дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ich will, dass alle davon erfahren”

    „Ich will, dass alle davon erfahren”

    Bei einem US-Luftangriff in Syrien Anfang Februar sollen russische Söldner der Einheit Wagner getötet worden sein. Mehrere Medien berichteten darüber. Doch der Kreml hüllte sich zunächst in Schweigen. Denn solche Privatarmeen sind illegal.

    Nach Darstellung der USA ereignete sich die Offensive regierungstreuer syrischer Truppen auf eine Raffinerie und ein Ölfeld, die unter Kontrolle der oppositionellen Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) in der Provinz Dair as-Saur waren. An der Seite der Assad-Truppen sollen auch Soldaten der Wagner-Einheit gekämpft haben – 200 russische Söldner kamen laut der Nachrichtenagentur Bloomberg bei dem US-Luftangriff ums Leben. Die USA sprachen von 100 russischen Toten und weiteren 100 Verletzten.

    Die Nachricht erregte große Aufmerksamkeit, aus mehreren Gründen: Das Portal Fontanka hatte im vergangenen Jahr einen Bericht veröffentlicht, wonach seit 2017 nicht das russische Verteidigungsministerium, sondern die syrische Regierung für Kosten und Ausstattung der Privatarmee aufkomme. Insofern heizt der Tod der russischen Söldner nun Gerüchte an, dass es Interessenskonflikte zwischen der russischen Armee und den privaten Milizen gebe.

    Zudem läuft schon seit längerem eine breite Debatte, solche Einheiten zu legalisieren. Allein schon, damit Hinterbliebene im Todesfall versorgt werden und angemessen trauern können. Die Wagner-Einheit soll auch in der Ukraine gekämpft haben.

    Der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow sprach nach dem US-Bombardement von einem Skandal. „Doch die russische Regierung wird so tun, als sei nichts passiert”, sagte er. Erst nach mehreren Tagen äußerte sich die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa zu dem Vorfall, sprach von „fünf Toten, die vermutlich russische Staatsbürger sind“, aber nicht zur Armee gehörten.

    Das Portal Znak traf die Witwe und den Ataman eines Kosaken, der für Wagner in Syrien gekämpfte hatte – und beim US-Luftschlag ums Leben kam.

    Jelena Matwejewa – Fotos © Jaromir Romanow / Znak
    Jelena Matwejewa – Fotos © Jaromir Romanow / Znak

    Znak: Wie haben Sie vom Tod Ihres Mannes [Stanislaw Matwejew – dek] erfahren?

    Jelena Matwejewa: Unser Ataman aus der Stadt Asbest rief mich an. Als erstes fragte er, wann ich zum letzten Mal Kontakt zu Stas hatte. Ich sagte, dass ich ihn schon den dritten Tag nicht erreiche. Und dass die Mädels, deren Männer dort sind, auch von nichts und niemandem etwas wissen. Eine Minute später ruft mich der Ataman noch einmal an und sagt: „Stas und Igor sind nicht mehr unter uns.“ Ich war gerade einkaufen. Das Telefon fiel mir aus der Hand, da, das hat jetzt einen Sprung. Wie auf Autopilot ging ich nach Hause, fast wär ich überfahren worden.    

    Hat man Ihnen gesagt, unter welchen Umständen Ihr Mann umgekommen ist?

    Nein. Am Abend rief ich nochmal den Ataman an. Er bat mich, Ruhe zu bewahren, sagte, dass man bisher noch nichts Genaues weiß. Ich wollte erstmal wegen der Leichen Bescheid wissen. Bat darum, einen Priester anzufragen, der sie segnen würde, wie es sich gehört, wenn Sie gebracht werden. Der Ataman sagte dann, sie sollen gebracht werden, und es würde ein offizieller Anruf aus Rostow kommen. Ob das wirklich so ist, ich weiß es nicht. Die Kosaken bekommen alle Informationen aus dem Donbass (sie weint). Ich weiß nicht, wie bei denen alles zusammenhängt. Ich versuche bisher, das alles nicht zu glauben, bereite auch das Begräbnis noch nicht vor.  

    Haben Sie von der Wagner-Truppe gehört?

    Die Mädels haben davon erzählt. 

    Als Stas nach Syrien fuhr, wussten Sie davon?

    Er hatte mich vorgewarnt. Nach dem Donbass war er etwa ein Jahr zu Hause. Er war im Juli [2016] zurückgekommen. Ein Jahr später, am 27. September [2017], fuhr er wieder weg – im Zug saß er da schon mit den Jungs aus Kedrowoje. Aber jetzt setzt sich niemand so richtig mit uns in Verbindung, keiner sagt uns, ob es stimmt oder nicht. Zuerst so ein Schlag auf den Kopf – und dann halten sie die Klappe.

    Aus Kedrowoje, sagten Sie?

    Neun Mann aus Asbest, und etliche aus Kedrowoje. Mehr weiß ich nicht.

    Zu welchen Bedingungen ist Ihr Mann nach Syrien gefahren, wie viel Geld hat man ihm versprochen?

    Hat er mir nicht erzählt. Er hat so auf mich aufgepasst, dass er mich nie in solche Dinge eingeweiht hat. Seine Kumpels aus dem Donbass wurden begraben, und ich hab das immer als Letzte erfahren. 

    Mit wem hatte er Kontakt?

    Mit Igor Kossoturow, das ist Stas’ Kommandeur. Sie sind entfernte Verwandte. Stas hat eine Cousine, die früher mit Igor verheiratet war. Die hängen immer zusammen. Kosaken eben. 

    Konnte Ihnen Ihr Mann von dort Geld schicken?

    In eineinhalb Monaten 109.000 [1500 Euro]. Das war dafür, dass sie in Rostow waren. Von September bis Oktober, während der Ausbildung. Ich hab dieses Geld im Dezember bekommen.

    Wozu ist er überhaupt nach Syrien gefahren?

    Offenbar haben ihn diese ganzen Waffen und Militärtrainings fasziniert. Ein halbes Jahr nach dem Donbass fing er an, das alles zu vermissen – redete von seinem Gewehr, „wie geht es wohl meinem ‘Täubchen’”. Ich hab mit Engelszungen versucht, ihm das auszureden, wir standen kurz vor der Scheidung. Aber jetzt ist das ja alles sinnlos. 

    Fotos zeigen Stanislaw Matwejew in Syrien
    Fotos zeigen Stanislaw Matwejew in Syrien

    Hat Ihr Mann früher in der 12. Brigade des Militärgeheimdienstes GRU gedient, die hier in Asbest stationiert war?

    Nein. 

    Hat er Wehrdienst geleistet?

    Nein. Zumindest weiß ich nichts davon. Der Donbass war sein erster derartiger Einsatz. Wahrscheinlich gab es da irgendeine Armee. 

    Welchen militärischen Dienstgrad hatte er?

    Er war Stabsfeldwebel. Ich habe eine Kriegsauszeichnung von ihm, ein Georgskreuz aus dem Donbass

    Hat er dort diesen Rang erreicht?

    Sieht so aus, ja. Sagen Sie mir lieber, wer mich jetzt anrufen soll, wer wird mich informieren? Wenn dort alles, verdammt noch mal, in die Luft geflogen ist, wie erkennen sie ihn denn, tackern sie einfach die Fetzen zusammen und sagen dann, das ist mein Mann, oder wie?

    Jelena, Sie sagten, Ihr Mann hat im Donbass gekämpft, wann ist er da hingefahren?

    2016. 

    Was hat ihn dazu bewegt?

    Das haben die Männer alles unter sich entschieden. Er kam und sagte: „Du siehst ja, wie es im Donbass zugeht. Wir müssen den Leuten helfen.“ Er sagte, er fährt dahin und baut Häuser für Flüchtlinge. Er ist ja wirklich Bauarbeiter. 

    Und wie haben Sie erfahren, dass er dort nicht auf dem Bau arbeitet, sondern in der Volksmiliz kämpft?

    Das hat mir die Frau eines Kameraden gesagt. Er selbst hat es mir nicht mal erzählt.

    Wie haben Sie das aufgenommen?

    Ich war beunruhigt. Aber was soll ich machen?

    In welcher Brigade hat er gekämpft?

    Weiß ich nicht.

    War er lang dort?

    Etwa sieben Monate.

    Wie haben Sie ihn nach dem Donbass empfangen?

    Die Kinder haben vor Freude so gekreischt, dass seine Kameraden ganz entrüstet waren. Nach dem Motto: Uns begrüßt niemand so freudig. Er ist dann gleich zu seinen Eltern gefahren. Seine Mutter ist krank, sie hat Diabetes, und ich hab mich um sie gekümmert. Und dort tischten wir auf, klar, ordentlich Alkohol, das Übliche. 

    Was hätten Sie jetzt gern, welche Maßnahmen würden sie sich jetzt vom Staat wünschen?

    Ich würde mir wünschen, dass alle von meinem Mann erfahren. Und nicht nur von meinem Mann, von allen Jungs, die dort so sinnlos umgekommen sind. Arg ist das alles! Wohin wurden sie geschickt, warum? Es gab keinerlei Schutz. Wie Schweine wurden sie zur Schlachtbank geführt. Ich will, dass die Regierung sie rächt. Ich will, dass dieser Männer gedacht wird, dass die Frauen sich nicht schämen müssen für ihre Männer und die Kinder stolz sein können auf ihre Väter.


    Ataman Oleg Surnin, im Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift "Russen lassen die eigenen Leute nicht im Stich"
    Ataman Oleg Surnin, im Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift „Russen lassen die eigenen Leute nicht im Stich“

    Mit Ataman Oleg Surnin sprechen wir im Büro des örtlichen Verbands der Afghanistan-Veteranen, am anderen Ende von Asbest.

    Znak: Igor Kossoturow und Matwejew waren Kosaken?

    Oleg Surnin: Die waren von unserer Staniza. Wir haben sie im vorletzten Jahr zusammen aufgenommen, am Tag der Aufklärer [5. November – dek].

    Kannten Sie sie schon lange?

    Mit Igor Kossoturow hab‘ ich humanitäre Hilfe in die Ukraine gefahren, nach Luhansk. Dort ist er dann geblieben. Ich bin damals zurückgekommen, musste auf Arbeit.

    Welches Jahr war das?

    2015, glaub ich.

    Wie lang war Igor Kossoturow in der LNR [Volksrepublik Luhansk – dek]?

    Ein halbes Jahr ungefähr. Dann wurde er verwundet. Am Bein, ein Granatsplitter. Er kam hierher und wurde behandelt.

    Als was hat er da gekämpft?

    Als Aufklärer.

    Und was hat er nach der Verwundung gemacht?

    Ist nochmal für ein ein halbes Jahr hingefahren. Danach ist er nicht mehr in Luhansk gewesen.

    Warum nicht?

    Er hatte schon andere Pläne, wegen Syrien.

    Warum wollte er dann nach Syrien gehen?

    Ja, wie soll ich das sagen … Um zu helfen. Wieder aus Patriotismus! Viele seiner Regimentskameraden aus der Ukraine sind ja da hingegangen.

    Welchen Rang hatte Igor?

    In der Ukraine war er Hauptmann. Hier, in der Brigade, hatte er nicht mal einen Offiziersrang.

    Wie lief das, als sie nach Syrien zogen?

    Dort gibt es viele Russen. In Rostow gibt einen Ausbildungsstützpunkt. In solchen Stützpunkten werden sie trainiert. Folglich ist da auch die Gruppe Wagner dabei. Das erste Mal, als sie da hingingen, wurde ihnen vorgeschlagen, sich in zwei gleichgroße Gruppen aufzuteilen und in verschiedenen Flugzeugen nach Syrien zu fliegen. Die Jungs haben sich geweigert. Igor kam nach zwei Monaten aus Rostow hierher. Doch dann rief der Kommandeur an; sie sammelten sich alle und fuhren los.

    Es gab noch einen von meinen Kosaken dort, Nikolaj Chitjow.

    Hat er überlebt?

    Ja, wir haben schon miteinander gesprochen. Dann kam die Meldung aus dem Donbass, dass Kossoturow und Stas [Stanislaw Matwejew] umgekommen sind. Und jetzt erreiche ich keinen mehr per Telefon, der Mensch, der da die Leichen gesammelt hat, mit Codenamen „der Schwede“, der geht nicht mehr ran. Kolja Chitjow haben sie telefonisch erreicht, der hat auch erzählt, dass es drei Tote gibt: Igor, Stas und ein dritter, Codename „Kommunist“. Bei den beiden ist es sicher, die Informationen zum Dritten werden noch geprüft.

    Was geschieht jetzt mit den Leichen, werden die den Angehörigen übergeben?

    Gestern ging die Information ein, dass die Leichen schon nach Petersburg gebracht wurden. Das ist aber noch nicht bestätigt.

    Warum nach Petersburg und nicht nach Jekaterinburg?

    Das habe ich auch gefragt. Es wurden alle dorthin überführt.

    Sie sagen ständig „die Information ging ein“ – woher denn eigentlich?

    All diese Informationen kommen hauptsächlich über den Donbass, von Dienstkameraden.

    Sind Entschädigungszahlungen an die Angehörigen vorgesehen; die haben ja nunmal einen Ernährer verloren?

    Die müsste es geben. Es wird von drei Millionen Rubel geredet [ca. 42.850 Euro; pro Gefallenem – dek].

    Gibt es denn eine Garantie, dass gezahlt wird?

    Bis jetzt wurde noch niemand übers Ohr gehauen. Denjenigen, der mit der Überführung befasst war, können wir telefonisch nicht erreichen.

    Unterstützt der Staat diese Söldner denn irgendwie?

    Jetzt ist einer aus Syrien zurückgekommen, weil er krank ist. Der sollte am besten operiert werden, hat aber keinerlei Unterlagen, die das bestätigen. Wie auch, wenn er fünf Jahre Verschwiegenheit unterschrieben hat?!

    Gibt es bei den privaten Truppen wenigstens irgendeinen Vertrag mit den Leuten, Brief und Siegel?

    Natürlich, da werden Dokumente unterschrieben.

    Wird das alles denn auf irgendeine Art vom Verteidigungsministerium oder dem FSB kontrolliert?

    Was hat das Verteidigungsministerium damit zu tun?

    Wer übernimmt denn dann alle Kosten und die Entschädigungen?

    Weiß ich nicht.

    Wladimir Putin hat vor einiger Zeit öffentlich erklärt, dass alles geräumt ist, dass sich Syrien vollständig unter der Kontrolle der Regierungstruppen und Baschar al-Assads befindet…

    Ich schaue auch Fernsehen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was uns gesagt wird und was reale, lebende Menschen aus erster Hand erzählen. Ein Teil des Territoriums wird immer noch vom IS kontrolliert. Unsere Leute ziehen in die Kämpfe, von Raffinerie zu Raffinerie, befreien eine und bleiben zur Bewachung da. Dann wird eine neue Operation vorbereitet und es geht zur nächsten Raffinerie. Man hat unseren Leuten diesmal aufgelauert. Es gab ein Informationsleck, sie wurden eindeutig erwartet. Wenn das einfache Angehörige des IS mit Schusswaffen gewesen wären, wäre das alles anders gelaufen.

    Die eroberten Raffinerien werden von unseren Ölleuten kontrolliert. Es gab Informationen, dass Mitarbeiter von Rosneft da hingefahren sind…

    Nein, das waren Syrer.

    Nach dem, was passiert ist, sollte der Staat da nicht irgendwie reagieren?

    Nein. Es wissen doch sowieso alle, dass unsere Leute dort sind.

     

    Weitere Themen

    Krieg im Osten der Ukraine

    Donezker Volksrepublik

    Russland und der Krieg in Syrien

    Ein neues Jalta auf den Trümmern Syriens?

    Grüne Männchen

    Noworossyrija – Freiwillig für Assad in den Krieg

  • Was kommt nach Putin?

    Was kommt nach Putin?

    Verfassungen sind eigentlich vor allem dafür da, um die Macht der Machthaber zu begrenzen. In der Russischen Föderation jedoch ist seit 1993 der Präsident Garant der Verfassung. Absurd, meint Grigori Golossow, einer der wichtigsten Politikwissenschaftler des Landes. Denn wie kann jemand etwas garantieren, was seine eigene Macht begrenzen soll? Und dies, so Golossow, sei nicht der einzige Systemfehler, der Putin den Weg zu seiner autoritären Konsolidierung Russlands ebnete.

    Eine Korrektur dieser Fehler bedeute auch eine tiefgreifende Reform des gesamten politischen Systems. Nach 2024 freilich, denn Putins Triumph bei der Präsidentschaftswahl 2018 gilt als sicher.

    Um nicht die alten Fehler zu wiederholen, müsse sich das liberal-demokratische Russland jetzt schon Gedanken machen, was nach Putin kommt und wie denn dieses Szenario verwirklicht werden kann. Grigori Golosssow bringt auf Takie Dela seine Vorschläge ein. 

    Auf Putin folgt Putin folgt Putin? / © Damian Entwistle/flickr.com
    Auf Putin folgt Putin folgt Putin? / © Damian Entwistle/flickr.com

    Mittlerweile kann man sich nur schwer vorstellen, dass es in Russland vor nicht allzu langer Zeit noch überhaupt keinen Präsidenten gab, weder in der Sowjetunion noch in den Bruderrepubliken – bis 1990.

    Wie alle Staaten mit kommunistischem Regime hatte auch die UdSSR formal ein parlamentarisches System. In der Praxis lag alle Macht bei der KPdSU, die den politischen Kern des Systems darstellte. Dieser Kern bildete sich 1990 und 1991 allmählich zurück – und die Macht des ersten Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, hing in der Luft. Im August 1991 versuchte die Parteielite, diese Macht zu ergreifen: Sie erklärte den Ausnahmezustand und ließ in Moskau Panzer auffahren. Doch sie scheiterte auf ganzer Linie.

    Das Tätigkeitsverbot für die Kommunistische Partei und der Zerfall der Sowjetunion zogen Gorbatschow beide Stühle weg. Er landete im politischen Nichts – zusammen mit dem Staat, den er angeführt hatte.

    Gorbatschow landete im politischen Nichts

    Völlig anders war die Lage von Boris Jelzin zu Beginn seines Weges als Staatsoberhaupt Russlands. Kontrolle über die Kommunistische Partei gewinnen konnte er nicht; er wollte es wohl auch nicht. Macht konnte Jelzin allein über die staatlichen Strukturen gewinnen. Also erlangte er zunächst den Posten des Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Russischen Föderation (damals noch der RSFSR) und wurde danach, im Juni 1991, zum ersten gewählten Präsidenten Russlands. Ein grundlegender Wandel der politischen Institutionen in Russland erfolgte daraufhin allerdings nicht. Formal lag die Macht weiterhin in den Händen der Sowjets, Jelzins Vollmachten waren vor allem repräsentativer Natur. In dieser Hinsicht unterschied sich der Status Jelzins kaum von dem Gorbatschows.

    Der politische Sieg im August 1991 ermöglichte es Jelzin, weitreichende Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Vom verschreckten und desorientierten Parlament Russlands erwirkte er außerordentliche Vollmachten zur Durchführung von Wirtschaftsreformen. Mehr noch: Von November 1991 bis Juni 1992 war Jelzin gleichzeitig Präsident und Regierungschef.

