht.

    „Und waren dort Nazis?“ 

    „Ich persönlich habe eigentlich keine gesehen … So eingefleischte wie die in Mariupol bei Asowstahl gab es da nicht [Die Rede ist hier von der Brigade Asow, die die russische Propaganda als „Nazis“ bezeichnet, für die ukrainische Seite sind sie die „Verteidiger Mariupols“ – No Future]. Dort kämpfen Männer wie wir, die wurden dorthin abkommandiert. Der Staat hat gesagt, die Donezker Volksrepublik will sich illegal abspalten usw. Die sind genauso kämpfen gegangen wie die Jungs, die nicht mehr zur Ukraine gehören wollten.“ 

    „Hast du den Sinn verstanden? Warum bist du dahin gegangen?“ 

    „Das kann ich nicht beantworten, ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich wieder als Freiwilliger hinfahren. Mit denselben Jungs.“ 

    Solche wie Denis werden von vielen Antifas als „Z-niki“ „Watniki“ und „Raschisten“ bezeichnet. Der Großteil der Bewegung unterstützt im Krieg die Ukraine, einige haben sich sogar den Ukrainischen Streitkräften angeschlossen. 

    „Ich will Action“ 

    Igor Schmelew, der früher auch bei Straßenschlachten gegen Skinheads mitmischte, erklärt das damit, dass die meisten Beteiligten jung und auf Action aus gewesen seien. „Viele sind zur Antifa gekommen, weil sie den Kick suchten. Später hing die Position davon ab, welche Vorlieben man hatte. Die Einen sympathisierten mit der Ästhetik der Republiken [gemeint sind die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und ihre von Russland unterstützten und ausgerüsteten „Volksmilizen“ – dek], die gegen die ‚neonazistische Bandera-Junta‘ [Ausdruck der russischen Propaganda für die legitime ukrainische Regierung – dek] aufbegehrten. Anderen war die Ästhetik des Volksaufstands näher, der die Regierung gestürzt hatte und nun sein Land gegen das imperialistische Russland verteidigt“, sagt Schmelew. „Manche finden im Krieg einfach sich selbst, einen Lebenssinn. Manche glauben aufrichtig an dieses ganze Zeug. Welchen Sinn hat es da, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen?“ 

    Für die Antifaschisten, die für Russland kämpfen, gehört auch die proukrainische Antifa an die Front – vom Sofa aus könne ja jeder klug daherreden. Einer von ihnen ist Wadim Krasnow. Er nimmt in Kauf, dass er an der Front seine ehemaligen Kumpels erwischen könnte. 

    „Man kann viel erzählen, wenn der Tag lang ist. Sollen sie doch zur ukrainischen Armee gehen, wenn sie sich trauen.“ 

    „Das tun sie doch. Du könntest also auch Antifa aus Wolgograd oder Kaliningrad treffen …“ 

    „Tja, dann haben sie Pech gehabt.“ 

    Propaganda trifft Mitleid 

    Wadim hat im Herbst 2023 einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben. In den wilden 2000ern war er zur Antifa gegangen, weil er „die Nazis nicht hinnehmen“ wollte. Als die Silowiki später für Ordnung gesorgt hatten, distanzierte er sich von der Subkultur und wurde Elektriker in einer kleinen russischen Provinzstadt. 

    Die Ereignisse von 2014 im Donbas betrachtet Wadim als „Säuberungsaktionen durch ukrainische Nationalisten“ [ein beliebtes und weltweit verbreitetes Narrativ der (pro-)russländischen Propaganda – dek]. „Das war quasi der Anfang. Wir müssen jetzt die russischsprachige Bevölkerung mit der Waffe beschützen. Wir haben nur auf die Situation reagiert. Acht Jahre haben wir gewartet, und dann ist endlich was passiert“, sagt Krasnow. Als seine Heimatstadt 2022 beschossen wurde, zog er in den Krieg. „Ich habe begriffen, dass ich selbst 700 Kilometer von der Front entfernt nicht mehr sicher wäre. Es war ein spontaner Impuls“, erklärt er. 

