дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden?“

    Die Kritik kam schnell nach der Dumawahl im Herbst. Ella Pamfilowa, erst wenige Monate als neue Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission im Amt, solle zurücktreten. Oppositionelle Schwergewichtstimmen wie die von Alexej Nawalny forderten das. Der Grund: Es gab erneut massive Fälschungsvorwürfe. Pamfilowa war angetreten, gerade dem Einhalt zu gebieten. In ihrem ersten großen Interview seit der Wahl vom 18. September verteidigt sie ihre Arbeit nun vehement.

    In dem Gespräch mit der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti spricht sie über den Umgang mit Beschwerden und Anfechtungen einzelner Ergebnisse in den Regionen, warum sie der Opposition eine Mitschuld an ihrer Lage gibt und über ihre eigene Rolle zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

    „Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste.“ - Foto © Anatoli Shdanow/Kommersant
    „Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste.“ – Foto © Anatoli Shdanow/Kommersant

    Vedomosti: Was halten Sie für den größten Erfolg Ihres Teams bei den letzten Wahlen, und, andersrum was war der größte Reinfall, die größte Enttäuschung?

    Ella Pamfilowa: Über einen Reinfall werde ich gewiss nicht sprechen, denn es war keiner. Der größte Erfolg war, dass es uns in kurzer Zeit gelungen ist, nicht nur die wichtigsten Makel und Mängel des gegenwärtigen Wahlsystems an die Oberfläche zu zerren, sondern auch, einen erheblichen Teil davon bis zum Wahltag zu beheben.

    Wenn man die Situation ehrlich und nüchtern analysiert und sie, wie es üblich ist, mit der gesamten Datenlage von 2011 vergleicht, so hat es erheblich weniger Unregelmäßigkeiten gegeben, während die Zentrale Wahlkommission (ZIK) ihnen gleichzeitig erheblich mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als je zuvor. In mehr als 50 Regionen hat es praktisch keine Beanstandungen gegeben, in den übrigen in unterschiedlichem Maß: In rund 20 Regionen waren sie mittelschwer; in 10 bis 15 Regionen hat es allerdings eine Reihe schwerer Verstöße in den verschiedenen Stadien des Wahlprozesses gegeben.

    Ich bin aber zutiefst davon überzeugt und weiß anhand der Datenlage, dass die Zahl an festgestellten Unregelmäßigkeiten das Bild der Wahlen insgesamt in keiner Weise auslöschen konnten.

    Der Physiker Sergej Schpilkin hat zur Analyse der Wahlen die Gaußsche Kurve herangezogen, die die Normalverteilung von Wahrscheinlichkeiten beschreibt. Seinen Angaben zufolge waren 45 Prozent des Gesamtergebnisses von Einiges Russland gefälscht …

    Niemand hat das mit echten Fakten belegt – die gibt es einfach nicht.

    Was wissenschaftliche und alle möglichen anderen Schlussfolgerungen betrifft, so bleiben es unbewiesene Annahmen, die nicht aktentauglich sind; ein Strafverfahren lässt sich daraus nicht stricken. Das heißt jedoch nicht, dass die ZIK sie ignoriert. Die angeführten „Anomalien“ – auch die von Schpilkin – zwingen uns, die betroffenen Regionen schärfer unter die Lupe zu nehmen und die Arbeit der lokalen Wahlkommissionen auf allen Ebenen sachlich eingehender zu analysieren.

    Ich habe Schpilkin eingeladen, wir hatten im Vorfeld ein Treffen mit seinen Kollegen vereinbart. Seine Ergebnisse sollten jedoch besser erst dann diskutiert werden, sobald er zum Vergleich auch eine Analyse der gerade abgelaufenen Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten vornimmt.

    Was war denn die größte Enttäuschung?

    Dass nicht alle meine Kollegen in den Regionen die Botschaft gehört haben, dass anrufen kann, wer will, um zu versuchen, ihnen etwas vorzuschreiben und irgendwelche Prozentzahlen einzufordern, dass aber sie selbst die Verantwortung tragen. Leider haben nicht alle darauf gehört und dem administrativen Druck nachgegeben, so dass es zu Verstößen kam. Leider haben sie nicht in Richtung Zentraler Wahlkommission geschaut und darauf, was der Präsident und die Präsidialadministration erklärt haben: Dass Rechtmäßigkeit und Vertrauen zählen, nicht Prozentzahlen.

    Nun, für sie erwiesen sich nun einmal die Spitzen der Regional- und Lokalregierungen als die großen Chefs, die – ausgehend von Firmen-, Lokal- oder anderen Interessen – keinen Versuch ausließen, durch die Wahlen ein mächtiges Parallelsystem zu schaffen, und diese armen Frauen und Lehrerinnen zu zusätzlichem Wahlzetteleinwurf oder anderen Manipulationen zerrten.

    Ich spreche hier von den Fällen, die wir aufklären konnten (die meisten dank der Anstrengungen der Zentralen Wahlkommission, die unter anderem auf Kameraüberwachung bestanden hatte).

    Meinen Sie nicht, dass klarere Richtlinien der Staatsführung geholfen hätten, dass die Leute sich anders verhalten hätten, die per Anruf Anweisungen erteilten, darunter sogar Gouverneure?

    Die Richtlinien haben nur diejenigen nicht gehört, die sie nicht hören wollten. Ich beispielsweise wäre nicht zur ZIK gegangen, wenn ich Zweifel an dem gehabt hätte, was der Präsident öffentlich erklärt hat. Ich habe alle Leiter der regionalen Wahlkommissionen zusammengerufen, und sowohl der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration als auch ich haben mehrfach wiederholt: Parallele Anweisungen hinter dem Rücken wird es nicht geben. Aber leider gibt es bei Wahlen oft Interessenkonflikte zwischen dem föderalen Zentrum in Moskau und den Eliten vor Ort.

    „Wir haben unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, aufgrund der Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten.“

    Wie ist die Geschichte mit dem baschkirischen Wahllokal in der Nähe von Ufa ausgegangen? Dort waren Journalisten von Reuters präsent, die Wahlbeteiligung lag im Endeffekt bei 23 Prozent; Jabloko erzielte 8 Prozent und Einiges Russland 34 Prozent?

    Für Baschkortostan wurden sehr strikte Maßnahmen beschlossen, nachdem die eingegangenen Beschwerden geprüft waren. Wir haben uns alles vorgenommen: Medienberichte, Meldungen aus dem Internet und sämtliche Beschwerden von Bürgern. Vertreter der ZIK sind dort hingefahren, um alles auf den Tisch zu legen. Insbesondere wurde das untersucht, was Reuters geschrieben hatte.

    So wurde in dem Wahllokal Nr. 284 – auf dieses hatten die Journalisten der Nachrichtenagentur aufmerksam gemacht – der Vorsitzende der örtlichen Wahlkommission suspendiert, und zwar wegen Handlungen, durch die die Präsenz von Wahlbeobachtern im Wahllokal eingeschränkt wurde, und wegen Verzögerungen der Stimmauszählung. Das ist aber nur ein Einzelaspekt. Darüber hinaus wurden in Baschkortostan weitere sechs Vorsitzende von Wahlkommissionen entlassen und vier abgemahnt. Kein Verstoß bleibt ohne Reaktion von uns. In nächster Zeit wird ein weiterer Besuch des ZIK in Ufa vorbereitet.

    Die Vielzahl von Fällen, in denen Oppositionsparteien für die Regionalwahlen nicht zugelassen wurden, speziell da, wo sie Chancen auf eine beträchtliche Stimmanzahl gehabt hätten – lassen die sich allein mit technischen Gründen erklären?

    Ja, es hat bei den Wahlen zu den regionalen Gesetzgebungsorganen solche Fälle gegeben, aber Sie übertreiben eindeutig, wenn Sie hier von einer „Vielzahl“ reden. Wo es eine Grundlage gab, sind wir dagegen vorgegangen. Jabloko in Weliki Nowgorod, Parnas und die Kommunisten Russlands in St. Petersburg, Rodina im Leningrader Gebiet, die Rentnerpartei im Gebiet Murmansk und [der Sekretär des ZK der KPRF Sergej] Obuchow in der Region Krasnodar sind wieder zugelassen worden. Wegen der Ruzkoi-Liste hat die Zentrale Wahlkommission dem Sekretär der Wahlkommission des Gebietes Kursk offiziell das Vertrauen entzogen; die Unterlagen über die von ihm begangenen Gesetzesverstöße wurden der Generalstaatsanwaltschaft übergeben.

    Anders gelagert sind Fälle, in denen einige regionale Wahlkommissionen mit Hilfe lokaler Gerichte gegen uns vorgegangen sind, etwa im Leningrader Gebiet und in St. Petersburg. Wir haben einen unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, eben aufgrund jener Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten. Das ist ein schwerwiegendes politisches Problem, das die Möglichkeiten der Zentralen Wahlkommission bei weitem sprengt. Alles, was wir herausgefunden haben, wird jetzt systematisiert, damit sich so etwas in Zukunft nicht wiederholt.

    Wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?

    Meine Aufgabe ist es, dem Präsidenten ein objektives Gesamtbild zu vermitteln, wie es sich uns dargestellt hat. An ihm ist es dann, Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Mir ist klar, dass nicht allein ich meine Analyse vorlege, sondern auch andere. Also wird es darauf ankommen, wer überzeugender ist.

    Hätten Sie sich gewünscht, dass mehr Parteien ins Parlament einziehen? Hatten Sie damit gerechnet?

    Eindeutig! Je breiter das politische Spektrum, desto besser. Die Zentrale Wahlkommission hat alles denkbar Mögliche unternommen, damit die Parteien maximal vertreten sind. Es ist schade, dass weder rechtsliberale, noch linkspatriotische Parteien in die neue Duma eingezogen sind, aber das heißt nicht, dass man die Hände in den Schoß legen und auf die nächsten Wahlen warten sollte. Auch für die Partei der Macht gibt es keinen Grund, sich zurückzulehnen; sie hat nur dank dem Präsidenten einen solch eindeutigen Sieg eingefahren.

    Andererseits kann und will ich das inhaltsleere Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann seine Misserfolge ja ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.

    Es würde an ausgesprochene politische Infantilität grenzen, würde man von Pamfilowa unglaubliche Wunder erwarten: dass sich plötzlich all die potentiellen Manipulanten in Reih und Glied aufstellen, salutieren und in einem Anfall von Uneigennützigkeit faire Wahlen durchführen, und die Oppositionsparteien automatisch in die Duma gelangen. Wissen Sie, jeder trägt seinen Teil an Verantwortung. Und da stelle ich die Gegenfrage: Was haben wir nicht getan, was hat die Zentrale Wahlkommission nicht getan? Was hätte ich tun können und habe es nicht getan?

    Wir haben Unregelmäßigkeiten aufgedeckt, haben Wahlen annulliert, die Schuldigen bestraft, dreihundert Fälle den Justizbehörden übergeben und für maximale Transparenz des gesamten Wahlprozesses gesorgt. Wir haben die Presse, alle politischen Parteien, einschließlich der Opposition, und auch die Wahlbeobachter angemessen unterstützt; haben denjenigen, die missbräuchlich die Administrative Ressource eingesetzt haben, mit unvermeidlicher Strafe gedroht (Hoffnung hierauf besteht immer noch), die Bearbeitung der restlichen Beschwerden wird mit aller Sorgfalt fortgeführt …

    Man sollte nicht nur der Regierung Vorwürfe machen, sondern auch an den eigenen Fehlern arbeiten. Und da gibt es, ehrlich gesagt, noch einiges zu tun. Außerdem muss man lernen, aus einer Niederlage heraus die Grundlage für künftige Siege zu schaffen.

    „Ich kann und will das Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann Misserfolge ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.“

    So hatte etwa Parnas in Petersburg keine schlechten Chancen, in die Gesetzgebende Versammlung einzuziehen, wenn die Partei insgesamt ihre Ressourcen nicht über die Regionen verstreut, sondern sich auf die Unterstützung ihrer Petersburger Parteigenossen konzentriert hätte.

    Und was ist das für eine Opposition, die nur im Gewächshaus gedeiht?

    Hatten Administrative RessourcenEinfluss? Das hatten sie. Ein Gouverneur schneidet bei einer Einweihung das Band durch – ist das indirekte Wahlwerbung? Ja – in derartigen Fällen ist die Vagheit der Rechtsvorschriften in vollem Maße ausgenutzt worden.

    Nichts ist einfacher, als alles auf die Administrative Ressource zu schieben. Stellen wir uns einmal vor, es gäbe sie nicht. Wären viele Parteien in der Lage, diesen Raum zu füllen? Und womit? Welche personelle Ressourcen hat denn eine Partei, wenn sie aus ihren Reihen nicht einmal genug Wahlbeobachter rekrutieren kann?

    Warum brauchte die Regierung eigentlich plötzlich ehrliche Wahlen?

    Seit März 2014, nach dem Anschluss der Krim, hat sich die Befindlichkeit der Bevölkerung, das gesellschaftliche Bewusstsein grundlegend verändert, die Beziehungen innerhalb des Landes sind jetzt andere. Als Antwort auf all die drängenden Probleme erlangte bei einem Großteil der Bevölkerung die Frage nach der Sicherheit des Landes größte Priorität; auch Russlands Beziehungen zum Ausland haben sich geändert. Da kam die Staatsführung zu der Überzeugung, dass man diese Wahlen auch ehrlich, ohne Manipulationen gewinnen könne. Außerdem hatte man Lehren aus 2011 gezogen – viele wollen keinen Massenaufruhr.

    Wäre denn eine Situation wie 2011 im Jahr 2016 überhaupt möglich gewesen? Bolotnaja, Krise – das wollen die Menschen nicht mehr.

    Aber darauf kann man nicht bauen. Wenn die Staatsführung klug ist, dann nutzt sie diese Stimmung nicht aus. Wenn die grundlegenden Interessen der Menschen und ihr gesamtes Problemspektrum, mit dem sie konfrontiert sind, nicht berücksichtigt werden, dann kann das traurig enden. Eine Ressource ist versiegt, und eine neue tut sich womöglich nicht auf, wenn man sich nicht darum kümmert.

    Eine neue könnte ein Bürgersinn sein, die Haltung, dass einem nicht alles egal ist. Die Einstellung von Bürgern, die nicht auswandern wollen, die hier leben und Selbstachtung empfinden wollen. Dazu braucht es normale Gerichte, Rechtsorgane, die die Menschen schützen; es braucht gesellschaftliche Institutionen, die sich entwickeln, Feedback und vertikale soziale Mobilität. Ich hoffe, dass es hierfür eine Einsicht, ein Bewusstsein gibt.

    Ist die niedrige Wahlbeteiligung ein Zeichen von Gleichgültigkeit?

    Ich würde gar nicht sagen, dass sie sehr niedrig war; es war einfach die niedrigste bei Wahlen dieser Tragweite, die es in unserer Geschichte gegeben hat. Und das sollte schon ein wenig beunruhigen. Natürlich wäre die Wahlbeteiligung bei einem Termin Ende September ein klein wenig höher gewesen. Aber war das der entscheidende Faktor?

    Wenn im September bei uns Präsidentschaftswahlen stattfinden würden, wäre die Beteiligung, da bin ich mir sicher, auf jeden Fall hoch. Der Wahltermin kann zwar einen Einfluss haben, doch das Entscheidende ist das Interesse für die Wahlen. Und worin besteht das? Es ist Sache der Politologen zu analysieren, ob der Wahlkampf interessant war oder nicht. Laut einigen Wissenschaftlern ist das Vertrauen in Wahlen eindeutig gestiegen. Aber hat es etwas gegeben, was den Nerv der Leute getroffen hat, was sie mitgerissen hat – haben die Leute gefühlt, dass der Ausgang dieser Wahlen ihr Leben bestimmen wird? Waren die Debatten der Parteien spannend? Keineswegs.

    Spekulationen über möglicherweise vorgezogene Präsidentschaftswahlen entstehen unter anderem, weil die Ausgaben für die Wahlen [2018 – dek] bereits im Haushalt 2017 berücksichtigt seien. Stimmt das?

    Ich wiederhole noch einmal, was ich bereits im September erklärt habe: Wenn die Gelder nicht im Haushalt 2017 veranschlagt worden wären, würden wir nicht schaffen, die Präsidentschaftswahlen zu organisieren; sie sollen ja am 11. März 2018 stattfinden.

    Kennen Sie das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen schon?

    Nein, ich weiß nicht einmal, wer kandidieren wird. Wissen Sie es?

    Alle kennen den Hauptkandidaten. Deshalb interessiert uns Ihre Meinung dazu. Alle sind überzeugt, dass Putin gewinnen wird.

    Wenn alle so überzeugt sind, warum fragen Sie dann? Mir persönlich hat Wladimir Wladimirowitsch Putin nicht gesagt, dass er kandidieren wird. Wenn aber alle überzeugt sind – umso besser! Mir persönlich hat niemand etwas gesagt. Merkwürdige Frage. Ich denke eher darüber nach, wie man das hier alles umorganisieren kann, wie man ein System schaffen kann, das in jedweder Situation funktioniert.