    Panzer beschießen das Parlament

    Das Parlament erholte sich jedoch mit der Zeit von dem Schock und begann einen systematischen Angriff auf Jelzin, dessen verfassungsmäßige Vollmachten als Präsident nach wie vor gegen Null gingen. Die Verfassung zu seinen Gunsten ändern, das konnte Jelzin nicht, das konnte nur das Parlament. Also blieb ihm nur zu drohen, zu lavieren und seine Macht mit Hilfe eines Referendums zu festigen. Das half Jelzin, seine reale Macht zu wahren, führte aber zu einem Konflikt, der in der gewaltsamen Auflösung des Parlaments und dem Minibürgerkrieg vom Oktober 1993 endete. Wieder wurden Panzer in Bewegung gesetzt. Allerdings waren die neuen Machthaber entschlossener: Die Panzer nahmen das Parlament unmittelbar unter Beschuss.

    Nach dem Sieg über das Parlament konnte Jelzin die Verfassung diktieren, wie sie ihm gefiel, und sich so viele Vollmachten geben, wie ihm beliebte.

    Allerdings gab es zwei einschränkende Faktoren. Der eine, wenn auch nur ein schwacher, war die öffentliche Meinung im Westen, die von dem gewaltsamen Eingreifen Jelzins enttäuscht war und keine Errichtung einer Präsidialdiktatur in Russland wollte. Der andere Faktor, der von sehr viel größerer Bedeutung war, wurzelte in Jelzins Unwillen, sich allzu sehr mit Fragen des Alltagsgeschäfts zu belasten, für das er nie großes Interesse hatte (möglicherweise aus der Haltung heraus, dass dies nicht des Zaren Sache sei).

    Der Präsident als Garant der Verfassung

    Deshalb hat die Verfassung von 1993 die Kernaufgabe von Dokumenten dieser Art nicht erfüllt, nämlich die Zuständigkeiten der staatlichen Institutionen klar festzulegen. War die Macht des Präsidenten zuvor unklar definiert gering, so war sie nun unklar definiert groß. Entgegen gesundem Menschenverstand wurde dem Präsidenten die vage Rolle eines „Garanten der Verfassung“ zugesprochen, wo doch klar sein sollte, dass derjenige, dessen Macht durch die Verfassung beschränkt werden soll, nicht gleichzeitig Garant dieser Beschränkungen sein kann.

    Da die Verfassung von 1993 auf Jelzin zugeschnitten war, versorgte sie ihn mit einem politisch durchaus angemessenen Instrumentarium. Der Präsident konnte, sollte dies nötig sein, praktisch uneingeschränkt Macht ausüben. Bei Bedarf konnte er wiederum in den Hintergrund treten und sich hinter der Regierung vor dem Volkszorn verstecken. Wie etwa in der Augustkrise 1998, als das Scheitern der Jelzinschen Wirtschaftspolitik unübersehbar wurde.

    Putin hat Mittel gefunden, die Verfassung für seine Interessen zu nutzen

    Es liegt auf der Hand: Die Unbestimmtheit der präsidialen Vollmachten bringt es mit sich, dass das Funktionieren dieses Amtes unmittelbar abhängig ist von den persönlichen Qualitäten und den politischen Ressourcen desjenigen, der es bekleidet. Die Verfassung von 1993 war zwar nicht auf Putin zugeschnitten. Doch hat er die Mittel gefunden, sie für seine ureigenen Interessen zu nutzen.

    Formal gesehen gehört die russische Verfassung von 1993 zum Typus der semipräsidentiellen Systeme, die eine zweifache Verantwortlichkeit der Regierung vorsehen: gegenüber dem Parlament und gegenüber dem vom Volk gewählten Präsidenten. Solche Systeme sind nicht sonderlich stabil, und die Hauptgefahr besteht darin, dass es zu einer politischen Konfrontation zwischen Parlament und Präsident kommt.

    In erster Linie war Putin bestrebt, dieser Gefahr zu begegnen. Zu diesem Zweck gestaltete er das Wahl- und Parteiensystem derart um, dass die Mehrheit im Parlament stets der Partei gehört, die ihn unterstützt. Gerade diese Umstrukturierung führte dazu, dass Russland Mitte der 2000er Jahre keine durch Wahlen gestützte Demokratie mehr war, sondern endgültig den Weg in Richtung Autoritarismus eingeschlagen hatte.

    Der Weg in Richtung Autoritarismus

    Das Risiko, das dem semipräsidentiellen System innewohnt, bietet einem starken politischen Akteur einen spürbaren Bonus. Falls der Präsident aus irgendwelchen Gründen seinen Posten verlassen muss, so kann er sich, indem er Regierungschef wird, nahezu alle Einflussmöglichkeiten bewahren. Genau das war während der Rochade [von Putin und Medwedew – dek] zwischen 2008 und 2011 zu beobachten. Und es ist durchaus möglich, dass uns 2024 etwas Ähnliches erwartet. Somit schafft die Verfassung von 1993 nicht nur Möglichkeiten zur Entfaltung uneingeschränkter persönlicher Macht, sondern ermöglicht auch, diese auf unbestimmte Zeit zu behalten.

    Der Präsident hat kaum Verantwortung

    Gleichzeitig ist die Verantwortung, die dem Präsidenten durch die Verfassung auferlegt ist, vergleichsweise gering. Die unmittelbare Verantwortung trägt er nur für die Außen- und Verteidigungspolitik. Für alles andere ist der Regierungschef verantwortlich, der jederzeit abgesetzt werden kann, wenn man ihm zum Beispiel die Schuld für ein Scheitern in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zugeschoben hat. Die Regierung bleibt für die Bevölkerung der Sündenbock. Kein Wunder, dass die Umfragewerte des Präsidenten stets erheblich über jenen der Regierung liegen.

    Die Unbestimmtheit der Vollmachten und Verantwortlichkeiten schafft eine Situation, in der sich die Entscheidungsmechanismen auf eine Schattenebene verlagern, die nur schwer zu durchschauen ist. Das ist zum Teil auch den spezifischen Regierungsgewohnheiten Putins geschuldet. Richtig ist aber auch, dass in jedem politischen System ein wichtiger Teil der Entscheidungen mehr oder weniger informell auf den Fluren getroffen wird. Allerdings wird diese Praxis durch klar festgelegte Normen beschränkt. In Russland wird durch das Fehlen solcher Normen diese Praxis nur verstärkt.

    Entscheidungen werden auf den Fluren getroffen

    Die Hauptaufgabe, die beim Übergang zur Demokratie bevorsteht, besteht darin, die Zuständigkeiten der unterschiedlichen Staatsämter in der Verfassung klar voneinander abzugrenzen. Das ließe sich auf unterschiedliche Weise bewältigen.

    In oppositionellen Kreisen herrscht relativ breite Einigkeit, dass man auf das Präsidialsystem verzichten und ein parlamentarisches System einführen sollte. Das würde bedeuten, dass die Vollmachten des Präsidenten vor allem repräsentativer Natur wären und die gesamte politische Verantwortung auf einem Premierminister läge, der von einer Parlamentsmehrheit im Amt zu bestätigen wäre.

    Ich sehe keine ernsthaften Hindernisse für eine Umsetzung dieser Variante. Ich möchte jedoch zu bedenken geben, dass auch ein semipräsidentielles System seine Vorteile hat, wenn es richtig angelegt ist und funktioniert. Das zeigen die Beispiele einiger europäischer Staaten: Etwa Frankreich (wo dieses System erfunden wurde), Polen oder Rumänien. In allen diesen Ländern gibt es Probleme; diese sind jedoch erstens nicht allzu gravierend, und zweitens könnten wir den nötigen Scharfsinn zeigen und das System unter Berücksichtigung der Erfahrungen dieser Länder optimieren.

    Natürlich kann der Präsident nicht „Garant der Verfassung“ sein. In einem normalen System wäre er lediglich ein höher gestellter Staatsdiener. Im Prinzip hat die Verfassung von 1993 richtig festgeschrieben, welche Verantwortungsbereiche beim Präsidenten zu verankern sind: die Außenpolitik und die Verteidigung. Politischen Führern ist sehr wohl bewusst, dass sich jede Art ihres Scheiterns durch einen außenpolitischen Triumph kompensieren lässt. Putin ist hierbei vorgegangen, wie’s im Buche steht. In Ländern, die keine aktive Außenpolitik betreiben, haben solche Überlegungen keine sonderlich große Bedeutung. In Russland spielen sie auf lange Sicht eine wichtige Rolle. Die Nachwirkungen der riesigen außenpolitischen Probleme, die Putin als Erbe hinterlässt, werden Russland über Jahrzehnte beschäftigen.

    Die Nachwirkungen der riesigen außenpolitischen Probleme, die Putin als Erbe hinterlässt, werden Russland über Jahrzehnte beschäftigen

    In einem optimalen Modell, wie ich es mir vorstelle, sollten sowohl Präsident als auch Parlament direkt gewählt werden. Der Präsident würde neben repräsentativen Funktionen die tatsächliche und unmittelbare Verantwortung für die Außen- und Verteidigungspolitik tragen, während die Macht in allen anderen Bereichen bei einer Regierung liegen würde, die von einer Partei oder einer Koalition getragen wird. Der Premier wäre somit der politische Führer des Landes.

    Den Premierminister könnte nur das Parlament absetzen, und zwar nur dann, wenn der Premierminister das Vertrauen der Partei oder Koalitionsmehrheit verliert. Oder aber, was häufiger der Fall ist, wenn die Partei oder die Koalition auseinanderbricht, was gewöhnlich zu Neuwahlen führt. Was den Präsidenten betrifft, so kann dieser in einem solchen System nur dann abgesetzt werden, wenn er Gesetze bricht: über ein Amtsenthebungsverfahren mit Gerichtsbeschluss. Politische Differenzen mit dem Premierminister sind kein hinreichender Grund.

    Direkte Wahlen und eine neue Verfassung

    Das grundlegende Modell zur Einteilung und Abgrenzung der Befugnisse kann nicht ohne Verabschiedung einer neuen Verfassung geändert werden. Das bedeutet aber weder, dass die Verfassung von 1993 in einem eigenmächtigen, revolutionären Akt abgeschafft werden sollte, noch heißt es, dass man – selbst unter Beachtung aller rechtlichen Aspekte – es mit ihrer Abschaffung eilig haben sollte.

    Die erheblichen innenpolitischen Vollmachten des Präsidenten könnten für die Umsetzung von Reformen sinnvoll sein. Nach einer solchen Übergangszeit hätte dann laut der Verfassung von 1993 das zur Verfassungsänderung berechtigte Gremium das Sagen. Und das ist die die Verfassunggebende Versammlung. Bislang fehlt noch ein Gesetz, das festlegt, wie diese zu bilden ist. Das wäre Aufgabe jener Gesetzgeber, die nach dem Übergang zur Demokratie durch die ersten freien Wahlen ins Parlament gelangen. Ich denke, die würden das schaffen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

    Weitere Themen

    „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    „Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

    Der Geist der Korruption

    Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    Warum es unter Putin keine Reformen geben wird

    Sobtschak: Gegen alle, für Putin?

  • Petersburger Trolle im US-Wahlkampf

    Petersburger Trolle im US-Wahlkampf

    Hat der Kreml die US-Wahl 2016 beeinflusst? Gerüchte gibt es schon länger, auch die US-amerikanischen Geheimdienste werfen Russland vor, die Wahl manipuliert zu haben. Ihr Hauptverdächtiger ist die sogenannte Trollfabrik, die unter dem Dach der St. Petersburger Nachrichtenagentur Glawset wirken soll. Untergebracht in einem unscheinbaren Gebäude an der Uliza Sawuschkina, soll sich hier demnach eine Zentrale für die nahezu industrielle Produktion von Falschinformationen befinden.

    Nun bringt die Nachrichtenplattform RBC Licht in diese „Trollhöhle“ und recherchierte zu wichtigen Fragen: Wer steckt hinter der Kampagne zur US-Wahl? Wie teuer war sie? Der vielbeachtete investigative Artikel deckt die Mechanismen hinter der Aktion auf. 

    Uliza Sawuschkina 55 –  seit vier Jahren Sitz einer Trollfabrik? / Foto © Alexander Korjakow/Kommersant
    Uliza Sawuschkina 55 – seit vier Jahren Sitz einer Trollfabrik? / Foto © Alexander Korjakow/Kommersant

    22. Oktober 2016. Die Stadt Charlotte im US-Bundesstaat North Carolina. Es ist ein sonniger Samstag. Einige Dutzend Menschen sind in den Central Park der Stadt gekommen. Allerdings nicht zum Spazierengehen, sondern zu einer Demonstration der afroamerikanischen Bevölkerung gegen Polizeigewalt. Die Protestierenden rufen am Brunnen des Parks Parolen, dann ziehen sie friedlich zum Eingang der örtlichen Polizeistation. Auf der Eingangstreppe zur Polizeiwache rufen sie einige Male: „Black Lives Matter!“ Eine populäre Parole und der Name einer Organisation, die sich für die Rechte schwarzer US-Bürger einsetzt.

    Die Aktion in Charlotte war auf Facebook ordentlich beworben worden von der Gruppe BlackMattersUS, die mit der Organisation Black Lives Matter nichts zu tun hat. Die Verbindungen von BlackMattersUS reichen weit über die Grenzen der USA hinaus – bis nach Russland in die Uliza Sawuschkina 55 in St. Petersburg.

    Diese Adresse im Primorski-Bezirk ist schon lange ein feststehender Begriff. Vor rund drei Jahren sind in das vierstöckige Gebäude in der Uliza Sawuschkina einige hundert junge Leute eingezogen, deren Hauptaufgabe es ist, patriotische Werte zu propagieren. Die Arbeit der Mitarbeiter dieser Trollfabrik (im Weiteren kurz: Fabrik), gegründet und finanziert vermutlich von dem Petersburger Geschäftsmann Jewgeni Prigoshin, bestand vor allem darin, unter fiktiven Namen non-stop Kommentare in Blogs und Sozialen Netzen des russischen Internet zu schreiben. Sie sollten das gegenwärtige Regime verteidigen, Oppositionelle kritisieren und politisch willkommene öffentliche Events unterstützen.

    Die Trollfabrik in der Uliza Sawuschkina

    Bald schon wurden in der Fabrik die anfänglich primitiven Methoden weiterentwickelt. Ungefähr zu dieser Zeit entstanden die ersten Portale, die dann zum Kern des Medien-Anteils der Organisation wurden, der sogenannten „Medienfabrik“. Eine komplette patriotische Holding, über die RBC im März 2017 berichtet hat und die mittlerweile monatlich über 50 Millionen Menschen erreicht.

    Bis Mitte 2015 war die Fabrik auf 800 bis 900 Leute angewachsen. Auch das Instrumentarium hatte sich erweitert, hinzugekommen waren Videos, Infografiken, Meme, Reportagen, Nachrichtenmeldungen, Interviews, analytische Beiträge und eigene Gruppen in den Sozialen Netzwerken. Im Januar 2017 wurde dann in einem Bericht der US-amerikanischen Geheimdienste über die Einmischung Russlands in die US-Präsidentschaftswahlen neben dem Fernsehsender RT  [Russia Todaydek] die Agentur für Internetrecherchen erwähnt. Mutmaßlich war dies eine der ersten juristischen Personen im Rahmen der Trollfabrik (die hatte ihre Tätigkeit 2015 eingestellt und war Ende 2016 aus dem Handelsregister gestrichen worden). Bald nach der Wahl Donald Trumps wurden im US-Kongress und im Senat eine Reihe von Ausschüssen eingesetzt, die die Vorkommnisse untersuchen sollten.

    US-amerikanische Firmen wie Facebook, Twitter oder Google arbeiten mit den Behörden zusammen und forschen auf ihren Plattformen nach Trollen. Westliche Medien, unter anderem The Wall Street Journal, The New York Times, CNN und The Daily Beast veröffentlichen fast täglich neue Details zu einer möglichen russischen Einmischung in die Präsidentschaftswahlen. Es werden immer neue Social-Media-Gruppen gefunden, die vor und nach den Wahlen aktiv waren, sowie Aufrufe und Veranstaltungen, die mit ihnen in Verbindung standen. Als Grundlage dieser Berichte dienen zuweilen einzelne Bilder und Videos gesperrter Gruppen.

    RBC hat jetzt eigene Recherchen angestellt. Es ist uns gelungen, die Beteiligung von Mitarbeitern aus der Uliza Sawuschkina an 120 Gruppen und Themen-Accounts in Sozialen Medien aufzudecken und deren Existenz zu belegen, ihren Inhalt zu analysieren und die Gesamtausgaben für diese Kampagne zu berechnen. Rechtfertigt das Ausmaß der Auslandstätigkeit der Trollfabrik die Hysterie, die in den USA darum entstanden ist?

    Es wurden nur Möglichkeiten getestet, es war ein Experiment. Und es hat funktioniert

    Frühjahr 2015. Ein paar Leute sind vor einem Bildschirm versammelt. Auf dem Monitor des Computers ist ein recht monotones Bild zu sehen: Menschen kommen auf einen Platz in New York, lassen den Blick schweifen, schauen auf ihre Telefone, schauen sich noch einmal um und gehen nach einiger Zeit weg.

    Einige Tage zuvor war auf Facebook mit einem Targeting auf die Bewohner von New York ein Event beworben worden: Man bekommt kostenlos einen Hotdog, wenn man zur richtigen Zeit am festgelegten Ort erscheint. Allerdings hat letztendlich niemand irgendein Würstchen bekommen. Dafür hatten andere Leute ihren Spaß: Mit Hilfe städtischer Überwachungs-Webcams wurde das Geschehen auf dem Platz online verfolgt, von St. Petersburg aus, aus einem Büro im ersten Stock der „Trollhöhle“.

    Die Aktion sollte die Praxistauglichkeit einer Hypothese prüfen, nämlich, ob sich aus der Ferne eine Aktion in einer US-amerikanischen Stadt organisieren lässt. „Es wurden nur Möglichkeiten getestet, es war ein Experiment. Und es hat funktioniert“, erinnert sich ein Mitarbeiter der Fabrik, ohne seine Freude zu verhehlen. An jenem Tag, also fast anderthalb Jahre vor den Präsidentschaftswahlen in den USA, begann die eigentliche Arbeit der Trolle in der amerikanischen Internet-Community.

    Im März 2015 wurde auf dem Portal Super Job eine freie Stelle als „Internet-Operator (nachts)“ ausgeschrieben. Für ein Gehalt zwischen 40.000 und 50.000 Rubel [etwa 590 und 740 Euro – dek] und mit Arbeitszeiten von 21.00 bis 9.00 Uhr (nach dem Schema „zwei Nächte arbeiten, zwei Tage frei“) wurde ein Mitarbeiter für ein Büro im Primorski-Bezirk gesucht: Zu den Aufgaben gehört das Verfassen von „nachrichtlich-informierenden und analytischen“ Beiträgen „zu einem vorgegebenen Thema“. Gefordert wird unter anderem „fließendes Englisch in Wort und Schrift“ sowie Kreativität.

