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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bystro #6: Was war der Große Terror?

    Bystro #6: Was war der Große Terror?

    Ein Überblick über den Großen Terror – in 14 Fragen und Antworten von Memorial-Mitarbeiter Sergej Bondarenko auf Meduza. Einfach durchklicken oder durchwischen.

    1. 1. Was genau geschah eigentlich im Jahr 1937?

      Im Sommer 1937 begann eine ganze Serie staatlicher Repressionskampagnen, die heute allgemein als der Große Terror bezeichnet wird. Mit dem Befehl Nr. 00447 des Volkskommissariats des Inneren (NKWD) wurde die „Kulakenoperation“ verkündet, bei der Bauern, Priester, ehemalige Adelige und Menschen verhaftet wurden, die auf die eine oder andere Art einer Verbindung zur Weißen Bewegung oder zu oppositionellen Parteien verdächtig waren. 

      Fast parallel hierzu wurden sogenannte nationale Operationen durchgeführt: Nach vorgefertigten Listen wurden Deutsche, Polen, Letten und viele andere Bürger der UdSSR oder auch Ausländer verhaftet. Und mit der Verhaftung einiger hochrangiger Militärführer begannen auch die Säuberungen in der Armee. 

      Unter der Anschuldigung, Verbindungen zu Volksfeinden zu haben, kamen Tausende ins Lager – das waren die sogenannten Familienmitglieder von Heimatverrätern (russ. TschSIR).

    2. 2. Weshalb kam es so weit? Und warum ausgerechnet 1937?

      Die heftigste Welle des staatlichen Terrors erfolgte zwar Mitte 1937, die Vorbereitungen liefen aber schon in den Jahren davor. Als Ausgangspunkt wird oft der 1. Dezember 1934 genannt, der Tag an dem Sergej Kirow, Chef der Leningrader Parteiorganisation und Sekretär des ZK der KPdSU, ermordet wurde (die Rolle, die Stalin bei diesem Mord spielte, ist bis heute nicht endgültig geklärt). 

      In den Jahren danach stieg nicht nur die Zahl der Verhaftungen, es fanden darüber hinaus in Moskau „offene Gerichtsprozesse“ [Schauprozesse – dek] gegen ehemalige Angehörige der Parteispitze statt, gegen den „rechts-trotzkistischen Block“. Es erfolgte ein großangelegter Kaderwechsel im Bereich der Staatssicherheit (Genrich Jagoda wurde als Volkskommissar [des Inneren] durch Nikolaj Jeschow abgelöst). 
      In der Presse wurde viel darüber geschrieben, dass die Repressionen verschärft werden müssen. Eine neue Welle des staatlichen Terrors wurde vorbereitet: Es wurden Lager errichtet, in die zukünftige „Feinde“ geschickt werden sollten; es wurden spezielle Kommissionen gebildet, die die Strafverfahren gegen diese Menschen bearbeiten sollten. 

    3. 3. Und welche Rolle spielte die außenpolitische Lage?

      Zu der Frage, warum die größten Repressionen ausgerechnet 1937 stattfanden, gibt es vielfältige Erklärungen. Neben der inneren Logik der Ereignisse selbst – Jeschow wurde bereits im September 1936 Leiter des NKWD und bereitete dann fast ein Jahr lang sein Ministerium auf die Massensäuberungen vor – wird zu Recht oft auf die große Rolle der außenpolitischen Lage verwiesen, auf den Verlauf des Krieges in Spanien, wo die Kommunisten durch Frankos Armee eine Niederlage erlitten, auf das Erstarken des nationalsozialistischen Deutschland und auf das von allen gespürte Näherrücken eines neuen großen Weltkrieges

      Vor diesem Hintergrund verstärkten sich in der UdSSR Spionomanie, die Suche nach inneren Feinden – bei denen eben jene sogenannten Ehemaligen (vermeintliche „Kulaken“, Priester, Esery [Sozialrevolutionäre] …) ganz oben auf der Liste standen – wie auch deren Umgebung, ihre Familien, Freunde und Arbeitskollegen.

      Ein weiterer, nicht minder wichtiger Grund ist das Verwaltungssystem selbst, das in der UdSSR in den 20 Jahren seit der Revolution entstanden war. Da die bürgerlichen und politischen Rechte in keinster Weise gewährleistet waren, es keine wirklichen Wahlen der staatlichen Organe und keine Meinungsfreiheit gab, blieb der Terror wichtigstes Mittel für sozialen Wandel. Gewalt wurde zur Gewohnheit. 

    4. 4. Wie reagierte die Gesellschaft auf diese Gewalt?

      Die Repressionen sorgten zwar für Schrecken, wurden aber als etwas Unabdingbares, als Teil des Alltags aufgefasst. In dieser Hinsicht ragen die Ereignisse von 1937 allein durch ihre Dimension und Intensität heraus, schließlich hatte es ja bereits den Roten Terror und die Kollektivierung/Entkulakisierung gegeben sowie in der ersten Hälfte der 1930er Jahre den im Zuge der Industrialisierung organisierten Hunger in der Ukraine, in Kasachstan und im Wolgagebiet. Der Große Terror ist in dieser Hinsicht lediglich eine weitere Episode in einer Reihe der bisherigen Ereignisse.

    5. 5. Wie viele Opfer gab es?

      In der heißen Phase des Großen Terrors, von August 1937 bis November 1938 (als Jeschow abgesetzt wurde), sind über 1.700.000 Menschen aufgrund politischer Anklagen verhaftet worden. Von ihnen wurden über 700.000 Personen erschossen. Und das ist nur das Minimum der statistischen Opferzahl-Schätzung, da zur gleichen Zeit weiterhin Menschen verschickt und „auf administrativem Wege“ deportiert wurden (mindestens 200.000 Personen); Hunderttausende wurden als „sozial schädliche Elemente“ verurteilt. 

      Viele Paragraphen des Strafgesetzbuches jener Zeit (beispielsweise, wenn jemand sich zur Arbeit verspätete oder blau machte), konnten in ihrer Ausrichtung auch als politische Paragraphen eingesetzt werden. Somit ließe sich die Opferstatistik der Vorkriegszeit um mindestens einige Hunderttausend erweitern.

    6. 6. Warum wird oft gesagt, dass die Dimensionen des Terrors übertrieben dargestellt werden?

      Behauptungen, die Dimensionen des Terrors der Jahre 1937 und 1938 seien „übertrieben“, entspringen in der Regel zwei Vorstellungen: Angezweifelt wird die angeblich „gefälschte“ Statistik – obwohl eine große Zahl der regionalen Verhaftungspläne und Stalinschen Erschießungslisten heute bereits veröffentlicht und in vielen Regionen Nekrologe, Gedenkbücher für die Opfer erschienen sind, die sich auf Archivunterlagen stützen. Daneben – und sogar noch häufiger – wird in Zweifel gezogen, dass es einen „politischen“ Gehalt der Beschuldigungen gegeben hat: Viele meinten, wenn jemand verhaftet wurde, dann wird da auch etwas gewesen sein.

    7. 7. Die wird man ja nicht einfach so verhaftet haben?! Da wird jemand schon schuldig gewesen sein!

      Hauptmerkmal des sowjetischen politischen Terrors der 1930er Jahre war seine grundlegende Irrationalität und Unberechenbarkeit. Hierin unterscheidet er sich beispielsweise vom Terror der Nationalsozialisten, dem er oft vergleichend gegenübergestellt wird. 

      Es stimmt zwar, dass die Zugehörigkeit zu einer der „falschen“ Bevölkerungskategorien für die Betroffenen Gefahr bedeutete, andererseits wurden auch Hausmeister und Lokführer verhaftet, wie auch Hausfrauen, Sportler und Künstler – kurzum: Es konnte jeden treffen. 

      Nur ein ganz kleiner Anteil der Verhafteten war tatsächlich an nicht genehmen Aktivitäten beteiligt (ob nun jede Handlung, die von der Politik der Partei abwich, ein Verbrechen darstellt, ist noch eine ganz andere Frage). Alle Übrigen zählten zur Mehrheit der gewöhnlichen, gesetzestreuen Bürger. 

      Da die Ermittlungen zu den Verfahren mit Hilfe von Folter geführt wurden (mit physischer Gewalt, Drohungen gegen Familienangehörige, Schlafentzug in Form von allnächtlichen Verhören und Schlafverbot am Tage), lag der Anteil der „Geständigen“ bei nahezu hundert Prozent. Die Geständnisse dienten als äußerst wichtiges Argument für eine Schuld der Betroffenen, genauso wie die Aussagen von bereits verhafteten oder erschossenen Bekannten und Kollegen.

    8. 8. Stimmt es, dass die Säuberungen in erster Linie die Parteiführung selbst trafen?

      Von den 1,7 Millionen Opfern politischer Repressionen standen lediglich rund 100.000 auf die eine oder andere Weise in einer Beziehung zur Partei der Bolschewiki. Dabei handelte es sich entweder um Mitglieder des Komsomol oder gewöhnliche Parteimitglieder, oder aber – in geringer Zahl – um leitende Parteikader. 

      Zweifellos bestand eines der Ziele Stalins in der Vernichtung der alten Bolschewiki und Revolutionäre, doch in Wirklichkeit waren viele von ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits in zweit- und drittrangige Rollen abgeschoben worden und stellten in der Partei keine wirkliche Opposition dar. 

      Die Vorstellung vom Großen Terror als Terror gegen die Partei ist in der Ära Chruschtschow entstanden, als man bemüht war, die „treuen Gefolgsleute Lenins“ als Hauptopfer der Stalinschen Verbrechen zu deklarieren, während nebenbei die Dimensionen der Repressionen heruntergespielt wurden.

    9. 9. Warum wird Stalin die Schuld an den Repressionen gegeben, wo sich doch die Bürger selbst gegenseitig denunziert haben?

      Ein weiterer, sehr verbreiteter Mythos über die Repressionen sind die „drei Millionen Denunziationen“ (bisweilen werden zwei genannt, manchmal vier). Dass verbreitet schriftlich denunziert wurde, war Teil der allgemeinen politischen Hysterie. Es steht außer Zweifel, dass das bei den Massenverhaftungen eine Rolle gespielt hat, doch sind sehr viel mehr Menschen schlicht und einfach nach Listen verhaftet worden, nach im Voraus abgesegneten Plänen, in denen alle „unzuverlässigen“ Bürger der verschiedenen Ebenen aufgeführt wurden. 

      Zudem sind viele Anzeigen unter riesigem psychischem Druck geschrieben worden: Bereits in der Ermittlungsphase schwärzten die Betroffenen ihre Angehörigen an. Sehr oft standen sie vor der Wahl zwischen der (oft illusorischen) Aussicht zu überleben und dem Zwang, eine Aussage gegen jemand anderen zu unterschreiben. 

      Die Denunziationen sind Teil einer weiteren, sehr wichtigen Frage, nämlich der nach der bürgerlichen Verantwortung der Gesellschaft für den staatlichen Terror. Die Erkenntnis, dass viele an der Ausübung des Terrors beteiligt waren, ist sehr wichtig. Allerdings können die Repressionen auch nicht als reine „Initiative von unten“ betrachtet werden.

    10. 10. Hat Stalin persönlich die Befehle zur Hinrichtung gegeben oder doch nicht?

      Selbstverständlich. Von den 383 Listen, die zur persönlichen Gegenzeichnung durch Mitglieder des Politbüros verfasst wurden – den sogenannten Stalinschen Erschießungslisten – hat Stalin 357 persönlich unterschrieben. Die Gesamtzahl der nach diesem Listenverfahren Verurteilten beträgt rund 44.500. Die ganz überwiegende Mehrheit von ihnen wurde erschossen. 

      Darüber hinaus ist die gesamte Architektur des Terrors höchstpersönlich von Stalin und dessen Umgebung entworfen worden. Umgesetzt wurden die Repressionen unter Stalins unmittelbarer Kontrolle: Ihm wurde über den Stand der Verhaftungskampagnen Bericht erstattet, er ergänzte die Listen um einzelne Personen, und er las die Verhörprotokolle.

    11. 11. Wie war das System der Registrierung der Verhaftungen und Erschießungen aufgebaut?

      Im Unterschied zu vielen der früheren Repressionskampagnen wie denen des Roten Terrors und der Entkulakisierung sind die umfangreichen Operationen des Großen Terrors recht gut dokumentiert. Neben den erwähnten Stalinschen Erschießungslisten sind viele Schlüsseltexte erhalten geblieben, die vor Ort verfasst wurden und in denen gebeten wurde, jene Verhaftungspläne zu präzisieren oder auszuweiten, die aus der Hauptstadt eingegangen waren. 
       
      Die Zahl der Verhaftungen war festgelegt, über die Anzahl der Verhaftungen wurde Bericht erstattet; die Ermittler lieferten sich untereinander einen sozialistischen Wettbewerb über erledigte Verfahren. Und die archivierten Ermittlungsakten der 1937 und 1938 Verhafteten sind mit dem Vermerk „Aufbewahren für alle Zeit“ versehen: Jeder, der es will, kann hingehen und detailliert den Gang der meisten Verfahren gegen die verhafteten (und rehabilitierten) Opfer des Großen Terrors nachlesen.

    12. 12. Kam es denn vor, dass sich bei jemandem, der verhaftet wurde, dann herausstellte, dass man sich geirrt hatte, und er dann freigelassen wurde?

      Geschichten über wundersame Freilassungen und Rettungen bereits verhafteter Menschen stammen in der Regel aus den 1920er Jahren und der ersten Hälfte der 1930er Jahre. 1937/38 waren im Verlauf der Ermittlungen keine Freisprüche vorgesehen: Der Beschuldigte hatte weder das Recht auf einen Anwalt, noch auf eine Revision seines Falles (sehr häufig wurden die Urteile noch am Tag der Verkündung vollstreckt; gefällt wurden sie von Gerichten oder außergerichtlichen Troikas [Dreierkollegien]).
       
      Ein Teil der Personen, die unter Jeschow verhaftet wurden, ist 1939 wieder freigekommen; das wird bisweilen als Berija-Amnestie bezeichnet. Denjenigen, die aus welchen Gründen auch immer das Glück hatten, vor dem November 1938 ihr Urteil noch nicht erhalten zu haben, gelang es manchmal, eine Revision zu erreichen. Besonders dann, wenn beim Verfahren der Ermittler gewechselt hatte oder es formal noch nicht zu Ende geführt worden war. 
      Allerdings wurden viele dieser Hunderttausenden später wieder verhaftet, während des Krieges oder 1947/48, kurz nach Kriegsende.