    „In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche, Menschen zu verteidigen.“

    In Ihrer politischen Karriere fanden Sie sich oft in Opposition zur Regierung wieder, ja sogar als Teil der Opposition. Wie fühlen Sie sich in der Rolle einer staatlichen Amtsträgerin? Warum haben Sie sich bereiterklärt, den Posten an der Spitze der Zentralen Wahlkommission zu übernehmen?

    In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche in jeder möglichen Eigenschaft, Menschen zu verteidigen. Deshalb bin ich immer in Opposition zu denjenigen, die Verstöße begehen. Wenn es seitens der Regierung zu Verstößen kommt, dann spreche ich das an. Das habe ich immer getan. Jetzt bin ich zum ersten Mal seit 1994 im Staatsdienst, seit ich damals zweieinhalb Jahre lang Ministerin war … Seither habe ich keine staatlichen Ämter innegehabt und keinerlei Gehälter vom Staat bezogen, bis 2014, als ich Menschenrechtsbeauftragte wurde.

    Warum ich in einen Wechsel in die Zentralen Wahlkommission eingewilligt habe? Weil der Wille des Präsidenten deutlich zum Ausdruck gekommen war, dass die Wahlen fair und transparent sein sollten. Das entsprach meinen Vorstellungen. Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste. Deswegen tue ich aufrichtig das, was ich tun muss, wenn auch vielleicht mit Fehlern – ich bin ja auch nur ein Mensch. Ich spüre einen gewissen Optimismus, weil ich inzwischen besser informiert bin, besser die positiven und negativen Seiten des Systems verstehe; mir ist klargeworden, dass man mit ihnen fertig werden kann.

    Und Sie glauben nicht, dass man Sie benutzt hat?

    Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden? Etwa, um behaupten zu können, dass es im Land freie Medien gibt? Wenn man so argumentiert, läuft es darauf hinaus, dass in diesem System alle ohne Ausnahme ihre routinemäßige Rolle ausfüllen und alle, auch die Oppositionellsten aller Oppositionellen, ganz genauso benutzt werden. Wir können das Thema gern noch weiter diskutieren und die Situation ins Absurde treiben.

    Wir müssen von der Realität ausgehen und das tun, was zu tun ist. Wenn du glaubst, dass du deinen Beitrag dazu leisten kannst, dass sich die Leute als Bürger wahrnehmen, damit sie verstehen, dass auch von ihnen viel abhängt, dann sollte man das auch tun. Es geht dabei um Rechtsaufklärung und um Erziehung zu bürgerlicher Würde.

    Als ich vor vielen Jahren die Bewegung Zivilgesellschaft – für die Kinder Russlands begründet habe, da dachte man nicht an die Kinder und schaute auf uns wie auf Verrückte. Es sind nun viele Jahre vergangen, das System verändert sich langsam. Manchmal weißt du nicht einmal, wann das Korn aufgeht, das du einst gesät hast.

    Sie setzen sich weiterhin für Familien ein?

    Soweit das möglich ist. Seinerzeit hatte ich zwei Stipendiaten, Waisen aus der Provinz, die an der Schtschukin studierten. Vielen habe ich geholfen, auf ganz unterschiedliche Art … Einmal habe ich sogar einer kinderreichen Familie geholfen, eine Kuh zu kaufen.

    Es gab eine Zeit, da musste ich aufgrund meiner Tätigkeit allen helfen. Dann kam der Augenblick, wo ich jenen helfen konnte, denen ich helfen will, die nämlich versuchen, sich selbst zu helfen.

    Das Wichtigste ist, dass man von niemandem einen Dank erwartet – und wenn dann jemand doch einmal Danke sagt, darüber ungeheure Freude zu empfinden.


     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

    Weitere Themen

    Staatsduma

    Sofa oder Wahlurne?

    Infografik: Dumawahl 2016

    Presseschau № 41: Dumawahl 2016

    Ist was faul an der Kurve?

    Sieg der Stille

    Drei Russlands

    Ella Pamfilowa

    Wahlfälschungen in Russland

  • Die Wegbereiter des Putinismus

    Die Wegbereiter des Putinismus

    Den Moskauer Ökonomen und Publizisten Wladislaw Inosemzew treibt die Frage um, wie Putin sein Machtsystem in Russland habe aufbauen können. War es wirklich ein Bruch mit der laufenden Demokratisierung des Landes? In einem meinungsstarken Essay für das unabhängige Webmagazin snob stellt er die Schuldfrage und schaut genauer auf die 1990er Jahre.

    Immer, wenn sich in Russland oder jenseits seiner Grenzen Verfechter demokratischer und liberaler Ansichten versammeln, drehen sich die Diskussionen um eine der ewigen russischen Fragen: „Was tun?“. Viele Jahre schon findet sich darauf leider keine Antwort. Es gelingt nicht, den „Nerv“ der Sorgen in der Gesellschaft zu treffen, attraktive Losungen zu formulieren und in den eigenen Reihen die Anstrengungen zu koordinieren.

    Eine der Folgen ist, dass das Land mit jedem Jahr tiefer in Selbstisolation und Ignoranz abgeleitet und von Militarismus und imperialem Denken durchdrungen wird. Gleichzeitig richtet sich die Aufmerksamkeit demokratischer Politiker nur ganz selten auf die in Russland nicht weniger traditionelle Frage „Wer ist schuld?“ Der Grund hierfür ist meiner Ansicht nach offensichtlich: Die Antwort gilt seit langem als bekannt. Schuld ist natürlich Wladimir Putin und die „verbrecherische Clique“, die sich das Land unter den Nagel gerissen und die Bevölkerung zu fernsehenden Zombies gemacht haben und alles und jeden mit schmutzigen Öldollars kaufen.

    „Es war schon alles da.“ © Kai Schreiber
    „Es war schon alles da.“ © Kai Schreiber

    Diese Erklärung lässt jedoch einen wichtigen Umstand außer Acht: Das Russland, das sich Putin mittlerweile praktisch zu seinem persönlichen Eigentum gemacht hat, wurde keiner demokratischen Regierung „abgerungen“. Der jetzige Präsident wurde seinerzeit von Boris Jelzin, dem Vater des neuen Russland, „an der Hand“ in den Kreml geführt. Mitstreiter der neuen Regierung waren die Oligarchen, die durch das Marktchaos und die geschickt organisierte Privatisierung der 1990er Jahre am meisten Geld gemacht hatten. Ideologe dieser Politik war damals der Chefliberale Anatoli Tschubais.

    Die unbeschränkte Macht, die Putin über den Staat gewann, wurde durch die von Sergej Schachraj und Viktor Scheinis ausgearbeitete „demokratischste Verfassung“ gestützt. Der „nationale Anführer“ selbst wurde als leitender Verwaltungsmitarbeiter im Team des unbestechlichen Volkstribuns Anatoli Sobtschak geprägt, einer der anerkannten Führungspersönlichkeiten der demokratischen Bewegung in der UdSSR. Insofern haben die sich heutzutage über das Leben beklagenden Veteranen des „freien Russland“ Wladimir Putin nicht nur einfach „übersehen“ – sie haben ihn großgezogen und ihm das volle Instrumentarium uneingeschränkter Macht in die Hand gegeben.

    Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Demokraten in Russland in den 1990er Jahren eine Lage geschaffen hatten, die ihren Verbleib an der Macht wahrlich unmöglich machte: Zunächst hatten sie Wirtschaftsreformen auf eine Art gestartet, dass die Wirtschaft fast um ein Drittel einbrach und die Hälfte der Bevölkerung sich unterhalb der Armutsgrenze wiederfand. Dann hatten sie beschlossen, die Beziehung zum rechtmäßig gewählten Parlament mit militärischen Mitteln zu regeln. Der nächste Markstein war die himmelschreiend ungeschickte Verwaltung der Staatsfinanzen, die zum Crash und der Rubelentwertung von 1998 führte. Der letzte Tropfen schließlich war die unmotivierte Ablösung der Regierung Primakow, der kompetentesten Regierung, die das postsowjetische Russland hatte – diktiert allein von der Logik eines Kampfes um Macht und Finanzströme.

    Mit anderen Worten: Ich glaube, dass der Machtantritt von Wladimir Putin und die nachfolgende Errichtung eines korporativen, autoritären Regimes im Land keineswegs Zufall ist. Die Ursprünge des Putinismus liegen in der Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik des neuen Russland, und zwar von seiner Gründung an – und die Demokraten von heute können allein sich selbst die Schuld für ihre Lage geben.

    Auf dem Gebiet der Wirtschaft sollte die Aufmerksamkeit zunächst dem zukommen, was als wichtigstes Verdienst des Regimes der 1990er Jahre gilt: der Privatisierung. Indem sie Großunternehmen praktisch für Groschenbeträge in private Hände gab, festigte die Regierung auf Jahre hinaus ein System im Land, in dem die hausgemachten Oligarchen einen Vorrang gegenüber allen neuen Akteuren erhielten.

    Schicksalhafte Ereignisse im Jahr 1993

    In der Folge waren im Land nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine Erdölraffinerie und eine Zementfabrik gebaut worden; in Metallurgie und Maschinenbau war kein einziges neues Unternehmen entstanden. Selbst die Öl- und Gasförderung war auf dem früheren Niveau stehengeblieben. In China, wo der Staat die großen Unternehmen nicht privatisiert, sondern die Kontrolle über sie behalten hat und dabei eigenen und ausländischen Investoren erlaubte, neue Kapazitäten aufzubauen, arbeiten vier der hundert finanzstärksten Unternehmen überwiegend mit Infrastruktur von vor 1989. In Russland sind es 74. Das begründet auch die fehlende Nachfrage nach neuen Technologien und die „Rohstoffabhängigkeit“.

    Im Grunde haben die Demokraten der 1990er Jahren die Initiative russischer und westlicher Investoren nicht dazu genutzt, die Entwicklung voranzubringen: Das Privatunternehmertum wurde zum Instrument einer sozialen, nicht einer volkswirtschaftlichen Transformation. So wurde der gesellschaftliche Reichtum neu verteilt, für dessen Vermehrung aber nicht gesorgt (Letzteres geschah erst in den 2000er Jahren aufgrund der gestiegenen Ölpreise). Im Unterschied zu Russland ist China durch die Reformen, deren zentrales Element in Anreizen zur Schaffung neuer Kapazitäten bestand, zu einer weltweit führenden Volkswirtschaft aufgestiegen. Russland blieb hingegen ein Land, in dem Reichtum vor allem aus einer Umverteilung der Aktiva entsteht (und da der wichtigste Hebel hierfür die Macht ist, war der Einzug des Putinschen Herrschaftsstils somit vorbestimmt).

    Zweitens haben sich die russischen Demokraten der 1990er Jahre als gar nicht ganz so demokratisch erwiesen. Nachdem sie bei den ersten freien Wahlen – noch zu sowjetischen Zeiten – gesiegt hatten, taten sie alles Mögliche, um ihre Machtpositionen zu sichern. Einer der kritischen Punkte in diesem Zusammenhang waren die Ereignisse des Jahres 1993. Hier sei einerseits an den lokalen Bürgerkrieg erinnert, ebenso an den Beginn unumkehrbarer Veränderungen im System der Sicherheitsbehörden, die durch die Entlassung von Walentin Stepankow eingeläutet wurden, des einzigen unabhängigen Generalstaatsanwalts der neuesten russischen Geschichte. Andererseits sei auf die Wahlen von 1996 verwiesen: Nur durch eine totale Konsolidierung der politischen und Finanzeliten gelang es, Jelzin im zweiten Wahlgang zu einem Sieg zu verhelfen. Und zwar vor dem Hintergrund einer Reihe deklarativer Schritte – sei es der Vertrag mit den Separatisten in Tschetschenien, der Bildung des Unionsstaates aus Russland und Belarus oder die Palast-Intrige, bei der General Alexander Lebed ins Spiel kam.

    Meiner Ansicht nach waren es gerade die Jahre 1993 bis 1996, in denen das „Wüten der Demokratie“ in Russland seinen Abschluss fand: Zum einen wurde eine „superpräsidentielleVerfassung angenommen, die dem Staatsoberhaupt praktisch außerordentliche Vollmachten verlieh; die Unabhängigkeit von Staatsanwaltschaft und Verfassungsgericht wurde beseitigt, und es bildete sich eine geschlossene Bürokratie- und Finanzoligarchie heraus, die für den Erhalt des bestehenden Regimes arbeitete. Zum anderen wurde der Akzent der politischen und ideologischen Rhetorik verschoben, von Freiheitswerten in Richtung einer „fehlenden Alternative“ (praktisch analog zur heutigen „Stabilität“), mit Betonung von Souveränität und der Macht des Staates und der Suche nach einer „nationalen Idee“.

    Russland hat das Imperiale nicht abgeschüttelt

    In jenen Jahren hörte Russland auf, als eine der Zukunft zugewandte Nation wahrgenommen zu werden und ließ die Symbole des vorrevolutionären Imperiums wieder aufleben (Christ-Erlöser-Kathedrale, Bestattung der sterblichen Überreste der Familie des letzten Herrschers im Zarenreich). Es zahlte sogar einen Teil der Schulden der zarischen Regierung zurück. Nach dieser ersten Erfahrung war der Übergang zu einer Apologie des Sowjetischen für Wladimir Putin nicht mehr schwer – schließlich wurde das Ideal da schon nicht mehr in der Zukunft gesucht.

    Ich betone noch einmal: Die Alternativlosigkeit der Staatsmacht, die Bereitschaft, mit Gewalt gegen Opponenten vorzugehen, das Verschmelzen von Geld und Bürokratie sowie eine Apologie der Vergangenheit – all diese äußerst wichtigen Grundlagen des Putinschen Regierungsstils waren bereits in den „demokratischsten“ Jahren der neuesten Geschichte Russlands wenn nicht ausgefeilt, so doch angelegt.

    Drittens war es durch die „Demokratisierung“ Russlands mit dessen „imperialem“ Anfang keineswegs vorbei. Obwohl die UdSSR zerfallen ist, hat die Russische Föderation de facto nur die Unabhängigkeit der baltischen Staaten anerkannt. Die „gelenkte Instabilität“, die jetzt gegenüber der Ukraine angewandt wird, wurde in Bezug auf viele postsowjetische Länder getestet. Russland war direkt an dem Konflikt in Moldau beteiligt, bei dem „Transnistrien“ entstand; es hat offen den Separatismus in Georgien – auch den adscharischen – gefördert und hat Abchasien und Südossetien direkt unterstützt. Der berühmte Anruf Boris Jelzins bei Eduard Schewardnadse nach dem Attentat vom 9. Februar wies unzweideutig darauf hin, dass Russland auf alle geopolitisch bedeutsamen Entscheidungen im postsowjetischen Raum Einfluss nehmen wollte. Die Annexion der Krim wäre nicht möglich gewesen, wenn die politische Elite in Russland der Bevölkerung nicht schon seit 1994 das Gefühl vermittelt hätte, die Halbinsel sei durch falsche und rechtswidrige Entscheidungen ein Teil der Ukraine geworden.

    Einen besonderen Platz auf der Tagesordnung jener Zeit nahm natürlich Tschetschenien ein. Der Krieg dort wurde getreu der Losung von der Einheit des Landes geführt und ließ in vielfacher Hinsicht das Bedürfnis nach einer „harten Hand“ entstehen (während doch zugleich eine Gewährung der Unabhängigkeit Tschetscheniens sicherlich die Kräfte gestärkt hätte, die den Aufbau einer neuen Gesellschaft in Russland anstrebten und nicht einen starken Staat; erinnern wir uns, dass Boris Nemzow zu den wichtigsten Befürwortern einer Beendigung des Krieges zählte; formal war die Unabhängigkeit ja schon zu Sowjetzeiten verkündet worden).

    Der Kern der Sache steht fest: Russland hat während der demokratischen Regierungsjahre das Imperiale der Vergangenheit nicht abgeschüttelt und kaum etwas für den Aufbau einer Gesellschaft europäischen Typs geschafft.

    Viertens, und auch das ist zu betonen, ist in Russland die Idee von einer Integration mit dem Westen (die Schaffung des berühmten „Europa von Lissabon bis Wladiwostok“) recht schnell „verwelkt“, die in den letzten Jahren der Regierungszeit von Michail Gorbatschow praktisch in den Rang einer Staatsideologie erhoben worden war. Die Regierung hat nicht versucht, einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union (die formal seit Januar 1992 besteht) oder zur NATO zu stellen. Das 1994 abgeschlossene Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen Russland und den Europäischen Gemeinschaften hatte grundsätzlich keinen Hinweis enthalten, dass der Wandel in Russland zu dessen Integration in die EU führen könnte. Analysiert man aufmerksam die Auftritte der russischen Führung in den 1990er Jahren, so zeigt sich, dass von 1993 bis 1996 die Ideen von „Zusammenarbeit“ und „Partnerschaft“ an die Stelle eines Konzepts der „Einbeziehung“ in die westliche Welt trat. Das entsprach dem Verständnis der Elite, die den Wert der Souveränität Russlands als äußerst wichtige Grundlage für ihre politische und wirtschaftliche Dominanz über das Land betrachtete.

    Wer bringt die Zukunft des Landes?