    Die freie Stelle wurde von der Petersburger Firma Internet-Issledowanija [dt. Internet-Recherche – dek] angeboten. Als Besitzer dieser Firma wurde damals Michail Bystrow geführt, ehemaliger Leiter der Verwaltung des Innenministeriums für den Moskowski-Bezirk von St. Petersburg. Er leitete auch die Agentur für Internetrecherchen und steht bis heute an der Spitze von Glawset, registriert unter der Adresse Uliza Sawuschkina 55 (Angaben von SPARK-Interfax).

    Über Anzeigen dieser Art wurden in der Uliza Sawuschkina Leute rekrutiert, die die amerikanischen Social-Media-Gruppen in Echtzeit bearbeiten sollten, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter der Fabrik gegenüber RBC. Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter ergänzt, dass seit Frühjahr 2015 zum Arbeitsfeld auch die „Diskreditierung der Kandidaten“ gehörte, die bei den Präsidentschaftswahlen in den USA antraten.

    Wenn Facebook die Accounts der Trolle sperrt, kauft die IT-Abteilung Proxy-Server, teilt neue IP-Adressen zu, schafft virtuelle Betriebssysteme, und die Arbeit beginnt von Neuem, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter der Fabrik. Auch kaufen sie neue SIM-Karten oder Cloud-Nummern, es werden neue Zahlungskonten eröffnet und manchmal auch Dokumentenpakete zur Registrierung von Accounts, ergänzt ein Gesprächspartner von RBC aus der Fabrik. Für die IT-Versorgung werden monatlich bis zu 200.000 Rubel [knapp 3000 Euro – dek] ausgegeben, führt eine Quelle aus, die mit der Vorgehensweise der Organisation vertraut ist.

    Einen sehr viel umfangreicheren Ausgabenposten stellen die Gehälter dar. Bis zum Sommer 2016, also innerhalb eines Jahres, hatte sich die Zahl der Mitarbeiter der Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina fast verdreifacht, auf 80 bis 90 Personen. Das sind rund zehn Prozent derjenigen, die der Fabrik zugeordnet werden können.

    Die Köpfe der Trollfabrik

    Chef der gesamten Fabrik ist de facto der 31-jährige Michail Burtschik, wie RBC berichtet hatte. Er war früher Besitzer der IT-Firmen VkAp.ru und GaGaDo und Herausgeber kommunaler Zeitungen. Burtschik hat nie offiziell bestätigt, dass er Chef der Fabrik sei oder im Büro in der Uliza Sawuschkina arbeite.

    Gegenüber RBC meinte er jedoch, dass er Medien berate, „als Fachmann für die Förderung und Entwicklung von Internet-Projekten“. Burtschik hat mit etwa 20 bis 30 Leuten zu tun, die ihrerseits wiederum, je nach Aufgabenbereich, Teams von zehn bis 100 Mitarbeitern leiten, beschreibt ein Informant der Fabrik das Arbeitsmodell.

    Auf die Frage, wer die Amerika-Abteilung leite, nannten Gesprächspartner gegenüber RBC einhellig den 27-jährigen in Aserbaidschan geborenen Ceyhun Aslanov. Einem Korrespondenten von RBC gegenüber hat Aslanov diese Information dementiert. Als Quellen dienten RBC ein aktueller Mitarbeiter der Fabrik, ein ehemaliger Mitarbeiter der Amerika-Abteilung sowie eine Person, die mit der Tätigkeit der Organisation vertraut ist. Neben diesen mündlichen Angaben liegt RBC noch eine Mitteilung aus einem Telegram-Chat vor, die Aslanov verfasst hat und in der es um die Zwischenergebnisse der Fabrik-Arbeit in den USA geht.
    Aslanov war Ende der 2000er Jahre aus der Stadt Ust-Kut (Gebiet Irkutsk) nach St. Petersburg gezogen, um dort an der Hydrometeorologischen Universität Wirtschaft zu studieren. 2009 verbrachte er einige Monate in den USA, besuchte dabei New York und Boston und fuhr 2011 nach London, wie aus den öffentlichen Informationen auf Aslanovs Profil bei Vkontakte hervorgeht. Aktuell gehören dem mutmaßlichen Leiter der Auslandsabteilung der Fabrik zwei Firmen mit Spezialisierung im Werbe- und Online-Geschäft. Eine der Firmen namens Asimut bietet Dienste an, mit denen Accounts in Sozialen Netzen gepusht werden, erzählte Aslanov und bot dem Korrespondenten von RBC sogar seine Hilfe an, um dessen persönliche Seiten hochzubringen.

    Eine Million Euro für Gehälter

    Ein beträchtlicher Teil des Content in den englischsprachigen Gruppen wurde auf Facebook mittels eingetakteter Postings veröffentlicht. Von der Gesamtbelegschaft der Auslandsabteilung arbeiteten rund zehn Mitarbeiter in Nachtschichten, die übrigen hatten eine normale Arbeitswoche (fünf Arbeitstage, zwei Tage frei). Der Budgetposten für die Gehälter der Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina liegt bei 60 bis 70 Millionen Rubel [knapp eine Million Euro – dek] jährlich. Trolle der unteren Ebene erhalten rund 55.000 Rubel [etwa 800 Euro – dek] (plus Prämien, wenn Mitglieder der Gruppen reagieren), Administratoren verdienen 80.000 bis 90.000 [etwa 1200 Euro – dek] und Führungskräfte 120.000 [1700 Euro – dek] aufwärts. Diese Zahlen nennen ein ehemaliger und ein aktueller Mitarbeiter der Fabrik.

    RBС liegt eine Liste mit fast 120 Gruppen und Themen-Accounts auf Facebook, Instagram oder Twitter vor, die bis zum August 2017 aktiv waren. Die Echtheit dieser Liste wird durch Screenshots mit Posts der Gruppen und der einzelnen Accounts bestätigt, die von den internen Panels der Administratoren aus gemacht wurden (ebenfalls gesperrt). Der Mitwirkung der Trolle an dieser Liste wurde RBC von einem Informanten aus dem engeren Umfeld der Fabrik-Leitung bestätigt. Darüber hinaus ist über die Hälfte der Twitter-Accounts auf Telefonnummern mit der russischen Ländervorwahl +7 registriert, wie aus der Passwortwiederherstellung hervorgeht.

    Zusätzlich hat RBC Linguisten gebeten, sieben Veröffentlichungen aus den Social-Media-Gruppen zu analysieren, die auf der Liste stehen. Die Autoren der Posts waren in vielen Fällen Russen. Ronald Meyer, Adjunct Associate Professor an der Columbia-Universität, und seine Kollegin Alla Smyslova, Direktorin des Programms für russischen Spracherwerb, haben hierfür „hinreichend Belege“ gefunden. Sie verwiesen auf wörtliche Übersetzungen aus dem Russischen (z. B.: „sitting on welfare“ – sidet’ na possobii / auf Stütze sitzen), auf Fehler in der Zeichensetzung ( Kommata vor „that“), auf fehlende Artikel und überhaupt auf „merkwürdige“ Formulierungen.

    Jekaterina Tschegnowa, Direktorin der Sprachenschule Star Talk, und der Englischlehrer Dimitri Bulkin meinten allerdings, dass die Publikationen in „recht sauberem Englisch“ geschrieben seien. Deshalb könne man davon ausgehen, dass die Verfasser Muttersprachler seien. Zum Teil könnte das damit zusammenhängen, dass die Trolle immer wieder Teile ihrer Posts von „echten“ US-Amerikanern übernehmen.

    Weniger als 100 Personen haben wöchentlich mehr als 1000 Beiträge verfasst und gepostet. Die Reichweite betrug beispielsweise im September 2016 durchschnittlich 20 bis 30 Millionen Nutzer. Wie ist es den Trollen gelungen, die User für ihre Fabrik-Inhalte zu interessieren?

    Das Erfolgsrezept der Trollfabrik

    Am 28. Februar 2017 hat sich Trump-Spitzenberaterin Kellyanne Conway bei einem Staatsempfang im Oval Office des Weißen Hauses mit Schuhen auf ein Sofa gekniet. Das Bild löste in den Sozialen Netzwerken einen Sturm der Entrüstung aus: Sie in dieser Position im Vordergrund und der Präsident im Hintergrund, wie er gerade mit den Direktoren der speziell für die schwarze Bevölkerung gegründeten afroamerikanischen Colleges und Hochschulen (HBCU) vor den Kameras posiert. Conway sei Respektlosigkeit gegenüber dem Oval Office, dem US-amerikanischen Volk und seinem Präsidenten vorgeworfen worden, hieß es in der BBC.   

    Am selben Tag reagierte die Bloggerin Jenn Abrams mit zwei Tweets auf die Kritik an Conways Verhalten: Ein Bild zeigte den Ex-Präsidenten Barack Obama mit den Füßen auf dem Tisch, das zweite wiederum den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton mit Monica Lewinsky im Arm. Beide Fotos wurden im Oval Office gemacht. Diese Beiträge bekamen insgesamt circa 1000 Retweets, 1,3 Millionen Likes und wurden von der britischen Zeitung Independent aufgegriffen. Backlinks zu Abrams Beiträgen wurden von RBC unter anderem auf den Webseiten von Aljazeera, Elle, Business Insider, BBC, USA Today und Yahoo gefunden. Der Account @Jenn_Abrams, der unter einer Telefonnummer mit der Vorwahl +7 registriert wurde, und die Homepage Jennabrams.com sind aktuell nicht verfügbar.

    Die Fabrik hatte Dutzende von Accounts wie den von „Jenn Abrams“. Um die zehn Mitarbeiter der amerikanischen Abteilung waren für Twitter zuständig. Ihre Aufgaben hätten nicht den Wahlkampf selbst betroffen, sondern im Einrichten von Accounts und im Durchführen von Flashmobs bestanden, die von großen Medien und zentralen Medienpersonen aufgegriffen werden sollten, erzählt ein Mitarbeiter der Fabrik.

    Mehr Clinton als Trump

    Laut einer Quelle aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung wurde fast der gesamte US-bezogene Content der Fabrik weniger zugunsten eines konkreten Kandidaten als zu „sozial brisanten Themen“ erstellt. Es sei quasi rein zufällig zu Übereinstimmungen mit Trumps Rhetorik gekommen, was ein Informant als „Korrelation“ und nicht etwa als direkte Unterstützung bezeichnet.

    „Wir hatten nicht den Auftrag, Trump zu unterstützen. Alle Probleme waren unmittelbar auf die Arbeit der damaligen Regierungspartei [der Demokraten Anm. d. Red.] zurückzuführen. Als ihre Vertreterin trägt Hillary [Clinton Anm. d. Red.] eine Mitschuld“, sagt ein anderer. Die Analyse hunderter Publikationen ergab, dass Clinton in den Posts der Trolle wesentlich öfter vorkam als Trump.

    „Teilt das, wenn ihr glaubt, dass Muslime an 9/11 unbeteiligt waren. Seht euch an, wie viele Menschen die Wahrheit kennen“ (Post von United Muslims of America vom 11. September 2016). „Clinton besteht darauf: ‚Wir haben keinen einzigen Amerikaner in Libyen verloren‘. Die vier mit Fahnen zugedeckten Särge waren nicht leer, Hillary“ (Being Patriotic zu Clintons Verhalten ob der nationalen Tragödie vom 8. September 2016). In einer Stellungnahme hat Facebook darauf hingewiesen, dass ein Großteil der gesperrten Beiträge Themen wie LGBT, Rassismus, Immigration oder Waffenbesitz betraf und „das ganze ideologische Spektrum umfasste“.   

    Die Gesamtzahl der Fans und Follower der etwa 120 gesperrten Gruppen und Accounts betrug nahezu sechs Millionen, nach Berechnungen von RBC waren davon über die Hälfte auf Facebook und ein Drittel auf Instagram. Unterteilt man die gesperrten Gruppen nach Themen, so wird deutlich, dass die Trolle meistens politische Konflikte anheizten, und ethnische, vor allem mit Bezug auf die Probleme der schwarzen US-Bevölkerung. Insbesondere für die massenhafte Streuung dieser Themen wurde das Marketingbudget in Sozialen Netzwerken verwendet.

    „Es ist verboten, mich im Fernsehen zu zeigen, weil ich zu gewalttätig war. Klick auf Gefällt mir und Teilen, wenn du mich als Kind im Fernsehen gesehen hast, eine Pistole besitzt und niemanden angeschossen oder umgebracht hast!“ Dieses Posting wurde am 9. März in der Facebook-Gruppe South United veröffentlicht. Inmitten des Textes ist ein Bild, das die Zeichentrickfigur Yosemite Sam zeigt. Die Reichweite dieses Beitrags betrug über 17 Millionen Nutzer, 1,6 Millionen haben darauf reagiert, lediglich 3000 Nutzer haben den Beitrag auf ihrer Chronik verborgen und neun haben ihn als Spam gemeldet, wie sich aus einem Screenshot schließen lässt.

    Die Zahl der Fabrik-Beiträge auf Facebook mit vergleichbarer Reichweite lässt sich an zwei Händen abzählen. Darunter war ein Post über Veteranen und Flüchtlinge, der in der Gruppe Being Patriotic über 17,2 Millionen Personen erreicht hat. Gerade mal an die 20 Posts hatten eine Reichweite von einer Million Nutzern. Nach Berechnungen von RBC sieht die Statistik bei Twitter ganz ähnlich aus. Es gibt zwar mehrere hundert Tweets, die zehntausende Views hatten, der Löwenanteil der Tweets hatte allerding bestenfalls 1000 Views.  

    Ein Marketingbudget von 5000 US-Dollar pro Monat

    Einer internen Statistik, die RBC vorliegt, kann man entnehmen, dass das Marketingbudget in Sozialen Netzwerken etwa 5000 US-Dollar pro Monat betrug, beziehungsweise 120.000 US-Dollar für den Zeitraum von insgesamt zwei Jahren. Diese Zahlen bestätigte ein Informant aus der Organisation gegenüber RBC.
    Der wesentliche Teil des Werbeetats der Fabrik war jedoch nicht etwa für die Promotion der Gruppen an sich vorgesehen, sondern für eine Potenzierung der Hotdog-Erfahrung.   

    Im Mai 2016 erhielt Micah White, ein bekannter amerikanischer Aktivist und Mitbegründer der Bewegung Occupy Wall Street, eine E-Mail von einem gewissen Yan Davis. Dieser gab sich als ein freier Mitarbeiter der Organisation BlackMattersUS aus, die sich den Problemen der afroamerikanischen Bevölkerung widmet, und bat um ein Telefoninterview. Der Aktivist willigte ein und gab ihm seine Nummer, die anschließende Unterhaltung kam ihm allerdings seltsam vor. „Die Verbindung war schlecht und ich glaube, der Interviewer war kein Muttersprachler“, erinnert sich White gegenüber RBC. White war 2014 vom Magazin Esquire zu einem der einflussreichsten Menschen unter 35 gekürt worden.

    Jetzt ist das Interview nur noch auf der Webseite BlackMattersUS verfügbar. Außer des Tumblr-Accounts sind die Seiten der Plattform auf Facebook, Twitter und Instagram mit insgesamt über 250.000 Fans und Followern nicht mehr aufrufbar. Auch das Facebook-Profil von „Yan Davis“ wurde deaktiviert. RBC hat versucht, die Person über die Adresse zu kontaktieren, über die auch White mit dem „freien Journalisten“ kommuniziert hat, aber nach Meldung des Dienstes Readnotify wurde die E-Mail nicht geöffnet. Der Account @BlackMattersUS ist bei Twitter auf eine Telefonnummer mit der Vorwahl +7 registriert. Laut Angaben eines fabriknahen Informanten von RBC waren die Mitarbeiter, die in Nachtschichten Kommentare in Gruppen beantworteten, auch für den Beziehungsaufbau zu verschiedenen amerikanischen Aktivisten verantwortlich.

    BlackmattersUS – geführt aus Russland

    Im Gegensatz zu einem Großteil der von der Fabrik geführten Gruppen, wurde BlackMattersUS als ein nichtkommerzielles Nachrichtenportal mit eigener Redaktion präsentiert: Jeder konnte den Kampf gegen Rassismus durch Spenden über PayPal auf ein Gmail-Konto mit dem Nutzernamen xtimwalters unterstützen. Auf der Webseite werden neben Yan Davis sechs weitere Redaktionsmitglieder gelistet. RBC hat außerdem von noch zwei „Mitarbeitern“ Twitter-Accounts gefunden: Einer davon ist gesperrt, der andere seit 2016 inaktiv.   

    BlackMattersUS gelang es, ein ganzes Interview-Portfolio mit bekannten Bürgerrechtlern zu erstellen, die sich für die Gleichstellung dunkelhäutiger US-Amerikaner einsetzen. Der Kontakt mit ihnen bestand nach den Interviews weiter: Besagter White erhielt von Yan Davis im Folgenden mehrere E-Mail-Anfragen mit der Bitte, die Aktionen von BlackMattersUS zu unterstützen. So sollte er über seinen Account Informationen zu einem Protest am 14. Oktober 2016 im Gebäude des Strafgerichts von New Orleans teilen. An diesem Tag wurde der Prozess gegen den Afroamerikaner Jerome Smith wiederaufgenommen, der 1986 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Wie man auf der Seite von BlackMattersUS nachlesen kann, sei geplant gewesen, dass die Protestierenden nach der Kundgebung die Anhörung besuchen. RBC konnte jedoch nicht in Erfahrung bringen, ob tatsächlich jemand an der Protestaktion teilgenommen hat. Die Facebook-Seite der Veranstaltung wurde gesperrt.

    Mehr Belege gibt es hingegen für die anfangs erwähnte Demonstration gegen Polizeiwillkür, die ebenfalls im Oktober 2016, zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl, in Charlotte stattfand. Kurz vor Beginn der Veranstaltung kontaktierten Akteure der Gruppe BlackMattersUS per Facebook den lokalen Aktivisten und Leiter der Initiative Living Ultra-Violet Conrad James. Er sei gebeten worden, bei der Durchführung der Protestaktion zu helfen, berichtet James. Dieser erklärte sich nicht nur dazu bereit, sondern mobilisierte weitere lokale Bürgerrechtler, Afroamerikaner und andere Minderheiten. Er selbst erschien sogar mit Megafon bei dem Protest.

    Nach der Wahl: Anti-Trump-Posts

    Einige Wochen nach Trumps Wahl zum US-Präsidenten habe in Charlotte eine weitere, von James zusammen mit BlackMattersUS organisierte, Kundgebung stattgefunden, erzählt der Aktivist. Unter dem Motto „Charlotte against Trump“ versammelten sich mehrere Dutzend Gegner des neugewählten Präsidenten. Solche heftigen Positionswechsel der Fabrik lassen sich damit erklären, dass in der Uliza Sawuschkina völlige Gleichgültigkeit darüber herrscht, wer das andere Land letztendlich regiert.