    13. 13. Wie viele Menschen wurden wegen ihrer Beteiligung an den Erschießungen bestraft? Gab es überhaupt ein Sanktionierungssystem für Tschekisten?

      Den Statistiken zufolge, die uns vorliegen, sind in dem Jahr nach der Absetzung Jeschows mit ihm rund 1000 Mitarbeiter des NKWD verhaftet worden. Wie auch in den grausamsten Momenten der Kollektivierung wurde der Terror auf Fälle „lokaler Exzesse“ zurückgeführt. Beschuldigt wurden die konkreten Täter. 
      Gleichwohl sind längst nicht alle Tschekisten bestraft oder von ihren Posten entfernt worden. Viele der unmittelbaren Täter des Großen Terrors arbeiteten während des Krieges weiter, erhielten militärische Auszeichnungen für „politische Arbeit in der Armee“ und kehrten als Helden aus dem Krieg zurück.

    14. 14. „Natürlich tut es einem um die Menschen leid, aber dafür ist der Gulag effektiv gewesen“ – stimmt das?

      Wir haben es hier mit einem gigantischen und sehr komplexen, vielschichtigen System zu tun, das nicht erst 1937 entstand, sondern erheblich früher, Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre. Der Gulag bestand nicht nur aus politischen Häftlingen, es gab dort auch gewöhnliche Strafgefangene, und darüber hinaus die Wachen und die Lagerleitungen. 

      Auch in den Lagern war die Zeit des Großen Terrors mit massenhaften Erschießungen und sehr schweren Überlebensbedingungen verbunden (an einigen Orten ist es nur während des Krieges noch schlimmer gewesen, als es nämlich überhaupt nichts zu essen gab). 

      Man könnte jetzt natürlich versuchen herauszufinden, wann genau mehr gebaut wurde, was hätte gebaut werden müssen und was sinnlos gewesen ist … Gleichwohl bleibt die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Gulag eine ethische: Welcher Koeffizient von eingesetzter Sklavenarbeit und welche Zahl an Toten wäre für uns „effizient“ im Verhältnis zu der Menge an gebauten Fabriken und Städten? 

      Darüber hinaus ist die Wirtschaft des Gulag von der modernen Forschung analysiert worden und steht dabei in keiner Weise als „erfolgreich“ da. Es kommt extrem selten vor, dass Zwangsarbeit effizienter ist als freie Arbeit.


    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autor: Sergej Bondarenko
    Übersetzer: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 30.10.2018

    Dieses Bystro wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • „Wir haben einen hybriden Krieg“

    „Wir haben einen hybriden Krieg“

    Dimitri Trenin leitet das Moskauer Zentrum des US-amerikanischen Carnegie Endowment for International Peace, das als einer der einflussreichsten Thinktanks der Welt gilt. Dabei teilt Trenin nicht alle klassischen Positionen des liberalen Diskurses in Russland. 

    Im Interview mit der Novaya Gazeta spricht der renommierte Politologe sehr kritisch über die russischen Beziehungen zum Westen im Allgemeinen und zu den USA im Besonderen. Und darüber, was das alles noch mit dem Kalten Krieg zu tun hat.

    Andrej Lipski: Die Beziehungen zu den USA sind immer die reinste Achterbahnfahrt: Mal geht es hoch in die Luft, mal steil bergab. Wenn wir die derzeitige Krise vergleichen wollen, stellt sich die Frage, wodurch sie sich von anderen Einbrüchen in den Beziehungen unterscheidet, insbesondere von dem während der Blockkonfrontation, im Kalten Krieg.

    Dimitri Trenin: Erstens denke ich nicht, dass das eine Krise ist. Meiner Ansicht nach war die Krise ungefähr Anfang 2015 vorbei. Eine Krise ist ja ein zeitlich recht begrenzter Zustand, ein Bruch, ein Übergang von einem Zustand in einen anderen.

    Bis 2014 gab es einen Zustand, bei dem die Zusammenarbeit mit dem Westen überwog. Sie verschlechterte sich, war nicht besonders eng, aber es gab sie immerhin.

    Seit 2014 – und bis 2015 hatte sich das endgültig verfestigt – gibt es überwiegend Rivalität und Feindschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika, bei einer gleichzeitigen Entfremdung von Europa.

    Ich bezeichne den jetzigen Zustand als „hybriden Krieg“. Ende Februar 2014, als ich die Folgen der russischen Operation auf der Krim im Gefolge der Ereignisse in Kiew, nach dem Maidan und dem Machtwechsel einzuordnen versuchte, da hatte ich den Begriff „neuer Kalter Krieg“ verwendet. Den habe ich aber bald fallengelassen und stattdessen von einem hybriden Krieg gesprochen, einfach, um diesen weit verbreiteten Terminus zu verwenden. Gleichzeitig macht er deutlich, dass es sich um eine Konfrontation handelt, die zwar auf dem gleichen Niveau und für Russland mit der gleichen Relevanz wie der Kalte Krieg besteht (das Wort „Krieg“ ist präsent, auch wenn mich viele deswegen kritisiert haben), aber dennoch eine andere ist.

    Erst hatte ich den Begriff neuer Kalter Krieg verwendet. Jetzt spreche ich von einem hybriden Krieg

    Wenn wir jetzt von einem „neuen Kalten Krieg“ sprächen, würden wir gewissermaßen eine Wiederholung dessen erwarten, was sich in den 1940er bis in die 1980er Jahre abspielte. Die Welt hat sich jedoch geändert, und es wird keine Wiederholung geben; wir würden dadurch unsere Orientierung verlieren. Und würden jene neuen Dinge außer Acht lassen, die geschehen und geschehen werden und die es in den Zeiten des Kalten Krieges nicht gegeben hat. Das würde uns auf der intellektuellen Ebene entwaffnen.

    Und worin unterscheidet sich die derzeitige Konfrontation vom Kalten Krieg?

    In vielem. Erstens ist es kein systembildendes Phänomen. Ein solches ist der Kalte Krieg aber für das gesamte System der internationalen Beziehungen gewesen. Der derzeitige amerikanisch-russische hybride Krieg ist von großer Bedeutung, ist aber nicht zentral für die internationalen Beziehungen als Ganzes. Und zweitens handelt es sich um einen höchst asymmetrischen Krieg. Die UdSSR war den USA militärisch, politisch und ideologisch und sogar zum Teil ökonomisch gewissermaßen ebenbürtig. Heute aber hinkt Russland den Vereinigten Staaten bei den meisten Parametern nationaler Stärke hinterher.

    Der Kalte Krieg war etwas Statisches. Die Welt war geteilt. Es existierte ein Eiserner Vorhang, es gab die Berliner Mauer … Der derzeitige hybride Krieg wird unter den Bedingungen der Globalisierung geführt, und er läuft am aktivsten in Sphären, die allen zugänglich sind. 

    Der Krieg damals war zweidimensional – jetzt befinden wir uns in 3D

    Angefangen bei der Wirtschaft, wo die Sanktionen wirken, über die Medien, wo ein harter Informationskrieg geführt wird, bis hin zum Cyberbereich … Und so weiter und so fort. 
    Wenn der Krieg damals zweidimensional war, so befinden wir uns jetzt in 3D. Es gibt keine Frontlinie, keine klare Abgrenzung zwischen dem eigenen Territorium und dem des Gegners. Es gibt noch eine Reihe weiterer Besonderheiten. Das Militärische ist präsent, aber nicht dominierend. Es gibt einen Rüstungswettlauf, der steht aber nicht im Zentrum. Und ich sage es noch einmal:

    Russland hat in diesem Krieg keinen einzigen Verbündeten, nicht einmal unter seinen engsten Partnern. Niemand hat sich Russland angeschlossen. Und es wird sich auch niemand anschließen, solange Russland auf der Gegenseite nicht nur mit den Vereinigten Staaten Probleme hat, mit denen es sich in einer direkten Konfrontation befindet, sondern auch mit den Ländern Europas, die meiner Ansicht nach im Großen und Ganzen nicht in Konfrontation zu Russland stehen.

    Während des klassischen Kalten Krieges und insbesondere während der Kubakrise hat die Angst vor einer Atomkatastrophe von einem Krieg abgehalten. Danach verflüchtigte sich diese Angst allmählich. Perestroika, Reykjavík, das „neue Denken“, der Zusammenbruch des Kommunismus, der Zerfall der UdSSR, des Warschauer Paktes, das Ende der Konfrontation, des Kalten Krieges. Man konnte sich entspannen und die Rüstungsausgaben senken. 


    Die Gesellschaft zitterte nicht mehr vor Angst und glaubte nicht mehr an die Bedrohung durch einen langjährigen potenziellen Feind. Besteht nicht genau darin paradoxerweise die neue Gefahr, wenn sich die Konfrontation wiederum verschärft?

    Natürlich war der Kalte Krieg sehr viel gefährlicher für die menschliche Existenz als die Zeit jetzt. Seinerzeit gab es nicht nur ein Gefühl von Gefahr, sondern echte Gefahr. Ein massiver Atomschlag galt als durchaus real. Und wie wir wissen, gab es im Laufe des Kalten Krieges einige Fälle, bei denen der Finger über dem roten Knopf schwebte, weil die Geräte zeigten, dass es losgeht, oder weil sie irgendwas zeigten, was als massiver Raketenschlag gewertet werden konnte.

    Aber ich stimme in der Tat zu, dass die fehlende Angst vor einem realen Atomschlag die Illusion entstehen lässt, man könne militärische Gewalt einsetzen und gleichzeitig eine Eskalation im Sinne einer atomaren Auseinandersetzung ausschließen. 

    "Für die Amerikaner spielt die Außenpolitik im Prinzip eine zweitrangige Rolle." – Putin und Trump beim G20-Gipfel in Hamburg © kremlin.ru
    „Für die Amerikaner spielt die Außenpolitik im Prinzip eine zweitrangige Rolle.“ – Putin und Trump beim G20-Gipfel in Hamburg © kremlin.ru

    Meiner Ansicht nach standen wir 2016 in Syrien ziemlich dicht vor der Aussicht auf einen russisch-amerikanischen Krieg, als Hillary Clinton und ihre Berater im Wahlkampf verkündeten, sie werde, falls sie Präsidentin werde, über Syrien eine Flugverbotszone ausrufen. Was eine Flugverbotszone bedeutet, haben wir nach Libyen sehr wohl verstanden. Dann hätte die russische Führung – die zu diesem Zeitpunkt in Syrien schon über Streitkräfte verfügte, einschließlich einer Luftwaffenkomponente – vor der Wahl gestanden, sich entweder aus Syrien zurückzuziehen und die Amerikaner dort nicht zu stören oder die Flugverbotszone zu verletzen und mit den Amerikanern in bewaffneten Kontakt zu geraten. Wenn ich das richtig verstehe, waren Hillary Clinton und die Leute an ihrer Seite durchaus entschlossen. Und wenn die Vorschläge von Frau Clinton umgesetzt worden wären, hätten sie den Weg zum ersten russisch-amerikanischen Krieg geebnet.

    Es ist eine Illusion, dass eine atomare Eskalation ausgeschlossen ist

    Es gibt noch andere Bereiche, in denen wir mit den Amerikanern aneinandergeraten könnten: Ich meine heftige Cyberattacken. Nicht das, was wir bisher gesehen haben, sondern beispielsweise, eine ganze Stadt, die lahmgelegt wird, oder ein großes Kraftwerk wird abgeschaltet, oder sonst was, was als feindseliger Akt eines anderen Staates gewertet werden könnte. Es kann zu Zwischenfällen mit Flugzeugen oder Kriegsschiffen kommen, vielleicht über dem Baltikum, vielleicht über dem Schwarzen Meer, wo es ja schon vorkam, dass man dicht aufeinander zuflog oder -navigierte. Die Möglichkeit von Zusammenstößen besteht also, und sie muss ernstgenommen werden.

    Es gibt recht viele unterschiedliche Erklärungen für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und den Staaten. Viele von ihnen sind oberflächlich, nicht überzeugend, einige sogar lächerlich. Wahrscheinlich gibt es wohl fundamentale Gründe für die Widersprüche zwischen unseren Ländern. Versuchen wir also, auf den Grund vorzustoßen, wie die Archäologen sagen.

    Beschreiben würde ich das so: Nach jedem großen Konflikt, in jedem Krieg – und der Kalte Krieg war ein großer Konflikt und einem Krieg gleichzusetzen – gibt es Sieger und Besiegte. Wenn wir den Kalten Krieg aus geopolitischer Perspektive betrachten, so haben die Vereinigten Staaten und deren Verbündete gesiegt, und die Sowjetunion oder Russland, das seinerzeit Sowjetunion hieß, hat ihn verloren. Außerdem hat Russland eine sehr schmerzhafte Transformation durchgemacht, nachdem es den Kommunismus abgeschüttelt hatte. 

    Nach jedem Krieg gibt es zwei grundlegende Optionen. Entweder organisiert die siegreiche Seite auf den Ruinen des Krieges den Frieden auf eine Weise, dass die unterlegene Seite zu akzeptablen Bedingungen in ein neues System eingebunden wird. Das ist die eine Option.

    Der Westen hat die Interessen Russlands nicht berücksichtigt

    Die andere besteht darin, das besiegte Land außerhalb des [neuen] Systems zu belassen und es zu zwingen, den bitteren Kelch des Unterlegenen zu leeren, wie es beispielsweise Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg erging.

    Ich will nicht sagen, dass der Westen Russland nach dem Ende des Kalten Krieges gezwungen hätte, diesen bitteren Kelch zu leeren. Aber Russland musste die Folgen seiner geopolitischen Niederlage anerkennen. Und den Umstand, dass die Welt im Großen und Ganzen nicht unbedingt unter Berücksichtigung von Russlands Meinung eingerichtet wird, dass Russland nicht zu den Bedingungen in das neue Sicherheitssystem in Europa einbezogen wird, die es für sich als akzeptabel erachtet. Der Westen hat die Interessen Russlands nicht berücksichtigt.

    Nehmen wir einmal an, die Vereinigten Staaten hätten Russland in die NATO aufgenommen, wie das Jelzin wollte und wie Putin es anfänglich versuchte. Was wäre geschehen? Herausgekommen wäre eine ziemlich fragmentierte euroatlantische Welt, in der den USA vorgeschlagen worden wäre, auf einem Spielbrett mit den führenden EU-Staaten zu agieren – und diese drei führenden Staaten wiederum hätten ein Triumvirat Berlin – Paris – Moskau bilden können gegen oder sagen wir neben dem Bund Washington – London.