    Ohne den Leser überfrachten zu wollen, möchte ich nun einige Schlussfolgerungen ziehen: Ich gehe davon aus, dass die Russische Föderation nur über einen sehr kurzen Zeitraum die Chance hatte, im Land eine verantwortungsbewusste politische Klasse zu schaffen – ab dem Moment, als (noch im Rahmen der Sowjetunion) eine demokratische russische Regierung agierte, bis Ende 1993. Eine Klasse, die sich an europäischen Werten und europäischer Praxis orientiert, sei es an der Gewaltenteilung oder der Trennung von Bürokratie und Oligarchie. Von 1993 bis 1997 wurde der Regierung bewusst, dass sie sich von überzeugten Demokraten befreien und praktisch um jeden Preis Bedingungen für einen Machterhalt schaffen müsse (es ist bezeichnend, dass sich dieses Bewusstsein am schärfsten, ja fast schmerzhaftesten bei jenen entwickelte, die einen der äußerst wenigen Fälle miterlebten, bei denen ein Lokalfürst die Macht auf demokratische Weise verlor: mit der Niederlage Anatoli Sobtschaks bei den Gouverneurswahlen 1996).

    1997 bis 1998 entstanden dann die Grundelemente einer neuen Staatsideologie: Man begann, die Bevölkerung als Stimmvieh wahrzunehmen, das beim Wählen alles Mögliche nutzt, nur nicht den Verstand; das Oligarchat verwuchs mit der Bürokratie; das Bestreben, Elemente eines Ideals in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft zu suchen, und danach, dass sich „Russland von den Knien erhebt“, und sei es nur in der eigenen Phantasie. In der Grundanlage war schon alles da, einer neuen Führungsgeneration blieb es vorbehalten, diese Ideologie ein- und umzusetzen.

    Was sie dann auch getan hat. Und genau das ist der Grund, warum ich – so sehr ich Putin und seine Politik in manchen Augenblicken kritisieren möchte – eine große Abneigung gegenüber den Versuchen vieler russischer Analytiker hege, die ihn als Verbrecher bezeichnen oder behaupten, er habe den Bruch in der Entwicklungsrichtung des modernen Russland zu verantworten. Wladimir Putin hat vielmehr jene Tendenzen aufgegriffen und verstärkt, die eifrig und gekonnt von den gleichen Leuten geschaffen wurden, denen dann Ende 1999 bewusst wurde, dass zur Umsetzung ihres Modells „einer wie Putin“ gebraucht werde.

    Im gleichen Maße, wie in der sowjetischen Geschichte die Ära Stalin und die Ära Lenin durch Tausende historischer, ideologischer und praktischer Fäden miteinander verbunden sind, besteht in der Geschichte Russlands eine unüberwindbare Verknüpfung der Jelzin-Ära mit der Ära Putin.

    Und das führt mich zum letzten Gedanken, mit dem ich schließen möchte, und der, da bin ich mir sicher, geteilte Reaktionen hervorrufen wird: Politiker und Aktivisten, die in den 1990er Jahren auf russländischer Erde „heilig erstrahlten“ und heute versuchen, sich als Oppositionelle in Szene zu setzen, verdienen wohl kaum die wie auch immer geartete Unterstützung derjenigen, die Russland in Zukunft als freien europäischen Rechtsstaat zu sehen hoffen. Die Art, in der sie in den 1990er Jahren „gewütet“ haben und dabei die organisatorischen und mentalen Grundlagen des Putinismus schufen, wie auch die Art, wie sie das Land der heutigen Führung in die Hand gaben, nimmt ihnen jede ethische Berechtigung zu einer Rückkehr an die Macht.

    Das neue Russland wird man ohne jene bauen, die es in den 1990er oder 2000er Jahren regiert haben. Das wird allerdings, so belegen es Beispiele, bei denen autoritäre Regime demontiert wurden, Jahrzehnte dauern – aber es bedeutet auch, dass die in den 1990er Jahren entwickelten und in den 2000er Jahren erprobten Herrschaftsprinzipien nicht auf ewig Bestand haben werden.

    Weitere Themen

    „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    Chinesisch für Anfänger

    Der kaukasische Dschihad

    „Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

    Im Schwebezustand – Südossetien

    Vom Osten lernen

    Das Labyrinth der Pandora

    Herr Putin, was sagen Sie zum Thema Armut?

    Jenseits der Fotos

    In stillem Gedenken und …

    Zerfall eines Konzerns: ein Szenario

  • Russland – plötzlich im Spiegel der USA

    Trumps Wahlsieg hat in deutschen und internationalen Medien Anstoß zu zahlreichen Texten gegeben, die nach Gründen für seinen Aufstieg und für den Misserfolg von Hillary Clinton suchen. Die Autoren fragen sich, ob die politische Klasse noch eine gemeinsame Sprache mit der breiten Bevölkerung spreche, ob noch genug Verständnis für deren Probleme bestehe. Manche dieser Texte grenzen an Selbstkasteiung. Ganz so weit lässt es der kremlkritische Journalist Oleg Kaschin in seinem bissigen Stück für Republic nicht kommen, er begreift die US-Wahl und die riesige Debatte darum jedoch als Anschauungsobjekt: Da es in Russland schon jetzt nicht an Führungsfiguren nach Trumps Muster mangele, müsse die russische Öffentlichkeit doch auch etwas lernen können, oder?

    „Menschen, die in Russland heute an der Macht sind, ähneln sich in vielem. Sie sind alle reich, sie sind – im Großen und Ganzen – alle Rednecks.“ Foto © [RAW] unter CC BY-NC-ND 2.0
    „Menschen, die in Russland heute an der Macht sind, ähneln sich in vielem. Sie sind alle reich, sie sind – im Großen und Ganzen – alle Rednecks.“ Foto © [RAW] unter CC BY-NC-ND 2.0

    Ein anrüchiger reicher Mann mit komischer Frisur, schlechtem Geschmack, schwieriger Reputation und einem seit langem und auf lange Sicht beschädigten Verhältnis zur Presse, mit junger Ehefrau von modelhaftem Äußeren – wie heißt der? Natürlich Igor Setschin; aber wenn Sie an jemand anders gedacht haben, etwa an Donald Trump, dann wäre das nicht verwunderlich. Solch einzigartige Typen gibt es nicht so viele auf der Welt. Die einen kommen in Mode, die anderen geraten aus der Mode, so ist das beim Film, so ist das im Showbusiness, so ist das in der Politik.

    Russland erinnert sich noch, wie im Gefolge des ikonenhaften Lushkow in den Regionalregierungen das Standardgesicht „kerniger Wirtschaftsfunktionär“ auftauchte – und zügig die Helden der vorangegangenen Mode verdrängte, die Demokraten der ersten Welle –, bevor das Feld schließlich mit dem Amtsantritt Putins den wortkargen Silowiki und Bürokraten überlassen wurde. Moskau kann aber seine Standards nur nach unten, auf die Regionen übertragen, während es selbst, und mag sein Weg noch so „besonders“ sein, den globalen Trends ausgesetzt ist. Und da ist er schon: Trump, der neue globale Trend und eine echte Herausforderung. Welche Auswirkungen wird er auf die politische Mode in Russland haben?

    Gemeinsames Zauberwort suchen

    Einen russischen Trump zu finden, ist das Einfachste auf der Welt. Eine Kandidatur Igor Setschins wäre wohl die radikalste Variante, doch an seiner Stelle könnte stehen, wer will. Menschen, die in Russland heute an der Macht sind oder in deren Nähe, ähneln sich in vielem: Sie sind alle reich, sie sind – im Großen und Ganzen – alle Rednecks, und sie würden sich alle harmonischer ins Interieur des Casinos Trump Taj Mahal einpassen als in ein Co-Working Space im Silicon Valley. Der ideale russische Trump ist natürlich Wladimir Putin, den muss man nicht groß suchen, er ist eh ständig da und wird uns bei den nächsten Präsidentschaftswahlen erneut versprechen, Russland wieder groß zu machen. Soviel ist klar.

    Interessanter ist die Gesellschaft. Im amerikanischen Wahlkampf schien über den gesamten Verlauf auch unsere gesellschaftliche Dauerdiskussion durch: Debatten über das Volk, das plötzlich zum größten Konservativen geworden sei, über die progressive Minderheit, dazu verdammt, massenhaft auf Unverständnis zu stoßen, über die Grenzen des Populismus und die Grenzen der ideologischen Flexibilität des Regimes – solche Diskussionen werden bei uns schon lange geführt. Und wenn die gleiche Debatte sich nun plötzlich am amerikanischen Objekt wiederholt, dann ist das doch eine hervorragende Gelegenheit, sich von der Seite zu betrachten. Wann war denn so etwas schon mal möglich?

    Verweise auf die russischen Präsidentschaftswahlen von 1996 gelten vor dem Hintergrund dessen, was diesen Herbst in den amerikanischen Medien abging, längst als völlig unpassend. Wahrscheinlich ist der Vergleich insoweit unzutreffend, als dass der Wahlkampfsumpf für die Amerikaner ein Schauspiel von begrenzter Dauer war, während sich bei uns das Komplott von Regime und Presse gegen die Gesellschaft, dem im System keine Grenzen gesetzt sind, als unbefristet herausgestellt und in der Ära von „gekreuzigten Jungen“ zu ganz widerwärtigen Zuständen geführt hat. Auch ohne Bezug auf die Wahlen in Amerika ist es stets sinnvoll, sich daran zu erinnern, dass bei uns alles mit guten Absichten begann, als Journalisten sich in Reih und Glied stellten, um die Regierung vor dem unvernünftigen Wähler zu schützen. Bei uns wurde darüber seit zwanzig Jahren nicht reflektiert, und vielleicht ist das der Grund dafür, dass die hysterischsten Texte über den Tod der amerikanischen Demokratie derzeit eben auch auf Russisch geschrieben werden.

    Das Jahr 1996 ist jedoch Geschichte, während 2011/2012 beispielsweise noch Gegenwart ist: Wir haben die Erfahrung einer Konfrontation der gutsituierten, protestierenden Moskauer Intelligenz mit dem Regime, das damals den breit angelegten Versuch unternahm, die Volksmassen auf seine Seite zu ziehen (oder diese Anziehung zu imitieren). Jetzt lieferte Amerika dem Bolotnaja-Platz von damals ein anschauliches Modell einer ebensolchen Konfrontation, bei der die Minderheit so sehr Recht haben mag, wie sie will, aber dennoch zur Niederlage verdammt ist. Es liegt auf der Hand: All jene, die in Russland irgendetwas erreichen wollen, sollten sich die amerikanische Suche nach jenem Zauberwort genau anschauen, mit dem man eine gemeinsame Sprache mit der Mehrheit finden kann. Es ist schwer zu sagen, welches dieses Wort sein könnte, aber eines steht fest: Es muss ehrlich sein und darf nicht von oben herab kommen.

    Moment für Eingeständnisse

    Das klassische „Russland, du bist wohl völlig durchgedreht“ nach den Wahlen (auch schon 1993, als die LDPR bei den Dumawahlen auf dem ersten Platz landete), das man heute paradoxerweise ins Englische übertragen kann, bedeutet und bedeutete im Grunde immer so etwas wie: „Wir dachten wir könnten die Meinung derer einfach ignorieren, die wir für Rednecks halten.“ Gerade ist wohl der Moment gekommen, sich einzugestehen, dass solche Formeln schäbig sind und man akzeptablen Ersatz für sie suchen sollte.

    Und hier steckt das größte Paradoxon: So oder so werden es die Amerikaner sein, die etwas suchen, um das bestehende Verhältnis zwischen der „klugen“ Minderheit und der „dummen“ Mehrheit zu erneuern. Aus der Niederlage, die Trump dem linksliberalen Establishment beibrachte, müssen unbedingt Schlüsse gezogen werden. Lektionen werden gelernt und auf Englisch formuliert werden, und zwar auf den Seiten der gleichen Medien, die jetzt den ganzen Herbst Angst verbreitet haben vor Trumps möglichem Einzug ins Weiße Haus. Und dann wird unsere verwestlichte „kluge“ Minderheit, die nicht immer fähig ist, etwas eigenes hervorzubringen, die aber sehr sensibel für die weltweite intellektuelle Mode ist, die amerikanischen Schlussfolgerungen vielleicht lesen, sie als gegeben annehmen und sich mit ihnen rüsten. Es mag wohl eine naive Hoffnung sein, aber dennoch: Wenn ein Autor des New Yorker überlegt, wie man sich verhalten sollte, damit der Spießbürger in Oklahoma nicht zu Trump umschwenkt, dann könnte es auch innerhalb der russischen kreativen Klasse möglich werden, ein solches Gespräch mit Menschen in Nishni Tagil zu führen, damit man dort nicht verstört schaudert und denkt: Dann lieber Putin als die da.

    Die Wahlen, die die amerikanische Intelligenz verloren hat, werden die Verlierer etwas lehren, woran sie bislang noch nicht gedacht hatten. Und auch die russischen Epigonen der amerikanischen Intelligenz werden dann etwas lernen. Wir haben genug eigene Trumps. Und es mangelt uns auch nicht an jenen, die überzeugend und detailliert darstellen, was für ein Pech sie doch hätten mit dem russischen Volk. Aber es mangelt uns an jenen, die mit der Volksmehrheit angemessen in deren Sprache sprechen können. In Amerika, so hat sich jetzt herausgestellt, gibt es ein ähnliches Problem, aber das werden sie wohl lösen. Und wir werden bei ihnen abgucken. Und es auch bei uns lösen.

    Weitere Themen

    Trump ein Agent Putins?

    „Wir haben lange genug stillgehalten“

    „Der Point of no Return liegt hinter uns“

    Journalisten in der Provinzfalle

    Zuhause im 8-Bett-Zimmer

    Presseschau № 44: Trumps Wahlsieg

  • Herr Putin, was sagen Sie zum Thema Armut?

    Herr Putin, was sagen Sie zum Thema Armut?

    In Moskau wurde in den vergangenen Jahren die ganze Stadt umgekrempelt. Neue Fußgängerpassagen entstanden, Parks wurden modernisiert, Straßen saniert. Der strahlende Glanz der Hauptstadt täuscht darüber hinweg, dass sehr viele Menschen in Russland nach wie vor in Armut leben. Seit einigen Jahren steckt das Land zudem in einer tiefen Wirtschaftskrise – mit der deutlich hervortritt, wie groß die Abhängigkeit des russischen Staatshaushalts vom Ölpreis ist und dass Wirtschaftsreformen fehlen. Die Sanktionen wirken ebenfalls auf das Land. Im Mai machte ein Video im russischen Internet die Runde, in dem sich Premier Dimitri Medwedew bei Rentnern auf der Krim ziemlich salopp rechtfertigt: „Im Moment haben wir einfach kein Geld.” In den Regionen wachsen unterdessen Sozialproteste.

    Auf slon.ru hat sich Jewgeni Karassjuk gefragt, wo der russische Präsident die Ursachen der Armut sieht. Aus Putin-Zitaten der vergangenen zehn Jahre hat er vier Thesen formuliert –  und sie kritisch hinterfragt.

    Foto © Viktor Korotajew/Kommersant
    Foto © Viktor Korotajew/Kommersant

    Im vergangenen Jahr ist laut der Statistikbehörde Rosstat die Anzahl der Armen in Russland drastisch gestiegen, auf 19,2 Millionen – das sind 3,1 Millionen mehr als im Vorjahr. 2016 verschlechterte sich die Lage weiter. In den Monaten Januar bis März galt jeder Siebente in Russland als arm (22,7 Millionen Menschen). Ein derart starker Anstieg der Armut, die von Experten der Moskauer Higher School of Economics bereits als Massenarmut bezeichnet wird, bringt die Regierung in eine verfängliche Situation: Einerseits kann sie sich nicht erlauben, die Dimension dieses Problems allzu oft und allzu offen anzusprechen, genauso wenig wie sie die wirre Suche nach Lösungen nicht zu offen zeigen sollte. Andererseits darf die Regierung darüber offensichtlich auch nicht schweigen und so tun, als wäre nichts.

    In den 17 Jahren an der Spitze des Landes hat sich Putin in der Öffentlichkeit einige zwar kurze, aber ideologisch gehaltvolle Bemerkungen zum Thema Armut erlaubt. Zusammengenommen geben sie einen guten Einblick, wie die Regierung in Russland das Problem wahrnimmt und warum die Armut wohl auch in Zukunft weiter zunehmen wird.


    These: Armut als Erzeugnis der 1990er Jahre

    Wladimir Putin: „Die Menschen tragen keine Schuld daran, dass ein Teil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt; wir haben sie über die vergangenen 15 Jahre dorthin getrieben.“ (2008)

    „Im Jahr 2000 lebten 30 Prozent der Bürger jenseits der Armutsgrenze. Jetzt sind es 11,2 Prozent.“ (2013)

    Das erste Zitat zeigt den Wunsch des Präsidenten, die Verantwortung für die Armut in der Bevölkerung auf die Politik der 1990er Jahre und deren führende Köpfe abzuwälzen, also auf die Liberalen, die unter Jelzin in der Regierung saßen. Die 15 Jahre waren hierbei nur eine ungefähre Zeitangabe. Fünf Jahre später dann wurde Putin ganz konkret: Seit dem Jahr 2000, also seit seinem Einzug in den Kreml, hat sich die Armut um zwei Drittel verringert.