    Durch die Initiative von BlackMattersUS seien in den USA im Zeitraum von 2016 bis 2017 etwa zehn Veranstaltungen durchgeführt worden, berichtet ein mit der Arbeit der Fabrik vertrauter Informant. Seine Aussagen werden von organisationsinternen Berichten über die Aktionen bestätigt und von Bildern illustriert, die bisher unveröffentlicht geblieben sind (sie liegen RBC vor). Die an den Aktivitäten von BlackMattersUS beteiligten Bürger vor Ort hätten nicht gewusst, dass hinter der Organisation Trolle von der Uliza Sawuschkina standen, versichern ein Angestellter der Fabrik sowie ein ehemaliger Mitarbeiter der Amerika-Abteilung. Beide betonen, dass es keinerlei Dienstreisen aus St. Petersburg in die USA gegeben habe.    

    Unterm Strich konnten die Trolle, die sich in den Sozialen Netzwerken unter falschen Namen als Mitarbeiter von Gruppen ausgeben, etwa 100 nichtsahnende ortsansässige Aktivisten mobilisieren, die bei der Umsetzung durch ihr Offline-Engagement halfen. 

    Über die Social-Media-Gruppen der Fabrik wurden in den USA rund 40 Kundgebungen und Aktionen verschiedener Art organisiert, wie aus internen Berichten hervorgeht. Dabei kamen einige dieser Veranstaltungen erst in die amerikanischen Medien, nachdem Facebook die Informationen zu den gesperrten Beiträgen und Accounts an den Kongress übergeben hatte. So hatte Being Patriotic im August 2016  die Bewohner von 17 Städten Floridas über Facebook dazu eingeladen, an Unterstützungskundgebungen für Trump teilzunehmen, der zu diesem Zeitpunkt noch Präsidentschaftskandidat war. Mindestens zwei dieser Veranstaltungen haben auch tatsächlich stattgefunden, stellten die Journalisten von The Daily Beast in einer investigativen Recherche zu Being Patriotic fest.  

    Konnten wir den Wahlausgang beeinflussen? Natürlich nicht

    Die Ausgaben der Fabrik für die Arbeit der lokalen Organisatoren – darunter Inlandsflüge, Druckproduktion, Technik und ähnliches – beliefen sich monatlich auf circa 200.000 Rubel [knapp 3000 Euro – dek], wie RBC aus organisationsnahen Kreisen berichtet wird. Somit betrugen diese Kosten für zwei Jahre insgesamt fünf Millionen Rubel, beziehungsweise 80.000 US-Dollar, und damit etwas weniger als die Marketing-Ausgaben in den Sozialen Netzwerken.

    Heute zählt die Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina etwa 50 Mitarbeiter. Diese namen- und gesichtslose Gruppe gilt in der aktuellen Berichterstattung US-amerikanischer Medien als geradezu wichtigster Motor für den Wahlsieg Trumps. US-Präsident Trump selbst hat zu den Vorwürfen über eine mögliche Einmischung der russischen Trolle in die Präsidentschaftswahlen nie eine klare Stellung bezogen.

    Statt Präsident Putin reagierte dessen Pressesprecher Dimitri Peskow auf die Vorwürfe. „Wir wissen nicht, von wem und wie Werbung auf Facebook platziert wird und haben so etwas auch nie gemacht. Von russischer Seite gab es keinerlei Beteiligung daran“, erklärte er bei einer Pressekonferenz. Quellen aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung beteuern, dass es „keinerlei direkte Zusammenarbeit mit Vertretern der Präsidialverwaltung gab“. Die von RBC an Prigoshin adressierte Anfrage blieb bis dato unbeantwortet.  

    Unterdessen führt die amerikanische Abteilung ihre Arbeit fort, wie ein derzeitiger und ein ehemaliger Mitarbeiter berichten. Aus dem Gebäude in der Uliza Sawuschkina würden nach wie vor englischsprachige Gruppen mit einer Gesamtreichweite von rund einer Million Menschen betrieben, so ein Angestellter. Und ein Informant aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung sagt:

    „Konnten wir den Wahlausgang beeinflussen? Natürlich nicht. Konnten wir unentschiedene Staaten zugunsten von Trump beeinflussen? Möglicherweise. Aber die Ergebnisse haben uns selbst umgehauen. Wozu wir das alles machen? Einfach aus Spaß an der Freude.“ 

    Jetzt mitmachen! Werde Teil von dekoder!
    Jetzt mitmachen! Werde Teil von dekoder!

    Weitere Themen

    Lenta.ru

    Trump ein Agent Putins?

    Presseschau № 44: Trumps Wahlsieg

    Das Fake-Engagement

    Telegram: Privatsphäre first

    Die Cyberwehrmänner

  • Warum es unter Putin keine Reformen geben wird

    Warum es unter Putin keine Reformen geben wird

    Was ist der Unterschied zwischen einem Staat und einer Räuberbande? Diese Frage hat der Philosoph Augustinus im 5. Jahrhundert gestellt. Seine Antwort gehört zu den geläufigsten politikwissenschaftlichen Abgrenzungen: Es ist das Recht, was den Staat ausmacht; eine Räuberbande ist demgegenüber vor allem durch Willkür gekennzeichnet.

    Im Rechtsstaatlichkeits-Ranking von The World Justice Project besetzte Russland 2017–2018 Platz 89 von 113, weit abgeschlagen hinter Botswana oder Malawi beispielsweise. Viele russische Putin-Kritiker bemühen solche Afrika-Vergleiche, um auf Ungerechtigkeiten in der politischen Ordnung Russlands hinzuweisen. Sie sehen ihr Land kritisch als einen Selbstbedienungsladen für die politische Elite, vor allem für die Silowiki. Diese Amtspersonen, die in Sicherheitsorganen des Staates tätig sind, sind eigentlich mit der Ausübung des Gewaltmonopols betraut, um damit auch das Funktionieren des Rechtsstaats zu ermöglichen. Im Grunde würden viele von ihnen aber mehr einer Räuberbande gleichen, sodass es immer wieder zu willkürlichen Enteignungen komme, wie etwa im Fall Yukos, und es für Unternehmer keine Rechtssicherheit gebe. Ihre Argumentation untermauern Kritiker oft mit einem weiteren Ranking: Russland liegt auf Platz 138 von 180 im Korruptionsindex von Transparency International.    

    Unter Putin nahm die Zahl und die Bedeutung der Silowiki stetig zu. Viele Wissenschaftler sehen in dieser Elitengruppe sogar das Rückgrat des sogenannten System Putin. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl diskutieren sie nun vermehrt, was Putin tun kann, um die langanhaltende Stagnation zu überwinden. Auf Republic stellt auch der Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin die Frage: Da es offenbar kaum andere Möglichkeiten gibt, die Wirtschaft anzukurbeln, „könnte es da nicht vielleicht sein, dass Putin wenigstens jene zügelt, die über die Unternehmen herfallen“?

    Revolution, Evolution oder doch Stillstand –  wie groß ist Putins Reformwillen? / Foto © Marco Fieber/flickr.com
    Revolution, Evolution oder doch Stillstand – wie groß ist Putins Reformwillen? / Foto © Marco Fieber/flickr.com

    In den vergangenen Monaten, als klar wurde, dass es keine ernsthaften Reformen geben wird, nicht einmal nach den „Putin-Wahlen“ im März 2018, ist unter Optimisten die „Theorie der kleinen Dinge“ immer populärer geworden. Diese besagt im Wesentlichen, dass man das System in winzigen Schritten transformieren kann. Beispielsweise könne Putin dazu bewegt werden, die Willkür der Sicherheitsbehörden zu zügeln. Schließlich sprechen Wirtschaftsfachleute seit langem davon, dass Eigentum in Russland schutzlos ist, und dass die Überfälle auf Unternehmen für das Investitionsklima in Russland verantwortlich sind – das schlechter ist als das Märzwetter in St. Petersburg. Die Überfälle werden weniger von Banditen unternommen, als vielmehr von Leuten, die offiziell vom Staat zu unserem Schutz abgestellt werden. Wenn man die zügeln würde, dann bekäme das Land mir nichts dir nichts das Kapital, das es für eine Entwicklung braucht.

    Die „Theorie der kleinen Dinge“

    Die „Theorie der kleinen Dinge“ geht davon aus, dass Putin nicht auf sein Machtmonopol verzichten wird. Dass er sich nicht mit dem Westen versöhnen wird, weil er die Krim nicht herausrückt. Dass er die Bildung nicht fördern wird, weil er dafür kein Geld hat. Dass er nicht auf Importsubstitution verzichten wird, weil das ein Gesichtsverlust wäre.

    Könnte es da nicht vielleicht sein, dass er wenigstens jene zügelt, die über die Unternehmen herfallen? Dass das Regime zwar autoritär und autark bleibt, aber auch effektiver wird? Und wenn dieses Zwischenergebnis erreicht ist, würde das zu einem Meilenstein auf dem großen Weg zur Freiheit – weil wir noch nicht so weit seien, um diesen Weg gänzlich zu bewältigen.

    Derzeit ist allen – denen dort oben wie jenen unten – klar, dass Russland den Pfad einer lange währenden Stagnation eingeschlagen hat. Wie in dieser Situation die Macht gesichert wird und Wahlen gewonnen werden, wie das Volk „glücklich“ zu machen ist, auch wenn der Gürtel etwas enger geschnallt werden muss – dafür sind die Mechanismen bereits etabliert. 

    Die Rolle der Silowiki

    Für die Umsetzung dieser Strategie, die sich in etwa seit 2014 verfestigt hat, sind die Silowiki von immenser Bedeutung. Denn sie sind für einen Autokraten, der seine Macht realistisch einschätzt, sehr viel wichtiger, als illusorische Wünsche, die Wirtschaft mit Hilfe von Reformen wieder auf die Beine zu bringen. Die Silowiki existieren hier und jetzt. Sie sind durchschaubar, zugänglich und wohl motiviert. Ob die Wirtschaft aber am Gängelband der Silowiki wachsen wird, ist die große Frage. Was man allerdings sicher sagen kann, ist, dass angesichts aller für unsere Entwicklung höchst ungünstigen Umstände (Sanktionen, strukturelle Schieflagen, Kapitalflucht) die Wirtschaft selbst im besten Falle kaum jenes denkwürdige Wachstum von sieben Prozent des BIP erreichen wird – wie in den 2000er Jahren, als das Wachstum einen realen Einkommenszuwachs erzeugte und Putin eine aufrichtige Liebe des Volkes einbrachte. Wer würde in einer solchen Situation schon auf die Wirtschaft setzen, und nicht auf die Silowiki?

    Logik des Überlebens

    Es gibt allerdings ein Detail. Könnte es nicht sein, dass die Silowiki dermaßen außer Kontrolle geraten, dass sie die Stagnation zu einer Rezession machen, zu einer Rezession, die unabsehbar lang anhält, vernichtend wirkt und breite Bevölkerungsschichten auf ein Lebensniveau vor dem Maidan zurückwirft? Könnte es nicht passieren, dass sich die Silowiki von „stationären Banditen“ (nach Mancur Olson) zu „umherziehenden Banditen“ mausern? Dass sie endgültig auf Russland pfeifen, selbst auf Russland als ihren „Beute-Raum“, dass sie aus Russland alle Lebenssäfte absaugen und mit ihren Geldern in den Westen emigrieren, der günstige Lebensbedingungen bietet, und wo sich Millionen wohl versorgter ehemaliger Landsleute niedergelassen haben?

    Sollten die Dinge derart liegen, folgt daraus, dass bei einem Machterhalt der Silowiki sogar einem nicht wohlmeinenden Autokraten Gefahr droht. Er daselbst kann ja nicht emigrieren, da er eine allzu sichtbare Figur ist, die in der Weltpolitik keine geringen Spuren hinterlassen hat, und der bei vielen westlichen Richtern und Staatsanwälten den Wunsch geweckt hat, irgendeinen aufsehenerregenden Prozess anzustrengen. In Russland selbst erwartet ihn früher oder später eine soziale Explosion.

    Eine solche Entwicklung ist tatsächlich in einem gewissen Maße wahrscheinlich. Аllerdings hält die überwiegende Mehrheit der qualifizierten Wirtschaftsexperten nicht einen völligen Zusammenbruch, sondern Stagnation für die wahrscheinlichste Entwicklungsperspektive Russlands. 
    Heute weist kaum etwas darauf hin, dass der Lebensstandard künftig derart stark absinken könnte, dass die Leute von außenpolitischen Abenteuern und geistigen Klammern enttäuscht wären.

    Das eskalierende Vorgehen der Sicherheits- und Polizeibehörden, das – den Festnahmen von Gouverneuren und den innerelitären Konflikten nach zu urteilen – in unserem Land tatsächlich stattfindet, betrifft eher die Machtgruppen, nicht die Bevölkerung insgesamt. Im Zuge dieser Konflikte werden die eher schwächeren Silowiki ausgeschaltet, wodurch die Ressourcen dann bei einer nun kleineren Zahl von „Banditen“ konzentriert sind.

    Eine solche Art der Krisenbewältigung ist leicht zu erklären: Technisch gesehen ist es sehr viel einfacher, einem anderen „Banditen“ an die Kehle zu gehen und leicht zugängliche, höchst liquide Ressourcen abzuschöpfen (Bankguthaben, Unternehmensaktien, Staatspapiere, Luxus-Immobilien). Schwieriger wäre es, bei der verarmten Bevölkerung und den Kleinunternehmen (die in die Schattenwirtschaft abtauchen) kärgliche Beträge herauszupressen, indem man die Besteuerung „optimiert“, die Repressionen gegen säumige Steuerzahler verschärft und so einen Maidan der Enttäuschten riskiert.

    Putin gegen die Putinisten?

    Neben der wirtschaftlichen Hypothese, die erklärt, warum sich ein Autokrat mit den Silowiki anlegen sollte, gibt es auch eine politische: Diesem Ansatz zufolge sollte Putin die Putinisten an die Leine nehmen, weil sie bald für ihn selbst gefährlich werden könnten.

    In letzter Zeit ist immer häufiger zu hören, dass unser Präsident eine „lahme Ente“ sei (trotz seines garantierten Wahlsiegs 2018), da er den Kreml nach 2024 verlassen muss. Immer häufiger wird auch darüber geredet, dass Putin in Wirklichkeit bereits jetzt an realer Macht verliere und die Silowiki in einer Reihe von Fällen schon ohne Putins Genehmigung handelten, etwa bei der Verhaftung von Alexej Uljukajew.

    Thesen dieser Art sind allerdings sehr zweifelhaft. Eliten verschwören sich nur dann gegen den Autokraten, wenn sich durch dessen Verbleib im höchsten Staatsamt mehr Nachteile als Vorteile ergeben. Bei uns liegt der Fall eindeutig anders. Die Nachteile werden zwar ganz offensichtlich und zügig größer, wegen der Sanktionen, des Kapitalabflusses und der sinkenden Reputation des Landes. Der Vorteil besteht aber ganz eindeutig darin, dass Putin in der Lage ist, Präsidentschaftswahlen mit Leichtigkeit zu gewinnen und das Regime unter minimalem Kostenaufwand zu erhalten. In diesem Regime können die unterschiedlichen Angehörigen der Elite (einschließlich der Silowiki) ihre Einnahmen vermehren, indem sie die nationalen Ressourcen verwerten und ihre Mittel ins Ausland schaffen. Dort lassen sie sich dann nieder, während in Russland alles vor die Hunde geht. Diese Strategie ist optimal für sie, und so haben sie keinerlei Absichten, sich auf gefährliche Spiele mit Staatsstreichen einzulassen.

    Folglich kann man Putin nur schwerlich mit den Silowiki schrecken. Kopfschmerzen bereiten diese Leute natürlich reichlich, doch hat der Präsident sehr wohl die jüngste Geschichte des Landes in Erinnerung: Reformer bedeuten für Autokraten sehr viel größere Probleme. Der Autokrat weiß: Wenn du deine Macht erhalten willst, dann solltest du in keinem Fall Reformen anstoßen, und schon gar keine wirtschaftlichen. Schließlich sind Michail Gorbatschow und Boris Jelzin gescheitert, weil sie übermäßig bestrebt waren, die soziale Ordnung zu transformieren. Die befand sich so gerade eben noch im Lot und setzte eher der breiten Bevölkerung zu, denn den Angehörigen der Elite. Erstere musste versuchen, Nahrungsmittel ohne Schlangestehen zu ergattern, während letztere über spezielle Versorgungsstellen, staatliche Datschen, eigene Autos und andere Annehmlichkeiten verfügten, mit denen sich das armselige sowjetische System ertragen ließ.

    Reformen wird es unter Putin nicht geben. Weder kleine, noch große. Weder radikale, noch übergangsweise. Nur imitierende und adaptierende. Einfacher gesagt: Sie könnten zum Beispiel eine Steuerreform verkünden, dabei ein oder zwei Steuern senken und das im Fernsehen herumposaunen, gleichzeitig aber die übrigen Steuern derart anheben, dass die Abgabenlast und die Haushaltseinnahmen steigen. Schließlich wird man ja das Haushaltsdefizit irgendwie ausgleichen müssen, wenn alle Reserven aufgebraucht sind.

    Aktualisiert am 29.01.19

    Weitere Themen

    Entlaufene Zukunft

    Die Wegbereiter des Putinismus

    „Die Post-Putin-Ära läuft schon“

    Der Fall Uljukajew – und seine Vorbilder

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Protest im Netz

  • Lüftchen des Wandels

    Lüftchen des Wandels

    Es ist ein kleiner Stimmungstest, ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl: Rund 40 Millionen Wahlberechtigte waren vergangenes Wochenende aufgerufen, an den Regional- und Kommunalwahlen teilzunehmen. In 16 von 82 Regionen wurde auch der Gouverneur gewählt.

    Allerdings: Die Wahlbeteiligung an dem Termin kurz nach den Sommerferien ist traditionell gering, auch diesmal lag sie nach vorläufigen Ergebnissen bei insgesamt nur knapp 29 Prozent. In Moskau, wo Stadtrat und Bezirksräte gewählt wurden, kam gar der Verdacht auf, sie sei gewollt niedrig: Es gab kaum Wahlwerbung, auch die staatlichen Medien berichteten nicht.

    Wie erwartet hat die Regierungspartei Einiges Russland in den meisten Regionen die meisten Stimmen bekommen. Die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation Golos nannte außerdem mehr als 1500 Verstöße.

    Und dennoch gibt es Überraschungen: Ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl verzeichneten oppositionelle und unabhängige Kandidaten landesweit Achtungserfolge. Besonders sichtbar sind diese Erfolge in Moskau, wo die Opposition, vor allem die Wahl-Koalition rund um Dimitri Gudkow, in 62 Bezirken der Stadt insgesamt 266 Sitze holte – von insgesamt 1502 Sitzen in 125 Bezirken. Zwar sind Einfluss und Machtfülle der Bezirksabgeordneten eher gering. Gleichwohl haben sie in begrenztem Rahmen dennoch die Möglichkeit, Druck aufzubauen.

    Die System-Opposition dagegen verlor so viele Sitze, dass einige Beobachter schon von einer Krise innerhalb des Systems Putin sprechen. Manche sehen in lokalen Wahlsiegern wie Gudkow oder dem Solidarnost-Politiker Ilja Jaschin gar eine oppositionelle Alternative zu Oppositionspolitiker Alexej Nawalny – der Gudkow nicht einmal gratuliert hatte.