    Dimitri Trenin / © Svetlana TB/CC BY-SA 4.0
    Dimitri Trenin / © Svetlana TB/CC BY-SA 4.0

    Russland hätte, so denke ich, seine Lage ein paar Jahre lang genossen, es hätte angenommen, dass es das zweitmächtigste und zweiteinflussreichste Land der NATO ist, so eine Art „Vizepräsident der euroatlantischen Allianz“. Doch recht bald schon hätte Russland größere Ansprüche erhoben – auf einen gemeinsamen Vorsitz. Und Russland hätte dann Koalitionen gesucht, um seine Positionen zu stärken, vor allem mit Ländern wie Deutschland oder Frankreich. 
    Die Frage ist nun: Was wäre von der NATO unter solchen Bedingungen geblieben? Und wo wäre die amerikanische Führung geblieben, die amerikanische Vorherrschaft, und was hätten die Vereinigten Staaten durch eine Aufnahme Russlands in die NATO gewonnen?

    Ausgehend vom Primat der Eigeninteressen der USA, vom Primat ihres nationalen Egoismus, können wir zu dem Schluss gelangen, dass die amerikanische Weigerung, Russland in die NATO aufzunehmen, kein Ergebnis strategischer Kurzsichtigkeit war, sondern das einer recht nüchternen Kalkulation der Folgen.

    Und Putin hat das ernsthaft vorgeschlagen?

    Ich denke, ja. Der Putin der frühen 2000er Jahre wollte ein Bündnis mit dem Westen, da habe ich keine Zweifel. Nur hat Putin in den fast zwei Jahrzehnten, die er an der Macht ist, eine ganz beträchtliche Evolution vollzogen, unter anderem im Bereich der Außenpolitik.

    Um es also zusammenzufassen: Der jetzige Konflikt zwischen Russland und Amerika ist eine Folge dessen, dass nach dem vorangegangenen Konflikt keine Regelung gefunden wurde, die sowohl die unterlegene als auch die Siegerseite zufriedengestellt hätte. Wenn die Verliererseite, wie die Geschichte zeigt, stark genug ist, über genug Ressourcen verfügt und – das ist die Hauptsache – den nötigen Willen und die Bereitschaft hat, sich dem Gegner zu widersetzen, dann muss man nur eine Weile warten, bis der Konflikt erneut ausbricht.

    In Russland akzeptieren die herrschende Schicht und die Gesellschaft keine Dominanz durch jemand anderen

    Was haben die Amerikaner nicht bedacht? Sie haben nicht bedacht, dass Russland eines der wenigen Länder ist, in denen die herrschende Schicht und die Gesellschaft (aus einer Reihe von Gründen, über die wir lange reden können) ganz prinzipiell keine Dominanz durch jemand anderen akzeptieren. Und die bereit sind, einen hohen Preis zu zahlen, um nicht zum Objekt dieser Dominanz zu werden.

    Russland wiederum hat im Grunde den Platz, der ihm in der Welt nach dem Kalten Krieg angeboten wurde, aus einem ganz bestimmten Grund ausgeschlagen.

    Die Eintrittskarte in das System schien recht günstig – es musste lediglich die Führung der Vereinigten Staaten von Amerika ernsthaft anerkannt werden: Wenn ihr die anerkennt, dann werdet ihr ins Zimmer gelassen und dann, nun ja, da ist dann vieles möglich, aber ihr seid ein Teil unserer Welt.

    Und in dieser Welt befanden und befinden sich jetzt die unterschiedlichsten Länder, die längst nicht alle Demokratien sind, die längst nicht alle in sämtlicher Hinsicht sauber sind. Doch sie alle aber befinden sich dort, weil sie das Primat der amerikanischen Führung anerkennen.

    Russland hat versucht, auf irgendeine Art durch diese Tür zu kommen; einige russische Führungskräfte haben das erklärt und sind wohl persönlich bereit gewesen, etwas zu unternehmen, doch wurden sie von der Gesellschaft und der Elite zurückgezogen. 

    Und Russland weigerte sich, eine amerikanische Führung anzuerkennen. Als das klar wurde, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann und unter welchen Bedingungen Russland mit den Vereinigten Staaten zusammenstoßen würde. Weil die USA prinzipiell und niemals eine Gleichstellung mit einem anderen Land akzeptieren, nicht einmal mit China, wenn Amerika im nach Dollar bemessenem Bruttoinlandsprodukt von ihm überholt werden sollte.

    Unsere Propaganda wie auch Politiker sagen gern, dass die zunehmende Verschlechterung der Beziehungen zu den USA unter Trump eine Folge der internen Widersprüche in der amerikanischen Elite sei. Und Trump – obwohl er bereit ist, sich mit uns zu arrangieren – sei genötigt, Härte zu zeigen, um die demokratischen Opponenten in Schach zu halten und den Verdacht eines Komplotts mit den Russen loszuwerden.
    Wie stark wirkt dieser Faktor auf die Krise in unseren Beziehungen zu den USA?

    In den USA ist die Innenpolitik das Allerwichtigste. Für die Amerikaner spielt die Außenpolitik im Prinzip eine zweitrangige Rolle, da sie ausschließlich den internen Interessen Amerikas untergeordnet ist. Russland als solches gibt es für Amerikaner im Großen und Ganzen nicht. 

    Die Sanktionen zeigen, dass Russland für die Vereinigten Staaten keinen Wert darstellt

    Die Sanktionen belegen, dass Russland für die Vereinigten Staaten keinen Wert darstellt, deshalb werden alle Sanktionen so leicht akzeptiert. Wenn Russland einen Wert darstellen würde, wäre die Situation eine andere.

    Und weil es für Trumps Gegner nichts Wichtigeres gibt, als ihn zu Fall zu bringen, wird Russland als Knüppel eingesetzt, solange Trump an der Macht ist. Wenn Trump geht, dann können wir uns ausmalen, sollte es einen demokratischen Präsidenten geben, dass dieser zumindest anfänglich eine sehr harte Position gegenüber Russland einnehmen wird. 

    Bislang heißt es, dass Trump den Russen gegenüber zu milde sei, dass er, selbst wenn er all die Sanktionsgesetze und -erlasse unterzeichnet hat, in Wirklichkeit eine gewisse Warmherzigkeit gegenüber Russland empfinde. Und dass er sogar von Putin abhängig sei. Meiner Ansicht nach ist das völliger Schwachsinn, doch der findet bei jenen, die daran glauben, ein sehr großes Publikum. Deshalb denke ich, dass der Beginn der nächsten Präsidentschaft ebenfalls sehr schwer würde für die Beziehungen.

    Und es gibt noch einen Faktor. Keiner der in der amerikanischen Innenpolitik profilierten führenden Politiker wird sich in der Kommunikation mit Putin sonderlich frei fühlen. Solange Putin an der Macht ist, wird es ganz erhebliche Vorbehalte auf amerikanischer Seite geben.

    Ist Putin für die Amerikaner toxisch?

    Genau. Sie fürchten ihn, und gleichzeitig hassen ihn viele. Die Dämonisierung Putins in den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit macht jeden, der sich ihm zu sehr nähert, bereits zu einem potenziellen Verdächtigen.

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  • Bumm Bumm Bumm

    Bumm Bumm Bumm

    Heute beginnt das russische Militärmanöver Wostok 2018 (dt. „Osten 2018“) in Russlands Fernem Osten. Das russischen Verteidigungsministerium gibt an, dass allein 300.000 Soldaten daran beteiligt sein sollen. Damit wäre das Manöver größer als alle NATO-Übungen der letzten Jahrzehnte. 

    Militärexperte Alexander Golz jedoch traut diesen Zahlen nicht. Bemerkenswert an der Übung ist für ihn in seinem Kommentar auf The New Times dagegen etwas ganz anderes: Erstmals ist auch China beteiligt.

    Für die russischen Chefs gehört es zum guten Ton, den Rest der Welt ab und zu mit militärischer Stärke zu schrecken. Wir erinnern uns, dass der Präsident im März viel von phantastischen Atomraketen sprach, die durch die amerikanischen Raketenabwehrsysteme dringen wie ein Messer durch die Butter. Seine Worte wurden in animierten Videoclips bekräftigt, in denen unsere atomaren Sprengköpfe gen Florida flogen. 
    Nun hat Verteidigungsminister Sergej Schoigu das Manöver Wostok 2018 angekündigt, das im asiatischen Teil Russlands stattfinden soll. 

    Angeblich 300.000 Militärangehörige beteiligt 

    Dem Minister zufolge werden daran rund 300.000 Militärangehörige und über 36.000 Fahrzeuge und Waffensysteme aller Art beteiligt sein. Er erklärte, es seien die größten Kriegsspiele in der postsowjetischen Ära, und verglich Wostok 2018 mit dem berühmten Manöver Sapad-81 in der ausgehenden Breshnew-Zeit, wobei er hervorhob, dass das nun anstehende Manöver in gewisser Hinsicht sogar jene der Sowjetunion übertreffen würde.

    Wenn das alles ernst gemeint ist, dann haben jene, die Wladimir Putin mit zusammengebissenen Zähnen als seine „Partner“ bezeichnet, wirklich Grund zur Sorge. Eine führende Atommacht hält Manöver ab, die in ihrer Dimension mit den Kriegsspielen vergleichbar sind, die es auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gegeben hat. Immerhin setzte die UdSSR, die seinerzeit über eine Truppenstärke von fünf Millionen verfügte, bei dem Manöver Sapad-81 nur 100.000 bis 120.000 Mann ein. 1981 war diese riesige Anzahl der beteiligten Soldaten durchaus erklärlich: Man bereitete sich auf einen globalen Vernichtungskrieg unter (wenn auch begrenztem) Einsatz von Atomwaffen vor. Heute jedoch, wo die Wahrscheinlichkeit eines Kampfeinsatzes von Millionen Soldaten nahe Null liegt, hält niemand Manöver von solcher Größe ab.

    Dimension wie auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges

    Außerdem fand Sapad-81 in einem klaren politischen Kontext statt: In Polen begann damals die Konfrontation zwischen der Solidarność-Bewegung und dem kommunistischen Regime. Es war kein Zufall, dass zu den Szenarien des Manövers damals zwei Luftlandeoperationen gehörten, eine unmittelbar in Polen, die andere in Belarus. Und es ist auch kein Zufall, dass es drei Monate später in der Volksrepublik Polen praktisch einen Militärputsch gab: Der unlängst ans Ruder gekommene General Jaruzelski befahl nicht nur die Internierung der Anführer des Widerstands, sondern rief darüber hinaus das Kriegsrecht aus – unter anderem, um eine sowjetische Intervention zu vermeiden. 

    Im Vorfeld Flottenübungen im Mittelmeer

    Heute jedoch sind im Osten keine plötzlichen Krisen zu beobachten. Und die russisch-amerikanische Konfrontation verschärft sich auf einem ganz anderen Teil des Planeten. 

    Im Vorfeld von Wostok 2018 haben im Mittelmeer russische Flottenübungen bislang ungekannten Ausmaßes begonnen, an denen über 20 Kriegsschiffe beteiligt sind. Das sind praktisch sämtliche Schiffe der russischen Flotte, die es bis nach Syrien schaffen können. Der militärische und politische Sinn des Seemanövers liegt auf der Hand: Die russischen Schiffe, die mit Lenkraketen großer Reichweite vom Typ Kalibr ausgerüstet sind, sollen die Unterstützung für die Streitkräfte von Assad absichern, die in den kommenden Tagen die Provinz Idlib unter ihre Kontrolle bringen wollen. Der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, John Bolton, hat Nikolaj Patruschew, den Sekretär des russischen Sicherheitsrates, bereits gewarnt: Falls Assad erneut Giftstoffe einsetzt, werde Washington angreifen. 
    An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass der Einsatz von Chlorgas in letzter Zeit zu einer Art Visitenkarte der Angriffsoperationen syrischer Regierungstruppen geworden ist. Die Präsenz von 26 Kriegsschiffen soll Washington davon abhalten, sich erneut – wie im April dieses Jahres – für eine Antwort mit Tomahawks zu entscheiden, wenn Assad Giftstoffe einsetzt.

    3.000  chinesische Soldaten  und Offiziere beteiligt

    Aber irgendwie wirkt  das alles merkwürdig: Zu einem Zeitpunkt, da die Konfrontation im Mittelmeer zunimmt, plant die russische Armee im östlichen Teil des Landes Manöver von noch nie dagewesenen Ausmaßen – tausende Kilometer von den Kriegsschauplätzen im Nahen Osten entfernt. Das wäre ja noch alles nachvollziehbar, wenn es um den Wunsch ginge, die militärische Stärke Russlands China gegenüber zu demonstrieren, der einzigen militärischen Macht, die über das Potential verfügt, in den asiatischen Teil Russlands einzumarschieren. 

    Neben der Beteiligung von mongolischen Einheiten an den Manövern ist jedoch das Sensationelle an Wostok 2018, dass auch 3000 chinesische Soldaten und Offiziere teilnehmen werden. Seien wir ehrlich: Das dürfte die Entwicklung einer Verteidigung gegen eine chinesische Invasion erheblich erschweren.

    Das größte Geheimnis hinsichtlich der Manöver ist, warum überhaupt solche riesigen Manöver im Osten des Landes abgehalten werden. Glaubt man nämlich Verteidigungsminister Schoigu, wird an den Manövern ein Drittel aller Militärangehörigen des Landes teilnehmen, das ist mehr als die Truppenstärke der russischen Festlandstreitkräfte. Vermutlich ist es die Gesamttruppenstärke der Militärbezirke Ost und Zentrum, der Luftlandetruppen und der Nordmeerflotte.

    Zahlen verblüffen durch Ungereimtheiten

    36.000 Fahrzeuge und Waffensysteme – die Zahlen verblüffen durch ihre Ungereimtheiten. Nach Angaben des allseits geschätzten Nachschlagewerks The Military Balance gibt es im Militärbezirk Ost eine Panzerdivision und zehn mechanisierte Brigaden (das ergibt zusammen niemals mehr als 2000 bis 3000 Panzer, Schützenpanzer und Infanteriefahrzeuge). Im Militärbezirk Zentrum gibt es noch weniger: eine Panzerdivision und sieben Brigaden. Nehmen wir darüber hinaus einmal an, dass da auch sämtliche Automobile mit eingerechnet werden, dann kommen bestenfalls 8000 bis 10.000 hinzu. Wo kommen nun die unglaublichen 36.000 her? 
    Der Versuch, eine derartige Menge Kriegsgerät aus dem europäischen Teil Russlands zu verlegen – ich bezweifle, dass das Verteidigungsministerium überhaupt über eine derartige Menge einsatzfähiger Waffen verfügt – würde die Verkehrswege zwischen der Landesmitte und dem Osten des Landes für mehrere Wochen lahmlegen.