    Tatsächlich war der heftige Ausschlag des Armutsniveaus im Jahr 2000 eine unmittelbare Folge der Krise von 1998, die – ohne Zutun der damaligen russischen Regierung – nur ein Glied in der Kette von Erschütterungen im Finanzwesen von Asien bis Lateinamerika war. Insgesamt war die soziale Entwicklung in den 1990er Jahren gar nicht so negativ gewesen. In der Studie Ausmaß und Profil der Armut in Russland von den 1990er Jahren bis heute1 der Higher School of Economics heißt es: Das Ausmaß der Armut habe sich von 1992 bis zum Crash im August 1998 verringert und zwar deutlich spürbar. Im Zeitraum von nur zwei Jahren (1993 und 1994) sei der Anteil der von Armut Betroffenen um ein Drittel zurückgegangen. Später dann habe er sich allerdings bei einem Wert um 22 Prozent eingependelt. Dass jeder fünfte Bewohner des Landes von Armut betroffen ist, ist natürlich eine krasse Zahl. Aber man darf nicht vergessen, dass dies die Zeit war, als sich die Sowjetbürger von gestern an eine kapitalistische Realität anpassen mussten, die nicht durch einen dreistelligen Ölpreis geschönt wurde. (Der Preis für ein Barrel Urals-Öl lag davor im Jahr 1990 bei 22,7, 1995 bei 16,6 und 2000 bei 26,6 US-Dollar [heute liegt er bei 50 US-Dollar – dek]).


    These: Armut als Paradox eines rohstoffreichen Landes

    Wladimir Putin:Russland ist ein sehr reiches Land, aber leider, und dafür schäme ich mich sehr, gibt es immer noch sehr viele Arme in der Bevölkerung. Wir werden alles dafür tun, dass  Lebensstandard und  Lebensqualität der Bürger von Jahr zu Jahr steigen. Ich gehe davon aus, dass wir diese Aufgabe nicht erst in ferner, historischer Zukunft lösen werden, sondern in den nächsten Jahrzehnten.“ (2006)

    Hier ist vor allem vom Anteil der „natürlichen Ressourcen und Bodenschätze“ an der Volkswirtschaft die Rede, der nach Auffassung des Präsidenten äußerst groß war,  ist und wohl auch bleiben wird. Die Staatseinnahmen stammten im vergangenen Jahr [2015 – dek] zu 44 Prozent aus Öl- und Gaslieferungen; das bedeutet eine kleine Einbuße gegenüber dem Spitzenwert von 51,3 Prozent im Jahr zuvor. Vor zehn Jahren, im Jahr 2006, aus dem Putins obige Überlegungen zur Armut in einem reichen Land stammen, hatten Öl und Gas knapp 47 Prozent der Haushaltseinnahmen Russlands ausgemacht. In diesen Zahlen zeigt sich ein scheinbarer Widerspruch: Rohstoffreichtum einerseits und Lebensqualität der Bevölkerung andererseits.

    Tatsächlich besteht hier überhaupt kein Widerspruch. In der Wirtschaftswissenschaft ist der Begriff Ressourcenfluch enorm verbreitet. Anhand solider Statistiken belegt etwa der US-amerikanische Politologe Michael L. Ross, Autor des Buches The Oil Curse: How Petroleum Wealth Shapes the Development of Nations, dass der Zugriff auf große Mengen fossiler Bodenschätze für ärmere Länder nur von Nachteil ist – vor allem für die breite Bevölkerung, die nur ein winziges Stück vom Kuchen abbekommt. Russland ist hierfür ein besonders unansehnliches Beispiel; erst jüngst wurde es von der Consulting-Firma Capgemini zur weltweit ungerechtesten großen Volkswirtschaft erklärt. 62 Prozent des nationalen Reichtums gehören den Dollarmillionären, weitere 26 Prozent den Dollarmilliardären. Beide Gruppen zusammen machen 0,1 Prozent der Bevölkerung des Landes aus. Die Jahre unter Putin waren durch einen gehörigen Anstieg der Kennzahlen von Einkommensunterschieden geprägt (Gini-Index und Gegenüberstellung der reichsten 10 und der ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung ).


    These: Armut durch Systemversagen bei Umverteilung zwischen den Regionen

    Wladimir Putin: „Die Lebensqualität der Menschen, die Steigerung ihrer Einkommen, die Verbesserung des sozialen Bereichs und der Infrastruktur hängen unmittelbar vom Zustand der Haushalte in den Regionen und Kommunen Russlands ab. […] Heute sind die Unterschiede der regionalen Haushaltsausstattung offensichtlich. […] Und zwar bei der Entlohnung von Arbeitskräften, bei der Finanzierung sozialer Projekte und bei Infrastrukturmaßnahmen. Wir müssen Lösungen finden, um diese Schieflagen auszubalancieren, und die Regionen in die Lage versetzen, ihr finanzielles Fundament zu festigen.“ (2016)

    In diesem aktuellen Vorschlag des Präsidenten ist nicht von der Armut der Bevölkerung an sich die Rede, sondern von den bedürftigen regionalen Haushalten. Aus der Forderung „Schieflagen auszubalancieren“, wird deutlich, welchen Ausweg Putin aus der kritischen Situation mit der Armut sieht, insbesondere in der Provinz: Die Instrumente staatlicher Subventionierung müssen umgestaltet werden, ohne das zu sprengen, was der Nobelpreisträger Paul Krugman „Kultur der Abhängigkeit“ genannt hat.

    Tatsächlich ist nicht ein mangelhaftes Umverteilungssystem Schuld an dem kümmerlichen Zustand der regionalen Haushalte, sondern die jahrelange Politik des Kreml. Bereits vor der Krise hatte das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung prognostiziert, dass das Defizit in den  konsolidierten Regionalhaushalten von 50 Milliarden Rubel im Jahr 2012 auf 1,8 Billionen Rubel im Jahr 2018 ansteigen wird – vor allem aufgrund der Mai-Erlasse Präsident Putins. In seiner programmatischen Haushaltsbotschaft für die Jahre 2013 bis 2015 hatte der Präsident einer Erhöhung der Gehälter öffentlicher Angestellter – „die geringer sind als die in der freien Wirtschaft und bisweilen gerade einmal oberhalb des Existenzminimums liegen, was völlig unzulässig ist“ – äußerste Priorität gegeben. Der Präsident räumte dabei ein, dass die „Qualität der Arbeit im öffentlichen Sektor die Bürger nicht zufriedenstellt, obwohl Jahr für Jahr mehr Mittel in den sozialen Bereich fließen“. Wobei es parallel zu der riesigen Belastung der Haushalte zu einer ständigen Ausweitung des staatlichen Sektors kommt: 2011 betrug der Anteil der in staatlichen Einrichtungen und Firmen Beschäftigten nach Angaben der OECD rund 30,6 Prozent und stieg in der Folge weiter an.

    In der Theorie kann die finanzielle Unabhängigkeit der Regionen, von der Putin spricht, dem Problem der Armut in der jeweiligen Region die Schärfe nehmen. Und in der Praxis? Die üppigen Zuschüsse aus Moskau haben die Republik Mordwinien nicht vor der Versuchung bewahrt, noch mehr Schulden zu machen. Diese sind nach Einschätzung der Soziologin Natalja Subarewitsch auf phantastische 165 Prozent des (natürlich höchst defizitären) regionalen Haushalts angewachsen. Es ist bezeichnend, dass an der Spitze einer der ärmsten Regionen Russlands in den letzten zwanzig Jahren zwei Gouverneure standen, die sich beide an der Macht halten. Nikolaj Merkuschin, der Mordwinien seit den 1990er Jahren bis zu seiner Ernennung zum Oberhaupt der Oblast Samara regierte, wurde von Wladimir Wolkow abgelöst. „Ende letzten und Anfang dieses Jahres hatten wir wirtschaftliche Schwierigkeiten“, erstattete Wolkow dem Präsidenten [im Sommer 2015 – dek] Bericht, „doch [die] haben wir jetzt bereinigt“.


    These: Armut als Folge von Hilfe aus dem Westen

    Wladimir Putin: „[Die Länder des Westens] müssen den Entwicklungsländern helfen, und zwar nicht nur, indem sie einfach Geld geben und eine neue Armutsspirale erzeugen. Es geht darum, die Bedingungen des Welthandels zu ändern.“ (2009)

    „ … Wenn wir durch die derzeit bestehenden Regeln des Welthandels die Armut in den Entwicklungsländern ständig erneuern, dann können wir diesen Ländern ewig irgendwelche Hilfsleistungen zukommen lassen; aber das wäre, ehrlich gesagt, kein anständiges Verhalten.“ (2013)

    Die erste Äußerung machte der Präsident in Davos auf dem Höhepunkt der weltweiten Finanzkrise; sie war zum Teil ein Kommentar zu einer erneuten Sackgasse in den Verhandlungen über einen Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (der Beitritt erfolgte erst zwei Jahre später).

    Die zweite Äußerung fiel zu einem späteren Zeitpunkt bei einem Treffen des Präsidenten mit Vertretern der Jungen Zwanzig (Y 20). Beide Zitate zeigen Putins negative Einstellung gegenüber jeder Form ausländischer Hilfe zur Lösung innerer Probleme – eine solche Hilfe wird im Kreml stringent als Angriff auf die Souveränität wahrgenommen. So ist es denn auch schon 18 Jahre her, dass Russland seinen letzten Kredit vom IWF erhalten hat. Das Land hat vor langem und vorzeitig seine Schulden beim Pariser Klub beglichen. Die fast nur symbolische Unterstützung, die Russland von der Weltbank erhält – vor allem für Förderprojekte zur Erteilung von Mikrokrediten – kann hier vernachlässigt werden.

    Putins Ansichten zur fehlenden Effektivität der IWF- und Weltbank-Hilfen sowie von anderen internationalen Institutionen für Entwicklungsländer sind nicht unbegründet. Der ehemalige Weltbank-Experte William Easterly zeigt in seinem berühmten Buch The Elusive Quest for Growth den verheerenden Einfluss ausländischer Kredite: Durch sie wird bei den entsprechenden Regierungen der Anreiz vermindert, gesellschaftliche Reformen voranzutreiben. Den Argumenten Easterlys, die durch persönliche Erfahrungsberichte und langjährige Statistiken gestützt werden, ist nur schwer zu widersprechen.

    Dass die Aufrufe Putins zu Korrekturen beim Welthandel kaum ernstzunehmen sind, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Bis 2020 wird der Anteil Russlands an der Weltwirtschaft – so die Schätzung des ehemaligen Finanzministers Alexej Kudrin – auf ein Rekordtief von 2,6 Prozent absinken, und auch Kirill Termassow, der im Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung für die Prognosen verantwortlich zeichnet, hat kürzlich eine zielstrebige Entwicklung in dieser Richtung bestätigt. Die „neue Spirale der Armut“, die Putin mit Blick auf die Länder der Dritten Welt verurteilte, hat nun Russland voll erwischt – und das ganz ohne fremde Hilfe.


    1.Ovčarova, L. N./Birjukova, S. S./Popova, D. O./Vardanjan, E. G. (2014): Uroven‘ i profil‘ bednosti v Rossii: ot 1990ch godow do našich dnej

    Weitere Themen

    Der Rubel bleibt unter der Matratze

    Der Mythos vom Zerfall

    Die Anzapf-Könige

    Business-Krimi in drei Akten

    Wandel und Handel

    Mit den Renten wird die Zukunft des Landes konfisziert

  • Drei Russlands

    Drei Russlands

    Die neu gewählte Duma hat am Mittwoch erstmals getagt. Vor mehr als zwei Wochen gewählt, galten die Ergebnisse auch als Signal an die politische Elite und den Kreml: Wie ticken die Menschen im Land?

    Wie aber sind die Stimmenanteile genau zu lesen? Es gab Fälschungsvorwürfe, Beschwerden über massive Vorteilsnahme durch Behörden und eine niedrige Wahlbeteiligung. Wie werden die Menschen in ihrem Parlament nun also tatsächlich repräsentiert? Der Politologe Kirill Rogow hat sich das gefragt und bei slon.ru eine Rechnung aufgestellt, die Russlands Wahlvolk und das manipulative Spiel um seine Gunst durchexerziert – mit überraschenden Schlussfolgerungen.

    Die Tatsache, dass kein einziger oppositioneller Kandidat und nicht eine neue Partei ins Parlament einzog, war das Hauptthema der Kommentare zum Ausgang der Dumawahl. Die Wahlen erscheinen wie eine mustergültige Niederlage der Opposition und wie ein Triumph der Wolodinschen Strategie, die im Grunde darin bestand, zunächst einige Vertreter der Opposition zu den Wahlen zuzulassen, sie dann aber nicht gewinnen zu lassen und ihnen auch keinen Anlass zu liefern, gegen die Niederlage zu protestieren. Die heftige Diskussion über diesen Erfolg verdeckt aber einige wichtige und für den Kreml weitaus weniger angenehme Ergebnisse des Urnengangs.

    Supermehrheit: Wozu brauchen autoritäre Regime Wahlen und Betrug

    Die jüngsten Wahlen wurden vom Kreml als ausnehmend wichtige Revanche für den Misserfolg von 2011 betrachtet. Schließlich werden in autoritär regierten Ländern Wahlen nicht abgehalten, um die Präferenzen der Wähler zu ermitteln, sondern um eine beeindruckende Unterstützung für das Regime zu demonstrieren – für die regierende Partei oder den Leader. Aufgabe des Leaders oder der herrschenden Partei ist es wiederum, nicht einfach nur über die Gegner zu siegen, wie das bei Wahlen mit echtem Wettbewerb der Fall wäre, sondern die eigene erdrückende Überlegenheit zu demonstrieren, also die Unterstützung einer Supermehrheit vorzuweisen.

    Das Bild einer solchen erdrückenden Überlegenheit wird dann für die Unzufriedenen und die Eliten ein wichtiges Signal, dass das Regime stark ist, dass Versuche, seine Macht in Frage zu stellen, sinnlos sind und Investitionen in die Opposition zwecklos. Für den Durchschnittswähler sind die Ergebnisse ein nicht minder wichtiges Signal, was denn die (in der Regel scheinbare) Mehrheit denkt. Dieses Signal bringt den Durchschnittswähler dazu, seine eigenen Einschätzungen und Wahrnehmungen zu korrigieren und sie in Richtung dessen zu verschieben, was er als „allgemein übliche Meinung“ auffasst. So stellt sich ein autoritäres Gleichgewicht ein.

    Ein Grundpfeiler für die Stabilität autoritärer Regime ist die maßlose Übertreibung ihres Rückhalts in der Bevölkerung. Es ist ein zentrales Element des Autoritarismus, in das denn auch riesige Mittel und Anstrengungen investiert werden. Es mag paradox erscheinen, doch bevorzugt ein autoritäres Regime bei der Wahl zwischen einer gefälschten Supermehrheit und einer realen Mehrheit stets das Erstere, und eine solche Strategie ist vollauf rational.

    Bei den Wahlen 2011 sind am Bild einer bedingungslosen Dominanz der Machtpartei Zweifel aufgekommen, und das führte umgehend zu einer Verfestigung der Agenda einer neuen Opposition, die die Protestbewegung des Winters 2011/12 hervorbrachte. Bei den jüngsten Wahlen musste der Kreml um alles in der Welt seine erdrückende Überlegenheit demonstrieren, um diese unangenehme Episode hinter sich zu lassen. Inwieweit und auf welche Weise ist das gelungen?

    Mathematik der Archaisierung

    Desorganisierung und Demoralisierung der Opposition einerseits sowie Demobilisierung der Wähler andererseits – das waren zwei Schlüsselelemente der Kremlstrategie bei diesen Wahlen. Während die Pragmatik des ersten Ziels auf der Hand liegt, wirft das zweite Fragen auf. Wenn die Unterstützung für das Regime derart groß ist, wie es uns die Umfragewerte weisgemacht haben, warum dann solch große Anstrengungen, um die Wähler von der Urne fernzuhalten?

    Bei genauerem Hinsehen liegt der Demobilisierungsstrategie eine klare, mathematisch prüfbare Logik zugrunde, auf die sich die Regierung stützen kann. Wie bereits bei der  Wahl  2011 zu konstatieren war, ist Russlands Wählerschaft ein Konglomerat aus verschiedenen politischen Kulturen.

    In Russland 3 sind die Wahlergebnisse stets konformistisch / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    In Russland 3 sind die Wahlergebnisse stets konformistisch / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Einen Pol bildet hier das, was Dimitri Oreschkin, Leiter des Projektes Wahlkommission des Volkes, das „symbolische Tschetschenien“ nannte. Das sind die südlichen Regionen und die autonomen Republiken, in denen die Wahlergebnisse stets konformistisch sind: mit 70 bis 97 Prozent Unterstützung für die Staatsmacht bei hoher Wahlbeteiligung. Das sind traditionalistische Enklaven, in denen die Gesellschaft Wahlen nicht als Instrument politischer Partizipation auffasst, sondern wo Regierungen sie als Ritual zur Loyalitätsbekundung arrangieren. Ein Bereich, der tatsächlich ganz traditionalistisch verfasst ist. Die Stimmzettel müssen nicht einmal gezählt werden, weil niemand die verkündeten Zahlen anfechten würde. Zu diesem Bereich zählen insgesamt die Republiken im Kaukasus, die autonomen Republiken und einige russische Oblaste. Nennen wir sie Russland 3.