    All dies, meint Politologe Alexander Kynew auf Vedomosti, sagt eine Menge aus über die gesellschaftliche Stimmung und den Zustand des politischen Systems – ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen. Kynew identifiziert drei wichtige Punkte:

    Die Ergebnisse der Wahlen vom 10. September waren vor allem eines – ein Indikator für die Stimmungen in der Gesellschaft. Sie zeigten auch, wie die Gesellschaft auf die Polittechnologien reagiert, die von der Regierung eingesetzt werden. Darüber hinaus sagen die Ergebnisse eine Menge über den Zustand des politischen Systems aus und über den Zustand des Parteiensystems. Und sie stecken für eine Reihe konkreter Führungsfiguren die Optionen für die Zukunft ab.

    Punkt eins. Der Ausgang der Wahlen zeigt vor allem einen Triumph derjenigen Kräfte, die nicht von dem politischen Parteiensystem abhängen.

    Die wichtigsten und unerwarteten Wahlsieger waren unabhängige Kandidaten: So bei den Wahlen zur Stadtduma in Bolschoi Kamen (Region Primorje) – hier setzten sich 18 freie Kandidaten durch, außerdem zwei von Einiges Russland sowie jeweils einer von den Kommunisten und von Gerechtes Russland. Oder bei den Kommunalwahlen in Moskau, wo eine Vielzahl von Aktivisten Erfolge feierten.

    Kandidaten des Wandels

    Es stimmt zwar, dass viele von ihnen in Moskau für Jabloko angetreten waren, doch die Marke „Jabloko“ spielte im Wahlkampf bei kaum einem Kandidaten eine Rolle. Sehr viel wichtiger waren die Marken „Jaschins Team“, „Russakowas Team“ oder „Galjaminas Team“. Einige der Teams traten formal gar für unterschiedliche Parteien an. Sie präsentierten sich als Kandidaten des Wandels und als Gegner der Stadtregierung. Und dass die Parteizugehörigkeit nur bedingt etwas bedeutet, war jedermann klar.

    Im Gegensatz dazu fielen die Ergebnisse der im Parlament vertretenen Parteien der System-Opposition höchst bescheiden aus. Sie werden von den progressiveren und gebildeteren Moskauer Wählern vielfach nicht mehr als echte Opposition wahrgenommen.

    Punkt zwei. Die Wahlen haben erneut gezeigt, dass sich ein Wahltermin Anfang September zerstörerisch auf die Qualität des Wahlkampfes und die gesellschaftliche Legitimität der Wahlen auswirkt.

    Die Strategie, die Wahlbeteiligung erodieren zu lassen, ist eine Sackgasse. Versuche, die niedrige Wahlbeteiligung mit Administrativen Ressourcen zu kompensieren oder Wähler mit Gewinnspielen und Lotterien förmlich zu bestechen, sind ins Leere gelaufen. Im Endeffekt erscheinen so nur die Leute, die auch dorthin beordert werden. Die tatsächliche Wählerschaft nimmt dadurch kaum zu. Das ist wenig überraschend: Die Bereitschaft, auf Anordnung zu wählen, und die Bereitschaft, für einen Lottoschein zur Wahl zu gehen, zeigen schlicht, dass es an einer eigenen staatsbürgerlichen Haltung mangelt und die Wähler sich des Werts ihrer eigenen Stimme nicht bewusst sind.

    Sobald da, wo es von Fakes nur so wimmelt und viele nur zum Schein antreten, jemand Echtes auftaucht, jemand, der in der Lage ist, mit einer guten Kampagne die Wähler zu mobilisieren, entgleist das ganze System. Wählerbestechung mit Hilfe von Lotterien führt lediglich dazu, dass Wahlen als Institution diskreditiert werden. Hierbei ist es unwichtig, welche Position die Regierung vertritt. In den Augen der Leute ist es Bestechung, sind das Almosen – und Versuche der Rechtfertigung diskreditieren denjenigen, der sie unternimmt. Ganz zu schweigen von den Fällen, in denen mit Hilfe mobiler Wahlurnen oder vorzeitiger Stimmabgabe an den Wahlergebnissen geschraubt wird.

    Die so gewonnenen Stimmenanteile erzeugen weder Vertrauen noch verleihen sie Autorität. Diese „Lotto-Legitimität“ ist genauso ein Bonbon-Papier wie ein Lottoschein. Der einzige annehmbare Ausweg, über den sowohl die Wahlen selbst als auch das Parteiensystem saniert werden könnten, wäre ein für Wähler und Kandidaten günstiger Wahltermin. Die Regierung muss lernen, normale Wahlkämpfe zu führen – das käme auch der eigenen Qualität zugute.

    Punkt drei. Die Wahlergebnisse zeigen ausgeprägte regionale Unterschiede, besonders wichtig in Moskau.

    Mit ihrer Unterstützung verschiedener Oppositionskandidaten machen die Wähler eindeutig ihrer Unzufriedenheit Luft. Schließlich weiß kaum jemand in Moskau, wie überhaupt der Leiter dieser oder jener Bezirksverwaltung heißt; aber jeder kennt den Bürgermeister und dessen Mannschaft.

    Die Moskauer Protestwahl vom 10. September ist vor allem ein Protest der Wähler gegen Sergej Sobjanin und dessen Politik. Die Wahlergebnisse haben die psychologische Atmosphäre in der Stadt verändert und der gesellschaftlichen Bewegung neuen Schwung und neue Energie verliehen.

    Unter diesen Umständen ist nur schwer vorstellbar, wie Sergej Sobjanin ohne Lärm und Skandale überhaupt noch die direkten Bürgermeisterwahlen gewinnen soll. So muss die Zentralregierung die Bürgermeisterwahlen entweder ganz absagen (was Skandal und Risiko bedeuten würde) oder sie muss sich irgendeine andere Lösung einfallen lassen.

    In Moskau geht es jetzt erst los.

    Weitere Themen

    „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    Presseschau № 41: Dumawahl 2016

    Ist was faul an der Kurve?

    Gleb Pawlowski

    Politik aus der Trickkiste

    Jenseits von links und rechts

  • Was hat Myanmar mit dem Nordkaukasus zu tun?

    Was hat Myanmar mit dem Nordkaukasus zu tun?

    In Deutschland hört man nur sehr wenig davon. Unter anderem im russischen Nordkaukasus erhitzt dagegen die Gewalt gegenüber den muslimischen Rohingya in Myanmar die Gemüter.

    Während die myanmarische Friedensnobelpreisträgerin und faktische Regierungschefin Aung San Suu Kyi die Kritik der internationalen Gemeinschaft scharf zurückweist, hatte Tschetschenen-Oberhaupt Ramsan Kadyrow am Wochenende dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen: aus Protest gegen die gewaltsame Verfolgung der Rohingya. Nach offiziellen Angaben folgten dem Aufruf eine Million Menschen (eine Zahl, die unabhängige Beobachter allerdings anzweifeln). Auch in Moskau gab es eine nicht genehmigte Kundgebung vor der Botschaft Myanmars, weitere sind angekündigt.

    Mit seiner Kritik an Myanmar stellt sich Kadyrow gegen die bisherige außenpolitische Linie Moskaus, das gute Beziehungen zu dem südostasiatischen Land pflegt – unter anderem auch mit Blick auf China, das Myanmar zu seiner Interessensphäre zählt. Noch im März hatten Russland und China eine UN-Resolution zum Schutz der Rohingya blockiert.

    Was hat die Situation in dem südostasiatischen Land mit dem russischen Nordkaukasus zu tun? Was will Kadyrow erreichen? Und welche innenpolitische Lehre sollte Moskau aus den Protesten ziehen? Diese und weitere Fragen beantwortet Nordkaukasus-Experte Sergei Markedonov in seiner Analyse auf Carnegie.ru.

    Dem ersten Anschein nach lassen sich nur schwerlich zwei Themen finden, die weiter auseinanderliegen als Myanmar und der Nordkaukasus. Im Frühherbst 2017 allerdings haben sie sich auf wundersame Weise verwoben. Die Meldungen über die Verfolgung der muslimischen Rohingya in einem fernen Land in Südostasien haben die nordkaukasischen Republiken wachgerüttelt. In Moskau wie auch im Nordkaukasus, etwa in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala, gab es nicht genehmigte Demonstrationen zur Unterstützung der Glaubensbrüder.

    Nicht nur im Kaukasus - auch in Moskau protestierten Muslime am 3. September gegen die Verfolgung der Rohingya / Foto © Gennadiy Gulyaev/Kommersant
    Nicht nur im Kaukasus – auch in Moskau protestierten Muslime am 3. September gegen die Verfolgung der Rohingya / Foto © Gennadiy Gulyaev/Kommersant

    Im Kontext Russlands wirft das eine ganze Reihe drängender Fragen auf: Wie unabhängig sind die regionalen Führer, wie stark ist der Partikularismus im Nordkaukasus und wie heftig prallen staatliche und religiöse Loyalität aufeinander? Wobei Letzteres im Übrigen nicht nur den Nordkaukasus betrifft, sondern auch viele andere Regionen Russlands.

    Aktionen zur Unterstützung der Muslime auch in Moskau

    Es ist kein Zufall, dass die Aktionen zur Unterstützung der Muslime in Myanmar am 3. September nicht nur in den Republiken des Nordkaukasus, sondern auch in der russischen Hauptstadt stattfanden. Die Einbindung Tschetscheniens, das haben die Ereignisse der letzten 15 Jahre gezeigt, besteht nicht nur darin, dass Moskau in Grosny, sondern auch darin, dass Grosny in Moskau Einzug hält.

    Können wir aber wirklich davon sprechen, dass die tragischen Ereignisse in Südostasien den russischen Teil der Kaukasusregion aufgerüttelt haben? Und in welchem Maße werden die regionalen Führer im Nordkaukasus künftig Einfluss auf die Außenpolitik Russlands haben?

    In gewissem Sinne kam die heftige Reaktion auf die Verfolgung der muslimischen Rohingya unerwartet. Seit 2014 war der Nordkaukasus in den Schatten der Krim, des Donbass und Syriens getreten.

    Bei genauerer Betrachtung ist der aktuelle Ausbruch gesellschaftlicher Aktivität (samt Protesten) jedoch keine Überraschung. Es geht hier nicht nur um Autonomie bei diesen oder jenen Entscheidungen oder um die Nichteinmischung Moskaus in viele menschliche Belange. Sondern es geht auch um die Freiheit, den ideologischen und auch (bis zu einem gewissen Grade) den außenpolitischen Weg selbst zu wählen.

    Tschetschenien – eine völlig abgeschlossene Region?

    In der westlichen Literatur wird üblicherweise von Tschetschenien als einer völlig abgeschlossenen Region gesprochen. Doch diese Abgeschlossenheit gegenüber westlichen Experten und Menschenrechtlern bedeutet keineswegs Abgeschlossenheit gegenüber einflussreichen Politikern und religiösen Akteuren aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. In den Jahren 2015 bis 2017 hat Ramsan Kadyrow Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrаin besucht; und zu seinen Gästen zählte der bekannte afghanische Politiker und General Abdul Raschid Dostum.

    Nachdem das Oberhaupt Tschetscheniens auf Instagram die Lage der Dinge in Myanmar äußerst scharf kritisiert hatte, sprachen Blogger und Publizisten davon, dass der Nordkaukasus nun den Anspruch erhebe, an der Gestaltung der russischen Außenpolitik mitzuwirken. 

    Ganz so stimmt das nicht: Denn der Nordkaukasus ist praktisch seit dem Zerfall der Sowjetunion daran beteiligt. Und während er anfangs eher als ein Objekt betrachtet wurde, als eine Art Indikator für die Stärke beziehungsweise Schwäche des postsowjetischen Russlands, so nimmt diese Region, die bei den Vereinten Nationen über keine eigene Vertretung verfügt, allmählich bestimmte Züge eines außenpolitischen Subjekts an.

    Das Volk zeigt gegenüber der ganzen Welt: Wir lassen nicht zu, dass mit dem Islam gescherzt wird

    „Indem sich das Volk im Zentrum von Grosny versammelt hat, zeigt es gegenüber der ganzen Welt, dass wir es nicht zulassen, dass mit dem Islam gescherzt wird, dass wir es nicht zulassen, dass die Gefühle der Muslime beleidigt werden.“ Diese Worte sind aus Ramsan Kadyrows Rede vom 19. Januar 2015 bei einer Aktion anlässlich der Geschichte um die französische Zeitschrift Charlie Hebdo. Seinerzeit war die Hauptstadt Tschetscheniens eine Art Plattform für die Haltung Wir sind nicht Charlie. Und man kann nicht behaupten, dass eine solche Position ausschließlich im Nordkaukasus auf Sympathie stieß.

    Kadyrow hat in seiner Zeit an der Macht Erfahrung als Politiker gewonnen, der in der Öffentlichkeit steht, schnell reagieren kann und in der Lage ist, nicht nur seine Interessen deutlich zu machen. Vielmehr artikuliert er auch die Positionen des Teils der russischen Gesellschaft, der eine konsequent antiwestliche Haltung vertritt. Also die Haltung jener, die nicht einfach nur in Opposition zum Kurs der USA und der EU stehen, sondern auch für eine umfassende Mobilisierung im Landesinneren und einen „besonderen zivilisatorischen Weg“ eintreten. Und das ist eine der Folgen des Sonderstatus, den diese Teilrepublik Russlands genießt.

    Kadyrow: Sowohl „Verteidiger der Muslime“ wie auch ein Feind des IS

    Dieses „Besondere“, dieses „Eigene“ Tschetscheniens könnte nützlich sein. Schließlich verfügt Russland als multiethnisches und polykonfessionelles Land über Möglichkeiten, seine Außenpolitik nicht nur über die Strukturen des Außenministeriums zu verwirklichen, sondern auch über andere Kanäle. Ramsan Kadyrow hat sowohl das Image eines „Verteidigers der Muslime“ wie auch das eines Feindes des IS – Kadyrow bezeichnet letzteren als „Iblīs-haften“, also satanischen Staat. Insofern genießt er – als Partner bei Gesprächen mit einem afghanischen General oder arabischen Scheich – größeres Vertrauen als ein Absolvent einer Moskauer Hochschule, der aufgrund bürokratischer Notwendigkeiten für den Nahen Osten zuständig ist.

    Wie wundervoll dieser Aspekt auch erscheinen mag – die Widersprüche zwischen allgemeinstaatlichen und konfessionell-regionalen Interessen sind nicht zu übersehen.

    Die Stärkung der Beziehungen zu Peking fordert ganz offensichtlich eine zurückhaltende Reaktion Moskaus gegenüber Myanmar. Russland kann dabei nicht so vorgehen, wie es in Tschetschenien oder Dagestan populär wäre; es bedarf großer Flexibilität und komplexer Handlungen. So kommt die äußerst wichtige Frage auf: Wie kann man das Vertrauen aufrechterhalten – nicht nur das der eigenen Bürger, sondern auch das der regionalen Führer, die auf die Politisierung der Religion setzen?

    Im Übrigen wäre es falsch, die Aufregung, die im Nordkaukasus wegen der tragischen Ereignisse in Südostasien herrscht, allein mit dem Phänomen Kadyrow und dem besonderen Status Tschetscheniens zu erklären. Unter den Bloggern und Aktivisten, die ein aktives Vorgehen Russlands gegen die Regierung in Myanmar fordern oder Moskau vorwerfen, eine Resolution des UN-Sicherheitsrates blockiert und chinesischen Ansprüchen nachgegeben zu haben, waren nicht nur Leute aus Tschetschenien allein, sondern auch aus anderen Republiken des Nordkaukasus.

    Re-Islamisierung im Nordkaukasus Ende der 1990er Jahre

    Die religiöse Identität des Nordkaukasus beruht nicht auf Kadyrow. Anfang der 1990er Jahre hat es in dieser Region hinreichend Konflikte gegeben. Aber der Faktor „Religion“ hatte damals nirgendwo eine erhebliche Rolle gespielt. Ende der 1990er Jahre änderte sich die Situation. Im Nordkaukasus erfolgte seinerzeit eine „Re-Islamisierung“ (so die treffende Formulierung des Kaukasus-Experten Achmet Jarlykapow), die auch jene Teile der Region erfasste, in denen die Religion traditionell eine geringere Rolle gespielt hatte (Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien, Adygeja, Stawropolski Krai).

    Wie unabhängig sind die Republiken des Nordkaukasus? / Foto © Don-kun, Jeroencommons/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0,
    Wie unabhängig sind die Republiken des Nordkaukasus? / Foto © Don-kun, Jeroencommons/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0,

    Hinzu kommt, dass die Verwurzelung der religiösen Identität in den verschiedenen Variationen – von Loyalität gegenüber der Regierung bis hin zu extremistischen Formen – nicht von selbst geschah. Sie erfolgte vor dem Hintergrund eines Niedergangs der weltlichen Institutionen (Polizei, Justiz) und einer Krise der gesamtstaatlichen Ideologie.

    Die Re-Islamisierung hat eine Vielzahl widersprüchlicher Aspekte. Russland muss sich als ein Land, das im postsowjetischen Raum und im Nahen Osten eine aktive Rolle spielt, nicht nur als ein Staat der ethnisch russischen Welt positionieren, sondern auch als einer der, sagen wir mal, turksprachigen und der islamischen Welt. Aber Russland hat auch eine buddhistische Dimension, die nicht weniger wertvoll ist als alle eben genannten. Und so sind Versuche, die Politik der Regierung von Myanmar mit dem Buddhismus gleichzusetzen, äußerst gefährlich.

    Somit ist die Situation in Myanmar und deren Echo im Nordkaukasus nicht allein das Problem einer einzelnen, für sich stehenden Region Russlands. Die Republiken des Nordkaukasus sind kein Ghetto und kein ethnographisches Refugium, sondern ein Gebiet, in dem die Probleme, unter denen das ganze Land leidet, besonders deutlich zutage treten. 

    Im Nordkaukasus treten die gesamtrussischen Probleme deutlich zutage

    Dass die Muslime in Russland aufgerüttelt sind, ist ein ernstzunehmendes Signal an Moskau. Solange man kein effektiver Schlichter ist, kein Vermittler zwischen den diversen Völkern und Regionen, solange man keine klaren Spielregeln und Grenzen des Erlaubten festgelegt hat, wird es nicht gelingen, einen starken Staat aufzubauen.

    Bislang haben wir von den Amtsträgern in Russland keine schlüssige Erklärung dazu vernommen, welche Folgen der Konflikt in Südostasien haben wird, und auch nicht zu dem Umstand, dass unser Land oder Teile davon involviert sind. Es gibt auch keine Erklärungen, welche Interessen Russland verfolgt. Dieses Schweigen erzeugt ein Vakuum, das bald von anderen Ideologien gefüllt werden dürfte.

    Das Gespenst von Myanmar im russischen Kaukasus ist eine Mahnung, dass es für Moskau an der Zeit ist, sich ungeachtet der wechselseitigen Sticheleien mit Washington und Brüssel den innenpolitischen Problemen zuzuwenden. Und zwar substantiell – nicht nur im Vorfeld von Wahlen oder beim Direkten Draht.