    Kriegsministerium kann hemmungslos lügen

    Das Rätsel um das Manöver Wostok 2018 ist leicht gelöst: Das Kriegsministerium hat ausgerechnet hier die Gelegenheit, hemmungslos auf die Pauke zu hauen und auch hemmungslos zu lügen. Der Umfang von Militärmanövern wird in Europa durch die Bestimmungen des Wiener Dokuments [über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmendek] beschränkt: auf höchstens 9000 Soldaten bei vorher anzukündigenden Manövern. Außerdem müssen ausländische Beobachter eingeladen werden. Im Osten jedoch haben unsere russischen Münchhausens mit ihren Generalsstreifen Platz zum Aufmarschieren. Sie können alle möglichen, selbst die unglaublichsten Truppenzahlen verkünden, die die militärische Stärke des Vaterlandes demonstrieren sollen – und keiner wird sie erwischen In Wirklichkeit dürften es 30.000 bis 40.000 Soldaten sein, die an den Manövern teilnehmen (und das ist schon viel). Die übrigen Einheiten werden den Befehl erhalten, zum Zielschießen auf ihre Übungsplätze auszurücken.

    Wenn nun der Verteidigungsminister dem Obersten Chef des Landes aufgeblasene Ziffern meldet, könnte man meinen: Lass ihm doch das Vergnügen. Allerdings besteht die Gefahr, dass Putin tatsächlich glaubt, er könne im Ernstfall ein 300.000-Mann-Heer gen Osten aufmarschieren lassen.

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  • „Die Tschechoslowaken waren selbst schuld“

    „Die Tschechoslowaken waren selbst schuld“

    Im August 1968 haben die Truppen des Warschauer Pakts dem sogenannten Prager Frühling, Reformbestrebungen in der Tschechoslowakei, ein jähes Ende bereitet. Wie das russische Staatsfernsehen Rossija 1 zum 50. Jahrestag am 21. August 2018 darüber berichtete, das analysiert Alexander Morosow auf The Insider.

    Zu [Prag] 1968 ist viel publiziert worden: Die Dokumente des Politbüro und des KGB, Erinnerungen, Foto- und Videosammlungen, jeder kann die Mitschriften der langen Telefonate zwischen Breshnew und Dubček nachlesen, auch sie wurden veröffentlicht. 
    Womöglich ist die Geschichte dieses Einmarsches das für die breite Leserschaft am besten dokumentierte und offen einsehbare politische Ereignis des 20. Jahrhunderts, jedenfalls auf russischer Seite. Und voilà, es kann sich nun jeder, der sich den neunminütigen Beitrag des wichtigsten russischen Fernsehsenders zum „Jubiläum“ anschaut, selbst davon überzeugen, wie einfach es ist, das Puzzle der einzelnen Episoden derart zu verschieben, dass ein völlig neues Bild entsteht.

    Die Tschechoslowaken sind selbst schuld

    Dabei kann man sehr grob vorgehen, wie das Autoren kleinerer Veröffentlichungen tun, oder dezenter, wie der Chef des Europa-Büros von Rossija. Aber das Ergebnis geht in dieselbe Richtung: Die Tschechen [Tschechoslowaken – dek] sind „selbst an allem schuld“. 
    Sei es Dubček, der die Kontrolle verloren hatte, seien es die Dissidenten, die ja auf Weisung des CIA gehandelt haben, seien es die Tschechen insgesamt, die zu große Veränderungen gefordert haben – der Reformprozess hätte langsamer eingeleitet werden müssen (dazu wird in dem Beitrag ein kurzes Interview mit der tschechischen Journalistin Procházková gebracht), sei es die Atmosphäre 1968 in Europa – auch die habe sich negativ ausgegewirkt.
    Schiebt man beim Legen dieses Puzzles bestimmte Teile weit weg, etwa den Entscheidungsprozess in Moskau, die Reformideen, die in der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei erörtert wurden, die gleiche militärische Einmischung in Budapest im Jahr 1956 und lässt – last but not least – die historische Perspektive (sprich, die Samtene Revolution des Jahres 1989) völlig außer Acht, dann ergibt sich ungefähr jenes Bild, das der Kreml und seine Medien heute präsentieren:
    Schauen Sie: eine tragische Episode in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Tschechen haben das selbst zu verantworten, wollen das aber nicht zugeben, ja mehr noch, sie „verhöhnen die Erinnerung“: Seht nur, sie haben einen Panzer der Befreier rosa angemalt! Ihr Verhältnis zur Geschichte ist ein postmodernistisches, unseres ein trauerndes, heldisches, und wir bedauern, dass das Brudervolk so auf dem Holzweg ist.

    Jeder weiß, selbst bei einer Unterhaltung in der Elektritschka wird der Gesprächspartner gerne zugeben, dass in dieser Interpretation einige historische Fakten nicht ganz korrekt dargestellt sind. Gleichzeitig wird er jedoch abwinken und sagen: „Wenn wir nicht eingegriffen hätten, dann wären Soldaten der NATO gekommen.“ Dieses Argument hat sich mittlerweile auf die Geschichte insgesamt ausgebreitet, es dient als schlussendliche Rechtfertigung jeglicher Handlungen jeglicher russischer Herrscher.

    Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken

    Hier sind vier Positionen zu differenzieren: das Bewusstsein der breiten Bevölkerung, revisionistische Historiker, die Medienmacher des Kreml, und der derzeitige Kreml selbst. 
    Für den normalen unpolitischen Menschen sind solche Beiträge eine große Versuchung. Nach der Krim ist das Leben in der Geschichte unbequem geworden. Eine militärische Intervention in das Leben eines anderen Volkes zu heroisieren, fiel der Bevölkerung sogar in der Sowjetzeit schwer – das galt für die Zeit des Finnischen-Sowjetischen Kriegs und für Afghanistan. Es musste eine Erklärung gefunden werden, die einen mit der Realität versöhnt.
    Heroismus zum Schutz der eigenen Grenzen wird nicht in Frage gestellt. Ein Truppeneinmarsch, um andere zu erobern oder Unerwünschtes zu unterdrücken, stößt hingegen auf inneren Widerstand. Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken, und erklären, dass sie nicht mit denen auf der Landkarte übereinstimmen. 
    Genau das geschieht derzeit: Die imaginierte Grenze verläuft wieder nicht so wie auf der realen Karte, und überall, wo die imaginierte Russki Mir (dt. „Russische Welt“) liegt, stößt sie mit der imaginierten NATO zusammen.

    Revisionistische Historiker konstruieren bekanntermaßen häufig jahrelang alternative Beschreibungen der Realität, einfach in dem Bestreben, dem Mainstream etwas entgegenzusetzen.
    Solange das nicht von Propagandamachern aufgegriffen wird, bleibt diese alternative Geschichte eine Randerscheinung. Jetzt aber fallen die Interessen des Kreml und der Alternativler zusammen. „Reptiloide verüben einen Anschlag auf den Code der russischen Zivilisation.“ So lautet das wichtigste Thema der aktuellen geopolitischen Forschung.

    Alternative Geschichtssschreibung

    Der Bruch des so genannten „zivilisatorischen Codes“ ist keine Metapher. Diesen Begriff verwenden sowohl Wladimir Putin als auch Patriarch Kirill. Dadurch entsteht ein stabiles Schema, in das sich jedes Ereignis einfügt, eben auch die Operation Donau: Die Tschechen und Slowaken werden schlicht zu Geiseln in der großen Schlacht zwischen den „Russen“ und den „Reptiloiden“: 1968 haben Soldaten der NATO in Tschechien die Russische Welt angegriffen, und mit ihnen haben auch Kräfte angegriffen, deren Ziel es ist, unseren „zivilisatorischen Code“ zu zerstören.

    Das Problem ist, dass im Rahmen des zweiten „Aufstands der Massen“, nämlich während des explosionsartigen Wachstums der Internetkommunikation, jeder, der Inhalte produziert – und seien sie auch noch so irrsinnig – ohne Weiteres seine eigene Sekte bilden kann. Gleichzeitig werden die klassischen Institutionen zur Wissenserzeugung geschwächt und verlieren in der Gesellschaft insgesamt an Autorität. Die Schüler werden nicht bei den Positionen der Lehrbücher verharren – sie werden leicht in Sekten hineingezogen, die alternative Interpretationen verbreiten. Und ein junger Putinscher Karrierist wird gern bereit sein, ein neues Geschichtsschema zu vertreten, in dem überall auf der Welt „undankbare Völker“ den imaginierten Umfang eines „unendlichen Russland“ säumen. 

    Der Chef des Europastudios von Rossija wie auch Russia Today verfügen heute über riesige Möglichkeiten, nach Belieben und vollkommen ungestraft die Figuren auf dem Schachbrett der Geschichte umzustellen und anstelle der Konstellation, die sich aus jahrelanger Forschungsarbeit qualifizierter Historiker ergibt, eine neue herzustellen. Können die Historiker heute – als akademische Institution – dem zweiten „Aufstand der Massen“ und der Revolution der Internetmeinungen etwas entgegensetzen?

    Was können Historiker den Internetmeinungen entgegensetzen?

    Der Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 ist in der politischen Geschichtsbetrachtung der Russen und Tschechen längst abgehakt und wird von der Samtenen Revolution von 1989 überdeckt. Bis zur Krim, die alle Sinnkonstruktionen des Innenlebens der Russischen Föderation deformiert hat, ist jedwede Revision der sowjetischen Epoche sinnlos gewesen: In postsowjetischer Zeit wurden die Beziehungen der Völker auf der Basis derjenigen Wege wiederhergestellt, die die jeweiligen Länder des ehemaligen Ostblocks und die ehemaligen Republiken der UdSSR selbstständig einschlugen. 

    Nun aber, nach der Annexion, gedenkt der Kreml in dieser [revisionistischen – dek] Weise nicht nur des Einmarsches in die Tschechoslowakei, er wird 2019 auch die Samtene Revolution in diesem Sinne interpretieren. Sie muss – wie jeder andere Protest – als „Orangismus“ und „äußere Einmischung“ verstanden werden.
    Die Hauptlinie dieses Gedankenschemas lautet: Soldaten der NATO greifen von allen Seiten an, und mit ihnen Reptiloide, die unsere Identität zerstören. Diese Linie ist unendlich. Auf ihr kann man keinen Punkt setzen. Und nicht – jedenfalls nicht allein Kraft des Verstandes – zu einem gesünderen Geschichtsverständnis zurückkehren.

    Die Angliederung der Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet

    Wenn du im Kopf erst einmal ein „Veteran“ dieses Krieges bist, wirst du ihn auch mit 80 Jahren noch führen. Die Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet: Seine Strahlung wird noch lange Zeit junge Leute zu Veteranen eines imaginierten globalen Krieges machen. 

    Sämtliche Puzzles der Geschichte werden neu angeordnet, alle realen Kontexte zerstört, alle Fragen von Schuld und Verantwortung durcheinander gebracht – und alle Völker werden dastehen als feige Verräter oder naive Dummköpfe, die den eigenen Vorteil nicht begreifen, den ihnen die brüderliche Hilfe des Kreml bringt. Das ist das Fazit des Jubiläums der Operation Donau, wenn man sich den Beitrag des staatlichen russischen Senders anschaut.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Kann Russland überhaupt Demokratie?

    Kann Russland überhaupt Demokratie?

    Brauchen die Russen eine harte Hand? Haben sie die Regierung, die sie eben verdienen und schließlich ja auch gewählt haben? Oder sind sie naiv und von der Staatsmacht verführt? Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin fragt und kommentiert auf Rosbalt.

    Dieser Artikel ist nicht für Menschen, die denken, dass an den russischen Problemen die Engländer, Amerikaner oder dеr Backstage-Bereich der Welt schuld sind, dass Obama in unsere Hauseingänge gepisst hat, und Uljukajew (aus dem Kerker) im Auftrag des CIA oder des State Department das Rentenalter anhebt. Dieser Artikel ist, genau genommen, nicht mal für die, die nach Schuldigen suchen, sondern für die, die mal richtig aufräumen und die Perspektiven unseres Landes verstehen wollen.

    Es gibt zwei uralte Bonmots zum Verhältnis von Staatsmacht und Gesellschaft. Das erste lautet: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient“, das zweite: „Nach all dem, was die Regierung dem Volk angetan hat, ist es ihre Pflicht, das Volk auch zu heiraten.“ 
    Das erste Bonmot erlegt die Schuld dem Volke auf, das nicht in der Lage ist, sich für eine anständige Regierung zu entscheiden. Das zweite setzt die Beziehung zwischen Staatsmacht und Gesellschaft einer Vergewaltigung gleich, oder zumindest einer zynischen Verführung, bei der das naive, empfängliche Volk eher zu bemitleiden denn zu verurteilen ist.

     Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient

    Aus dem Unterschied dieser analytischen Ansätze ergibt sich auch ein Unterschied im praktischen Vorgehen. Wenn das Volk unfähig ist und selbst das Regime hervorbringt, das ihm das Fell über die Ohren zieht, dann hieße das, dass es für Russland wenig Hoffnung gibt: Unsere Wirtschaft wird auf ewig stagnieren, reich werden nur diejenigen, die Zugang zum Kreml haben, während für das Volk höchstens mal das Renteneintrittsalter, mal die Steuern erhöht werden. Und ergo jeder, der so nicht leben will, sollte sich wohl besser auf und davon machen.
    Wenn es sich bei dem Problem aber um Vergewaltigung oder Verführung handelt, dann gäbe es perspektivisch Hoffnung. Schließlich könnte das Leben ohne den Vergewaltiger oder Verführer anders werden, natürlich nur, wenn das Volk nicht auf ein Abenteuer aus ist, mit dem es sich ins eigene Fleisch schneidet.