    Am anderen Pol liegt Russland 1, der europäische Teil des Landes, die großen Städte, die [prosperierenden entlegenen – dek] Regionen und Gegenden mit einem großen urbanen Bevölkerungsanteil. Hier spielen die Wählerpräferenzen eine Rolle, und sie zu verfälschen ist nur begrenzt möglich, weil es Wahlbeobachter gibt, wenigstens irgendeine Art Opposition, einige unabhängige Medien und ein gewisses Selbstwertgefühl bei den Wählern, die der Ansicht sind, dass das Regime sie wenigstens anhören sollte.

    Zwischen Russland 3 und Russland 1 liegt ein Bereich, der die Elemente der traditionalistischen und pluralistischen politischen Kultur in sich vereint: Das ist Russland 2, in dessen breiter Peripherie viele Merkmale einer traditionellen Gesellschaft erhalten sind, während der fortschrittliche Kern anstrebt, die Standards von Russland 1 zu erreichen, wobei er jedoch zahlenmäßig sehr schwach ist.

    Die drei Russlands haben jeweils typische, sehr unterschiedliche Wahlergebnisse. Wenn wir die Regionen nach den Ergebnissen von Einiges Russland anordnen, dann definieren wir Russland 3 vereinfacht als jene Gebiete, in der Einiges Russland über 65 Prozent der Stimmen erhielt, und Russland 1 als die Gebiete, wo die Partei 45 Prozent oder weniger erhielt. Gerade an dieser Marke bewegt sich die Wahlbeteiligung stabil um einen Mittelwert von 39 Prozent. In Russland 2 ist die Wahlbeteiligung sehr viel breiter gestreut mit durchschnittlich 49 Prozent, während sie in Russland 3 im Schnitt bei 73 Prozent liegt. Diese Angaben sind selbstverständlich stark vereinfacht.

    So ergibt sich: In Russland 3 gibt es 16 Millionen Wahlberechtigte (das sind 14,5 Prozent aller Wahlberechtigten), von denen nach offiziellen Angaben 12 Millionen zur Wahl gegangen sind und von denen laut offiziellem Ergebnis 9,4 Millionen der Machtpartei ihre Stimme gaben (das wiederum entspricht einem Drittel aller Stimmen, die Einiges Russland bekommen hat).

    Auf dem Gebiet von Russland 1 leben 51,7 Millionen Wahlberechtigte (47 Prozent); zur Wahl gingen hier 19,7 Millionen Wähler. 7,7 Millionen von ihnen gaben Einiges Russland ihre Stimme (in Russland 1 erhielt die Partei demnach im Schnitt 39 Prozent, in Russland 3 waren es 78 Prozent).

    Somit führt die Strategie der Demobilisierung der Wähler dazu, dass Russland 1 weniger, dafür aber Russland 3 stärker repräsentiert ist – also die Gebiete mit behördlich organisiertem Stimmverhalten. In Russland 3 hat Einiges Russland 1,7 Millionen Stimmen mehr erhalten als in Russland 1, obwohl es hier rund 69 Prozent weniger Wahlberechtigte gab als in Russland 1.

    Dieses Bild stellt uns nicht nur vor die Frage nach den Besonderheiten der jüngsten Wahlen und den Folgen der Strategie, das Wählen unpopulär zu machen. Eine Strategie, über die in den letzten Wochen ziemlich viel diskutiert wurde. Sondern es stellt sich auch die viel weitreichendere Frage nach dem politischen Aufbau Russlands und seinem Wahlvolk. Dadurch, dass die Wahlergebnisse (und auch die Wahlbeteiligung) auf dem Gebiet von Russland 3 und zum Teil auch von Russland 2 behördlich organisiert sind, ergibt sich im Gesamtbild von Wählerpräferenzen eine erhebliche Verschiebung zugunsten einer paternalistischen politischen Kultur. Russland 3 ist somit in den Repräsentationsorganen systematisch überhöht vertreten.

    Die Partei der Macht ist an ihre Grenzen gestoßen

    Bereinigt man die Wahlergebnisse nach der Methode von Sergej Schpilkin um die Abstimmungsanomalien, dann ähneln sie insgesamt durchaus denjenigen von 2011. Nach Schpilkin betrugen die reale Wahlbeteiligung 2016 rund 37 Prozent und das Ergebnis für Einiges Russland 40 Prozent. Stichproben mit Hilfe von Kontrollgruppen in rund 1000 Wahllokalen durch die Wahlkommission des Volkes ergeben ein ähnliches Bild, nämlich eine Wahlbeteiligung im Bereich von 34 bis 41 Prozent und ein Stimmenanteil für Einiges Russland im Bereich von 35 bis 38 Prozent in einigen durchschnittlichen und fortschrittlichen Regionen Russlands (ohne Russland 3, das bei der Stichprobe nicht repräsentiert war).

    In Russland 1 –  zum Beispiel dem urbanen Russland  – war die Wahlbeteiligung diesmal niedriger als im Jahr 2011 / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    In Russland 1 – zum Beispiel dem urbanen Russland – war die Wahlbeteiligung diesmal niedriger als im Jahr 2011 / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    2016 war die behördliche Mobilisierung von Wählerstimmen noch stärker als 2011: Das Russland 3 der Provinz hat Einiges Russland jetzt mehr Stimmen geliefert, während die Wahlbeteiligung im urbanen Russland 1 diesmal niedriger war. Eine stärkere Mobilisierung realer Wähler hätte 2016 wahrscheinlich für ein schlechteres Ergebnis für Einiges Russland in Russland 1 und dementsprechend auch in Russland insgesamt gesorgt.

    Bemerkenswert ist, dass Einiges Russland 2004 37 Prozent der Stimmen errang und nach Schätzung der realen Ergebnisse 2011 ebenfalls zwischen 35 und 39 Prozent lag (diese Werte ergeben sich über verschiedene Auswertungsmethoden). Demnach führte die Post-Krim-Mobilisierung, von der in den letzten zwei Jahren so viel gesprochen wurde, zu keiner wesentlichen Verschiebung der Wählerpräferenzen. Das etwas höhere offizielle Wahlergebnis wäre demnach die Folge einer stärkeren behördlichen Mobilisierung in Russland 3 und einer geringeren realen Wähleraktivität in Russland 1; letztere ist angesichts der Methoden im Wahlkampf vollauf erklärlich.

    Russland in der Post-post-Krim-Phase

    Lässt sich also feststellen, dass eine Unterstützung für die Partei der Macht im Bereich von 36 bis 39 Prozent dem realen Bild der Wählerpräferenzen in Russland entspricht? Das nun auch wieder nicht. Neben dem verzerrenden Effekt durch behördlich gelenkte Wählerstimmen, „Karussells“ und Mehrfacheinwurf zusätzlicher Stimmzettel, sind auch die autoritären Zerreffekte der Wahlkämpfe zu berücksichtigen. Zu nennen wäre da die Qualität der zur Wahl zugelassenen oder eben nicht zugelassenen Parteien wie auch die Verzerrung der Medienberichterstattung, der begrenzte Zugang der Opposition zu den Medien und die ungleichen Voraussetzungen im Wahlkampf.

    Der Haupterfolg des Kreml liegt in der Demobilisierung der liberalen Wählerschaft und der Demoralisierung der neuen Opposition, die 2011 so deutlich zu Tage getreten war. Die Spaltung der Anhänger Kassjanows und Nawalnys, die die PARNAS in ein völlig wirkungsloses Projekt nach Art der Bogdanowschen Bürgerplattformen verwandelt hat, sowie das Vorgehen von Jawlinski, der seine Unfähigkeit und seinen Unwillen, mit auch nur irgendjemandem übereinzukommen, zu seinem wichtigsten politischen Kapital gemacht hat, haben die Agenda der neuen Opposition zunichte und jedwede Koordination unmöglich gemacht.

    Verhindert wurde auch eine Wiederholung der Strategie der Partizipation, die Nawalny bei vergangenen Wahlen so erfolgreich verfolgt hatte. Da die Nawalny-Fraktion Jawlinski völlig zurecht als Spoiler für ihre Agenda betrachtete, rief auch sie diesmal dazu auf, nicht zur Wahl zu gehen (da man dort wohl oder übel hätte Jabloko wählen müssen). Dadurch wurde sowohl die Gleichgültigkeit gegenüber den Wahlergebnissen verstärkt, als auch die Kontrolle über selbige. Im gleichen Zuge konnte mit dieser Strategie des Kreml auch noch eine Demobilisierung der Wahlbeobachterbewegung erreicht werden.

    Gleichwohl bleibt es eine Tatsache – so erstaunlich das klingen mag – dass sich der Anteil liberaler Wählerstimmen in den beiden Hauptstädten im Russland der Post-Krim-Phase nicht grundsätzlich verändert hat.

    Neben diesem Erfolg lässt sich in der elektoralen Landschaft Russlands allerdings auch ein weiteres Muster ausmachen. Während der aufwendige Wahlkampf Jawlinskis in Russland insgesamt mit einem Fiasko endete, erhielten die liberalen Parteien (Jabloko, PARNAS und die Partei des Wachstums) in Moskau und St. Petersburg zusammen 15 bis 20 Prozent. Das mag verwundern, entspricht aber durchaus den liberalen Wahlergebnissen bei den Präsidentschaftswahlen von 2012. Die Liberalen hatten seinerzeit ebenfalls keinen eigenen Kandidaten, sodass als dessen Surrogat der Milliardär Michail Prochorow angetreten war, der dann in St. Petersburg 15 und in Moskau 20 Prozent erzielte.

    In Russland 2 mischen sich traditionalistisch und pluralistisch orientierte Wählerschaften / Foto © Pixabay
    In Russland 2 mischen sich traditionalistisch und pluralistisch orientierte Wählerschaften / Foto © Pixabay

    Hier handelt es sich nicht einfach nur um eine liberale Wählerschaft, sondern um die stark motivierte liberale Wählerschaft, die ihrer Agenda die Stimme gibt, ungeachtet der offensichtlichen politischen Schwäche des Hauptakteurs für diese Agenda. Allerdings ist diese Wählergruppe bei den jüngsten Wahlen im Kaliningrader, Moskauer und Swerdlowsker Gebiet, wo Prochorow 2012 ebenfalls über zehn Prozent geholt hatte, nun schwächer gewesen. Eine Erklärung hierfür steht noch aus.

    Insgesamt allerdings erscheint der Wähler in Russland vollkommen ausgelaugt durch die politischen Inszenierungen und Trugbilder des Kreml. Die Debatten der Parteikandidaten ähnelten einem Wettkampf provinzieller Antitalente, und zwar in der Disziplin „Wer ist am unattraktivsten für den Wähler?“. Jawlinski hat es irgendwie geschafft, niemandem zu gefallen und das kümmerlichste Ergebnis seiner ganzen Karriere einzufahren. Hinter all dem wird aber auch das völlige Fehlen einer irgendwie gearteten und für Wähler relevanten Agenda des Kreml deutlich. Zu beobachten ist auch eine nicht von Wolodin bewerkstelligte, sondern eben tatsächliche Demobilisierung der Wähler. Ausgeblieben ist eine Verschiebung der Wählerpräferenzen ins Konservative, wie sie noch vor Jahresfrist als unumstößliche Realität angenommen wurde. Der Zustand der Gesellschaft ähnelt wohl einem Kater nach einer durchzechten Nacht: Der Hype der Party ist vorbei, doch wieder scharf zu fokussieren gelingt noch nicht so recht. Wie dem auch sei: Offenbar haben wir es bereits mit einem Post-post-Krim-Russland zu tun.


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

    Weitere Themen

    Russlands neue Revoluzzer?

    „ … sonst bleibt nur der Revolver“

    Infografik: Dumawahl 2016

    Presseschau № 41: Dumawahl 2016

    Ist was faul an der Kurve?

    Sieg der Stille

  • Das Labyrinth der Pandora

    Das Labyrinth der Pandora

    Was heißt Regieren und Regiert-Werden in Russland? Wie funktioniert das politische System überhaupt, nach welchen Regeln wird hier gespielt? Und hat das alles eine Zukunft?

    Wer all diese Fragen beantworten möchte, müsste eigentlich eine Dissertation verfassen. Der renommierte Journalist Maxim Trudoljubow dagegen, Redakteur der Wirtschaftszeitung Vedomosti, vertraut der kurzen Form: In seinem Essay auf Inliberty.ru verdichtet er hochkomplexe Zusammenhänge in starker Metaphorik. Und schreibt dabei unter anderem an einer Debatte zur politischen Ethik fort, die sein Kollege Andrej Archangelski eröffnet hatte – mit der These, dass sich nach dem Ende der Sowjetunion ein breites ethisches Loch aufgetan hätte, auch in der Politik.

    MAUS IM LABYRINTH

    Läuft eine Maus durch ein Labyrinth, muss sie sich den Gesetzen des Labyrinths unterwerfen – und all ihre Kräfte darauf verwenden, sich in der sich ständig wandelnden Konstruktion zurechtzufinden. Sie muss die nächste Abzweigung suchen und dann weiterrennen. Sie hat keine Leiter, auf die sie klettern und dann schauen könnte, wie die Wege aussehen, die sie entlangrennt. Sie hat keinen Überblick und weiß nicht einmal, dass es sich um ein Labyrinth handelt. Wegweiser oder Beschriftungen gibt es nicht – nur Türen und Gänge, Gänge und Türen. Sie kann die Wände nicht durchbrechen, sie weiß nicht, dass das möglich ist, und sie ist nicht verpflichtet, es zu versuchen. Tut sie es doch, kann sie wegen Beschädigung der Wand bestraft werden. Man kann der Maus also kaum vorwerfen, dass sie nicht versucht, die Wand zu durchbrechen.

    Aufgabe der Legislative: Nicht die Experten stören!

    Lassen Sie uns eine kleine Zeitreise machen und für einen Moment in die Werkstatt schauen, in der das Labyrinth gebaut wird:

    Einer der Architekten ist Igor Schuwalow, der Erste Stellvertretende Premierminister Russlands. Er ist es, der die Idee der Unterordnung der Legislative unter die Exekutive formuliert hat, und zwar in seiner Dissertation Die Regierung der Russischen Föderation im Prozess der Gesetzgebung aus dem Jahr 2004. Er wollte seinerzeit begründen, dass die Regierung der beste Gesetzgeber ist: „Die meisten Entwürfe für föderale Gesetze sollten von der Regierung kommen. Die dortige Praxis und die tatsächlichen Verhältnisse sind derzeit oft der föderalen Gesetzgebung voraus. Die Regierung der Russischen Föderation verfügt über beträchtliche Möglichkeiten und ist in der Lage, diese Prozesse zu verfolgen.“ Sprich: Aufgabe der gesetzgebenden Gewalt ist es, die Experten nicht bei der Arbeit zu stören.

    Herrschaft der Technokraten

    Schuwalow ging es vor allem um die Gesetzgebung. Die Manager, die mit Medien, NGOs und Unternehmen arbeiteten, haben zwar keine Dissertationen hinterlassen, aber ihre Argumente sind ähnlich: Schafft uns die Demagogen aus den Augen und lasst uns arbeiten, arbeiten, arbeiten. Wir kennen das aus dem, was Alexej Wolin über die Medien gesagt hat und wie sich Wladimir Putin über gesellschaftliche Organisationen äußerte: Gesetze, Medien, Unternehmen und Zivilgesellschaft, das sind Instrumente für die, die wissen, was zu tun ist. Die Schöpfer und Betreiber des derzeit in Russland herrschenden Systems nehmen das System nicht als autokratisch oder als „Putins Diktatur“ wahr, sondern als Herrschaft von Experten, von Meistern, von Leuten, die sich auskennen – also als Technokratie.

    Politik der „Projekte“

    Was wir um uns herum wahrnehmen, ist das Ausarten einer Expertokratie. Es sind Exzesse einer versuchten Rückkehr zu nutzenorientierter Politik, zu einer Politik in „Projekten“ und dazu, dass der Erfolg von Politik mit den Begriffen effektiv und nicht effektiv gemessen wird.

    Die Bürger, die einfachen Beobachter, nehmen dieses System nicht als Technokratie wahr, sondern als Regime einer gewissenlosen Elite, die jedwede Orientierung verloren hat, weil sie nie für irgendetwas bestraft wird. Doch das wiederum will das System nicht verstehen. Die Systemadministratoren denken, dass nur Inkompetente, Unwissende und Zurückgebliebene dort ein Übel vermuten, wo die Administratoren selbst lediglich zu behebende Bugs und entsprechende Kosten ausmachen.

    2011 hat die Gesellschaft versucht, wieder ethische Werte  in Umlauf zu bringen: Das Gute und das Böse, Wahrheit und Lüge wurden für kurze Zeit zu Maßstäben für die Legitimität der Staatsmacht. In Russland drohte plötzlich die „Gefahr“, dass Ethik im politischen Raum eine Rolle spielen könnte. Und selbst wenn wir der These folgen würden, dass die Proteste zumindest in gewissem Maße von einem einzelnen, abgespaltenen Teil der Elite inszeniert wurden, so ist das zwar ein Versuch „von oben“ – aber eben doch ein Versuch, sich eine Ethik anzueignen.

    Mobilmachung entlang der Linie Freund – Feind

    Die Systemadministratoren antworteten mit einer punktgenauen Verteilung von Wohltaten und einer eiligen Totalmobilmachung entlang der Linie Freund – Feind. Es begann die Verfolgung ausländischer Förderer, Verleger, Lehrer und ihrer Agenten.  