    Weitere Themen

    So ist das halt?!

    Der kaukasische Dschihad

    Im Schwebezustand – Südossetien

    Die Geiselnahme von Beslan

    Totenwasser

    Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

  • Gesetzesbrecher made in Russia

    Gesetzesbrecher made in Russia

    Betrug, so lautet der Vorwurf gegen Regisseur Kirill Serebrennikow, der seit vergangener Woche unter Hausarrest steht. Die ehemalige Chefbuchhalterin seiner Produktionsfirma belastet ihn, er soll staatliche Gelder veruntreut haben.

    Unmittelbar nach einer Festnahme war eine heftige Debatte entbrannt. Seine Unterstützer sehen einen politischen Hintergrund und argumentieren teilweise, dass Gesetze oft so vage oder so rigide formuliert seien, dass es fast unmöglich sei, sie nicht zu brechen – und zwar ganz ohne kriminellen Vorsatz.

    In diese Richtung geht auch der Facebook-Post von Andrei Movchan, Finanzexperte und Leiter des Programms für Wirtschaftspolitik am Carnegie Center in Moskau. Ohne den Namen Serebrennikows zu erwähnen, wirft er die Frage auf: Kann man in Russland überhaupt Geschäfte machen, ohne das Gesetz zu brechen?

    Sehr viele wundern sich: „Was denn, man kommt nicht umhin, die Gesetze zu verletzen, wenn man in Russland Geschäfte macht? Es gibt Gesetze, also befolgt sie bitteschön, und alles wird gut! Mal angenommen, die Gesetze sind schlecht – aber das wisst ihr doch vorher, dann lasst lieber die Finger davon!“

    Hier ein Beispiel, kein allzu ernstes, und auch kein allzu eklatantes. Einfach nur ein Fall, der mir untergekommen ist, eine reale Geschichte: Stell dir vor, du hast eine kleine Firma, die Dienstleistungen anbietet, und du hast Glück – eine ausländische Firma erteilt dir einen Auftrag. Deine Firma heißt beispielsweise OOO Programmist, und der Auftrag kommt von Google höchstselbst. Du bist klein, hast Aufträge über 200.000 Dollar im Jahr, Google ist groß und du tanzt vor Freude wild herum.

    Überall auf der Welt wäre das ein Erfolg und es hieße: Mach weiter und verdien‘ dein Geld. In Russland allerdings besteht nun die wichtigste Aufgabe darin, die Unterlagen für die Devisenbescheinigung bei der Bank und den Geschäftspass korrekt zusammenzustellen. Denn selbst wenn die Devisen nicht ins Ausland sondern ins eigene Land fließen, befindest du dich nun unter minutiöser Aufsicht, und das auch noch auf eigene Kosten (mehr noch: selbst wenn Google in Rubel zahlen würde, würde sich an der Situation nicht das Geringste ändern). 

    Selbst wenn die Devisen nicht ins Ausland sondern ins eigene Land fließen, befindest du dich nun unter minutiöser Aufsicht

    Das Gesetz Über die Devisenregulierung und die Devisenkontrolle hat fünf Kapitel und 28 Artikel, die Anleitung der Zentralbank für die Erklärung über Devisenoperationen ganze 21 Abschnitte und neun Anlagen. Du bist aber auf solche Manöver rundum vorbereitet und deine Buchhaltung reicht ordnungsgemäß Stapel von Dokumenten ein und beantwortet die Rückfragen der Bank zu jedem Zahlungsvorgang (nicht umsonst kostet in Russland selbst das billigste Outsourcing der Buchhaltung immer noch ein Vielfaches von dem, was man für den gesamten Bereich einer tatsächlich aktiven Firma auf Zypern zahlt). Du hast Google sogar dazu gebracht, jenseits des sonst überall auf der Welt ausreichenden Briefwechsels, etwas Vertragsähnliches zu unterschreiben und sogar die Abnahmeprotokolle gegenzuzeichnen (ich weiß nicht wie, aber es ist dir gelungen) – sonst droht Gefängnis, Einfrieren der Gelder und Kontenschließung durch die Bank. Tatsächlich hat die Bank auch so alles einfrieren wollen – auf dem Vertrag fehlte der Stempel – aber du hast geschrien und gefleht, und die von der Devisenkontrolle der Bank haben entschieden, dass es doch geht.

    Kann man in Russland überhaupt Geschäfte machen, ohne das Gesetz zu brechen? / Foto © sajinka2/Pixabay
    Kann man in Russland überhaupt Geschäfte machen, ohne das Gesetz zu brechen? / Foto © sajinka2/Pixabay

    Nun hast du also ein Jahr gearbeitet. Du hast, sagen wir mal, drei von vier Quartalszahlungen erhalten. Eine davon hatte Google allerdings zwei Monate zurückgehalten, es hatte bei denen irgendwelche Komplikationen gegeben, aber Google verzeiht man das, und welchen Unterschied macht das schon für dich? Eine andere Zahlung von Google fiel um 1000 Dollar zu hoch aus; das allerdings wurde bei der nächsten Zahlung berücksichtigt, die dann eben 1000 Dollar weniger betrug. Die vierte Zahlung schicken sie erst im nächsten Jahr, weil bei denen Weihnachten ist und sie noch überprüfen müssen, ob du den Auftrag auch vollständig erledigt hast. Insgesamt also ein normaler Job und nicht der schlechteste Vertragspartner.

    Du verdammst die russische Bürokratie

    Du hast einen Vertrag abgeschlossen (und die Bank hat mehrfach alle Unterlagen erhalten, einschließlich Sonderschreiben zum Thema „Warum 1000 Dollar zu viel?“, „Warum 1000 Dollar zu wenig?“, „Warum zwei Monate später?“ und so weiter). Und hast vergessen, dass es damit nicht getan ist:  Ein Jahr später erreicht dich eine höfliche Aufforderung vom Finanzamt: Innerhalb von fünf Tagen sind die Unterlagen zu allen Devisenoperationen in Kopie vorzulegen. Das tust du und verdammst die russische Bürokratie. Und fünf weitere Tage später wirst du ins Finanzamt zum Gespräch einbestellt, wo man dir im Wortlaut Folgendes verkündet:

    (1) Du hast in erheblichem Maße gegen die Devisengesetze verstoßen.
    (2) Die Verstöße bestehen darin, dass du
    a. die vertragsgemäßen Fristen für den Eingang der Mittel nicht eingehalten hast. Das bedeutet, dass die im Geschäftspass zu diesem Auftrag aufgeführten Daten nicht stimmen, was wiederum bedeutet, dass du nicht nur die Mittel nicht vorschriftsgemäß ins Land verbracht, sondern darüber hinaus staatliche Stellen getäuscht hast.
    b. zudem einen Teil der Mittel nicht erhalten hast, obwohl dies hätte geschehen müssen (dass dieser Teil im Folgejahr eingegangen ist, tut nichts zur Sache, da wir hier ja das Vorjahr prüfen).
    (3) Die Dinge stehen schlecht: Deine Verfehlungen könnten sich auf über 9 Millionen Rubel [ca. 128.600 Euro – dek] belaufen – das ist laut Artikel 193 Strafgesetzbuch ein schwerer Fall und bedeutet bis zu vier Jahre Gefängnis.
    (4) Wir sind jedoch der menschenfreundlichste Staat der Welt, deshalb: Entweder
    a. wir nehmen Verstöße über 6,5 Millionen Rubel [ca. 92.900 Euro – dek] zu Protokoll und stellen deiner Firma einen Bußgeldbescheid über sagen wir insgesamt 5 Millionen Rubel [ca. 71.400 Euro – dek]  nach Artikel 15.25.4 des Ordnungswidrigkeitsgesetzbuchs aus (wir könnten auch die vollen 6,5 nehmen, du siehst ja, hier heißt es: „bis zu 100 Prozent der Summe“), dann gibt es kein Strafverfahren. Sei jetzt nicht sauer – wir haben da bei Bußgeldern unsere Vorgaben, du verstehst schon … Und des Weiteren würden wir dich bitten, dich mit uns zu beraten, wie künftig Verträge abzufassen sind, wir sind ja keine Unmenschen, wir stehen stets mit Rat zur Seite, hier sind unsere Telefonnummern … oder
    b. wir ziehen vor Gericht und klagen parallel nach Artikel 193 auch den Generaldirektor und den Chefbuchhalter an, und dann wird man sehen, was kommt, da läuft dann die Maschine, und wen sie in ihren Fängen hat, den lässt sie nicht los. Du weißt ja, wie das ist: Du willst zurückrudern, aber es ist schon zu spät, dann werden wir nichts mehr für dich tun können.

    Vor der Verhandlung findet bei dir ein Mummenschanz statt, die Konten werden eingefroren und der Buchhalter festgenommen

    Du kannst dich auch ans Gericht wenden. Das wird dich vielleicht nicht zu fünf Millionen verurteilen, sondern zu ein paar Hunderttausend (Artikel 15.25.4 lässt eine Geldstrafe zu, die in zwei Jahressätzen der Zentralbank zur Refinanzierung bezogen auf den Zeitraum des Zahlungsverzugs bemessen wird). Vielleicht findet aber auch lange vor der Verhandlung bei dir ein Mummenschanz statt, die Konten werden eingefroren und der Buchhalter festgenommen (und du kannst von Glück sagen, wenn es nur ihn trifft); dann verlierst du deine Firma und siehst deinen Buchhalter nach einem Jahr wieder, völlig krank und gebrochen. Von den 12 Millionen wirst du wohl 5 zahlen müssen (wenn der Gewinn 20 Prozent betrug, zahlst du also zwei Margen) – nur dafür, dass dein Vertragspartner bei den Zahlungen nicht akkurat vorgegangen ist.

    Alles im Einklang mit dem Gesetz. Ich zitiere: „Einheimische Firmen sind verpflichtet, für den Eingang von Zahlungen in ausländischer Währung oder der Währung der Russischen Föderation durch ausländische Firmen, die gemäß den Bestimmungen eines Außenhandelsvertrages für überlassene Waren, erbrachte Dienstleistungen, übergebene Informationen und Ergebnisse geistiger Arbeit anfallen, einschließlich der Exklusivrechte hieran, innerhalb der vertraglich festgelegten Fristen auf ihr Bankkonto bei den zuständigen Banken zu sorgen.“ Es muss also nicht einfach nur für den Empfang gesorgt werden (wobei auch das Schwachsinn ist), sondern dies auch „innerhalb der in Verträgen festgelegten Fristen“. Du übernimmst also für Google die Verantwortung.

    Diese Bestimmung ist absurd und widerspricht den Grundlagen des römischen Rechts

    Diese Bestimmung ist absurd und widerspricht den Grundlagen des römischen Rechts. Sie ist eine von tausenden Bestimmungen im rechtlichen Minenfeld in Russland, und je weiter ein Unternehmer vorankommt, desto heftiger detonieren diese Minen unter seinen Füßen.

    Du schreibst darüber auf Facebook und bekommst Hunderte Kommentare nach dem Motto: „Gesetze müssen befolgt werden!“, „Ihr habt doch selbst den Rechtsstaat gewollt, und jetzt heult ihr rum“, „Erst alles klauen, und jetzt keine Verantwortung übernehmen wollen“ oder „Was’n Scheißdreck soll’n wir für die Yankees arbeiten, gibt’s in Russland etwa keine Arbeit?“.

    Was machst du bitte sehr, wenn dir durch eine solche Detonation 5 Millionen Rubel [ca. 71.400 Euro – dek] entrissen wurden, aber Google weiterhin mit dir zusammenarbeiten will? Du wolltest aufrichtig das Beste für Russland. Du hast daran geglaubt, dass man, solang man sich nicht in die Politik einmischt, arbeiten kann. Du hast geglaubt, dass du alle Gesetze und Vorschriften beachtest. Du hast gerade an einem großen neuen Projekt gearbeitet, hast deinen Beitrag zur Entwicklung des Vaterlandes geleistet. Und denkst: Teufel nochmal – nächstes Mal bring ich keinen echten Vertrag mit Google zur Bank, in dem es Fristen und Volumina gibt, und keine Stempel und Unterschriften. 

    Und du schusterst dir eine eigene Version zusammen, in der es keine Fristen gibt, und auch keine Beträge – einfach Zahlung nach Rechnungsstellung und acht blaue Stempel mit Google-Wappen. Du unterschreibst im Namen von Google und bringst alles zur Bank und verfasst dann zu jeder Zahlung eine Rechnung und ein Protokoll je nach Zahlungsdatum – und alle sind zufrieden. 

    Beruhige dich, das alles war nur ein schlechter Traum

    Und dann vergehen noch ein paar Jahre, und unsere ständig über sich hinauswuchernden Steuerbehörden erstellen einen Abgleich mit den ausländischen Vertragspartnern. Dann wird man dich um 5 Uhr morgens heimsuchen – mittlerweile wird es sich bei dir laut Artikel 193 um einen besonders schweren Fall handeln, und es werden Urkundenfälschung, Betrug und noch ein paar andere Artikel hinzukommen.

    Beruhige dich, das alles war nur ein schlechter Traum. Nach der Zahlung von 5 Millionen Rubel [ca. 71.400 Euro – dek] und diesem Traum wirst du mit zitternden Händen in durchgeschwitztem Bettzeug aufwachen und schon beim Frühstück auf die Entwicklung des Vaterlandes pfeifen. Deine Firma wird nach Zypern umziehen oder ins Baltikum. Dort gibt es übrigens nicht nur keine Devisenkontrolle – dort kostet die Buchhaltung 1000 Euro pro Jahr und die Steuern auf Erträge bis anderthalb Millionen Rubel [ca. 21.400 Euro – dek] liegen bei Null.

    Eines aber solltest du bedenken: Ohne dich wird es noch schwieriger sein, den Bußgeldplan zu erfüllen, und die im Land Verbliebenen werden auf noch absurderer Grundlage mit Strafen und Haft belegt werden. Ich beneide denjenigen nicht, der als letzter hier übrigbleibt – der wird wohl lebenslänglich eingelocht und bekommt alles abgenommen, eine Begründung, und sei sie noch so absurd, fehlt dann ganz. Oder wird das schon den letzten Tausend blühen, oder gar der letzten Million?

    Weitere Themen

    Business-Krimi in drei Akten

    Wandel und Handel

    Garagenwirtschaft

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Niedriglöhne – das kleinere Übel?

    Bringen Sie uns bloß die Wirtschaft in Ordnung!

  • Politik aus der Trickkiste

    Politik aus der Trickkiste

    „Irgendwo zwischen Soziologe und Erpresser“, so beschreibt ein Polittechnologe sein Berufsbild auf Meduza. Russland ist das Geburtsland der Polittechnologie. Was wie eine Wissenschaft klingt, meint ein Arsenal von Manipulationstechniken, die den politischen Prozess maßgeblich beeinflussen können. Vor allem bei Wahlen kommen diese Instrumente zum Einsatz. 

    Der Begriff Polittechnologie ging während des russischen Präsidentschaftswahlkampfs 1996 in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Mit zweifelhaften Methoden versuchen Polittechnologen, den Wählerwillen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um ihrem Kandidaten zum Sieg zu verhelfen. Sie berufen sich auf Machiavelli: Jedes Mittel zur Machterlangung und zu deren Erhalt ist ihnen recht. Am Geburtstag des politischen Philosophen feiern sie den Tag des Polittechnologen.

    Taissija Bekbulatowa hat sich in der Branche umgehört. 

    1999 fanden in der chakassischen Stadt Sajanogorsk Bürgermeisterwahlen statt. Der junge Unternehmer Oleg Deripaska versuchte, anstelle des ihm nicht freundlich gesonnenen Stadtoberhaupts „seinen“ Kandidaten unterzubringen. In der Zeit vor den Wahlen wurde Sajanogorsk in ein merkwürdiges Spiel hineingezogen – die Wähler wurden aufgefordert, an einer Verlosung teilzunehmen: Um zu gewinnen, musste man den Ausgang der Wahlen voraussagen. Im Fernsehen wurden dann täglich die Umfragewerte gezeigt. Die Bewohner der Stadt setzten auf den führenden Kandidaten – und stimmten schließlich auch für den, auf den sie gesetzt hatten. Deripaskas Kandidat siegte mit großem Abstand. Er hatte das Ranking angeführt, das ständig im Fernsehen lief und mit der Realität nichts zu tun hatte.

    Das war das „Smirnowsche Hütchenspiel“. Dessen Erfinder, der Polittechnologe Wjatscheslaw Smirnow, nennt es bescheiden eine „primitive Technik, die auf Gier setzt“: „Die Leute sahen sich  Clips an, die ich schon aufgenommen hatte, bevor sie ihre Stimmzettel ausfüllten, und sie sahen, dass unser Kandidat führt. Den Wahlkampfstab leitete Deripaska persönlich. Er saß mit Stift und einem Notizheft für fünf Kopeken da und schrieb irgendwas auf.“

    Mit Methoden wie dieser haben sie Bekanntheit erlangt, die Vertreter eines für Russland neuen Berufsstandes. Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, als echte Wahlen eingeführt wurden, war der Beruf des Polittechnologen entstanden, und zwar in enger Nachbarschaft zum Geld: bei den Großunternehmen, die in den Regionen „ihre“ Gouverneure und Bürgermeister einsetzen wollten. Die Finanz- und Industriegruppen hatten in den Regionen ihre spezifischen Interessen. Und bei den für sie wichtigen Fragen hingen die Entscheidungen von den Stadt- und Regionalregierungen ab.

    „Der Beruf [des Polittechnologen] ist ein Grenzgänger, irgendwo zwischen Soziologe und Erpresser“, erklärt Smirnow. „Einerseits gibt es bestimmte Methoden, wissenschaftliche Gesetze. Andererseits musst du schon Geld zur Arbeit mitbringen, weil du ein halbes Jahr deines Lebens in irgendeiner Region herumhängen musst, um irgendeinem Bürgermeister oder Gouverneur zur Wahl zu verhelfen.“

    Bald war in diesem Bereich viel Geld im Spiel. Teilweise stürzten sich für die Platzierung eines Wunschkandidaten zwei, drei Firmen mit vergleichbaren Ressourcen ins Rennen. Diese Firmen stellten dann die ersten Technologenteams auf. Denn die Sponsoren zogen es vor, den Spitzenkandidaten nicht direkt Geld zu geben. Sie konnten ja nicht wissen, wofür es ausgegeben wird. Stattdessen schickte man firmeneigene Leute, die dann das Wahlkampfbudget verwalteten.

    NAMENSVETTER UND GEFÄLSCHTE ANZEIGEN

    Recht bald wurde mit „Polittechnologie“ der Begriff „schwarze PR“ assoziiert. Wahlen in Russland waren ein sehr spezifisches Phänomen und unterschieden sich deutlich von Wahlen in westlichen Ländern. Daher reichte es nicht, die Instrumente der europäischen und amerikanischen Kollegen zu übertragen – die Technologen in Russland mussten selbst kreativ werden: Bei den Wahlen tauchten plötzlich Namensvetter auf, gefälschte Anzeigen in Zeitungen, die die Opponenten diskreditieren sollten, und vieles mehr. Technologien, die sich in einer Region bewährt hatten, fanden sofort in anderen Regionen Anwendung. Viele von ihnen werden bis heute eingesetzt.

    Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Andrej Bogdanow gilt als Erfinder vieler Wahltechniken. „Das [mit den Namensvettern] hat sich Bogdanow ausgedacht“, behauptet Smirnow. „Später dann, bei den Wahlen zur Moskauer Stadtduma, hat man ihm deswegen den Kopf eingeschlagen, einfach, weil er erklärt hatte, dass er einen Namensvetter gegen einen mit uns befreundeten Kandidaten aufstellen wird. Der hat daraufhin zwei Kerle mit Schlageisen bei ihm vorbeigeschickt.“ In den Medien wurde schließlich nur erwähnt, dass Bogdanow während des Wahlkampfes 1997 von Unbekannten angegriffen worden war.

    Bogdanow hat Smirnows Aussage bestätigt. Auch heute noch werden Polittechnologen bedroht. Einer von ihnen meint im Scherz „Ein Technologe im Feldeinsatz, der noch nie in einem Kofferraum irgendwo in den Wald gefahren wurde, ist kein Technologe.“

    Folge der „schwarzen“ Innovationen war, dass als Polittechnologien vor allem die bunten Tricks  wahrgenommen wurden – zum Beispiel der aus Krasnojarsk 1998: Um den Gouverneursposten kämpften damals Alexander Lebed und Waleri Subow. Zur Unterstützung des ersten trat Alain Delon auf, für den zweiten Alla Pugatschowa. Gewinnen sollte Lebed, doch wollten die Sponsoren der Kampagne auf keinen Fall, dass der General schon im ersten Durchgang siegt, weil sie befürchteten, dass er dann nicht mehr kompromissbereit wäre. Also finanzierten sie eine Kampagne für und eine gegen ihn.

    Zur Unterstützung des einen trat Alain Delon auf, für den anderen Alla Pugatschowa

    Höhepunkt der Kampagne war der Marsch der Penner. „Wir heuerten Obdachlose an, gaben ihnen Topfdeckel und Schöpflöffel, hängten ihnen Schilder um, mit Portraits von Lebed und Parolen wie Lebed ist unsere Wahl auf Leben und Tod“, erzählt Smirnow. „Alle Fernsehsender warteten darauf, das auf dem zentralen Platz der Stadt filmen zu können.“

    Gleichzeitig erschienen „Leute von Lebeds Wahlkampfstab“ in der Stadt, die die Höfe abklapperten und fragten, wieviel Schweine und Hühner es da gebe, angeblich für den Entwurf einer Sondersteuer auf landwirtschaftliche Selbstversorger­wirtschaft; auch davon wurden Berichte im Fernsehen gezeigt. Lebed siegte, wie geplant, erst im zweiten Durchgang.

    KREATIVE TECHNIKEN

    Kreative Techniken gefallen den Politikern gewöhnlich sehr, funktionieren aber nicht immer. „Nehmen wir mal an, ein Kandidat ist reich, und er will gegen den Konkurrenten gleich fünf Namensvettern ins Rennen schicken. Du erklärst ihm dann, dass das nicht besonders hilfreich sein wird. Der aber meint: ‚Der soll ruhig nervös werden, ich will ihm eine verpassen‘ “, erklärt Smirnow.

    Das Gleiche gilt auch für gröbere Methoden wie Wählerbestechung: „Unsere Wähler sind bereit, jemandem gegen Geld ihre Stimme zu geben. Sie sagen: ‚Komm und bau uns eine Haustür aus Metall ein, dann können wir miteinander reden.‘ In vielen Regionen ist das durchweg so. Die Rentner sagen: ‚Schaut, Pupkin hat mir einen Lebensmittelkorb gebracht, ich bin für ihn.‘ Allerdings sind unsere Rentner auch nicht blöd – nach einer gewissen Zeit holen sie sich von allen Kandidaten die Geschenkkörbe ab, und zur Wahl gehen sie dann nicht.“

    Unsere Rentner sind auch nicht blöd: Sie holen sich von allen Kandidaten die Geschenkkörbe ab, und zur Wahl gehen sie dann nicht

    Die Technologen, die schon in den 1990er Jahren tätig waren, haben jene Zeit als unerreichbare, goldene Ära in Erinnerung: Das Geld floss in Strömen, es gab viele Wahlen, und Auftraggeber auch. Die Ära endete abrupt.

    „Ungefähr seit der Verhaftung Chodorkowskis hörte die Wahlfinanzierung durch große Unternehmen auf. Es wurde ihnen einfach verboten“, erinnert sich Smirnow. „Jetzt ist es nicht mehr möglich, dass jemand ‚seine‘ Gouverneure installiert. Jetzt entscheidet die Regierung, wer ernannt wird.“

    Im Endeffekt wurde nicht nur von den Politikern verlangt, systemkonform zu werden, sondern auch von den Technologen, die für sie arbeiten. Für die besteht laut Branchenmitgliedern eine Erfolgsgarantie vielfach darin, gute Kontakte zur Machtpartei und zur Präsidialadministration zu unterhalten.

    Oppositionsparteien bringen nichts ein

    „Jetzt sehen die Spielregeln so aus: Sucht euch Aufträge bei Einiges Russland. Die anderen Parteien dienen nur als Deko. Das sind nur Krümelreste. Die haben ihre Haustechnologen“, sagt Bogdanow. „Der größte Arbeitgeber, das ist die Staatsmacht. Über 90 Prozent der normalen, guten Aufträge kommen von dort“, bestätigt der Polittechnologe Wladimir Perewostschikow.

    Mit der Systemopposition arbeiten die Technologen nur wenig zusammen und reißen sich auch nicht darum – es bringt wenig Geld, und die Chancen auf einen Sieg sind klein. „Die LDPR hat überhaupt keine Technologen nötig“, merkt Jewgeni Malkin an, einer der erfahrensten Polittechnologen im Land. „Shirinowski ist selbst Technologe genug.“

    „Das größte Problem der [System-]Opposition ist, dass sie nicht so richtig gewinnen will. Größeren Anspruch zu erheben, ist gefährlich, sie wollen ihre Opponenten nicht allzu sehr angehen. Sie sind mit allem zufrieden, so wie es ist“, fährt Malkin fort. „Wir können aber keine halbherzige Kampagne entwerfen.“ Das Elend der demokratischen Parteien sieht Malkin in deren „ineffektiver und kaum fokussierter Botschaft“: „Würden sie mit der Parole Putin muss weg! antreten, kämen sie auf sechs Prozent.“

    Würde die Opposition mit der Parole Putin muss weg! antreten, käme sie auf 6 Prozent

    „Unsere Gesellschaft ist in Wirklichkeit ziemlich auf Protest aus. Sie sieht alles, was vor sich geht, durchschaut es, duldet es einfach“, ergänzt Perewostschikow. „Fast in jeder Gegend Russlands ließe sich innerhalb weniger Monate ein Protest lostreten.“

    Der Polittechnologe Abbas Galljamow erinnert sich, dass sie bei einer der Kampagnen vor der Hälfte der Wohnungstüren „schon nach dem Satz ‚Guten Tag, wir sind von Einiges Russland‘ sofort eine Abfuhr erlebt haben“.

    Für eine erfolgreiche Protestkampagne der Opposition reichen die Ressourcen aber nur selten – die Anzahl der Leute, die sowohl das Geld haben, um die Administrativen Ressourcen zu übertrumpfen als auch Kampfeswillen, liegt dem Politberater Valentin Bianki zufolge bei „ungefähr null.“ Gewöhnlich sieht die Auseinandersetzung der Regierung mit der Opposition aus wie „ein Panzer, der einen Frosch niederwalzt“, wie es Perewostschikow ausdrückt.

    DIE ARBEIT IM FELD

    Ein Teil der Polittechnologen ist mit der ständigen Begleitung der Kandidaten in einer Region befasst. Früher konnte es passieren, dass ein ganzes Team von bis zu 120 Personen angeflogen kam, das dann auch den Wahlkampfstab bildete. Doch diese Zeiten sind vorbei, jetzt erlauben es die Wahlkampfbudgets nur selten, derart große Teams von extern anzuheuern. „In jeder Region haben sich eigene Medienleute, feste Wahlkampfhelfer bei den Parteien und eigene Technologen etabliert“, erklärt der Politikberater Dimitri Gussew. Es hat sich ein Format entwickelt, bei dem zwei, drei erfahrene Polittechnologen zum Einsatzort fliegen und dann Technologen vor Ort einweisen.

    Unter den Polittechnologen gibt es die gesonderte Gruppe der Politikberater, die in der Regel die Kampagnen vor Ort nicht selbst führen.  Zu ihnen gehören die bekanntesten Markt-Akteure. „Wenn man sich die Top-20 [der Polittechnologen in Russland] anschaut, ist dort außer Parfjonow niemand Polittechnologe im Sinne des Handwerkes; der also in der Lage wäre, alles von der Pike auf selbst zu machen, der hinfährt, eine klare Strategie entwirft, ein Konzept, der die Mobilisierung organisiert, der selbst Fokusgruppen durchführen kann und auch Meinungs­umfragen“, meint ein Gesprächspartner von Einiges Russland. „Alle diese Leute delegieren bis zu einem gewissen Maße die Aufträge nur weiter. Sie fahren rum, holen Aufträge ein, indem sie ihr Gesicht zeigen. Dann kommen sie zu irgendeiner Sitzung in der Präsidialadministration und erzählen: ‚Ich komme gerade aus der Region X, der Dreck an meinen Stiefeln ist noch nicht trocken.‘ Und zur gleichen Zeit befindet sich das Team in der Region – und am Steuer sitzt ein ganz anderer.“

    Es gibt die Bürosklaven und den Chefredakteur, der die Sache verkauft

    „Politikberatung ist, wenn zum Gouverneur ein kluger Herr in feinem Anzug kommt, der in der Regel die Sitzungen bei SurkowWolodinKirijenko besucht und zu den Top-Polittechnologen Russlands gehört“, erzählt Wjatscheslaw Smirnow. „Er schreibt dann ein Konzept, auf welche Weise die Wahl zu gewinnen ist, mit welcher Ideologie und so weiter. Genauer gesagt: Die Bürosklaven schreiben alles auf, und er ist der Chefredakteur, der die Sache verkauft. Der Preis liegt zwischen 50.000 und 150.000 Dollar pro Konzept.“

    Bogdanow und Smirnow haben ihre eigene Nische: Sie „halten sich Parteien“, die von Interessenten gegen eine bestimmte Summe für ihre Zwecke gepachtet werden können. (Aufgrund der „Liberalisierung“ der Parteiengesetze nach den Protesten von 2011/2012 ist es Bogdanow gelungen, mehrere Parteien mit unterschiedlichen Namen beim Justizministerium registrieren zu lassen.) „Wenn Sie mal Vorsitzender einer Partei waren, und sei es nur für drei Monate, für die Zeit der Wahlen, dann kommen Sie in Ihrer Stadt mächtig voran“, erklärt Smirnow.

    Bogdanow fügt hinzu, dass man nicht nur mit Parteien Geld verdienen könne, sondern auch mit gesellschaftlichen Organisationen (von denen er auch einige im Angebot hat). In der Vorwahlzeit zum Beispiel würden sich sehr gut Beschäftigungs­nachweise in NGOs verkaufen, die man in den Wahlunterlagen angeben kann.

    Bogdanow fasst es so zusammen: „Auf dem Markt gewinnt derjenige, der über die nötigen Instrumente verfügt.“

    DER MARKT WANDELT SICH

    Auf dem schrumpfenden Markt der Wahlen in Russland versuchen die Akteure mittlerweile, andere Verdienstmöglichkeiten zu finden. Ihre eigentlichen Fertigkeiten bringen Polittechnologen aus Russland oft in den Ländern der GUS an den Mann, wo es bis heute riesige Budgets gibt (besonders gute Honorare werden, so ein Gesprächspartner von Meduza, in den nicht anerkannten Republiken gezahlt, etwa in Südossetien). Einige machen ihre Erfahrung zu Geld, indem sie Schulungen anbieten und Vorträge halten.

    „Mein Eindruck ist, dass der Markt nicht kleiner wird, sondern sich wandelt“, meint Alexej Kurtow, Gründer der Agentur InterMediaKom. „Politikberatung betrifft nicht nur Wahlen, sie ist ein ständiger Prozess.“

    Es gewinnt derjenige, der über die nötigen Instrumente verfügt

    Die Präsidialadministration wurde in der Ära Putin zum wichtigsten politischen Entscheidungszentrum des Landes – also auch zum Anziehungspunkt für Polittechnologen. Jeder Leiter erneuert in den ersten sechs bis zwölf Monaten nach seiner Ernennung das System.

    Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, für die Staatsmacht erfolgreich Wahlen zu bestreiten: Die Präsidialadministration und das zentrale Exekutivkomitee von Einiges Russland widmen sich den Wahlen auf föderaler Ebene, ist von einer Quelle in der Partei zu erfahren.

    Andrej Koljadin, früher Leiter der Abteilung Regionalpolitik des Referats für Innenpolitik in der Präsidialadministration, berichtet, dass er sich unter Surkow auch mit dem FSB auseinandersetzen musste. Denn der war seinerzeit entschlossen, anderthalb Monate vor den Wahlen das Oberhaupt einer Region zu verhaften. „Ich habe mit denen vom FSB total gestritten, weil die Festnahme eines Gouverneurs vor den Wahlen eindeutig die Wahlergebnisse verdirbt. Er wurde verhaftet, aber erst nach den Wahlen.“

    Sie haben tatsächlich geglaubt, dass die Umfragewerte für Nawalny bei drei bis fünf Prozent liegen, und sie haben sich zutiefst getäuscht

    Unter Wjatscheslaw Wolodin, der Surkow im Dezember 2011 [in der Präsidialadministration – dek] abgelöst  hatte, änderte sich das System ein wenig. „Es gab weniger Einmischung in die regionalen Wahlkämpfe, so nach dem Motto: Ihr sollt ruhig eure eigene lokale Agenda haben“, berichtet ein Gesprächspartner von Meduza, der Einiges Russland nahesteht. Ihm zufolge nahm das neue Team [im Kreml] die regionalen Wahlen nicht mehr als Gefahr wahr, nachdem die Proteste von 2011/2012 abgeklungen waren. Und nach der Angliederung der Krim haben sie sich auch hinsichtlich der föderalen Wahlen beruhigt.

    „Der einzige große Fehler war die Bürgermeisterwahl [2013] in Moskau“, so der Informant. „Warum haben sie damals Nawalny zugelassen? Sie wollten ihn wunderschön ausspielen! Sie haben tatsächlich geglaubt, dass die Umfragewerte für Nawalny bei drei bis fünf Prozent liegen, und sie haben sich zutiefst getäuscht“ (Nawalny hatte später mit 27 Prozent der Stimmen den zweiten Platz errungen – Anm. Meduza).

    Jetzt, da in der Präsidialadministration Sergej Kirijenko für die Innenpolitik verantwortlich ist, ändere sich das Gefüge allmählich, berichten Marktakteure. Insgesamt arbeite Kirijenko sehr viel weniger intensiv mit Experten als seine Vorgänger. Er verschickt keine Themen-Memos, hat es nicht eilig, Geld zu verteilen, und vielen ist daher nicht klar, was weiter zu tun ist.

    „Wo will man als Politologe unterkommen? Der wichtigste Auftraggeber für diese Sparte sind in Russland die Regierungsstrukturen. Es gibt zwar noch die großen Unternehmen, aber auch da ist es besser, systemkonform zu sein. Und die Opposition ist keine ernstzunehmende Geldquelle“, erläutert Nikolaj Mironow.

    Ökonomie der Politik

    „Die teuerste Kampagne, die gibt es nicht“, meint Jewgeni Malkin. Marktakteure räumen allerdings ein, dass die für Polittechnologen vorgesehenen Budgetposten geschrumpft sind, sodass Kampagnen wie die Gouverneurswahlen 2002 in der Region Krasnojarsk, als der Wahlkampf von Alexander Chloponin noch um die 30 Millionen Dollar kostete, sind heute  kaum noch möglich. „Ich kenne Menschen, die sich einander gegenüber gesetzt und geübt haben, folgenden Satz ruhig auszu­sprechen: ‚Das kostet eine Million Dollar‘“, erzählt einer der Gesprächs­partner von Meduza. „Aber die Zeiten sind jetzt natürlich andere.“

    Ein großer Teil der Wahlkampfgelder fließt „inoffiziell“. Nach Einschätzung von Valentin Bianki bekommen rund zehn Prozent der Technologen eine offizielle Entlohnung. Ein Gesprächspartner von Einiges Russland sagte Meduza, die Zunft sei nicht sonderlich an einer Legalisierung ihrer Budgets interessiert. „Mindestens jeder zweite Technologe fährt nicht wegen der Honorare zu einem Wahlkampf, sondern um vor Ort Kohle abzuzwacken“, meint der Informant.

    „Man braucht sehr viel Cash“, meint einer der Marktakteure. „Nehmen wir an, du schickst Kiezagitatoren los, um den Wahlkampf der Opposition zu sabotieren, wie bezahlst du die, aus dem Budget? Man muss den Journalisten was zahlen, den Wahlkommissionen, den Wahlbeobachtern. Man muss irgendjemandes Wahlkampf stören, Provokateure zu fremden Veranstaltungen schicken … Schließlich kann man wohl schlecht in einen Vertrag reinschreiben: ‚Provokationen – 5 Stück à 1 Stunde‘. Man muss Bots oder echte Menschen ranholen, die die Kommentare zumüllen. Und dann muss man manchmal jemanden mit Füßen treten. Was in den Regionen oft vorkommt.“

    Wettbewerb der politischen Instrumente

    Weithin bekannt ist beispielsweise der Fall Nikolaj Sandakow. Der ehemalige Vizegouverneur des Gebietes Tscheljabinsk, der seit April 2016 in Haft ist, wird beschuldigt, Bestechungsgelder angenommen zu haben. Auch Nikita Belych, seinerzeit Gouverneur des Gebietes Kirow, der im Juli 2016 bei der Entgegennahme von 400.000 Euro in bar festgenommen wurde, soll nach Angaben der Agentur Reuters von örtlichen Unternehmern Geld „für die Wahlen“ eingesammelt haben.

    „Die verschiedenen politischen Player wollen den Markt umschichten“, meint Jewgeni Mintschenko. „Die einen sagen: Warten Sie mal, wozu brauchen wir einen Wahlkampfmarkt, wenn man alles administrativ regeln kann? Andere wiederum sagen: Wozu alles administrativ entscheiden, wenn wir alles mit Hilfe eines Strafverfahrens oder einer Durchsuchung regeln können? Das ist der Wettbewerb der politischen Instrumente …“

    Andrej Koljadin fasst zusammen: „Ein Polittechnologe, das ist unter anderem auch jemand, der weiß, wie man einen Wahlkampf führt, ohne dass jemand ins Gefängnis wandert.“

    Der Beruf des Polittechnologen weist heute in Russland eine eindeutige Spezifik auf: Da die Wahlen meist von oben kontrolliert werden, ist der Sinn von Wahlkämpfen nicht immer klar. Die Wahlkampfstäbe von Einiges Russland in den Regionen arbeiten stets im Verbund mit der Regierung vor Ort, in deren Händen sich in der Regel die wichtigsten Ressourcen befinden, unter anderem die Medien.