    Zunächst diente Wadim als stellvertretender Stabschef eines Panzerbataillons bei Kreminna. „Fünf Kilometer von uns stand Asow. Aber ich habe keine ‚Asowzy‘ gesehen. Die ukrainische Armee besteht nicht nur aus Nazis. Leider haben sie dort Leute mobilisiert, die nicht freiwillig dort sind, die genauso wenig auf diesen Krieg vorbereitet waren, irgendwelche Pazifisten, also Leute, die nicht kämpfen können und wollen. Die wurden eingezogen und hatten keine Wahl. Ich habe solche Leute gesehen. Sie waren verängstigt, weinten. Das ist ein schrecklicher Anblick. Für solche Menschen empfinde ich keinen Hass, nur Mitleid“, sagt Krasnow. 

    „Was ist das Schlimmste am Krieg?“ 

    „Die Toten.“ 

    „Auf unserer Seite?“ 

    „Ganz egal, auf welcher Seite. Auf unserer, auf der ukrainischen. Ich weiß, dass man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern muss, aber ich kann mich nicht freuen. Ich könnte ihm nicht die Ohren abschneiden oder irgendwas in dieser Richtung, oder seinen Anblick genießen.“  

    „Warum muss man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern?“ 

    „Weil er mich nicht mehr umbringen kann. In diesem Sinne. Ist doch klar, dass ich das gut finde.“ 

    Langeweile in der Kriegsbürokratie 

    In den ersten Monaten war Wadim nicht im Kampfeinsatz, sondern kümmerte sich in der dritten Verteidigungslinie im Hauptquartier um Papierkram. Er sagt, er habe sich den Krieg wie einen Blockbuster vorgestellt, aber in Wirklichkeit war es nur ein Hin- und Herschieben von Dokumenten. 

    Der bürokratische Aufwand ist enorm: Auszahlung von Militärgehältern, Transport von Lebensmitteln und Granaten zu den Stellungen. Und von den Stellungen kommen die Toten zurück. Sie werden von der Front in Säcken geliefert, manchmal direkt in die Einheit, wo sie identifiziert werden müssen. Aus den zerbombten Panzern werden die Leichen an Seilen herausgezogen. Mit geschwollenen, dunkelvioletten Beinen, die in grotesken Winkeln verdreht sind, die Uniformen zerfetzt. Die schwarzen Nasenlöcher, Ohren und Münder mit einer dicken Blutkruste verklebt. Manchmal gibt es nur noch Asche und Knochen, manchmal auch gar nichts: Ein Panzer brennt wie eine Fackel, und wenn die Munition explodiert, werden die Menschen aus dem Fahrzeug geschleudert und bleiben auf Stromleitungen oder Dächern der benachbarten Häuser hängen. 

    Zwei Monate nach unserem Gespräch schrieb mir Wadim, er habe einen Antrag auf Versetzung in eine Sturmkompanie gestellt. 

    „Warum willst du da hin?“ 

    „Ich will Action.“ 

    „Hast du keine Angst?“ 

    „Ein bisschen vielleicht. Aber ich langweile mich hier zu Tode.“ 

    „Und wenn du ohne Beine im Krankenhaus liegst, und der mobilisierte Ukrainer, mit dem du, wie du sagst, Mitleid hast, im Sarg? Macht das dann Spaß?“ 

    „Vielleicht bin ich frustriert oder so. Ich weiß nicht. Mein Leben war echt ziemlich langweilig. Ich will irgendwie nützlich sein. Von jemandem gebraucht werden.“ 

    Wadim ist jetzt seit Monaten verschwunden. Er antwortet nicht auf Nachrichten, auf Telegram war er „zuletzt vor langer Zeit online“. Drei Monate vor Erscheinen dieses Texts habe ich zum letzten Mal von ihm gehört: 

    „Haben sie deinen Antrag genehmigt?“ 

    „Ja, ich bin versetzt worden.“ 

    „Und, Schluss mit Langeweile?“ 

    „Das kannste laut sagen …“ 

    Von „No Putin, No War“ zur Söldnertruppe Wagner 

    „Wir leben einfach in einer anderen Welt als die Zivilbevölkerung. Vor allem die, die lange an der Front sind. Das verändert das Denken. Und manchmal verstehen wir euch nicht mehr richtig. Wir sind froh, wenn wir noch leben. Und wenn wir von einem Einsatz lebendig wiederkommen, wenn sogar niemand verletzt wurde – weder man selbst, noch ein Kamerad – dann ist das das Größte. Und ihr sitzt einfach rum und beschwert euch“, sagt der Antifaschist Sergej Sashin.  