    Dann initiierte Russland bewaffnete Konflikte, die die russische Gesellschaft in ihrer Haltung gegenüber den Feinden polarisierten – wer ist nicht alles als Feind gebrandmarkt worden an einer der launischen Biegungen der Generallinie.

    Alles ging den Technokraten leicht von der Hand, weil sie wissen, auf welchem Nährboden sie operieren. Die russische (sowjetische) Massenkultur ist vom Feindesmotiv durchzogen. Wo bei den Amerikanern das Böse zu finden ist, ist bei uns der Feind – also muss man einen Krieg anzetteln.

    Gefangene einer monströsen Illusion

    Die aktuelle Lage ist kompliziert. Nicht, weil Ideologen oder Nationalisten an der Macht wären, sondern weil es „Ultrarealisten“ sind, die das Land führen. Leute, die davon überzeugt sind, dass sie die verrottete Natur des Menschen durch und durch kennen, dass sie über alle Daten zur Gesellschaft und Wirtschaft Russlands verfügen und dass sie in der Lage sind, dem undankbaren Publikum eine ausreichende Menge Nutzen zu bringen. Vielleicht sind diese Leute Zyniker – wer weiß? Gut möglich aber auch, dass sie Gefangene einer monströsen Illusion sind.

    Viele Einzelmechanismen, die technische Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, funktionieren: Die Zentralbank funktioniert, Dokumente durchlaufen Abstimmungsprozesse, Nationale Projekte werden aufgelegt und umgesetzt.

    Wobei die Ergebnisse nach unabhängigen Maßstäben, die gerade die technokratischen Leistungen erfassen, katastrophal sind: Die Arbeit unserer staatlichen Verwaltung hält in Hinblick auf ihre Qualität einem Vergleich mit den Nachbarländern nicht Stand, die Staatsausgaben sind ineffizient und wirken sich negativ aus, außerdem wurden keine Wachstumsquellen erschlossen, die von den Rohstoffvorkommen unabhängig wären.

    Ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen

    Doch gibt es niemanden, der an das Handeln der „Meister“ eine solche Messlatte anlegt; diejenigen, die das hätten tun können, wurden geschasst. Das Ganze gerät zu einem l’art pour l’art: Diese Konstruktion, geschaffen von Experten zu dem Zweck, sich gegen alternative Bewertungen abzusichern, ist ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen. Das permanente Verschieben der Verbindungen zwischen den Gängen (das Revidieren von Gesetzen, die Änderung der Spielregeln) ist für die Betreiber notwendig, damit sie keiner bei der Arbeit stört. Ungestörtes Handeln ist ihr Hauptzweck, ein anderes erklärtes Ziel haben sie nicht.

    All das geschieht des Labyrinthes wegen: um es weiter umbauen zu können, damit es möglichst wenig Mäuse schaffen, den Kopf zu heben und sich zu überlegen, wie man hinter die Trennwände schauen könnte.

    Die in Russland geschaffene Architektur der Gesellschaft ist sinnlos und gleichzeitig äußerst klug. Klug in dem Sinne, dass sie einen bedingungslosen Gehorsam programmiert. Und zwar nicht einen Gehorsam gegenüber einer Idee, sondern gegenüber der Aufgabe, durch Gänge zu rennen, die ständig verschoben werden.

    Wenn dem so ist – ist das System dann nicht eigentlich harmlos? Wäre dann nicht das Schlimmste, was es anrichten kann, dass es der Maus Holzlatten und Nägel wegnimmt, wenn sie versucht, sich eine Leiter zusammenzuzimmern, um die Konstruktion von oben zu betrachten? Zumal es manchen Mäusen diese Materialien sogar lässt und sich nicht besonders daran stört.

    Revolution ohne Banner

    Es gibt hinter den Wänden auch gar nicht viel zu sehen. In der Banalität des Bösen untersucht Hannah Arendt eingehend das Verhalten eines Menschen, der sich weigert, den Kopf zu heben und sich bewusst zu machen, an welchem systemischen Verbrechen er beteiligt ist. Hinter den damaligen Verbrechen standen Führer, die Gesetze waren verbrecherisch und nahmen Millionen Menschen ihre Würde, und alles fand im Zeichen einer für jeden sichtbaren Flagge statt. Auch das sowjetische System hatte seine Flaggen und seine Ideologie; es proklamierte seine eigene Idee des gesellschaftlichen Wohls, auf das jeder seinen Eid abzulegen hatte, der in die führende Partei eintreten wollte, und damit, potentiell, in die Elite.

    Unsere Architekten hingegen tragen keinerlei Flaggen, auf denen etwas geschrieben steht, sie stehen nicht für die Idee irgendeines Wohls, nicht einmal eines willkürlich verkündeten. Welche Flagge halten die Präsidentenberater, der Premierminister und seine Stellvertreter denn hoch? Das sind Fachleute, Verwalter, und mehr nicht. Und sie arbeiten immer besser, weil sie auf immer weniger Barrieren stoßen. Schon sind Telegraphenstation, Fernsprechamt, Postämter, Fabriken, Parteien, gesellschaftliche Organisationen, Künstler- und sämtliche anderen Verbände erobert.

    Doch halt – ist das alles nicht das Gleiche, was schon vor einem Jahrhundert Menschen taten, die mit einer machtvollen revolutionären Idee gewappnet waren? Es ist ähnlich und unähnlich zugleich, denn es gibt jetzt kein niedergeschriebenes Programm, und die Leute kommen auch nicht in Lederjacken daher, sondern in Anzügen, und das alles hat keinen Namen.

    Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen

    Ja, es hat keinen Namen – und hierin liegt das Geheimnis und der Sinn des Ganzen. Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen (Enteignung ist nicht Enteignung, Krieg ist nicht Krieg, ein abgeschossenes Flugzeug ist kein abgeschossenes Flugzeug), und damit auch auf ethische Urteile. Mehr braucht es nicht. Darin besteht schon der Eid – und damit akzeptiert man gleichzeitig ein System, das derart in Freund und Feind unterscheidet.

    Das ist selbst in Kleinigkeiten bemerkbar: Die neuernannte Chefredakteurin einer Zeitschrift fühlt sich genötigt, in einem Interview zu erklären, dass sie auf Berufsethos verzichte.

    Der Eifer, mit dem das System alle, selbst potentielle, Quellen ethischer Urteile bekämpft, zeugt davon, dass genau hier der Übergang zur Politik stattfindet. Kontrollierte Medien, Organisationen und Prominente verzichten auf Werturteile. Und werden so zu Instrumenten, um Freund, die eigenen Leute, von Feind, den anderen, abzugrenzen.

    Gleichzeitig können anscheinend jene, die nicht auszuschalten sind, im politischen Bereich für zehn arbeiten. Die erstaunliche Leistung Alexej Nawalnys besteht darin, dass er – auch wenn er von einer unmittelbaren Beteiligung am politischen Prozess ausgeschlossen ist – dort gleichwohl als Institution präsent ist. Das Gewicht, das seine Untersuchungen und Einschätzungen zu politischen Figuren erlangen, und die Kräfte, die darauf verwandt werden, um die jeweils Betroffenen reinzuwaschen (jetzt ist es der „Architekt“ Igor Schuwalow selbst; zuvor hatte es Juri Tschaika, Maxim Liskutow, Wladimir Jakunin, Andrej Kostin und viele andere getroffen), belegen etwas Wichtiges: Eine Politik zu betreiben, die jegliches moralisches Urteilen über das Regime unmöglich machen will, gelingt nur mit übermäßiger Kraftanstrengung. Der Utilitarismus, der dabei herauskommt, ist ein schadhafter. Und die moralische Entrüstung schafft sich dennoch Gehör. Schließlich ist Nawalny nicht der einzige, der dieses Feld bearbeitet. Ob man es will oder nicht: Es gibt außer ihm auch andere, und es wird sie weiterhin geben.
    Das Bedürfnis, das aktuelle Geschehen moralisch zu beurteilen, ist stärker als alle Versuche, eben dieses Bedürfnis medientechnologisch zu neutralisieren. Selbst eine für Ethik taube Gesellschaft wie die russische will einen Austausch darüber, was „gut“ ist, und was „schlecht“. Weil der Mensch eben nicht nur ein politisches Wesen ist, sondern auch ein moralisches.

    Büchse der Pandora

    Das ist eine gute Nachricht und eine schlechte zugleich: Es bedeutet einen Haufen Risiken für die Zukunft, weil es ein potentielles Schlachtfeld gegen das politische Böse eröffnet. Jene Macht ohne Banner und Namen, die endlos ihr Labyrinth errichtet, um die Versuchsmäuse mit irgendeiner physischen Aktivität beschäftigt zu halten, produziert gleichzeitig eine riesige Büchse der Pandora. Dort stopft sie ihre Verbrechen hinein, Verbrechen, die im Namen vom Nichts begangen und auch nicht als Verbrechen bezeichnet werden, und schöpft ihre Daseinsberechtigung aus der Überzeugung: Was nicht benannt wird, das existiert auch nicht.



    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

    Weitere Themen

    Der Mythos vom Zerfall

    Die Kreml-Liberalen

    Oden an die Hunde von Schuwalow

    Krieg der Silowiki

    Wahlen, na und?!

    Jenseits der Fotos

  • Freundschaft auf Russisch

    Freundschaft auf Russisch

    Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Und in manchen Ländern geht die Freundschaft sogar über Recht und Gesetz. Das hat der niederländische Kommunikations- und Kulturwissenschaftler Fons Trompenaars in seinen Studien herausgefunden. Trompenaars unterteilt Kulturen in verschiedene Kategorien. Unter anderem unterscheidet er universalistische von partikularistischen Kulturen: Während in ersteren allgemeine Regeln für alle gelten, ändern sich in letzteren die Regeln je nach Situation.

    Auch in Russland werden Trompenaars Klassifikationen breit diskutiert. Der Journalist Ostap Karmodi nimmt das allgemeine Interesse daran zum Anlass, um auf dem Portal Reed die Besonderheiten der russischen Freundschaft auszuloten.

    „Sie fahren mit einem Freund mit dem Auto durch die Stadt, der Freund sitzt am Steuer. Er fährt erheblich zu schnell und fährt einen Fußgänger an. Es gibt keine Zeugen außer ihnen. Würden Sie unter Eid lügen, um ihren Freund vor dem Gefängnis zu retten?“

    Diese Frage hat der niederländische Wissenschaftler Fons Trompenaars Studienteilnehmer in verschiedenen Ländern gestellt. In jedem Land fiel die Antwort anders aus. Am universalistischen Ende des Spektrums standen die USA, England und die Schweiz. In diesen Ländern würden 90 Prozent der Befragten nicht für den straffälligen Freund lügen. Am anderen, partikularistischen Ende des Spektrums fanden sich Russland, China und Venezuela. In diesen Ländern scheint Freundschaft für die Mehrheit der Bevölkerung wichtiger zu sein als das Gesetz.

    Universalismus versus Partikularismus

    Trompenaars illustriert diesen kulturellen Unterschied mit einer Geschichte, als bei einer dieser Befragungen in einer Gruppe Franzosen auch eine Engländerin anwesend war. Die wollte als erstes wissen, wie es denn um den Zustand des Fußgängers bestellt sei. Die anderen Teilnehmer fragten sie, was das denn ändern würde. Einer der Franzosen erklärte sofort, dass, wenn der Fußgänger ernste gesundheitliche Schäden davongetragen hätte oder ums Leben gekommen sei, man den Freund natürlich unbedingt retten müsse. Die Engländerin lachte nervös auf und sagte, dass es aus ihrer Sicht gerade andersherum sei.

    Einen solchen Partikularismus beobachte ich jeden Tag in den Posts von facebook.

    So schrieb zum Beispiel der Kreml-Politologe Sergej Markow nach dem Terroranschlag in München, dass die Regierungen in Deutschland und Frankreich für den Terror eine Verantwortung tragen würden. Und warum? Weil sie eben einen hybriden Krieg gegen Russland führen und die Neonazis in Kiew unterstützen würden. Drei ganze Beiträge schrieb er dazu. Mitgefühl drückte Sergej Markow nur in einem der Beiträge aus, und das auch nur nebenbei und darüber hinaus nicht den Betroffenen gegenüber, sondern den „europäischen Freunden“. Auch wenn ich es ahne, weiß ich nicht, wer Markows „europäische Freunde“ sind. Ich teile mit ihm nur drei Freunde auf facebook.

    Ich wähle meine Freunde sehr sorgsam aus, bei facebook wie im Leben. Keiner von ihnen ist ein aggressiver Putin-Anhänger oder Krimnaschist. Ich bin vollauf überzeugt, dass die Stellungnahmen Markows meinen facebook-Freunden ebenso sehr zuwider sind wie mir. Sie erdulden sie aber, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

    „Was soll’s?“, fragen viele, „das ist halt facebook.“ So ist aber nicht nur facebook. Im realen Leben geschieht genau das Gleiche. Am 8. Juli 2016 veröffentlichte Meduza die Mitschrift eines Gesprächs in der Redaktion von RBK, wo die neue Führung den Journalisten des gestern noch unabhängigen Portals erklärt, dass sich die Spielregeln geändert hätten und es eine Grenze gebe, die besser nicht überschritten werden solle. Die meisten der anwesenden Liberalen gingen vor Empörung an die Decke, doch die neuen Chefs, Trosnikow (der ehemalige stellvertretende Chefredakteur von ITAR-TASS) und Golikowa (die ehemalige Chefredakteurin der Website von ITAR-TASS), fanden erstaunlich viele Fürsprecher – allesamt aus eben diesem liberalen Lager. Eine ganze Menge Leute mit durchaus putinfeindlichen Ansichten bekundeten ihre Unterstützung für die neue Redaktionsleitung und waren entrüstet, dass diese an den Pranger gestellt wurde.

    Ein ähnliches Redaktionsgespräch haben wir schon einmal erlebt. Am 12. März 2014 wechselte auf ähnliche Art und Weise die Leitung von Lenta.ru. Am folgenden Tag veröffentlichte Slon.ru die Mitschrift eines Gesprächs des neuen Chefredakteurs Alexej Goreslawski mit der Redaktion. Goreslawski verhielt sich 2014 um Längen anständiger, als Trosnikow und Golikowa das 2016 taten. Im Unterschied zu Letzteren fanden sich für Goreslawski keine liberalen Unterstützer. Mehr noch: Viele von denen, die 2014  Goreslawski noch heftig kritisiert hatten, verteidigten nun, 2016, eifrig Trosnikow und Golikowa.

    Warum?

    Weil Goreslawski eine andere Vergangenheit hat. Trosnikow und Golikowa hatten recht lange hohe Positionen beim Kommersant innegehabt, bis sie 2013 zu TASS wechselten – wobei sie natürlich einen vorzüglichen Zeitpunkt gewählt hatten: gerade erst war das Anti-Magnitski-Gesetz verabschiedet worden, die Bolotnaja-Verfahren liefen auf Hochtouren und Pussy Riot saßen ihre „zwei Jährchen“ ab. Goreslawski hatte jedoch nie für liberale Zeitungen gearbeitet, sondern war zuvor Chefredakteur des einschlägig bekannten, kremlfreundlichen Wsgljad.

    Die „eigenen Leute“ werden in Russland immer verteidigt, egal, was sie getan haben

    Im Unterschied zum neuen Chef von Lenta.ru hatten die neuen Chefs bei RBK viele Jahre in liberalen Kreisen zugebracht. Für die Opposition gehörten und gehören sie zu „unseren Leuten“. Sie waren Freunde, Kollegen, Trinkgenossen. Und die „eigenen Leute“ werden in Russland immer verteidigt, egal, was sie getan haben. Es ist nämlich in Russland wie in einem beliebigen Land der Dritten Welt: Nichts ist wichtiger als persönliche Beziehungen.

    In die Sprache der Wirtschaft übersetzt hieße das, jede Gesellschaft existiert, um die Transaktionskosten zu senken. Menschlich bedeutet es, den Mitgliedern des Kreises das Leben zu erleichtern.

    Die Gesellschaft erleichtert den Menschen das Leben auf vielerlei Weise. Es lassen sich hier grob drei Kategorien unterscheiden: Bestrafung von Verbrechern, Unterstützung der Bedürftigen und Bereitstellung diverser Dienstleistungen.

    Gesellschaften wiederum lassen sich ebenfalls in drei Arten unterscheiden:

    Die erste ist die offene, demokratische Gesellschaft mit ihren entwickelten formalen und informellen Institutionen. In diesen Gesellschaften sind die Regeln offen und klar niedergeschrieben, und sie sind für alle gleich. Eine solche Gesellschaft schützt sogar Fremde. Beispiele für Gesellschaften dieses Typs sind die USA, Großbritannien, Deutschland, die Niederlande und die meisten anderen westlichen Länder.

    Die zweite ist die traditionelle, geschlossene Gesellschaft, in der jeder zu wissen hat, wo sein Platz ist. Eine solche Gesellschaft hat keinen geschriebenen Regelkodex; dennoch gibt es Regeln, und alle kennen sie. Fremde werden in einer solche Gesellschaft nicht akzeptiert.