    Es gibt auch direktere Methoden, um auf den Ausgang von Wahlen Einfluss zu nehmen. „Je mehr Einmischung bei den Wahlkommissionen, desto weniger Polittechnologien werden benötigt“, erklärt Smirnow. „Der Traum eines jeden reichen Kandidaten ist es, dass er zum Vorsitzenden der Wahlkommission geht, diesem Geld zahlt – und dass dieser ihm ein Protokoll gibt, das den Sieg feststellt. Möglichst schon vor den Wahlen.“

    Je mehr Einmischung bei den Wahlkommissionen, desto weniger Polittechnologien werden benötigt

    Andrej Bogdanow zufolge „werden Technologen jetzt in Wirklichkeit nicht mehr gebraucht“, weil Wahlkämpfe oft einfach nur Blendwerk seien, das verdecken soll, dass alles schon durch Abmachungen und Scheinkandidaten entschieden ist.

    „Alle unerwünschten Kandidaten werden vor den Wahlen aus dem Rennen genommen. Der Polittechnologe ist jetzt eher ein Unterhändler, ein Bindeglied zwischen Präsidialadministration und den lokalen Eliten“, erklärt Bogdanow.

    Die Technologen sind überzeugt, dass ihr Beruf gefragter sein wird, sobald es mehr echte Urnengänge und Referenden gibt.

    „Man sagt: Diese Politberater, das sind Leute, die der Gesellschaft schaden … Wir gehören aber zu denen, die der Demokratie weltweit am meisten nützen!“, erklärte Jewgeni Malkin jüngst bei einem Briefing zum Tag des Politikberaters. „Wir sind auf dem Feld des realen elektoralen Wettbewerbs präsent, wir erklären den Politikern, was die Leute wirklich von ihnen wollen, wir helfen Koalitionen zu schmieden und Übereinkommen zu erreichen, um die Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen der Elite zu minimieren. Solch hervorragende Leute wie uns sollte man nicht beschimpfen, sondern sie auf Händen tragen und jeden Tag ‚Danke‘ sagen.“

    Weitere Themen

    Nicht-System-Opposition

    Im Schwebezustand – Südossetien

    Sofa oder Wahlurne?

    Die Wegbereiter des Putinismus

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    Präsidentenrating

  • Warum Putin kein Populist ist

    Warum Putin kein Populist ist

    Trump, Orban und wie sie alle heißen: Populisten, so konstatieren viele Politikwissenschaftler, seien auf dem Vormarsch. Immer öfter hört man dabei die These, Russland habe bei dieser Entwicklung eine Art „Vorreiterrolle“ gespielt. Denn Putin verführe die Massen, manipuliere die öffentliche Meinung und spiele sich als Stimme des Volkes auf.

    Putin, der lupenreine Populist? Im Gegenteil, meint Soziologe Grigori Judin. Bei allen Parallelen, ein genauerer Blick lohne sich – seine Analyse auf Republic:

    Brexit, Trump, Orban & Co. – Putin als Vorreiter populistischer Bewegungen? / Foto © TaylorHerring/flickr.com

    Derzeit stehen in Europa und Amerika alle großen Wahlen unter dem Zeichen des Populismus. Zu den populistischen Politikern wird oft auch Wladimir Putin gezählt. Manchmal scheint es sogar, als sei Putin der erste gewesen, der in den liberalen demokratischen Ordnungen eine Lücke gefunden hat: nämlich über breite Unterstützung in der Bevölkerung zu verfügen und gleichzeitig autoritär zu handeln, indem man leere Versprechen macht und den mangelnden politischen Weitblick und die Verantwortungslosigkeit der Massen nutzt.

    Demzufolge versucht die neue Generation der Populisten einfach, Putins Rezept anzuwenden, um die Grundlagen der westlichen Demokratie zu untergraben. Aufgeschreckte Experten sprechen vom Populismus als einem Symbol für die Verwundbarkeit des Westens, von einer Schattenseite der Demokratie, die sie durch die eigenen, einfältigen Bürger zu Fall bringen könnte.

    Populismus als Schimpfwort

    Mittlerweile wird das Wort „Populismus“ unterschiedslos zur Beschreibung aller möglichen gefährlichen politischen Entwicklungen verwendet. Sein negativer Beiklang erzeugt ein trügerisches Gefühl von Klarheit, verhindert, die Gründe für das Geschehen zu verstehen, und lähmt das politische Handeln.

    Soll Populismus aber nicht einfach nur ein Schimpfwort zur Brandmarkung unbequemer Opponenten sein, sondern ein spezieller Typus politischer Mobilisierung, dann braucht es zunächst eine klare Definition.

    Populismus ist die Gegenüberstellung von „uns“ (dem Volk) und „denen“ (der Elite) – eine Rhetorik des Kampfes gegen das Establishment. Dabei werden „das Volk“ und „die Elite“ nicht in Gruppen unterteilt: Sie bilden homogene Gemeinschaften. Zwischentöne gibt es nicht.

    Zwischen „dem Volk“ und „der Elite“ steht die populistische Partei oder eine Führungsfigur, der Leader, Sprachrohr für die Sehnsüchte des Volkes und Schrecken für die korrupten „fetten Tiere“ da oben.

    Der Konflikt zwischen „Volk“ und „Elite“ ist unter Umständen absolut und grenzenlos, weshalb sich Populismus schlecht mit dem System der Checks and Balances verträgt, das die liberalen Demokratien charakterisiert.

    Populismus ist dem Wesen nach ein demokratisches Phänomen, und nicht nur, weil populistische Politiker ein Produkt von Wahldemokratien sind und nicht das von autoritären Regimen. Populismus bringt „das Volk“ auf die Bühne, ohne das die moderne demokratische Politik inhaltlich ausgehöhlt wäre – denn sie basiert ja auf dem Konzept der Volkssouveränität.

    POPULISMUS – SYMPTOM DER KRISE

    Gleichzeitig ist der Populismus ein Symptom der Krise liberaler Demokratie, genauer gesagt: der Krise des Systems politischer Repräsentation. Populisten agieren über Grenzen hinweg, die durch traditionelle politische Identifikations­muster entstanden sind. Ihr Erfolg ist nur deshalb möglich, weil diese Grenzen verwischen und die traditionellen politischen Kräfte die Unterstützung der Bevölkerung verlieren.

    Kennzeichen des Populismus sind demnach ein Angriff auf die Elite, eine Mobilisierung der Massen, Demokratiehaftigkeit und Publicity.

    Das Regime Putin ist genau das Gegenteil davon.

    PUTIN – DAS GEGENTEIL EINES POPULISTEN

    Erstens war Wladimir Putin offizieller Nachfolger von Boris Jelzin und Günstling von Jelzins Eliten. Als Outsider kann man ihn wohl kaum bezeichnen. Selbst zu Beginn seiner Regierungszeit, als Putin die Oligarchen kritisierte, stellte er ihnen nicht das Volk gegenüber, sondern den Staat, den die Oligarchen untergruben und von innen heraus zerstörten.
    Sobald Putin die Loyalität der Eliten erlangt und unzuverlässige durch eigene Leute ersetzt hatte, vergaß er das Problem der Oligarchen sofort – mal abgesehen davon, dass das Verschmelzen von Macht und Reichtum seither nur zugenommen hat.

    Demobilisierung und Entpolitisierung

    Zweitens, und das ist von grundsätzlicher Bedeutung, gründet der Putinismus im Unterschied zum Populismus auf Demobilisierung und Entpolitisierung.
    Was er braucht, ist nicht die aktive Unterstützung der Bevölkerung, sondern ihre Gleichgültigkeit und Nichteinmischung in die Angelegenheiten jener, die oben am Ruder sind.

    Das Putinsche Regime hat nie versucht, Anhänger zu mobilisieren. Es war vielmehr bestrebt, sie zu demobilisieren und die Vorherrschaft des Privatlebens über gesellschaftspolitisches Handeln sicherzustellen.
    Unter Putin verwandelte sich Partizipation am politischen Leben in den Augen der Russen in eine Beschäftigung für Leute, die nicht ganz bei Trost sind: Wie kann denn jemand, der seinen Verstand beisammen hat, noch Wahlen ernstnehmen, wenn dort ganz offensichtliche Clowns nominiert werden? Wenn es jedes Mal auf den Stimmzetteln von Doppelgängern und Namensvettern wimmelt? Wenn die Wahlergebnisse letztendlich so ausfallen, wie es der Regierung passt?

    Die Reaktion der Bevölkerung ist offensichtlich: Den Großteil der Wähler stellen seit langem die vom Staat abhängigen Bevölkerungsgruppen. Die Wahlbeteiligung bei regionalen und landesweiten Wahlen sinkt ein ums andere Mal drastisch. Der Anteil der Teilnehmer an Meinungsumfragen liegt bei weit unter 50 Prozent.

    Angst vor dem Volk

    Drittens ist die gesamte Elite in Russland nicht einfach nur antidemokratisch, sondern sie hat totale Angst vor dem Volk.

    Viele Jahre schon ist eine Revolution, ein Volksaufstand, der schlimmste Albtraum der Eliten – er muss mit allen Mitteln verhindert werden. Die Eliten behandeln das Volk wie ein leicht beeinflussbares Kind, das nicht in der Lage ist, selbständig zu denken und das ständigen Schutz vor gewissen feindlichen Kräfte benötigt.

    Viertens schließlich reicht ein Blick auf das Drehbuch der Inauguration Putins, um zu sehen wie Putins Stil und der Stil populistischer (ja überhaupt demokratischer) Politik auseinanderklaffen: Die Autokolonne mit dem Leader fährt durch die vollkommen leere Stadt zum Kreml, wo ihn inmitten des überbordend feierlichen Prunks des Großen Kremlsaales „des Herrschers Getreue“ empfangen.

    POLITIKER OHNE VOLK

    Kann ein Politiker ohne Volk Populist sein? Kann man einen Politiker, der noch nie in seinem Leben an öffentlichen Debatten teilgenommen hat, als Populisten bezeichnen? Das gilt nicht nur für Putin, sondern für das gesamte Establishment in Russland, das alles daran setzt, selbst mit der Presse nie anders als im Modus eingeübter und inszenierter Fragen zu sprechen.
    Vergleichen wir Putin einmal mit klassischen Populisten wie Chavez, Morales oder Correa: Jeder von ihnen fühlt sich bei der direkten, nicht inszenierten Interaktion mit dem Volk wie ein Fisch im Wasser.

    Selbst 2012 und 2014, als das Regime auf Geschlossenheit gegen den äußeren Feind setzte und eine emotionsgeladene Propaganda startete, war im Instrumentarium des Regimes kein Populismus – keine anti-elitäre Mobilisierung oder Rhetorik – festzustellen.

    Jahr um Jahr wird den Russen Angst eingejagt, dass der Feind nicht schläft, dass man zusammenstehen muss, dass man dabei aber um Gottes Willen keine irgendwie gearteten Aktionen starten darf. Aus Sicht des russischen Regimes hat sich der Bürger – um dem Feind erfolgreich die Stirn zu bieten – in seine eigene Welt zurückzuziehen, beim Fernsehen vor Angst zu zittern und der Armee sowie den Geheimdiensten völlig freie Hand zu lassen – die werden schon wissen, was zu tun ist.

    Das alles hat mit der Logik des Populismus nichts zu tun, im Grunde widerspricht es ihm.

    Putin den Populisten zuzurechnen hieße, einen strategischen Fehler zu begehen. Während Populisten die Masse des Volkes gegen die Eliten mobilisieren, stützt sich Putins Regime auf die Eliten, um die Massen zu demobilisieren.

    Das Volk als Bedrohung, nicht als Stütze

    Das Gespenst der „86 Prozent“, von dem in den letzten Jahren viele in Russland erfasst wurden, versperrt den Blick auf den Schwachpunkt des gegenwärtigen Regimes: Das Volk ist für das Regime nicht die größte Stütze, sondern die größte Bedrohung.
    Mit seiner gigantischen Kluft zwischen Herrschenden und Bevölkerung, der Dominanz der Technokraten in der Regierung und der völligen Enttäuschung der Menschen durch die Politik, ist Russland ein ideales Feld für das Bedürfnis nach Demokratie und das Aufkommen populistischer Bewegungen.

    Das Bedürfnis nach Populismus ist in Russland heute objektive Realität. Und es kann auch gar nicht anders sein in einem Land, in dem die himmelschreiende Ungleichheit tagtäglich auf den Straßen zu beobachten ist, wo die Bürger von der Politik ausgeschlossen sind, und wo man der neuen Generation in den Schulen und Universitäten Angst vor den „Feinden“ einjagt und ihr beibringt, stillzusitzen.

    Populismus ist nicht unbedingt ein Übel: Er kann in den Menschen Energie und Enthusiasmus wecken, ihre Bereitschaft, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und die Geschicke des eigenen Landes mitzubestimmen.
    Das Gefühl, dass deine Stimme und dein Handeln einen Unterschied machen, ist viel wert. Es ist ein Gefühl, das die Russen seit langem entbehren.

    Weitere Themen

    Presseschau № 34: Brexit

    Trump ein Agent Putins?

    Exportgut Angst

    Presseschau № 43: Russland und die USA

    Presseschau № 44: Trumps Wahlsieg

    Polittechnologie

  • Der Traum vom apolitischen Protest

    Der Traum vom apolitischen Protest

    Apolitisch sei das Volk, so heißt es oft über Russland. Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so lautet der Gesellschaftsvertrag. Immer wieder stellt sich in den letzten Jahren auch die Frage, inwieweit dieser am Bröckeln sei.

    Mitte Mai gingen in Moskau nun mehrere tausend Menschen auf die Straße – um gegen den Abriss ihrer Wohnhäuser zu protestieren.

    Bis zu 8000 Moskauer Häuser, zumeist Plattenbauten aus den 1950er und 1960er Jahren, sollen abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden. Knapp 1,6 Millionen Menschen könnten betroffen sein. Einige davon werden jetzt von den Moskauer Behörden dazu aufgerufen, für oder gegen das Programm zu stimmen. Nichtwähler werden als Befürworter gezählt, der Abstimmungsprozess insgesamt wird von vielen als intransparent empfunden. Dies und die Angst um ihr Eigentum trieb auch Menschen auf die Straße, die sonst noch nie oder nur selten auf Protest­veranstaltungen waren. Es ist naheliegend, dass viele von ihnen generell mit der Staatsmacht zufrieden sind.

    Die Veranstalter bestanden darauf, dass dieser Protest nicht politisch sei. Warum? – das analysieren Nikolay Epplée und Andrej Sinizyn auf Vedomosti.

    Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru
    Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Die Demonstration im Moskauer Stadtzentrum richtete sich gegen das Renovierungs­gesetz – die wichtigste politische Meldung der letzten Monate – und war als „unpolitisch“ angekündigt worden. Die Organisatoren hatten die Teilnehmer gebeten, keine Parteisymbole zu verwenden. Sie wollten auch nicht, dass auf der Bühne „Politiker“ sprechen.

    Diese abgesteckten Grenzen wurden schließlich überschritten, und der Ausschluss Alexej Nawalnys samt Familie aus den Reihen der gewöhnlichen Demonstrations­teilnehmer sorgte in den Sozialen Netzwerken für einen sinnlosen Skandal.

    Das Wort „Politik“ hat in Russland ein Eigenleben

    Das alles drängt die Frage auf, wo in Russland heute die Linie zwischen Politik und Nicht-Politik verläuft. Die Frage ist fast schon linguistisch. Das Wort „Politik“ hat in Russland ein Eigenleben. Fast könnte man damit Kinder erschrecken.

    Die Entwicklung des politischen Systems seit Beginn der 2000er Jahre hat allmählich dazu geführt, dass unter Politik entweder das legitime Ausüben der Macht oder ein illegitimer Kampf um Macht verstanden wird. Demnach liegt das Politik-Monopol beim Kreml; alle anderen sind entweder loyal, oder sie bekämpfen die bestehende staatliche Ordnung für eine Handvoll Dollars vom State Department (und gehören deswegen bestraft).

    Lösung von Problemen „ohne Ausweitung ins Politische“

    Also ist es durchaus verständlich, dass Menschen, die aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen demonstrieren, jeglichen politischen Anstrich fürchten.

    Jedes Mal wieder hoffen die vom Mautsystem Platon getriezten Fernfahrer oder die Ärzte, die ihr Gehalt nicht bekommen, oder die Bewohner der Pjatietashki, die um ihre Wohnungen bangen, dass es ihnen gelingt, sich ohne „Ausweitung ins Politische“ mit der Regierung zu einigen und ihr spezielles Problem zu lösen.

    Die Situation birgt ein strukturelles Scheitern: Es gibt in Russland keine normale politische Repräsentation, die Systemparteien vertreten niemanden, und die außersystemischen Parteien können in Machtfragen keinen Wettstreit antreten.

    Als Instrument zum Schutz von Bürgerinteressen bleibt nur die Straße. Und das Internet und die Medien.

    Es bleibt nur die Straße

    Übrigens sind einige Proteste, die mit anscheinend unpolitischen Parolen geführt wurden, sehr wohl erfolgreich gewesen: Auf Druck der Bürger wurde der Bau des Ochta-Zentrums in St. Petersburg abgeblasen, die Errichtung eines Denkmals für Fürst Wladimir auf den Moskauer Sperlingsbergen aufgegeben und die kommer­zielle Bebauung der Ländereien der Timirjasew-Akademie unterlassen. Allerdings ist die Zahl der Proteste, deren erklärte Ziele nicht erreicht wurden, sehr viel größer.

    Bedürfnis nach politischer Teilhabe

    Das Wichtigste aber ist, dass die Proteste in Wirklichkeit immer politisch waren und politisch sein werden. Eine Protestaktion könne nicht unpolitisch sein, sie sei eine politische Handlung, sagt die Politologin Ekaterina Schulmann. Die treibende Kraft dahinter sei das Bedürfnis nach politischer Teilhabe und danach, dass die Meinung der Bürger, die Interessen der Bürger berücksichtigt werden. Bei den Moskauer Demonstrationen gehe es um das Bedürfnis nach einer funktionierenden Verwaltung; in dem System, wie es sich derzeit darstellt, würden die Interessen der Bürger nicht vertreten.

    Die Geschichte mit der „Renovierung“ ist umso pikanter, als deren offizielle Ankündigung bei einem Treffen von Bürgermeister Sergej Sobjanin mit Wladimir Putin erfolgte. Der erfolgreiche Beginn des Programms soll (nach Ansicht vieler Experten) Teil des Moskauer Präsidentenwahlkampfes sein. Natürlich ließen Bürgermeister und Präsident das Politik-Monopol dabei unangetastet. Die Demonstranten aber könnten es antasten. Oh, bewahre!

    Weitere Themen

    „Wir haben lange genug stillgehalten“

    Debattenschau № 49: Nawalny und die Macht der Straße

    Protest im Netz

    Wer geht da demonstrieren?

    Plattentausch in Moskau

    Piket