    In seiner „Straßenkampfzeit“ war Sergej oft aktiv auf Neonazis losgegangen, hatte in einer Punk-Band gespielt. 2014 sprach er sich noch öffentlich für den Maidan und die ukrainische Antiterroroperation aus, demonstrierte mit „No Putin, no War“-Plakaten. „Ich habe Leute unterstützt, die für die Freiheit und für Veränderungen zum Besseren waren. Die Fortschritt wollten. Ist doch super, oder? Nur, was bringt’s im Endeffekt? Das ging vom Regen in die Traufe. Nur, dass die Traufe noch schlimmer war“, sagt Sashin. „Warum haben die Donezker überhaupt rebelliert? Na, fahrt doch mal hin und seht euch an, was sich da seit dem Ende der Sowjetunion getan hat. Gar nichts nämlich! Ich bin vor 2014 in Kyjiw gewesen – da war alles superschick renoviert. Die anderen Städte auch: Tipptopp saniert! Nur Donezk, Luhansk, der ganze Osten, der das Land ja ernährt hat, der hat die Riesenarschkarte gezogen.“  

    Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, die tagsüber soffen und sich abends prügelten. 

    2015 ist Sergej als Freiwilliger in den Donbas gefahren. Er war in eine „krasse Gang“ diverser Antifas geraten, die an die Front wollten, und ist einfach mitgezogen. Gefechte erlebte er aber keine: Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, erzählt Sashin, die tagsüber zusammen soffen und sich abends prügelten. Sashin blieb zwei Wochen. Anfangs wartete er noch darauf, dass Waffen verteilt würden, dann reichte es ihm. Er packte seine Sachen und fuhr nach Hause.  

    2022 zog er wieder in den Krieg: Zuerst schloss er einen Vertrag mit der Gruppe Wagner, dann mit einer anderen Söldnertruppe, deren Namen er nicht nennen will. Auf die Frage, ob er Menschen getötet habe, antwortet Sergej: „Wahrscheinlich schon.“ 

    Im August 2022 kämpfte Sergej bei Saizewe, 20 Kilometer südöstlich von Bachmut. Die Russen bereiteten ihren Vormarsch vor, es gab schwere Grabenkämpfe, die Wagner-Truppe stürmte Positionen der ukrainischen Streitkräfte. Am 22. September wurde Sergej bei einem solchen Sturm schwer verwundet, musste lange behandelt werden, zog dann aber wieder an die Front.

    „Ich war eigentlich immer gegen Krieg gewesen, aber wenn er, wie man so sagt, nun schon mal da ist – sorry, da gibt es kein ‚Aaaa, ich will keinen Krieg!‘ mehr. Die Fahne schwenken, das ist für’n Arsch. Das machen nur Debile.“  

    „Aber wenn Krieg ist, heißt das doch nicht, dass man unbedingt daran teilnehmen muss?“ 

    „Wie soll man ihn sonst beenden?“ 

    „Darüber könnten wir uns stundenlang unterhalten. Wie hast du dich für die russische Seite entschieden? Du hast sicher keine Münze geworfen?“ 

    „Sorry, aber ich bin in Russland geboren, das ist mein Land … Das war sozusagen nicht meine Entscheidung.“  

    Der Gute, der Böse und der Nazbol 

    Sergej ist Anarcho-Nationalist. Er ist gegen den Staat, aber für die Nation. Mitte der 2010er Jahre war er bei der nationalistischen Bewegung Narodnaja wolja (dt. Volkswille). Dort herrschte die Auffassung, dass zur Nation nur die Arbeiterschaft, die Werktätigen gehören. Die Parasiten an der Spitze, die sich auf deren Kosten bereichern, seien Volksverräter. Die Anarcho-Nationalisten unterstützten lokale Proteste, positionierten sich öffentlich gegen die Staatsmacht, wollten sie stürzen. Manche Antifas waren der Meinung, dass in ihrer Bewegung für solche Leute kein Platz sein sollte – sie seien zwar anarchistisch eingestellt, aber doch zu sehr rechts. 