    Beispiele für Gesellschaften des zweiten Typs wären Stämme oder Clans. Einst war jede Gesellschaft so eingerichtet, jetzt ist das sehr viel weniger verbreitet. Diese Gesellschaften des zweiten Typs sind heute aber nicht nur in Somalia oder in den Urwäldern des Amazonas zu finden. Es gibt sie praktisch in jedem Land. Gemeint sind die kriminellen Gemeinschaften. Die bieten ihren Mitgliedern Dienstleistungen: Sie besorgen im Knast Zigaretten oder Drogen, bringen Briefchen nach draußen oder ermöglichen Handy-Telefonate. Sie haben ihre ungeschriebenen Gesetze, und wer sie verletzt, wird grausam bestraft. Sie haben sogar ihr eigenes Sozialhilfesystem, nämlich den Obschtschak, die gemeinsame Reserve für Notfälle.

    Die Worte „Wenden Sie sich ans Gericht“ sind in Russland nichts als Hohn

    Schließlich gibt es den dritten Gesellschaftstyp, bei dem die alten Clanbeziehungen und -regeln entweder bereits vollständig aufgelöst oder nur noch in Randgruppen anzutreffen sind, wo aber neue, westliche, gesellschaftliche Institutionen (Gerichte, Polizei, Sozialhilfe) noch nicht verankert sind. Formal sind diese zwar existent, doch in Wirklichkeit sind sie lediglich Fassade, Dekoration, Attrappe.

    Russland ist eine Gesellschaft eben dieses Typs. Und die berühmte russische Freundschaft – eng, warmherzig, bedingungslos und überhaupt nicht so kühl und distanziert wie Freundschaft im Westen – hat durch ihre Existenz den völligen Zerfall der anderen gesellschaftlichen Institutionen auf dem Gewissen, formaler wie informeller.

    Die Worte „Wenden Sie sich ans Gericht“ sind in Russland unterdessen nichts als Hohn, die Polizei führt sich auf wie Besatzungstruppen, das Gesundheitswesen bringt einen um, das Bildungswesen sät Obskurantismus.

    Es gibt anscheinend keine staatliche Institution, von der ein Normalsterblicher angemessene Hilfe erwarten könnte. Die nichtstaatlichen Institutionen, in erster Linie Stiftungen und Freiwilligenvereinigungen, versuchen diese Leerstelle zu füllen. Einerseits gibt es aber für ein so riesiges Land viel zu wenige davon, andererseits hat der Staat panische Angst vor jedweder informellen Aktivität und wirft Stiftungen und Freiwilligen nach Kräften Knüppel zwischen die Beine, indem er ihnen idiotische Vorschriften aufzwingt, die Finanzierung blockiert und sie bisweilen sogar auflöst.

    Die einzige gesellschaftliche Institution, die wenigstens halbwegs funktioniert: Beziehungen

    Unter diesen Bedingungen bleiben nur zwei gesellschaftliche Institutionen, an die die Menschen sich wenden können: Korruption und Beziehungen.

    Was im Westen auf übliche, normale Art und Weise erfolgt – mittels Gericht, Polizei, Schule, Krankenhaus, Arbeitsamt –, wird in Russland durch die Hintertür erledigt, mit Hilfe von Freunden, Kollegen, Klassenkameraden. Über Bekannte werden die Kinder in einer guten Schule untergebracht. Über Bekannte wird ein guter Arzt gefunden. Über Bekannte wird Arbeit gesucht. Über Bekannte – falls die passenden vorhanden sind – versucht man die Eröffnung von Gerichtsverfahren zu erreichen und eine Heimsuchung durch Steuer- oder Strafverfolgungsbehörden abzuwenden. Selbst Schmiergelder sollte man lieber nach guten Tipps geben, sonst läuft man Gefahr, im Gefängnis zu landen oder aber zu zahlen, ohne dass die Sache dann erledigt wird.

    Bekanntschaften sind die wichtigste informelle Institution; ohne sie wäre Leben in Russland die Hölle.

    Beziehungen spielen zweifellos auch im Westen eine wichtige Rolle, besonders in Politik und Wirtschaft. Doch ist das eher eine zusätzliche Unterstützung. In Russland jedoch sind Beziehungen die einzige gesellschaftliche Institution, die wenigstens halbwegs funktioniert.

    Freunde sind das wichtigste Kapital

    Deswegen verzettelt sich niemand in seinen Beziehungen. Nicht nur was Freundschaften angeht, sondern auch zu aktuellen und ehemaligen Kollegen, zu Freunden und Bekannten aus der Ausbildungszeit, aus dem Fitness-Club oder der Kneipe. Das funktioniert auf allen Ebenen der Gesellschaftspyramide, bis hinauf nach ganz oben. Sie sind einer der Gründe, dass „Diebe in der Macht“ nie lange einsitzen, dass wegen Untauglichkeit entlassene Bürokraten neue Posten bekommen und dass gegen Spalter in der Regierung (im Unterschied zu externen Unzufriedenen) keine Strafverfahren eröffnet werden.

    So war es in Russland und so wird es in Russland bleiben. Aufrufe zur Prinzipientreue ändern da gar nichts. Freunde sind das wichtigste Kapital. Prinzipien sind Zügel, die sich kaum jemand leisten kann. Muss man sich zwischen dem ersten und zweiten entscheiden, wäre die Antwort stets eindeutig.

    Weitere Themen

    Der FSB und mein riesiger rosa Schwanz

    Business-Krimi in drei Akten

    Latyschka

    Disneyland für Patrioten

    Russki Rock

    Produktion von Ungerechtigkeit

  • Trump ein Agent Putins?

    Trump ein Agent Putins?

    Putin und Trump auf Kuschelkurs? Putin bezeichnet den republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten als „talentierten Politiker“, Trump äußert Verständnis für die russische Angliederung der Krim. Trumps Wahlkampfchef Manafort war zudem lange Jahre Berater des ukrainischen Ex-Präsidenten Janukowitsch (der sich nach seinem Sturz im Februar 2014 nach Russland absetzte).

    Für viel Aufregung im Clinton-Lager sorgte zuletzt außerdem die Veröffentlichung sensibler E-Mail-Kommunikation der Demokraten auf der Plattform Wiki Leaks – laut FBI das Werk russischer Hacker.

    Aber heißt das gleich, dass Trump im Auftrag Moskaus agiert? Ein paar unklare Momente gebe es zwar, meint der Politologe Wladimir Frolow, aber den US-Wahlkampf lenke der Kreml sicherlich nicht. Ihm nutze Trump vielmehr innenpolitisch.

    Donald Trump geschultert von Putin? – Bild © DonkeyHotey/flickr.com
    Donald Trump geschultert von Putin? – Bild © DonkeyHotey/flickr.com

    Im New-York-Times-Interview mit dem Präsidentschaftskandidaten der Republikaner Donald Trump wurden Positionen laut, die mit den außenpolitischen Interessen Russlands überaus stark im Einklang stehen. Das Interview schlug in den USA ein wie eine Bombe und hat in den führenden Print- und Internetausgaben für eine Flut von Kommentaren gesorgt. Die meisten Experten kommen zu einem wenig tröstlichen Schluss: Trump handelt, vielleicht nicht einmal willentlich, im Interesse Russlands.

    Der US-amerikanische Politologe Sam Greene meint, man könne beim Thema „Trump ist ein Agent Putins“ – was natürlich Unsinn ist – schon von einem Medienhype sprechen.

    Sollte man das nicht etwa begrüßen?

    Moskau dürfte vieles von dem gefallen, was Trump sagt. Seine außenpolitischen Einfälle könnten die Stellung der USA in der Welt bedeutend schwächen und die Beziehungen zu den wichtigsten Partnern der USA in Europa und Asien zerstören. Das wiederum würde den amerikanischen Druck auf Russland verringern.

    Von den Absichten Trumps und seiner Mannschaft ist Folgendes bekannt: Er möchte die US-Verpflichtungen im Sicherheitsbereich beträchtlich einschränken (darunter auch die atomaren Sicherheitsgarantien für die NATO-Staaten, Japan und Südkorea); er möchte von der „Demokratieförderung“ im Ausland und dem Sturz autoritärer Regime Abstand nehmen; in Syrien möchte er mit Präsident Assad und mit Russland gegen den Islamischen Staat zusammenarbeiten; er möchte der Ukraine keine amerikanischen tödlichen Waffen zur Verfügung stellen, und er möchte zur russischen Führung konstruktive Beziehungen aufbauen.

    In den Versprechen Trumps, die Beziehungen zu Russland als einer „Supermacht“ wiederherzustellen, sieht Moskau die Bereitschaft, das Recht Moskaus auf seine Interessensphäre im postsowjetischen Raum anzuerkennen.

    Wenn der möglicherweise zukünftige US-Präsident erklärt, dass die Sicherheitsgarantien der NATO erst nach einer Wirtschaftlichkeitsprüfung greifen sollten, dann bedeutet das auch ein Ende des auf die NATO konzentrierten Sicherheitssystems in Europa. Davon konnte Moskau bislang nur träumen.

    Wenn Newt Gingrich, Mitglied des Trump-Teams und einst vehementer Befürworter einer NATO-Erweiterung, sagt, die USA würden wegen Estland, das „in den Vororten von St. Petersburg“ liegt, keinen Atomkrieg anfangen, was ist das dann bitteschön anderes als eine deutliche Anerkennung der russischen Einflusssphäre?

    Wie meinte doch Präsident Putin, der Trump im Laufe des vergangenen Jahres zwei Mal als „markanten und talentierten Politiker“ bezeichnet hat: „Sollte man das nicht etwa begrüßen?“

    Dubiose Berater

    Die Frage ist nur, ob Moskau deswegen etwas mit der Kandidatur Trumps zu tun hat und ob es dessen Wahlkampf unterstützt, was einen Verstoß gegen US-Gesetze darstellen würde. Ergäbe sich diese Möglichkeit, würde der Kreml sie natürlich mit Freuden nutzen. Schließlich geht man im Kreml davon aus, dass die USA und die EU auf eben diese Weise vorgehen, wenn sie prorussische Führer in den postsowjetischen Weiten oder im Nahen und Mittleren Osten absetzen. Tatsächlich aber hat Moskau solche Möglichkeiten nicht.

    Die USA sind nicht Frankreich, wo Oppositionsparteien wie der Front National von Marine Le Pen bei ausländischen Banken Millionenkredite aufnehmen können. In Amerika ist eine ausländische Wahlkampffinanzierung streng verboten.

    Andeutungen, das Unternehmensimperium von Trump und folglich auch sein Wahlkampf seien wohl von russischen Geldern abhängig, scheinen wenig zu beweisen. Tatsächliche Spuren, dass Trump kommerzielle Projekte in Russland oder mit russischer Beteiligung verfolgt, sind ebenfalls nicht zu finden. Es stimmt zwar, dass er in Moskau einen Trump-Tower bauen wollte; dazu gekommen ist es allerdings nicht.

    Manafort und Moskau

    Viel gesprochen wird von Moskaus Einfluss auf Paul Manafort, Trumps Wahlkampfchef. Als Begründung dient hier, dass Manafort einige Jahre als Medienberater von Viktor Janukowitsch gearbeitet hat, als jener noch Ministerpräsident und dann Präsident der Ukraine war. Wer hieraus eilige Schlüsse zieht, übersieht, dass der Kreml all die Jahre eine Entlassung Manaforts erwirken wollte, da dieser als amerikanischer Einflusskanal betrachtet wurde (hierin lag auch einer der Gründe für Moskaus Misstrauen gegenüber Janukowitsch). Janukowitsch hatte anscheinend verstanden, dass der Kreml dadurch seine Kontrolle über ihn zu stärken suchte, und hat Manafort daher nicht gefeuert.

    Eine politische Rolle hat der amerikanische Berater in keiner Weise gespielt. Vielmehr verfolgte Manafort in der Ukraine seine unternehmerischen Ambitionen, für die seine Verbindungen zu Janukowitschs Beamten und Bürokraten die Grundlage bildeten.

    Mit anderen Worten: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Manafort heute unter dem Einfluss Moskaus steht.

    Eine eingehende Betrachtung verdient allerdings jene mysteriöse Geschichte, dass auf dem Parteitag der Republikaner Änderungen im außenpolitischen Programm der Partei vorgenommen wurden. Aufgrund einer direkten Intervention nicht näher genannter Berater Trumps wurde aus dem Programm die Forderung gestrichen, der Ukraine tödliche, US-amerikanische Waffen zu liefern.

    Wer und was hinter dieser Korrektur der Ukraine-Passage steht, ist eine spannende Frage, und hier gibt es Anlass zum Verdacht. Eine direkte Initiative Moskaus scheint es eher nicht gegeben zu haben. Ob es aber mit Hilfe Dritter informelle Konsultationen mit der russischen Botschaft in Washington gegeben hat, könnte wohl Gegenstand einer Untersuchung durch das FBI werden.

    Russlands Spur bei den US-Wahlen

    Zumindest ansatzweise reale Anhaltspunkte für Versuche Russlands, die Präsidentschaftswahlen in den USA zu beeinflussen, finden sich allenfalls in der skandalösen Veröffentlichung des E-Mail-Verkehrs des Democratic National Committee auf der Website WikiLeaks. Die Mails waren von zwei Hacker-Gruppen erbeutet worden, die wiederum US-amerikanischen Cybersecurity-Experten zufolge mit den russischen Geheimdiensten in Verbindung stehen. Zeitpunkt der Veröffentlichung (gleich nach dem Parteitag der Republikaner und kurz vor dem der Demokraten) und Inhalt des vorgelegten Materials zeugen von der Absicht, Clintons Ruf konkret zu schaden. Clintons Wahlkampfteam holte zum Gegenangriff aus: Robby Mook, Kampagnenleiter der Demokraten, beschuldigte in einer Livesendung Russland, sich zugunsten von Donald Trump in den US-Wahlkampf einzumischen.     

    Tatsächlich sieht die Geschichte mit dem Klau und der Verbreitung der E-Mails aus der demokratischen Parteizentrale wie eine klassische „aktive Maßnahme“ aus: Platzierung von kompromittierendem Material, Bloßstellung des zu belastenden Objektes, Demoralisierung seiner Anhängerschaft, indirekte Stärkung der Position des Bündnispartners. Doch zu behaupten, das werde einen Einfluss auf das Wahlergebnis haben, wäre unzulässig.

    Mal angenommen, die Idee zu dieser Aktion stamme aus Russland, so zeugt sie doch von absolutem Unverständnis der Mechanismen amerikanischer Innenpolitik und inadäquater Bewertung der Einflussmöglichkeiten. So etwas wird in einem Land mit 300 Millionen Einwohnern, freien Medien und einem Milliarden-Dollar-Budget für Wahlkampagnen wohl kaum etwas ändern können.

    Wenn es um ein bescheideneres Ziel gegangen wäre – einen Vergeltungsschlag gegen die US-Präsidentschaftskandidatin für den Versuch, mit dem Datenleak der Panama Papers (hinter deren Veröffentlichung Moskau die US-amerikanischen Geheimdienste vermutet) die russische Staatsführung zu diskreditieren, dann kann man eine solche „aktive Maßnahme“ durchaus als erfolgreich bezeichnen. Viel Lärm, die Führung zufrieden, praktischer Effekt gleich Null. Doch mit dem hat man auch kaum gerechnet. Bringt man das aber mit Trump in Verbindung, das heißt nimmt man an, er habe von der Top Secret-Aktion des russischen Geheimdienstes gewusst – dann ist das schon die reinste Verschwörungstheorie.      

    Mit Wettrüsten zermürben

    Die offiziellen russischen Medien machen kein Hehl aus ihrer Sympathie für Trump und ihrer negativen Einstellung gegenüber seiner Konkurrentin Hillary Clinton. Doch ist das bereits ein Hinweis darauf, dass Russland Trump unterstützt? Nein. Wer sieht sich in den USA schon Nachrichten auf Russisch an? Sogar das englischsprachige RT, das „für Trump feuert“, hat in den USA ein so unbedeutendes Publikum, dass es lächerlich wäre, von einem wie auch immer gearteten Effekt auf die Wahlen zu sprechen.

    Der Grund, warum das russische Fernsehen den republikanischen Kandidaten unterstützt, liegt in der russischen Innenpolitik: Es ist lediglich ein weiteres Mittel, die Regierung Russlands zu legitimieren, wenn sogar ein US-Präsidentschaftskandidat sagt, dass Wladimir Putin eine starke Führungsfigur ist und alles richtig macht. Ein äußerst überzeugendes Argument für den einfachen Bürger Russlands.

    Die viel wichtigere Frage ist, wie Trump im Fall eines Wahlsieges sein außenpolitisches Programm in die Tat umsetzen wird. Die Realisierung seiner außenpolitischen Pläne wird die globalen Turbulenzen nur verstärken, zu akuten regionalen Krisen und zur Verbreitung von Nuklearwaffen führen. Bei aller Attraktivität der Schwächung globaler Positionen der USA entspricht das nicht den Interessen Russlands.

    Andererseits werden einzelne Aspekte von Trumps Konzepten bereits von Obama umgesetzt – etwa der Verzicht auf die Lieferung tödlicher Waffen in die Ukraine und die Ablehnung eines gewaltsamen Sturzes der Regierung Assads in Syrien. Tradition haben in der amerikanischen Außenpolitik außerdem die Forderungen, den Beitrag der Bündnispartner zur gemeinsamen Verteidigung mit den USA zu erhöhen.