    Auf den ersten Blick scheint es, als habe das Volk genau das, was es verdient. Wir gehen zur Wahl, werfen Stimmzettel ein, unterstützen ein ums andere Mal die immer Gleichen, auch wenn das Leben dadurch keineswegs besser wird. Wir liebedienern, fallen vor unserem Herrn auf Knie, damit er uns verschone und jene bestrafe, die uns beleidigen. Wir arbeiten schlecht: sind alle hinter dem Öl her, hinter dem Gas, oder wollen unbedingt bei den Silowiki unterkommen, in den Sicherheitsapparaten, wo das Einkommen höher ist und die Arbeit weniger … Wenn das Volk mehr in jenen Bereichen arbeiten würde, wo es keine monströsen Einkommen gibt, wo wenig gezahlt wird, der Nutzen für die Gesellschaft aber groß ist … Das wäre vielleicht gut …

    Rationales Verhalten

    Stopp. Wir bauen ja nicht den Kommunismus auf, sondern entwickeln eine Marktwirtschaft. Und wir erkennen an, dass wir des Geldes wegen arbeiten, dass wir unsere Familie gut versorgen und ein gemütliches Zuhause und ein Auto haben wollen – und nicht den Traum von einer lichten Zukunft, die irgendwann anbricht … oder wohl eher nicht anbricht. In der Marktwirtschaft – in unserer, in der finnischen, in der amerikanischen – versuchen die Menschen, sich rational zu verhalten, also eben dort zu arbeiten, wo es ihnen etwas bringt.
    Eine andere Frage ist jedoch, dass es in einigen Ländern etwas bringt, ein Unternehmen aufzubauen, sich fortzubilden, Geld in langfristige Projekte zu investieren, während es in anderen besser erscheint, beim Staat unterzukommen, in der Hoffnung, wenigstens einen kleinen Teil jener Ölrente zu ergattern, von der sich vor allem diejenigen eine Scheibe abschneiden, die Verbindungen zur obersten Etage der Macht haben. Bei uns ist das zweite der Fall.

    Einfacher gesagt, verhalten sich die Menschen bei uns ungefähr so wie Menschen in anderen Marktwirtschaften auch: Sie suchen sich einen Platz, wo es gut ist, und sind bei entsprechenden Anreizen bereit, ordentlich zu schuften. Unser Staat hat allerdings ein System von Anti-Anreizen geschaffen und nötigt die Gesellschaft weniger zur Arbeit denn zur Raffgier. Und die Leute raffen, wie an ihrer Stelle und unter diesen Umständen auch Finnen oder Amerikaner raffen würden. Eine Marktwirtschaft mit guten Institutionen (Spielregeln) ist eine Methode, um reicher zu werden. Eine Marktwirtschaft mit schlechten Institutionen bedeutet den Weg in den Niedergang.

    Rational in der Wirtschaft, irrational in der Politik?

    Aber halt, könnte nun jemand sagen, der der Ansicht ist, dass das Volk bei uns dennoch nicht ganz richtig tickt. In der Wirtschaft verhalten sich diese Menschen womöglich rational, fast wie die Menschen im Westen, aber in der Politik sind sie irrational. Sie wählen Putin und demzufolge jene hässlichen Spielregeln, die er für sie geschaffen hat. Somit wäre das Volk dennoch eines solchen Präsidenten mit all seinen Deputaten, Bürokraten, Abreks und Kunaks würdig.

    Nehmen wir einmal an, das Volk würde das verdienen. Doch wenn es unsere Aufgabe ist, nicht einfach nur das Volk zu verurteilen und selbst aus Russland zu verduften, sondern auch zu verstehen, was man tun kann, dann werden wir wiederum weniger vom Volk enttäuscht sein. 
    Schließlich versucht Putin strikt, jedwede Alternative zu ihm, dem Geliebten, aus der Politik fernzuhalten, und versetzt den Wähler in eine ausweglose Lage. Wahlen geraten zu einem formalen Urnengang ohne reale Wahl – und die scheinbare Demokratie wird zu einem typischen autoritären Regime. In diesem Regime macht es keinen besonderen Unterschied, ob wir für Putin stimmen oder etwa diese Farce von Wahl boykottieren. Ein rational veranlagter Wähler denkt sich doch: Wenn mir die Wahl geboten wird zwischen einem realen Anführer, mit dem ich schon fast 20 Jahre mehr schlecht als recht lebe, und einer Truppe Clowns, von denen wer weiß was zu erwarten ist, wäre es da nicht besser, Putin zu unterstützen?

    Und die Deutschen?

    Rein moralisch erscheint mir persönlich eine solche Auswahl sehr schlecht. Aber wie bei der Abwanderung in die Sicherheitsbehörden oder in die Gaswirtschaft um des vielen Geldes wegen wirkt eine Stimmabgabe für Putin rational. Unser Wähler fürchtet das Chaos, ganz wie es auch der wohlsituierte Bürger eines westlichen Landes fürchtet. Allerdings wäre da noch der Umstand, dass der russische Durchschnittsbürger heute die Gefahren eines Lebens ohne das Patronat Putins sehr übertreibt, was angesichts der Propaganda, die sich über sein schwaches Haupt ergießt, auch nicht verwunderlich ist. In einer solchen Situation wären die Deutschen genauso durch den Wind wie Angehörige vieler anderer Nationen, die heute durchaus als zivilisiert angesehen werden.

    Die Deutschen, wie auch andere Völker hatten jene menschenverachtenden Regierungen durchaus verdient, die sie sich geschaffen hatten. Und sie verhielten sich diesen Regierungen gegenüber durchaus rational. Wobei sie mit dieser Rationalität bis zur Unmenschlichkeit gingen. So ermordeten sie beispielsweise Juden, weil diese Grausamkeit damals befördert wurde. Und als das Regime gewechselt hatte, machten sich die Deutschen umgehend an den Aufbau einer zivilisierten Gesellschaft mit Demokratie und Toleranz. Weil unter dem neuen Regime genau dies befördert wurde. 
    Aus moralischer Sicht ist die Leichtigkeit, mit der ein Volk sich einerseits dem Bösen, andererseit dem Guten hingeben kann, natürlich widerwärtig: Nicht umsonst zeigen die Deutschen bis heute Reue. Wenn wir jetzt nicht das Problem der Moral analysieren, sondern der Frage einer normalen gesellschaftlichen Entwicklung nachgehen wollen – nach dem Wechsel von einem menschenverachtenden Regime hin zu einem menschlichen – stellt sich heraus, dass so etwas durchaus möglich ist.

    Das Rationale gerät zum Konformismus

    „Also ist es so, dass jedes Volk jederzeit in der Lage ist, eine Demokratie zu errichten?“, würde jetzt lächelnd ein Skeptiker fragen, der nicht an die Möglichkeit glaubt, dass sich Russland entwickeln könnte. Natürlich nicht jedes Volk. Eine normale Entwicklung ist für gewöhnlich dann nicht möglich, wenn in der Gesellschaft irrationales Verhalten gegenüber rationalem eindeutig dominiert. Wenn man also, sagen wir mal, unbedingt Kommunismus aufbauen will, auch wenn einem der gesunde Menschenverstand sagt, dass sich das nicht umsetzen lässt. Oder wenn Gebete als Mittel zur Lösung von Problemen des Diesseits (Lohnerhöhung, bestandene Prüfungen usw.) angesehen werden. Oder wenn plötzlich freigesetzte Leidenschaft über den Verstand dominiert.

    Vor rund hundert Jahren dominierten in Russland Leidenschaften, Gebete und phantastische Träume der breiten Masse deutlich über dem rationalen Wunsch eines kleinen Teils der Gesellschaft nach dem Aufbau von Marktwirtschaft und Demokratie. Heute ist das umgekehrt. Die Massen sind höchst rational geworden. Allzu rational, wie es manchmal scheint. Das Rationale gerät zum Konformismus und zu offenem Opportunismus und Duckmäusertum. Bei Leuten mit Gewissen ruft das Abneigung hervor. Und es fallen Schlagwörter wie: „Gesocks“, „Watniki“, „Sowok“.

    Nichtsdestotrotz können die pragmatischen, rationalen und konformistisch eingestellten Russen – wie in der Vergangenheit auch andere Völker – leicht zu normalen Bürgern einer zivilisierten Welt werden, wenn das Regime aufhört, uns alle möglichen destruktiven Stimuli zu bieten.

    Normale Wahlen bringen uns dazu zu überlegen, welcher Kandidat besser ist (wie es die Menschen Anfang der 1990er Jahre taten). Eine normale Wirtschaft bringt uns dazu, Waren herzustellen, die nachgefragt werden (wie es Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre der Fall war), und nicht dazu, sich einem gaunerhaften Staat anzudienen.

    Wie aus diesem destruktiven System ein normales Russland aufzubauen wäre, ist eine gesonderte Frage, die sich in einem kurzen Artikel nicht erörtern lässt. Dass aber unser Volk bei vernünftigen Spielregeln zu einer konstruktiven Entwicklung in der Lage ist, daran habe ich persönlich keinen Zweifel.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • „Krieg bedeutet vor allem Opfer“

    „Krieg bedeutet vor allem Opfer“

    Am 22. Juni 1941 überfiel NS-Deutschland die Sowjetunion. Der Historiker Alexander Etkind spricht im Interview über die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, den sowjetischen Sieg und über die Doppelrolle Stalins. Und er sagt, warum er es heute so wichtig findet, sich daran zu erinnern, dass der Kalte Krieg nie gänzlich eskaliert ist.

    Alexander Gorbatschow: Sie haben eingehend die Erinnerung an die Stalinschen Repressionen erforscht und auch, wie der Schmerz und die Trauer um die Opfer des Gulag in der heutigen Kultur weiterleben. Die Erinnerung an den Krieg überschneidet sich gewissermaßen mit dieser anderen Erinnerung – zumindest chronologisch und im Schicksal tausender Menschen, die sowohl im Lager als auch im Krieg waren.

    Foto © Andrej Romanenko/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Foto © Andrej Romanenko/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Alexander Etkind: Dieses Phänomen ist komplizierter, als es scheint. Es ist klar, dass sich die beiden Geschichten überschnitten haben: Mitunter haben Menschen im Gulag gesessen, dann an den Fronten des Zweiten Weltkriegs gekämpft, und sind schließlich wieder ins Lager gewandert. Oder die Überschneidung fand sich innerhalb der Familie: väterlicherseits saßen sie, mütterlicherseits waren sie an der Front – und allen soll gedacht werden.

    In der Kultur und im historischen Gedächtnis stehen diese Themen jedoch getrennt, wie zwei Kontinente, die sich zudem weiter voneinander entfernen. Und das, denke ich, ist ein Problem.

    Wie ist es dazu gekommen?

    Die Gründe hierfür sind wie immer politischer Art. Die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg ist das Einzige, worauf die offizielle Historiographie zur Sowjetära weiterhin stolz ist. Dabei gibt es im Grunde nichts, worauf man stolz sein sollte. Nun, ja, der Krieg war siegreich, obwohl das nur so kam, weil der Krieg ein Weltkrieg war, und nicht nur ein Vaterländischer. Das heißt, alle Opfer, auch die sinnlosen, waren gerechtfertigt, denn am Ende stand der Sieg.

    Der Große Vaterländische Krieg ist das Einzige, worauf die offizielle Historiographie zur Sowjetära weiterhin stolz ist. Dabei gibt es nichts, worauf man stolz sein sollte

    Der Gulag, das waren nur sinnlose Opfer und keinerlei Siege, es gibt kein Mittel, hierfür eine Rechtfertigung oder Sühne zu finden. Und deshalb sind diese beiden Erinnerungsräume voneinander getrennt.

    Was meinen Sie, erfolgt das aufgrund einer zielgerichteten Tätigkeit des Staates, der diese beiden Räume gleichsam getrennt hält, oder kommen da dezentere, natürlichere gesellschaftliche Mechanismen zum Tragen?

    Ich glaube allgemein nicht an schöpferische Fähigkeiten des Staates. Der Staat ist in der Regel geistlos, dumm und verschwenderisch. Natürlich gibt es dort auch Leute, die man heute als creatives bezeichnen würde, die staatliche Förderungen erhalten und versuchen, die kreativen Kräfte der Bevölkerung irgendwie zu steuern, doch diese Gelder laufen in der Regel ins Leere oder richten Schaden an.

    Und wenn ich mir überlege, was wir jetzt beobachten können … Zum Beispiel die Ausstellung Russland – meine Geschichte. Die Ergebnisse sind mehr als jämmerlich. Deswegen glaube ich nicht an den Begriff „Geschichtspolitik“.

    Es kommt nicht auf den Staat an, sondern auf das Bemühen von Einzelpersonen mit unterschiedlichen Berufen und Bestrebungen – Historiker, Schriftsteller, Filmregisseure, Museumsmitarbeiter oder einfach Enthusiasten. Diese Menschen schaffen im Dialog miteinander, durch gemeinsame Anstrengungen, einen Sinnzusammenhang, den wir rückwirkend „historisches Gedächtnis“ nennen.

    Wir sagen, dass voneinander losgelöst zwei Typen der Erinnerung existieren. Und doch gibt es eine Figur, durch die diese beiden Typen miteinander verbunden sind, nämlich die Figur Stalins. Und es scheint mir, dass immer dann die Funken fliegen, wenn diese beiden Rollen Stalins gleichsam aufeinanderprallen: die des Oberkommandierenden und die des Organisators der Massenmorde.

    Chruschtschow hat seinerzeit den Begriff „Personenkult“ eingeführt. Zum damaligen Zeitpunkt passte der, aber es ist längst an der Zeit, ihn zu überdenken. Es geht hier nämlich um einen Staatskult.

    Es gibt Leute und ganze politische Gruppierungen, für die es wichtig ist, den Glauben an die machtvolle und lebensstiftende Rolle des Staates zu befördern. Dieser Staat manifestiert sich in der Führerfigur.

    Stalin ist die ideale Verkörperung dieses Kultes, weil er so viel Macht hatte, entschlossen und grausam war und militärische Siege errang. Und – so merkwürdig das erscheinen mag – weil er ein Fremdstämmiger war.

    In der russischen Tradition fügt sich dieser Umstand in den Kult vom Staat als einer fremden, mystischen Kraft, die von irgendwoher aus anderen Ländern kommt, für Ordnung sorgt und Siege bringt.

    Das heißt, Stalin ist nicht an sich wichtig, sondern als Schnittpunkt dieser Parameter?

    Genau, als Verkörperung der Ideale russischer Staatsgläubiger. Als oberster Führer, dem alles Gute zugeschrieben wird, der aber in keinster Weise für das Schlechte verantwortlich ist. Eine solche Figur wird natürlich auch jetzt im Massenbewusstsein konstruiert, auch wenn diese Figur kein Stalin ist.

    Der Krieg ist vor 73 Jahren zu Ende gegangen. Gleichwohl bleibt er weiterhin das zentrale Ereignis in der neueren Geschichte Russlands – sowohl für den Staat als auch, so wie es aussieht, für die Gesellschaft. Zumindest ist der Tag des Sieges von allen historischen Feiertagen eindeutig derjenige, der die Massen berührt, der am stärksten sakralisiert ist, und verbindet.

    Wissen Sie, der Feiertag in Russland, der die Menschen am stärksten verbindet, das ist Neujahr. Und warum Neujahr? Weil das kein religiöser Feiertag ist, sondern, grob gesagt, ein astronomischer, oder noch einfacher: ein recht sinnfreier. Da wird kein Geburtstag begangen, kein Todestag; das ist ein Ritual, zu dem sich die Menschen leicht vereinigen lassen.