    Die Antifa war allerdings nie eine politische Bewegung, sondern eher eine Plattform, auf der sich Leute ganz unterschiedlicher Anschauungen versammelten: Kommunisten, Sozialisten, Marxisten, Anarchisten und sogar Nationalisten. Alle waren auf die eine oder andere Weise gegen Kapitalismus, gegen autoritäre Herrschaft, gegen Ungleichheit und Diskriminierung. Für manche von ihnen war die Unterstützung für Russland im Krieg eine Frage der Ideologie.  

    „Für mich ist Nationalismus die Liebe zur Heimat, zum eigenen Land. Das ist gut und richtig. Ich lebe in diesem Land, ich liebe die Menschen hier. Alle meine Mitbürger. Ich wünsche mir für alle Wohlergehen. Gleichzeitig will ich aber auch nicht, dass es anderen schlecht geht. Ich finde nicht, dass Russen, Weiße oder wer auch immer besser sind als Mexikaner, Amerikaner oder sonst jemand – das wäre dann schon Nazismus, wenn du nämlich deine Nation über alle anderen stellst. Das ist bescheuert, totaler Blödsinn“, sagt ein anderer Antifa namens Oleg Kotow, der sich selbst als Nationalbolschewik bezeichnet. Kurz: Nazbol.

    Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum

    Deren Losung ist: „Russland ist alles! Der Rest ist nichts!“ Sie finden, dass alle Territorien mit russischsprachiger Bevölkerung an Russland angegliedert werden sollen. Oleg fährt öfter mit den Interbrigady 2022 in den Donbas, einem militanten Flügel der nationalbolschewistischen Partei Das andere Russland E. W. Limonows. Er sieht keinen Widerspruch darin, gleichzeitig Antifa und Nationalist zu sein. Er hat sich schon mit Bones geprügelt und für Tierschutz eingesetzt. Szeneinternes Geplänkel zum Thema „Wer ist die echte Antifa“ interessiert ihn nicht. Seit fast anderthalb Jahren bringt er humanitäre Hilfe in das Dorf Toschkowka in der Oblast Luhansk, das von der russischen Armee kontrolliert wird. „Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum“, meint Kotow. „Die Leute haben nichts zu essen, sie frieren in ihren zerstörten Häusern, weil sie keinen Strom, kein Gas und kein Wasser haben. Manchen muss man eben helfen, wo man kann, die müssen einem leidtun, auf die anderen können wir alle scheißen.“  

    In Toschkowka ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Das Dorf wurde schon ab 2014 beschossen, und seit Juni 2022 hält es die russische Armee besetzt. Im Herbst brachte Oleg zum ersten Mal Kissen und Decken hin, Taschenlampen und Generatoren zur Stromerzeugung, damit die Menschen in ihren Häusern ohne Dach den Winter überleben konnten.  

    „Wir helfen auch den freiwilligen Kämpfern. Aber vor allem den Mobilisierten – ihr wisst ja, wie das bei uns läuft mit der Ausstattung der Mobiki. Die werden ohne Schutzwesten gleich in den Sturm geschickt, gehen dort allesamt drauf. Das sind doch meine Nachbarn, auch ein entfernter Verwandter von mir wurde eingezogen“, sagt Oleg. „Zu denen kannst du doch nicht sagen: ‚Pech gehabt, du bist kein Freund, keiner von uns, du bist nur ein Raschist, ein Faschist.‘ Nach Kasachstan flüchten wollte er nicht, das würde seiner Erziehung widersprechen. Ihm muss man doch helfen, ihn unterstützen, den kann man doch nicht im Stich lassen.“ 

    V wie ReVolution 

    „Wie sieht es bei uns überhaupt mit Nazis aus? Gibt es noch welche?“, frage ich Oleg. 