    Moskau betrachtet die Präsidentschaft Trumps vorerst als Window of Opportunities in einem Manöver, bei dem man annimmt, von einer Präsidentschaft Clintons sei außer einer noch schärferen Konfrontation nicht viel zu erwarten. Das Problem der „Unerfahrenheit Trumps“ ist Moskau bewusst. Und es bestehen Befürchtungen: Könnten seine populistischen Aufrufe, „Amerika wieder groß zu machen“ (Make America Great Again), zu einem Versuch ausarten – in Reminiszenz an die erste Amtszeit Reagans – die führende Position der USA wiederherzustellen und Russland durch ein Wettrüsten zu zermürben?



    Weitere Themen

    Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    Ein Waffenstillstand ohne Chancen

    Vom Osten lernen

    Russlandphobie-ologie

    Albrights Un-Worte

    Russlands neue Revoluzzer?

  • Zurück in die UdSSR

    Zurück in die UdSSR

    Eine feindliche Haltung gegenüber Andersdenkenden und Fremden, absolute Loyalität zum Staat und die Bereitschaft, sich von diesem bevormunden zu lassen. Das sind Merkmale des postsowjetischen Menschen, wie sie der renommierte Soziologe Juri Lewada herausgearbeitet hat. Hinter dieser Haltung stünden oft Angst und eine Sehnsucht nach alter Größe, meint Boris Grosowski. Und zeigt auf, wie beides bis heute instrumentalisiert wird.

    Schlechte Nachmache? „Lenin“ und „Stalin“ 2006 in Moskau – Foto © Unorthodoxy
    Schlechte Nachmache? „Lenin“ und „Stalin“ 2006 in Moskau – Foto © Unorthodoxy

    Es bedarf keines sonderlich scharfen Blicks, um in der Realität, die die Bürger Russlands in den letzten Jahren umgibt, Züge der Sowjetunion zu erkennen. Man könnte denken, es handle sich um eine Spezial-Rekonstruktion der spätsowjetischen 1970er und 1980er Jahre, eigens für jene bestimmt, die diese Zeit nicht selbst erlebt haben. Ein nicht allzu gekonntes Remake von Lebensbedingungen aus einer Zeit, als Ideologie schon keine große Rolle mehr spielte, als eine alternde und überkommene Elite sich an die Macht klammerte und das Land in den Sumpf ihrer Ängste und ihres Dogmatismus, ihres allgegenwärtigen „So geht das nicht!“ zog.

    Alle haben Angst, die Elite genauso wie die breite Masse

    Die heutigen Gebieter des Lebens fürchten ebenfalls die unentrinnbare Zukunft, versuchen sie zu diskreditieren und möglichst weit hinauszuschieben. Je stärker diese Ängste, desto wahrscheinlicher landen die wenigen Nichteinverstandenen, die sich trauen, ihren Protest in den öffentlichen Raum zu tragen, hinter Gittern.

    Für die breite Masse der Unentschlossenen steht ebenfalls Angst bereit, jedoch eine Angst etwas anderer Art: Tausend sitzen ein und Millionen haben Angst, ein Wort zu sagen.

    Und für jene, die das Ganze richtig verstanden haben, gibt’s Zuckerbrot: Staatsaufträge, einen Posten am „Futtertrog“, Möglichkeiten, etwas zu klauen, etwas zuzuteilen, jemand anderen ins Gefängnis wandern zu lassen.

    Iwan der Schreckliche, Stalin, Breshnew

    Warum aber eine Rekonstruktion gerade der sowjetischen Zeit? Warum reproduzieren wir überhaupt Momente unserer Geschichte, die eindeutig nicht zu den besten gehören? Warum geht das sich selbst überlassene System, das freie Hand hat, zügig dazu über, in unrühmlichen Kapiteln der Geschichte zu blättern, bei Iwan dem Schrecklichen, Stalin, Breshnew? Warum nur dieser Eindruck, dass Letztere nicht ins Schattenreich entschwunden, sondern unter uns sind? Und dass sie hervorpreschen werden, wie gewohnt das Steuer in der Hand, sollte die Gesellschaft nicht auf der Hut davor sein?

    Schließlich inszeniert Deutschland auch keine Remakes nach Motiven von Hitler und Bismarck. Und in Good Old England geht auch nicht der Geist des Schurken Heinrich VIII. um. Die französische Führung faselt nicht von den Eroberungen Napoleons und Berlusconi nicht von den Heldentaten Neros. Bei uns aber ist jeder ein kleiner Zar. Sobald sich die Möglichkeit ergibt, besteht die Gefahr, dass er sich dreimal um die eigene Achse dreht und in einen blutigen Tyrannen verwandelt. Als hätte er sein Leben lang davon geträumt, am Livländischen Krieg oder an der Eroberung der osmanischen Festung Otschakow teilzunehmen. Was bitteschön ist das für eine „Liebe zur Geschichte“? Warum gängeln die europäischen Halunken von einst die heute Lebenden nicht mehr, aber unsere legen es immer wieder darauf an?

    Falls man nicht an die Unveränderlichkeit der Kultur glaubt, an Pfadabhängigkeit und Sentenzen wie „Menschen/Länder ändern sich nicht“ – ich bin überzeugt, dass sie sich ändern! –, dann ist all der Teufelsspuk, dieser Reigen der Despoten und die Hartnäckigkeit schlechter Angewohnheiten einzig und allein verführerisches Blendwerk, Erscheinungen, dem Nebel entstiegen, wie Petersburger Trugbilder aus der Zarenzeit. Nur, dass in der modernen Zeit mit selbstfahrenden Autos und neuentwickelten Genomen kein Platz ist für Hexenverbrennung und Leibeigenschaft.

    Doch entspringen diese Bilder, diese Trugbilder, nicht irgendeinem Baskerville‘schen Nebel, sondern menschlichem Willen. Eine Tradition lässt sich nicht reproduzieren, wird nicht auf natürliche Art „vererbt“, sagte Merab Marmardaschwili 1990 in seinem Vortrag Wien im anbrechenden 20. Jahrhundert: „Wenn Sie meinen, dass man eine Tradition auf natürliche Weise fortführen kann, als ob sie einfach das Leben selbst sei, dann irren Sie sich. Man könnte ja denken, dass Tradition wie Atem ist: Ich atme, also lebe ich; ich beachte etwas, also setzt es sich fort, und die Tradition lebt weiter. Dabei führt einem doch die menschliche Erfahrung drastisch vor Augen, dass dem nicht so ist, dass das Gewebe, das über dem Bodenlosen gewoben wird, ein anderes ist.“

    Niemanden interessiert, wie exakt die Rekonstruktion ist

    Das Wesen traditioneller Kultur, die auf heiligen Texten beruht, besteht in ihrer Weitergabe, ihrer Vermittlung, in der Reproduktion von Gedanken und Gewohnheiten, einer Lebensweise und eines Wertesystems. Untersuchungen darüber, auf welche Weise Traditionen weitergegeben werden, zeigen, dass das nicht automatisch geschieht. Hierzu braucht es ein langes Zusammenleben von Lehrer und Schüler, unermessliche Anstrengung und Übung, damit die geistige Persönlichkeit des Lehrers im Schüler ihren Wiederklang findet, und damit eine Tradition entsteht, die einem Begründer folgt.

    Was lässt sich dann überhaupt über eine Situation sagen, in der die Tradition unterbrochen wurde, in der man zur „reinen Quelle“ nur gelangen kann, indem man die anscheinend kriminellen, wilden 1990er Jahre überspringt. Den Schüler trennt hier vom Lehrer ein derartiger Abgrund, dass kolossale Verzerrungen unausweichlich sind. Die Adepten des sozialistischen Paradieses verlieren dadurch viele Aspekte jener Tradition, die sie nun teilweise reproduzieren, vollkommen aus dem Blick. Sogar eine ihrer zentralen Komponenten wird ignoriert: Das Thema Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Wenn Traditionen auf der „Materialbasis“ einer viele Millionen zählenden Gesellschaft reproduziert werden, interessiert niemanden, wie exakt diese Rekonstruktion ist. Die Aufgabe, vor der die „Erfinder dieser Tradition“ stehen, ist ja auch eine ganz andere.

    Traditionen werden nicht nur weitergegeben, sondern auch erfunden

    Traditionen werden nicht nur weitergegeben, sondern auch erfunden, wie der Historiker Eric Hobsbawm zeigt: Selbst das Zeremoniell, mit dem sich die britische Monarchie in ihren öffentlichen Auftritten umgibt, hat sich erst im 19. und 20. Jahrhundert endgültig herausgebildet. […]

    Erfundene Traditionen sind nach Hobsbawm rituelle und symbolische Praktiken, die durch offene oder unausgesprochene Vorschriften geregelt werden. Sie werden eingeführt, um im Bewusstsein Glauben, Wertesysteme und Verhaltensnormen zu verankern. Die Sozialisation werde universell, wenn jedem Bürger (Angehörigen einer Nation, Untertanen) die gleichen Werte eingeimpft werden. Oft sind diese nicht klar umrissen, nicht besonders verbindlich, oder einfach schwammig: „Patriotismus“, „Treue“, „Pflicht“, „Beachtung der Spielregeln“.

    Zur Legitimierung werden Traditionen oft mit einer passenden Phase der Geschichte begründet, doch sei die oft fiktiv, schreibt Hobsbawm: „Diese Traditionen sind eine Reaktion auf eine neue Situation in Form eines Verweises auf eine alte Situation.“

    Putins UdSSR: eine konstruierte Tradition

    Bei ihrer Kritik an sowjetischen Anwandlungen, die gegenwärtig zu beobachten sind, weisen Analytiker wie Peter Pomerantsev zurecht auf die riesigen Unterschiede hin, die zwischen dem Regime damals und heute bestehen. Allerdings erhebt Putins UdSSR auch gar nicht den Anspruch auf Authentizität. Hier handelt es sich um eine rundweg erfundene, konstruierte Tradition. Wozu die Regierung in den 2000er und 2010er Jahren eine solche Tradition brauchte, haben meines Erachtens die Arbeiten von Juri Lewada, Boris Dubin, Lew Gudkow, Alexej Lewinson und Natalja Sorkaja ausführlich aufgezeigt.

    In den 1990er Jahren hat der (post-)sowjetische Mensch keineswegs abtreten wollen. Die Gesellschaft Russlands spaltete sich gewissermaßen in zwei Teile: Die einen wurden zu selbsternannten Unternehmern. Sie rotierten, versuchten zu überleben und wechselten Berufe und Städte, während die anderen warteten, bis man ihnen half.

    Zu Beginn der 2000er Jahre wurde der Regierung bewusst, dass der erste Teil lästig ist: Das waren die, die „ständig irgendwas wollten“. Der andere Teil hingegen war sehr bequem für das Regime. Er verlangt nicht viel und ist bereit, eine ewiggültige Carte Blanche zu erteilen. Ohne lang zu überlegen, entwickelte die Regierung eine absolut rationale und bislang erfolgreiche Strategie: Der postsowjetische Teil der Bevölkerung – treue Helfer und Stützen des Regimes – sollte mit allen Mitteln umsorgt, verwöhnt, behütet und gefüttert werden, während allzu Selbständige ein wenig zur Raison zu bringen waren.

    Der postsowjetische Mensch

    Der postsowjetische Mensch verfügt über einige für das autoritäre Regime überaus nützliche (man könnte sogar sagen: nährende) Eigenschaften. Da wäre zum einen die einmalige psychische und moralische Anpassungsfähigkeit an totalitäre Regime, die Bereitschaft, mit ihnen zu einer Symbiose zu verschmelzen, wie Gudkow, Dubin und Sorkaja in einer ihrer Arbeiten hervorheben.

    Außerdem sind da die von Lewada identifizierten Merkmale des postsowjetischen Menschen zu nennen: Selbstisolierung (als feindliche Haltung gegenüber Andersdenkenden, als Misstrauen gegenüber dem „Komplizierten“, „Fremden“ und „Anderen“), Bereitschaft zu staatlicher Bevormundung, ein imperiales Syndrom und die Bereitschaft, sich im sozialen System aufzulösen.

    Drittens ist dieser Persönlichkeitstyp grundsätzlich entindividualisiert, ihm widerstrebt alles Elitäre und Eigene; er ist „transparent“ (und somit kontrollierbar), primitiv in seinen Ansprüchen und primitiven Steuerungsinstrumenten Folge leistend.

    Und viertens werden in der Vorstellungswelt eines solchen Menschen die wichtigsten öffentlichen Güter – von Gesundheit und Bildung bis hin zu Wissenschaft und Kunst – vom Staat bereitgestellt. Der Staat wird dabei als autark, von der Gesellschaft unabhängig gedacht. Der postsowjetische Mensch orientiert sich an den gewohnten staatlichen Formen der Gratifikation und der sozialen Kontrolle. Der Staat seinerseits übernimmt mit Freuden eine erzieherische, fürsorgliche und paternalistische Rolle – je größer die Nachfrage nach diesen Funktionen, desto mehr Ressourcen gibt es für die Bürokraten umzuverteilen.

    Selbstbeschränkung und Loyalität

    Schließlich ist der Sowjetmensch Teil einer militarisierten, geschlossenen, repressiven Gesellschaft. Seine Integration im Staat gründet auf Selbstbeschränkung und Loyalität und einem Zusammenstehen gegenüber äußeren und inneren Feinden, konstatieren Dubin, Gudkow und Sorkaja. Alles, was der Staat verlangt, versteht der Sowjetmensch bereitwillig als Schuldigkeit, als seine patriotische Pflicht. Im Gegenzug hat der Staat für die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu sorgen. Somit könnte eine anhaltende soziale und wirtschaftliche Depression zu einer Erosion der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft führen, falls das fehlende Brot nicht durch eine Unzahl an Spielen kompensiert wird.

    Schmerzvolle Sehnsucht nach der ehemaligen Größe

    Zur Jahrhundertwende hatte das Regime auf geniale Weise die schmerzvolle Sehnsucht der letzten sowjetischen und ersten postsowjetischen Generationen erhascht und aufgegriffen: nach der ehemaligen Größe, und auch die Bereitschaft zur Idealisierung der jüngeren Vergangenheit, den moralischen Relativismus und andere leicht auszunutzende Wesensmerkmale.

    In den darauf folgenden 15 Jahren haben wir gesehen, wie viel durch zielgerichtete Wirtschaftspolitik und Propaganda erreicht werden kann. Ziel der Wirtschaftspolitik war es, die großen, mittleren und kleinen Unternehmen vom Staat abhängig zu machen und private Geldquellen aus der Einkommensgrundlage der städtischen Mittelschicht zu verdrängen. Die Propaganda diskreditierte erfolgreich die Versuche der 1990er Jahre, in Russland Demokratie und Marktwirtschaft aufzubauen, sowie analoge Versuche in den 2000er und 2010er Jahren von Russlands Nachbarn. Europa wurde als degenerierte, amöbenhafte Gesellschaft dargestellt und die USA als gefährlicher Feind, der sich allerdings ein wenig vor Russland fürchtet.

    Durch den Fernseher zusammengehalten

    Diese Propaganda war deshalb so erfolgreich, weil die Leute schon vor der massiven Bearbeitung ihres Bewusstseins über das Fernsehen miteinander verbunden waren, wie Boris Dubin in seinem Artikel Massenkommunikation und kollektive Identität zeigt: Verbunden durch die „symbolische Teilhabe an einer symbolisch präsentierten und aus dem Abseits wahrgenommenen gemeinsamen Welt – ohne Feedback von ihr und ohne praktisches Handeln zur Schaffung und Aufrechterhaltung dieser gemeinsamen Welt“.

    In der zweiten Hälfte der 2000er Jahre sahen sich die Bürger Russlands als „ein Fernseh-Sozium, wurden durch den Fernseher als Sozium zusammengehalten“; sie waren eine „Zuschauer-Gesellschaft“. Eine solche Gesellschaft ist leicht zu lenken.

    Das sowjetische Remake gerät öfters zur Parodie

    Natürlich zeugt das entstandene sowjetische Remake von schlechtem Geschmack und gerät des Öfteren zur Parodie. Prüft man per Gedankenspiel seine Authentizität, ist das Ergebnis vernichtend: Stellen wir uns nur einmal vor, was der von Putin schleichend rehabilitierte Stalin mit Putin angestellt hätte. Auch anderen sowjetischen Führern hätte das Remake wohl kaum gefallen. Zu einer erfundenen Tradition braucht es aber auch nicht viel. Es reicht vollkommen, dass das Regime fast wie im Reagenzglas einen selbstlosen Adepten herangezogen hat, einen Menschen, der nichts anderes braucht. Das ist natürlich eine Vereinfachung. Herangezogen hat ihn das Regime nicht. Es hat vielmehr durch Anreize und Restriktionen alle Voraussetzungen geschaffen, damit im öffentlichen Raum der postsowjetische Mensch herrscht und die anderen sich wie Abweichler fühlen. Solange es von diesen Abweichlern nur wenige gibt, wird die Übertragung konstruierter Tradition erfolgreich weitergehen.

    Weitere Themen

    Fernseher gegen Kühlschrank

    „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    „Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

    Liebe ist …