    Auch der Tag des Sieges ist so ein Ereignis. Es ist bezeichnend, dass es ausgerechnet der Tag des Sieges ist, nicht der Tag des Kriegsbeginns, nicht der Gedenktag für die Kriegsopfer.

    Das heißt: So, wie die Rituale des Tages des Sieges gestaltet sind, ist das Trauma zwar da, doch betont wird hauptsächlich das Triumphierende. Wie korreliert das damit, dass der Krieg für die meisten seiner Teilnehmer vor allem Schmerz bedeutete?

    Krieg, das bedeutet vor allem Opfer. Um des Sieges willen werden Opfer gebracht. Ein Mensch, der im Krieg kämpft und an die Ziele des Krieges glaubt, geht davon aus, dass die Opfer einen Sinn hatten, dass sie gerechtfertigt und richtig waren. Und er feiert dann dieses Gerechtfertigtsein.

    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Krieg im Jahr 1945 / Foto © skaramanga_1972/livejournal
    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Krieg im Jahr 1945 / Foto © skaramanga_1972/livejournal

    Hätte sich in Russland auch ein anderer verbindender Feiertag ergeben können? Oder war es unausweichlich, dass gerade der Sieg zum bestimmenden, sakralen Ereignis der neueren Geschichte wird?

    Ich denke, es gibt Dinge, auf die das postsowjetische Russland stolz sein kann. So kann man zum Beispiel auf die Ereignisse von 1991 stolz sein, auf den unblutigen Zerfall eines Riesenreiches. In Russland ist oft die Ansicht zu hören, dass der Zerfall des Imperiums eine Tragödie war, ein Verbrechen, eine Katastrophe. Gut: Wenn es eine Katastrophe war, dann führt einen Gedenktag zu Ehren des verlorenen Sowjetstaates ein und gedenkt seiner feierlich. Aber das passiert nicht.

    Die Menschen empfinden keine Trauer um die verlorene Sowjetunion. Sie trauern um Verwandte und Vorfahren, die zu Sowjetzeiten ums Leben kamen, das waren viele Millionen

    Es werden Reden gehalten, Ausstellungen organisiert, doch daraus entwickelt sich kein Ritual. Und ich denke, das hat einen Grund: Die Menschen empfinden keine Trauer um die verlorene Sowjetunion. Sie trauern um Verwandte und Vorfahren, die zu Sowjetzeiten ums Leben kamen, das waren viele Millionen. Die Menschen empfinden Schuld und Befremden – darüber, wie das alles geschehen, wie es dazu kommen konnte. Warum und wozu?

    Es gibt die Geschichte zweier totalitärer Staaten, die, verwickelt in ein diplomatisches Spiel, einen Krieg begannen. Ihre irrsinnigen Staatsführer schmiedeten politische Bündnisse und kündigten sie wieder auf, wechselten innerhalb weniger Jahre mehrmals Allianzen. All das endete in einer globalen Katastrophe; letztendlich errang eine der Seiten den Sieg.

    Aber auch das Bündnis, das um des Sieges willen entstanden war, zerfiel sofort wieder, und es begann ein weiterer Krieg, Gott sei Dank ein kalter. Dessen relativ unblutiger Charakter ist wohl auch etwas, worauf man heute stolz sein kann: Trotz bergeweise rostiger Waffen ist es nicht zur Explosion gekommen, wurde nicht aus Versehen ein Krieg ausgelöst. Das erforderte riesige Anstrengungen, mitunter auch Heldentaten Einzelner.

    Stolz sollte man nicht darauf sein, dass etwas in die Luft gegangen ist und Tod gebracht hat, sondern umgekehrt auf das, was man geschafft hat zu verhindern.

    Meinen Sie, dass es Mechanismen gibt, die es ermöglichen, etwas kollektiv zu erfahren und zu erleben, was gar nicht gewesen ist?

    Gute Frage. Natürlich ist das schwer: Wie ließe sich dazu eine Ausstellung machen oder eine Parade abhalten? Die Leistungen der namenlosen Offiziere oder Beamten, die die Katastrophe abwendeten, bleiben vergessen. Wir kennen in der Regel nicht einmal ihre Namen. Oder wir erfahren nur aus purem Zufall von jemandem, der sich entschied, eine Rakete mit Atombomben nicht loszuschicken, obwohl er etwas dabei riskierte.

    Stolz sollte man nicht darauf sein, dass etwas in die Luft gegangen ist und Tod gebracht hat, sondern umgekehrt auf das, was man geschafft hat zu verhindern

    Man sagt, so sei die Erinnerung strukturiert. Aber wessen Erinnerung ist es, die so strukturiert ist? Ich denke, es ist die Erinnerung des Staates, die so funktioniert, dass sie den Menschen ihren eigenen, staatlichen Hierarchien folgend einen Platz zuweist, ihnen Ränge und Posten verleiht, Museen einrichtet und Ehrentafeln schafft. Und durch dieses Verhalten des Staates bleiben die wirklichen Helden oft ohne Gedenken.

    Der Staat hat kürzlich die Aktion Das Unsterbliche Regiment im Grunde genommen vereinnahmt …

    Ja, die Initiative wurde vom Staat vereinnahmt und wird nun für dessen Zwecke instrumentalisiert. Das muss jedoch nicht immer schlecht sein.

    Man muss von Fall zu Fall den eigenen Verstand einschalten, man kann keine generelle Strategie verkünden. Ich kann nichts Schlimmes daran erkennen, dass die Aktion Das unsterbliche Regiment eingesetzt wurde, um ein staatliches Ritual zu etablieren. Ja, mehr noch: Ich würde mich freuen, wenn beispielsweise die Aktion Die unsterbliche Baracke ebenfalls vom Staat aufgegriffen und Teil eines bewussten, durchdachten staatlichen Rituals würde.

    „Die Aktion ,Das unsterbliche Regiment‘ wurde eingesetzt, um ein staatliches Ritual zu etablieren“ / Foto © Nikolaj Semzow/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    „Die Aktion ,Das unsterbliche Regiment‘ wurde eingesetzt, um ein staatliches Ritual zu etablieren“ / Foto © Nikolaj Semzow/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Was denken Sie, hat die konsequente Sakralisierung des Großen Vaterländischen Krieges in irgendeiner Art Einfluss auf die Haltung zu heutigen Kriegen? Nutzt der Staat den Sieg von damals zur Legitimierung heutiger Konflikte?

    Die Kriege heute haben natürlich einen anderen Charakter. Der Gesellschaft ist das aber nicht ganz so bewusst. Und wenn man aus irgendeinem unglücklichen Zufall dann doch den Fernseher einschaltet, stellt man fest, dass sehr viel von dem, was dort zu hören ist, entweder ein direkter Kriegsaufruf ist (was ja übrigens eine Straftat darstellt), oder – das ist eher die dezente Form – die Furcht vor einem Krieg abschwächen, die Empfindsamkeit für dieses Thema senken soll.

    In der Psychologie gibt es den Begriff der „Desensibilisierung“, der meiner Ansicht nach hier zutreffend ist: Er beschreibt eine zielgerichtete Verringerung von Empfindsamkeit. Und so etwas wird zweifellos auch erreicht, indem man einem siegreichen Krieg huldigt, der vor sehr vielen Jahren stattfand.

    Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar: Wohin kann die derzeitige verstärkte Kontrolle des Kriegsgedenkens führen? Bis hin zu Strafverfahren wegen „Entstellung der Geschichte“ oder wegen Hakenkreuzen in Videos aus den Archiven? Welche Ergebnisse wird es geben?

    Ich denke, gar keine. Diese Versuche werden nicht weit führen. Wenn man von der Zukunft spricht, muss man sich bemühen, sich auf minimale, aber relevante Voraussagen zu beschränken, und die allgemeinen tektonischen Verschiebungen in den Blick zu nehmen. Die können nämlich – im Unterschied zu einzelnen Ereignissen – vorausgesagt werden.

    Eine solche Verschiebung stellt meines Erachtens jene Desensibilisierung dar, von der die Rede war; die verringerte Sensibilität gegenüber Gewalt, Krieg, Verhaftungen, Folter, Leiden und dem Tod als solchen. Das ist eine tektonische Verschiebung, die von Krieg kündet, ihn vorbereitet. Natürlich bedeutet das nicht, dass der Krieg tatsächlich eintreten wird. Es ist aber eine schwerwiegende Verschiebung. Und es ist eine Bewegung, die nur schwer zu stoppen ist.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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    „Wir zerstören, was wir erreicht haben”

    Versöhnung ist Arbeit. Russland und Deutschland waren auf dem Weg schon ziemlich weit – und sind jetzt gerade dabei, das alles wieder aufs Spiel zu setzen, warnt der Historiker Alexej Miller. Während Russland heute dem Tag des Sieges gedenkt, spricht Miller im Interview auf Colta.ru eindringlich über Erinnerung als Raum des Streits und Dialogs.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Haben sich die nationalen Narrative geändert? Sind sie früher menschlich gewesen, während sie jetzt ihre Zähne zeigen?

    Der Ansatz der Erinnerungspolitik hat sich verändert. Die Erinnerungskultur hat sich verändert. In den 1990er Jahren und Anfang der 2000er Jahre dominierte in Europa jene alte europäische Erinnerungskultur, die, ganz einfach gesagt, folgenden Kern hat: Das Schlüsselereignis, an dem alles gemessen wird, ist der Holocaust. Daraus ergibt sich, dass die Opfer des Holocaust die wichtigsten Opfer sind. Das bedeutet wiederum, dass sich im Alten Europa niemand zum „Hauptopfer“ erklären kann. Diese Rolle ist schon besetzt. Stattdessen müssen alle schauen, wie und in welchem Maße das eigene Land, das eigene Volk am Holocaust beteiligt war – aktiv, passiv, wie auch immer.

    Dieser Prozess hat lange, hat Jahrzehnte gedauert. Jacques Chirac hat erst 1995 offiziell zugegeben, dass die Franzosen am Holocaust beteiligt waren. Das ist das, was man im Grunde als kosmopolitische Erinnerungskultur beschreiben könnte. Und es muss gesagt werden, dass eine solche Erinnerungskultur nach dem Zerfall der Sowjetunion auch in Russland dominiert hat. Die Idee war folgende: Lasst uns mit den Polen über die „weißen Flecken“ reden – über die schwierigen Themen unserer Geschichte. Und weshalb reden wir mit ihnen darüber? Um die ganze Wahrheit zu sagen und uns dann zu versöhnen.

    Gab es diesen Wunsch?

    Es gab diesen Wunsch. Und generell eine Vorstellung davon, was Erinnerungspolitik ist, nämlich: die Wahrheit zu sagen und Buße zu tun.

    War dieser Wunsch nicht zusätzlicher Ballast auf dem politischen Annäherungskurs? Oder war es und ist es ein eigenständiges Ziel?

    Das ist gar nicht wichtig. Es gibt da nichts Eigenständiges. Es ist Politik. Wenn wir von Erinnerungspolitik sprechen, ist es wichtig, den Akzent darauf zu setzen, dass es eben Politik ist.

    Schauen Sie: 2009 wurde wieder der Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges begangen. Wladimir Putin fuhr auf die Westerplatte und erklärte, dass die Rote Armee keine Freiheit bringen konnte, weil sie selbst nicht frei war. Er sagte, dass es dennoch eine Befreiung vom Nationalsozialismus gewesen sei und dass wir uns sehr für den Hitler-Stalin-Pakt schämen. Das war 2009. Und es war klar, dass er dabei davon ausging, dass auch die anderen Reue zeigen würden. Die anderen hatten [das Abkommen von – dek] München, wir den Hitler-Stalin-Pakt. Wir sind schuldig und ihr seid schuldig, jeder auf seine Art. Stattdessen bekam er zu hören: „Oh, ja! Du hast ganz richtig gesagt, dass ihr Schuld habt, zeigt also Reue. München hat damit nichts zu tun.“ Dann erfolgte eine weitere Verschlechterung der politischen Beziehungen. Und als Folge davon sagt Putin dann 2014: „Hitler-Stalin-Pakt? Das war zutiefst durchdachte, besonnene Politik. Welche Möglichkeiten hätten wir sonst gehabt?

    Das heißt, die Bewertung solcher Schlüsselmomente hängt für ihn in sehr hohem Maße vom realen politischen Kontext ab.

    Wenn wir von Erinnerungspolitik sprechen ist es wichtig, den Akzent darauf zu setzen, dass es eben Politik ist

    Aus dem Dialogmodus, bei dem davon ausgegangen wurde, dass wir jetzt über Geschichte sprechen, um uns zu versöhnen, sind wir zu einem Modus agonistischer Erinnerung übergegangen.

    Da ist die Frage dann nicht mehr, wie wir jetzt Geschichte erörtern und auf welcher Seite es welchen Anteil an Wahrheit gibt (wobei davon ausgegangen wird, dass es auf jeder Seite ein gewisses Stück Wahrheit gibt). Das Ziel ist nun nicht mehr Versöhnung, sondern Konfrontation, die Figur des „Anderen“ wird benutzt.

    Der agonistische Ansatz setzt allerdings eine gewisse gegenseitige Achtung der beteiligten Seiten voraus. In Osteuropa aber stürzen wir uns immer mehr in einen antagonistischen Modus, in dem das Gespräch ein anderes ist: Wir sind die Opfer, ihr seid die Täter, zeigt Reue! Das ist kein Dialog, das ist eine lange Geschichte, und eine recht schwierige.

    ‘Wir sind die Opfer, ihr seid die Täter, zeigt Reue!‘ Das ist kein Dialog, das ist eine lange Geschichte, und eine recht schwierige

    Soweit ist es gekommen, und dazu, dass die neuen Mitgliedsstaaten der EU in der modernen europäischen Erinnerungspolitik versucht haben und bis heute versuchen – nicht ohne Erfolg –, das zentrale Thema Holocaust durch das Thema Totalitarismus zu verdrängen. Wobei beim Thema Totalitarismus alles klar ist – das geht an die Adresse von Russland. Und schon ist Russland dann jenes „Fremde“. Die Deutschen haben im Grunde Reue gezeigt, haben, so meint man, ihre Lektion gelernt, und das ist gut so, Gott sei Dank.

    Obwohl es immer noch manchmal dazu kommt, dass Polen erneut Reparationen von Deutschland fordert. Doch heute geht es da nicht um die Frage des Dialogs über strittige, schwierige, schmerzliche Themen der Erinnerung, sondern lediglich darum, wie wir, in welcher mehr oder weniger gemeinen, mehr oder weniger groben Form wir die eigene Sichtweise bekräftigen und aus unseren politischen Opponenten Übeltäter machen.