    „Natürlich gibt es noch welche. Rennen doch genügend Sieg-Heil-schreiende Kids voller Aufnäher rum, so als Straßen- und Subkultur.“ 

    „Aber finden Sie nicht, dass auch der Kreml einen Rechtsdrall hat? Wir haben ja den Sänger Shaman, der da singt: ‚Ich bin Russe, ich gebe nicht auf. Ich bin Russe, mit dem Blut meines Vaters‘ …“ 

    „Das ist widerlich. Mein Sohn kommt jetzt in die zweite Klasse, die hatten da auch schon diese ‚Gespräche über Wichtiges‘ und so, müssen irgendwelche Lieder lernen. Wie eine Parodie auf die Oktjabrjata, also so Brigaden, bei denen sie mitmachen sollen, aber das ist pure Idiotie. Die Pioniere waren stolz, Pioniere zu sein. Heute gibt es leider absolut keinen Grund, stolz zu sein.“  

    „Wie soll man damit umgehen?“ 

    „Keine Ahnung, ich bin ja kein Politiker. Hab noch nicht mal drüber nachgedacht. Zuerst muss der Krieg vorbei sein, erst danach kann man bei uns was Ordentliches aufbauen.“ 

    Ein Antifaschist mit dem Spitznamen „Communist Sam“ sagt: „Im Fall einer Niederlage wird es in Russland keine Revolution geben, findet euch damit ab! Wenn Russland verliert und schwächer wird, oder schlimmer – wenn es auseinanderfällt, dann entsteht auf unserem Gebiet, auf dem aktuellen Territorium des russischen Staates, ein ‚weißes Afrika‘. Im Vergleich zu dem, was dann passiert, werden uns die Neunziger wie ein Muster an Ordnung und Rechtsstaatlichkeit vorkommen. Ich will Russland rot sehen, weil Russland stark genug sein muss, um die Revolution zu erleben, sie zu verteidigen und ihr Bollwerk zu werden. Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Ich diene der Sowjetunion.“ 

    Schützengräben sind der beste Ort für Gespräche über Politik, der Krieg ist ein unbestelltes Feld für revolutionäre Agitation.

    Sam ist der Meinung, momentan könne von einer Revolution keine Rede sein, weil die Arbeiter mit ihrer Situation zufrieden seien. Solange genug Brot da sei, würden sich die Massen nicht zum Aufstand erheben. Er sagt, die Schützengräben seien der beste Ort für Gespräche über Politik, und nennt den Krieg ein „unbestelltes Feld“ für revolutionäre Agitation: „Da bist du in einem Kollektiv, in dem du dich beweisen kannst. Und dann bedeutet deine Meinung auf einmal etwas für Leute, die gestern noch über nichts anderes als ihr täglich Brot nachgedacht haben. Dann ist es auch an der Zeit zu fragen, wozu und warum wir überhaupt da sind. Man darf sich für seine Kraft nicht schämen, man darf keine Angst haben, sie einzusetzen.“ 

    Fraglich bleibt, ob diejenigen, in die Sam den Keim der Revolution säen möchte, diese dann noch erleben werden. 

    Am Ende das Blut im Schützengraben 

    Denis Chromow ist nicht mehr erreichbar. Beim letzten Gespräch Mitte Februar 2024 sagte er, dieser Bericht sei „vielleicht das Letzte, was je über mich erscheinen wird“. Denn Chromow ist krank. 

    Er hat sich 2014 an der Front mit Tuberkulose angesteckt. Das erfuhr er vom Arzt in der Musterungsbehörde. Drei Jahre später zog er wieder in den Krieg. Er sagt, im Zivilleben konnte er nicht zu sich finden. „Es hat mich da hingezogen, und Punkt. Wahrscheinlich ist das wie eine Droge. Wenn du mit den Jungs zusammen im Schützengraben sitzt, wenn du unter Beschuss handeln musst, wenn alle mit demselben Löffel essen, keine Ahnung … Man hilft einander. Und zwar nicht aus irgendeinem Eigeninteresse, sondern aus reiner Kameradschaft. Hier draußen musst du dich ständig mit Arbeit und wegen der Kohle rumplagen, mit den sauren Visagen der Chefs, den ätzenden Kollegen. Na ja, hab ich gedacht, was soll ich machen? Ich musste wieder hin“, erzählte Denis. Er nahm Medikamente, die wirkten aber nicht: Das Röntgenbild war unverändert. Um wieder an die Front zu kommen, besorgte er sich ein fremdes, gesundes Bild.  

    Beim zweiten Einsatz kämpfte Denis acht Monate lang für die Donezker Volksrepublik. Dann kehrte er nach Hause zurück, weil es ihm nicht gefallen habe: „Da ist nichts mehr wie früher. Lauter hirnrissige Befehle, die Waffen waren der reinste Schrott, und dieses ‚das [die Waffen – dek] könnt ihr euch im Gefecht besorgen’, fickt euch. Die Stabsoffiziere tun nichts anderes als sich den Wanst vollzufressen und zu ficken, was ihnen über den Weg läuft. Du kommst fix und fertig zurück, hast zwei Tage nicht geschlafen, aber meinst du, dann ist Ruhe? Denkste, sie brummen dir irgendeine Kacke auf. Sagt mal, habt ihr sie noch alle?“, sagt Chromow. 

    Danach schlug sich Denis irgendwie durch: Er verlegte Stromleitungen und Parkettböden, bekam mit seiner Freundin einen Sohn. Er fühlte sich gesund, bis auf einen schleimigen Auswurf: Kaum hatte er den abgehustet, setzte sich der nächste Klumpen in der Kehle fest. Als er zum dritten Mal an die Front wollte, wusste er bereits, wo er ein manipuliertes Röntgenbild bekommen würde.  

    Seinen ersten offiziellen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnete Denis am 10. August 2023, doch er blieb nicht bis zum Schluss. Eines Tages wurde er „gestrichen“ und bei Luhansk direkt aus dem Schützengraben geholt. Davor hatte er einen Monat lang mit seinem Zug im Wald Gräben geschaufelt und auf Befehle von oben gewartet. Sein Tagesablauf sah so aus: Nachts im Schlafsack auf gefrorener Erde liegen, von früh bis spät mit der Schaufel hacken. „Wie ein verfickter Maulwurf“, schimpft Denis, „und für wen, wozu? Einfach, um die Soldaten zu schikanieren.“  

    Als er zum ersten Mal Blut auf dem Boden sah, dachte er, es käme von einem Zahn. Dann stieg das Fieber, er stützte sich schweißgebadet auf die Schaufel, konnte nicht mehr. Er sagte allen, er sei einfach völlig fertig. Kein Wort von der Tuberkulose. Mit jedem Tag wurde der Husten stärker, das Blut immer mehr. Ein Röntgenbild, das Denis im Krankenhaus in Rostow am Don machen ließ, zeigte riesige Entzündungsherde in der Lunge. Er wurde in seine Heimatstadt geschickt und musste Bedaquilin nehmen, ein Tuberkulosepräparat neuerer Art. Denis sagt, es sei das stärkste Medikament, das es gibt.  

     Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt?

    In den Krieg wird er nie wieder ziehen. Selbst wenn er wollte, würde er mit seiner Diagnose nicht genommen. Denis will aber auch gar nicht: „Ich hatte einfach eine Überdosis Zombieglotze und wollte dieses Abenteuer. Und dann war ich da ganz in diesen Zusammenhalt der Männer eingetaucht. Aber das war einmal, jetzt ist alles ganz anders.“  

    Am meisten ärgert sich Denis über den Staat. Und er findet, dass es für die Russen keinen Ausweg gibt. „Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Erinnerst du dich an den Bolotnaja-Platz? An die ‚Märsche der Millionen‘. Ich war selber dabei, als so wahnsinnig viele Leute in Moskau demonstriert haben. Und dann auf einmal der Maidan. Und im Fernsehen immer nur: Krieg! ‚Da seht ihr, was ihr habt von euren Umstürzen!‘ Und dann kamen heimlich, still und leise die Demonstrationsgesetze, wo es verboten ist, was verboten ist … Weil ihnen klar war, diesen Arschlöchern, dass das Volk sich echt zusammentut und sie so langsam die Kontrolle verlieren. Und dann haben sie alles so eingefädelt: Ihr habt es nicht anders gewollt – dann kämpft eben und geht drauf dabei. Diese dummen Wichser – die Freiwilligen und Vertragssoldaten –, die kapieren nicht, dass das nichts als ein verdammter Fleischwolf ist. Um solche wie uns loszuwerden, die bei den ‚Märschen der Millionen‘ mitmarschiert sind – damit wieder alles schön still ist. Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt? Ich bin enttäuscht, echt.“ 

    Zum Abschied bat uns Denis, seinen Namen nicht zu nennen, weil er für das, was er im Interview gesagt hat, eingebuchtet und als „Vaterlandsverräter“ gelten würde: „Sorgt bitte dafür, dass ich wenigstens zum Schluss noch meine Ruhe habe.“  

    Seitdem herrscht Funkstille. 

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