    Das heißt, die Konflikte werden zunehmen?

    Zweifellos.

    Und es gibt keine Alternative?

    Nein.

    Und die Konflikte werden sich zu einem gegenseitigen trolling entwickeln?

    Ja. Die Frage ist nur die Dimension, wie viele Länder sich beteiligen und welche Ressourcen dabei eingesetzt werden. Weil es bis jetzt gleichwohl bestimmte Leistungsträger der „antitotalitären Front“ gab: die baltischen Staaten, Polen, die Ukraine … Und wir wurden unsererseits nicht müde, sie an den Holocaust zu erinnern und in welchem Dreck sie dabei stecken.

    Jetzt nimmt das aber ganz andere Dimensionen an, in dem Sinne, dass in Westeuropa das Bild von Russland als Spinne oder Krake auf die Titelseiten der Magazine zurückgekehrt ist: So sei das Regime der Zaren bei uns gewesen, so sei das Stalinsche Regime gewesen, und so sei heute das Regime Putin. Das ist die Sicht der dortigen Karikaturisten.

    Russland ist jetzt eindeutig zum „Anderen“ geworden, wieder zum im europäischen Kontext „konstituierenden Anderen“

    Und es kommt wirklich zu sehr ernsten Verschiebungen, zu sehr ernsten Verlusten. Ein Beispiel: In der russischen Kultur der letzten Jahrzehnte (auch nach dem Krieg) gab es zwei Bilder – oder zwei Narrative – von den Deutschen. Es gab einerseits den Deutschen in Stiefeln und mit einer Schmeisser. Und andererseits den Deutschen in Apothekerschürze und mit Brille. Da waren sogar komische Rollenwechsel möglich. So oder so dominierte aber das Bild des Deutschen als Träger von Technik und Wissen, als Professor, Akademiemitglied, Apotheker, Arzt, als Partner zur Modernisierung – all diese Figuren. Und vor unseren Augen hat in den letzten drei, vier Jahren dieses Bild einem anderen Platz gemacht, dem Narrativ vom grausamen, dominanten usw. Deutschen.

    Es verschlechtert sich an allen Ecken und Enden. Russland ist jetzt eindeutig zum „Anderen“ geworden, im europäischen Kontext wieder zum „konstituierenden Anderen“. Es ist wieder in diese Rolle zurückgekehrt, und die Klischees alter Zeiten sind wieder lebendig geworden.

    Diese gegenseitigen Salven Geschichtspolitik, die haben doch einen unmittelbaren Einfluss auf die innenpolitische Agenda und verleihen der staatlichen Erinnerungspolitik innerhalb Russlands einen bestimmten Sinn. Befördert dieser Einfluss die Geschlossenheit und die Eintracht in der Gesellschaft in Russland, oder verschärft er im Gegenteil die Spaltung?

    Ich würde die Frage anders stellen. Erinnerung muss keineswegs unbedingt Eintracht fördern. Insbesondere bei sehr schwierigen Fragen. Das Problem bei uns besteht darin, dass ein quasiliberaler Diskurs einen Woodoo-Kult veranstaltet, indem gesagt wird, solange wir Stalin nicht aus seinem Grab holen, habe das Land keine Zukunft. Die Zukunft Russlands hängt in nur ganz geringem Maße davon ab, ob wir Stalin ausgraben oder nicht, ob wir Lenin begraben oder nicht. Das ist meiner Ansicht nach eine höchst mythische Sache. In manchen Fällen sind es einfach nur völlig idiotische Initiativen. Zum Beispiel die „Unsterbliche Baracke“. Die wurde als Antwort auf das „Unsterbliche Regiment“ ins Leben gerufen.

    Doch wohl eher als Antwort auf die Verstaatlichung des „Unsterblichen Regiments“…

    Wenn Sie gegen die Vereinnahmung des „Unsterblichen Regiments“ durch den Staat kämpfen wollen, dann müssen Sie nicht unbedingt eine „Unsterbliche Baracke“ gründen und die Bezeichnung „Unsterbliches Regiment“ verlachen, sie profanieren.

    Es stimmt, dass die Vereinnahmung durch den Staat eine sehr ernste Sache ist. Die Regierung hat allmählich gelernt, wie es die verschiedenen gesellschaftlichen Initiativen unter ihre Kontrolle bringen kann.
    Und ich denke, dass es die Regierung nicht groß schert, eine einheitliche Geschichtslinie zu vermitteln, weil sie selbst gar keine solche einheitliche Linie hat.

    Und das Thema Großer Vaterländischer Krieg?

    Auch da gibt es keine einheitliche Linie. Wir können sagen, dass wir den Hitler-Stalin-Pakt bedauern, und später dann wieder sagen, dass wir ihn nicht bedauern. Das, was der Große Vaterländische Krieg bedeutet und unser heldenhaftes Volk in diesem Krieg, da gibt es keine einheitliche Linie des Regimes, sondern eine der gesamten Gesellschaft – mit Ausnahme jener, die sich ihr entgegenzustellen versuchen.

    Die Meinungsunterschiede beginnen dort, wo es um die Rolle Stalins im Krieg geht. Im Grunde ist die Regierung bestrebt, keine einheitliche Interpretationslinie aufzunötigen.

    Die Vergangenheit ist keine Grundlage für Einigkeit. Grundlage für Einigkeit ist die Gegenwart und die Zukunft

    Tatsächlich vereint die Vergangenheit die Menschen nicht, sondern spaltet sie. Die Vergangenheit kann keine Grundlage für Einigkeit sein. Grundlage der Einigkeit ist die Gegenwart, und die Zukunft. Wenn Sie Klarheit haben, wie die Zukunft aussehen wird, dann haben Sie auch Klarheit darüber, wie die Vergangenheit zu interpretieren ist. Wenn es keine Klarheit über die Zukunft gibt, von welcher Einigkeit bei der Geschichtsinterpretation kann dann die Rede sein? Die Folge ist nun, dass die Vergangenheit zu einem Raum für gegenseitigen Hass geworden ist.

    Es gibt da die Studie der Freien Historischen Gesellschaft mit dem Titel „Welche Vergangenheit braucht das künftige Russland?“, die sehr intensiv erörtert wurde. Was wäre, wenn Alexey Miller eine solche Studie geschrieben hätte …?

    Ich würde eine solche Studie nicht schreiben. Auf keinen Fall. Ich habe mich viele Jahre mit Fragen der Geschichtspolitik beschäftigt. Ich versuche nicht, der Gesellschaft zu erzählen, welche Erinnerung sie braucht; ich versuche zu verstehen und der Gesellschaft zu zeigen, wie diese Mechanismen funktionieren und wer daran beteiligt ist. Ich arbeite ja nicht für Medinski. Aber auch nicht gegen Medinski. Das heißt, er gefällt mir nicht. Wenn sie ihn in die Portiersloge versetzen würden, wäre ich nur dafür.

    Ich versuche nicht, der Gesellschaft zu erzählen, welche Erinnerung sie braucht

    Gleichzeitig stehe ich bei diesem Spiel nicht auf Seite irgendeiner Partei. Eben deshalb, weil ich mir das anschauen und sehen möchte, wer wie spielt. Und ich kann auch keine Partei erkennen, für die ich spielen wollen würde. Deswegen würde ich so etwas nicht schreiben.

    Erinnerung, das ist ein Raum des Streits und des Dialogs. Dann ist sie auch lebendig. Andererseits darf es in dieser Erinnerung keinerlei falsche, „ultimative“ Themen geben, nach dem Motto: Wenn wir nicht morgen schon Stalin ausgraben, wird bei uns nichts Gutes herauskommen.

    Sie glauben also nicht an Symbole? Ein ausgegrabener Stalin, wäre das nicht ein starkes Symbol?

    Das ist ein starkes Symbol. Nur, dass es überhaupt keine Lösung ist. Denn Ihrer Brigade, die Stalin ausgräbt, wird eine weitere folgen, die diese dann vermöbelt und sie zusammen mit Stalin wieder eingräbt. In einem Heldengrab. Dann wird noch etwas Gold der Skythen dazugelegt, um das Bild zu vervollständigen. Wenn wir uns den Film Die Reue, aus dem dieses Bild [des Ausgrabens – dek] stammt, heute anschauen, dann sehen wir, wie aufgeblasen er ist – und wie unklug, im Großen und Ganzen.

    Es ist doch normal, dass wir ihn jetzt so beurteilen.

    Das ist ganz normal, aber dann kommen Sie mir um Gottes Willen nicht immer mit diesem Ausgraben von Stalin!

    Bei uns gibt es in diesem Bereich sehr viele Mythen. Unter anderem diese: Nur bei uns allein klappt es nicht, und bei allen anderen geht alles gut.

    Die Deutschen haben Reue gezeigt. Aber begonnen hat es damit, dass die Deutschen nach 1945 sich 15 Jahre lang geweigert haben, überhaupt davon zu sprechen. Mehr noch: Europa hat sich bis in die 1980er und 1990er Jahre geweigert, über seine Verwicklung in den Holocaust zu sprechen – dieses demokratische, schöne, gewaschene, gestriegelte Europa mit sauberen Nägeln, mit einer florierenden Wirtschaft und voller Selbstbewusstsein.

    Europa hat sich lange geweigert, über seine Verwicklung in den Holocaust zu sprechen – dieses demokratische, schöne, gewaschene, gestriegelte Europa mit sauberen Nägeln, mit einer florierenden Wirtschaft und voller Selbstbewusstsein

    Auf den Bildern waren irgendwelche Leute mit Mützen der französischen Gendarmerie zu sehen, die Juden irgendwohin abführten, aber die Franzosen waren keineswegs an etwas beteiligt! Es war möglich, jahrzehntelang diese Bilder zu sehen, zu sagen, dass man nichts damit zu tun hatte, und es dann 1995 einzugestehen.

    Und bis heute wird darüber geredet, wie erfolgreich Europa ist, wie sehr es sich modernisiert, wie besonders und prächtig es ist – und gleichzeitig schafft man es darüber zu schweigen, dass zur Grundlage der Globalisierung, der Modernisierung und all dieser Dinge der Sklavenhandel und der Kolonialismus gehören.

    Und die Deutschen, die ja angeblich alles sehr richtig gemacht haben, haben in Wirklichkeit bei weitem noch nicht die ganze Arbeit gemacht. Da reicht ein Blick auf das Rathaus in Bamberg. Es ist das schönste Gebäude der Stadt und steht auf einer Brücke. Dort hängen drei Gedenktafeln. Auf einer steht, dass sie dem Gedenken an den Antifaschisten Claus [Schenk Graf] von Stauffenberg gewidmet ist, der versucht hatte, Hitler umzubringen. Und das macht Stauffenberg zum Antifaschisten.
    Eine zweite Tafel ist dem Gedenken an Tausende Einwohner der Stadt gewidmet, die den Bombenangriffen zum Opfer fielen – Frauen und Kinder, und an soundso viel tausend Bamberger (bis auf den letzten Mann genau gezählt), die auf den Schlachtfeldern des Krieges gefallen sind, also Soldaten der Wehrmacht, und an soundso viel tausend Vermisste.
    Und daneben hängt eine weitere Tafel, zum Gedenken an die jüdischen Einwohner Bambergs, die nicht mehr da sind. Bei denen hatte sich niemand die Zeit genommen, sie auch nur zu zählen. Die eigenen Opfer wurden vom ersten bis zum letzten gezählt, die Juden aber, nun, wer zählt da schon nach, die gab es, und jetzt sind sie nicht mehr da. Schade natürlich. Umso mehr, als man uns [Russen – dek] die ganze Zeit vorwirft, dass wir an etwas schuld seien. Wenn man diese drei Tafeln sieht, wird einem einiges klar.

    Auch sollte man wissen, dass die Münchener Stadtverwaltung zehn Jahre lang eine Genehmigung für Stolpersteine verweigerte, weil man der Ansicht war, sie würden bei Regen eine Rutschgefahr bedeuten. Daher sollte man nicht erzählen, dass es bei allen erfolgreich läuft.

    2012 hab ich den Deutschen und Polen gesagt: Jetzt kommt Kaczyński, und dann ist Ihre ganze Versöhnung für die Katz. Und ich hatte Recht.

    Es gab einmal eine Veranstaltung in Moskau, die der deutsche und der polnische Botschafter organisiert hatten, zur Erinnerungspolitik. Die hatten mich aus irgendeinem Grund eingeladen, um als Vertreter aus Russland zu sprechen. Und sie sprachen lange davon, wie die Deutschen und die Polen an einer Versöhnung gearbeitet haben, und boten an, uns beizubringen, wie man sich versöhnen könnte. Das war, wenn ich mich recht entsinne, 2012.
    Ich sagte daraufhin, dass wir keine Lehren bräuchten, weil wir auch ohne Bischofsbriefe den Deutschen verziehen hätten; dass es mit den Polen allerdings einen Bischofsbrief gegeben habe, der aber nichts genützt hätte. Und dass ich es so formulieren würde: Jetzt kommt Kaczyński, und dann ist Ihre ganze Versöhnung für die Katz.
    Und ich hatte Recht. Weil ich die Geschichtspolitiken studiere und weiß, wie so etwas strukturiert ist. Dass man an der Versöhnung arbeiten muss. Dass es immer zwei Narrative gibt. Womit wir wieder am Anfang unseres Gesprächs waren.

    Jetzt haben wir den Schlamassel

    Jetzt zerstören wir – vor aller Augen, gemeinsam mit den Deutschen, mit vereinten Kräften, das, was wir erreicht haben, und verfallen in gegenseitigen Hass. So sieht’s aus. Jetzt wird uns [Russen – dek] schon wieder erzählt, wie ein deutscher [Wehrmachts-] Soldat in eine Hütte kommt, ein Kind weint, der Soldat zertrümmert ihm den Kopf am Türrahmen und er legt sich schlafen. Solche Geschichten sind uns die letzten 25 Jahre nicht erzählt worden. Hat es solche Dinge gegeben? Es hat sie gegeben. Wurden sie die letzten 25 Jahre erzählt? Nein. Nun aber werden sie wieder erzählt. Andererseits ist es auch so, dass sowjetische Soldaten 2,5 Millionen deutsche Frauen vergewaltigt haben …

    Mir ist da mal folgende Geschichte passiert: Die BBC rief mich an, das ukrainische Programm, kurz vor dem 9. Mai, und sie sagten: „Wir wollen uns mit Ihnen über den 9. Mai unterhalten.“ Mir war schon klar, worauf das hinauslaufen würde. Sie kamen sogleich auf die Vergewaltigungen als Schlüsselbefund des 9. Mai. Ich sagte ihnen: „Leute, ihr sendet in die Ukraine. Die heldenhafte Rote Armee, die Deutschland befreit hat, bestand zu ungefähr einem Viertel aus Ukrainern. Also besteht die Annahme, dass rund ein Viertel jener deutschen Frauen von Ukrainern vergewaltigt wurden – über eine halbe Million. Bittet eure Hörer, dass sie Reue zeigen, und berichtet dann vom Ergebnis, dann gehen wir dieses Thema auch hier in Russland an.“

    Die Sendung wurde nicht ausgestrahlt. Da können wir sehen, wie dieser Raum zerfällt. Niemand will mit dem Anderen reden. Das Gespräch gerät zur Provokation, oder zum Trolling. Jetzt haben wir den Schlamassel.

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

     

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Moskau, hör die Signale!

    Moskau, hör die Signale!

    Er war nur eine Woche Ministerpräsident Armeniens, dann gab er dem Druck der Straße nach: Sersh Sargsjan ist Anfang dieser Woche zurückgetreten. Tagelang hatte es Proteste gegeben, nachdem Sargsjan vom Präsidentenamt ins Amt des Ministerpräsidenten gewechselt war. Viele warfen ihm vor, sich an die Macht zu klammern. 2015 hatte er als Präsident in einem Referendum über eine Verfassungsreform abstimmen lassen, die dem Ministerpräsidenten zahlreiche Kompetenzen des Präsidenten übertrug, diese war nun in Kraft getreten.

    Armenien ist mit den Nachbarn Aserbaidschan und Türkei verfeindet, Russland gilt als wichtige Schutzmacht des Landes. Armenien ist Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion, hat aber 2017 auch ein Partnerschaftsabkommen mit Brüssel unterzeichnet. 

    Bei den jüngsten Protesten schließlich ging es nicht um eine prowestliche oder antirussische Ausrichtung des Landes. Der Sieg der armenischen Opposition bedeute dennoch eine Schlappe für Moskau, meint der bekannte Journalist Konstantin Eggert auf Snob. Er sei ein äußerst wichtiges Signal für das Näherrücken unabwendbarer Veränderungen.

    Die jüngsten Proteste in Armenien – ein Zeichen für das Näherrücken unabwendbarer Veränderungen? / Foto © RaffiKoijan/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Die jüngsten Proteste in Armenien – ein Zeichen für das Näherrücken unabwendbarer Veränderungen? / Foto © RaffiKoijan/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Das, was da in Armenien geschehen ist, ist von kaum zu überschätzender Bedeutung für den sogenannten postsowjetischen Raum, wo das „post“ immer stärker wird als das „sowjetisch“. Die friedliche Revolution in Armenien – einst eines der postsowjetischen Länder dieser Region, in dem die prorussischen Stimmungen und die Nostalgie nach der UdSSR mit am stärksten waren – ist ein äußerst wichtiges Signal für das Näherrücken unabwendbarer Veränderungen. Und zwar in einer Region, die Dimitri Medwedew vor zehn Jahren als „Zone privilegierter Interessen Russlands“ bezeichnet hat.

    Als Stütze der russischen Führung in Armenien fungierte zwanzig Jahre lang der sogenannte Karabach-Klan, eine Gruppe von Veteranen aus dem Krieg gegen Aserbaidschan um Bergkarabach, der 1994 mit einem Sieg Armeniens endete. Diese aus Arzach Stammenden, wie die Armenier Karabach nennen, hatten daraufhin sofort Lewon Ter-Petrosjan gestürzt, den ersten Präsidenten Armeniens – sie hielten ihn für zu kompromissbereit gegenüber Aserbaidschan. Anschließend machten sie sich die Unternehmen des Landes untertan, richteten für sich und ihre Familien Firmen in Russland ein, jagten die Opposition in ein Ghetto und beschlossen, ewig zu herrschen.

    Zunächst war der karabachische Veteran Robert Kotscherjan für zwei Amtszeiten Präsident, dann der frühere Verteidigungsminister Sersh Sargsjan. Schließlich gab die Ersatzbank der Karabachler wohl niemanden mehr her, aber das machte nichts. 2015 wurde ein Referendum abgehalten, das die Verfassung änderte und Armenien aus einer Präsidial- in eine parlamentarische Republik verwandelte. Der Präsident wurde zu einer repräsentativen Figur und die gesamten Machtbefugnisse wurden dem Ministerpräsidenten übertragen. Die Armenier hatten schon damals den Verdacht, dass es hier um eine Verlängerung der politischen Karriere Sargsjans geht. Dieser versprach jedoch, dass er nicht als Ministerpräsident kandidieren wolle. Das half, das Referendum „durchzudrücken“.

    Sargsjan hat sein Versprechen nicht gehalten. Die Leute waren empört. Es kam zur Revolution. Sargsjan ist abgetreten, nachdem sich die ersten Militärs den Demonstranten angeschlossen hatten. Eine gewaltsame Unterdrückung der Proteste hätte einen Bürgerkrieg bedeutet. Dazu ist der ehemalige Präsident und nun Ministerpräsident nicht bereit gewesen. Gott sei Dank.

    Unerwartet für Moskau

    Für das offizielle Moskau kamen die Ereignisse in Armenien unerwartet – vor wenigen Tagen erst hatte Wladimir Putin Sargsjan zur „Wahl“ zum Ministerpräsidenten gratuliert. Wobei die Ereignisse eine Schlappe für die russische Außenpolitik darstellen, und die ist deswegen so herb, weil Armenien der engste Verbündete Russlands ist, ein Mitglied der OVKS und der Eurasischen Union, sowie das Land, auf dessen Territorium sich einer der größten russischen Militärstützpunkte befindet.

    Die Armenier lieben Russland aufrichtig, und genauso aufrichtig hoffen sie auf Russlands Schutz in den „kalten Kriegen“ mit Aserbaidschan und der Türkei. Das bedeutet jedoch nicht, dass die armenische Gesellschaft so leben möchte wie die russische. In Armenien ist eine Generation herangewachsen, die sich nicht an die UdSSR oder den Karabach-Krieg erinnert. Für diese bedeutet die sargsjansche „Stabilität“ das Gleiche, wie die putinsche für die Generation Nawalny: Stagnation, Heuchelei, fehlende Perspektiven und keine sozialen Aufstiegsmöglichkeiten.

    Für die jungen Armenier bedeutet die sargsjansche „Stabilität“ das Gleiche, wie die putinsche für die Generation Nawalny

    Darüberhinaus weckt das Beispiel Georgien zunehmend das Interesse der Armenier: Das Nachbarland hat mit der Europäischen Union ein vollwertiges Assoziationsabkommen geschlossen, hat eine Visafreiheit mit der EU erreicht, eine Polizei- und Gerichtsreform unternommen und die Alltagskorruption bekämpft, jene Korruption, die dem Durchschnittsarmenier am meisten auf die Nerven geht.

    Die armenische Opposition – zu ihrer Symbolfigur wurde Nikol Paschinjan, ein politischer Nachkomme des ersten Präsidenten Ter-Petrosjan – hat die Regierung beharrlich wegen des Eintritts Armeniens in die Eurasische Union kritisiert, wie auch wegen deren Weigerung (unter dem Druck Moskaus), 2013 ein Partnerschaftsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Das hat die armenischen Oppositionellen von der Partei ELK in den Augen des offiziellen Russland zu „Feinden“ gemacht. Sollte die russische Botschaft in Jerewan mit ihnen in Kontakt gestanden haben, so bestimmt äußerst eingeschränkt, sodass sie alles mit den Augen ihres Verbündeten Sargsjan und dessen Umgebung betrachtet hat.

    Diese Überzeugung ist nicht unbegründet. Schließlich war der Ansatz Moskaus in Bezug auf Armenien recht einfach. Erstens: Wir haben dort einen Stützpunkt. Zweitens: Das Land ist von den überwiesenen Geldern der Armenier abhängig, die zum Geldverdienen in Russland leben. Drittens: Die Leute von „unserem“ Sargsjan kontrollieren die einflussreichen Spitzenpositionen von Wirtschaft, Parlament und Sicherheitsapparat. Also gibt es eigentlich gar keinen Grund zur Sorge.

    Selbstsicherheit, imperialer Hochmut sowjetischer Machart und die Unterscheidung von Ausländern in „unsere“ und „fremde“ haben der russischen Diplomatie erneut einen bösen Streich gespielt. Erneut – denn genau das ist das Verhaltensmuster des Kreml in allen postkommunistischen Transformationsländern: In Serbien zu Zeiten Miloševićs, in der Ukraine zunächst unter Kutschma und dann unter Janukowitsch, in Georgien unter Schewardnadse sowie die ganze Zeit in Belarus und Moldau hat sich das Verhalten des offiziellen Russland vom Stil her nicht geändert. Moskau zieht jene vor, die Demokratie verachten, korrupt sind und bereit, zum Westen, insbesondere zur NATO, auf Distanz zu bleiben. Im Kreml herrscht eine ungeheure Angst, dass auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR und auf dem Balkan (der aus unerfindlichen Gründen immer noch als prorussisches Aufmarschgebiet in Europa gilt) erfolgreiche, prosperierende Demokratien entstehen könnten.

    Antiwestliche Pufferzone der Instabilität

    Genau hierauf konzentriert sich die Außenpolitik Russlands: auf das Eindämmen und – falls das nicht gelingen sollte – auf die Unterminierung einer demokratischen Entwicklung des postsowjetischen Raumes und eines Teils Mittel- und Osteuropas. Das Ziel ist die Schaffung einer Art antiwestlicher Pufferzone der Instabilität – und die Verfolgung von Interessen staatlicher und staatsnaher Unternehmen in diesen Ländern. Diese Unternehmen dienen dabei ihrerseits auch als Instrument zur politischen Einflussnahme des Kreml und zur Korrumpierung der Eliten vor Ort. Ein solches Vorgehen Moskaus erfolgt auch im Westen, erinnert sei nur an den Kauf des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder.

    Allerdings lässt sich in entwickelten Demokratien nicht dieselbe Politik verfolgen wie gegenüber Armenien oder der Ukraine.

    Trotz seiner nicht geringen Ressourcen erlebt der Kreml eine Niederlage nach der anderen. Der Hauptgrund für dieses Scheitern liegt im Unwillen, anzuerkennen, welche Rolle die Gesellschaft in postkommunistischen Ländern spielt. Im Kreml kann man einfach nicht glauben, dass die Leute Korruption, „ewige“ Regime und Willkür der Sicherheitsbehörden tatsächlich satthaben. Wenn jemand auf die Straße geht, dann kann das nur deshalb sein, weil er von westlichen NGOs oder der CIA bezahlt wurde – so sieht im Großen und Ganzen die Denkweise der russischen Führung aus. „Normale Leute wollen keine Freiheit – sie wollen Stabilität um jeden Preis.“ So lautet im Grunde die Devise der russischen Politik gegenüber den postkommunistischen Transformationsstaaten. Der Kreml projiziert seine eigenen Vorstellungen von der Befindlichkeit der russischen Bevölkerung auf seine Nachbarn, und nicht nur auf die.
    Das ist auch der Grund, warum Moskau aus seiner Niederlage in Armenien keinerlei Schlüsse ziehen wird. Allenfalls werden die 450 Mitarbeiter der Präsidialadministration, Verzeihung, ich meine die 450 Abgeordneten der Staatsduma, angewiesen, mit doppeltem Elan Gesetze zum Kampf gegen all die verschiedenen „Freimaurer“ und „Einflussagenten“ zu verabschieden.

    Am Tag von Sargsjans Rücktritt schrieb Maria Sacharowa, die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, auf Facebook: „Ein Volk, das die Kraft hat, sich in den schwersten Momenten seiner Geschichte nicht zu entzweien und trotz aller grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten die gegenseitige Achtung zu wahren, ist ein großes Volk. Armenien, Russland ist immer bei dir!“

    Übersetzt aus der Sprache des Smolenskaja-Platzes heißt das: „Ihr Undankbaren! Ihr habt unseren Mann gestürzt. Doch so einfach werden wir nicht von euch ablassen.“
     

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  • Staat im Staat 2.0

    Staat im Staat 2.0

    Egal, ob es um Vorwürfe wegen vermeintlicher Wahleinmischung in den USA oder russischen Kämpfern in der Ostukraine geht: Der Kreml bestreitet dies stets. Offiziell hat sich Putin immer von Hackerangriffen distanziert (s. Video). Zu den aktuellsten Recherchen von Nawalnys Fonds für Korruptionsbekämpfung, die eine russische Einflussnahme auf die US-Wahlen über Vize-Premier Prichodko und den Oligarchen Oleg Deripaska nahelegen, hat sich der Kreml offiziell nie geäußert.

    Einen Monat vor der russischen Präsidentschaftswahl beobachtet Maxim Trudoljubow eine Art „Staat im Staat“, die Auslagerung wichtiger Operationen aus den staatlichen Institutionen heraus.

    Ausländische Staaten sprechen von einer Einmischung Russlands in ihre inneren Angelegenheiten und in ihre Wahlen. Russlands offizielle Vertreter dementieren das. Und sichtbare Anzeichen für eine Beteiligung russischer Staatsangehöriger an den Kriegshandlungen in Syrien und in der Ukraine oder an den Troll-Angriffen auf amerikanische Wähler ändern nichts an der offiziellen Position: Das sind nur Privatpersonen, Urlauber und Enthusiasten. 

    Wenn Putin auf die Frage eines ausländischen Journalisten nach möglichen Hackerangriffen auf die Wahlen in Deutschland sagt: „Auf staatlicher Ebene machen wir so etwas nie“, dann wählt er seine Worte sorgsam und zieht eine für ihn wichtige juristische Grenze zwischen Privatem und Staatlichem.

    Wie sind die gefallenen Kämpfer nach Syrien gekommen?

    Das Außenministerium räumt ein, dass in Syrien bei Kämpfen zwischen Assad-treuen Einheiten und Kräften, die von den Amerikanern unterstützt werden, russische Staatsangehörige ums Leben gekommen sind. Wie aber diese russischen Kämpfer, die nicht im Dienst der Armee standen, nach Syrien gelangten, ist den Behörden nicht bekannt.

    Nicht bekannt ist auch, warum individuelle Mitarbeiter privater Medienunternehmen amerikanisch anmutende Accounts in Sozialen Netzwerken einrichten oder sogar E-Mail-Server amerikanischer Politiker hacken. „Hacker, das sind freie Menschen, wie Künstler: Die stehen auf, und wenn sie in Stimmung sind, setzen sie sich hin und malen. Genau wie Hacker: Die wachen auf und lesen, dass da was los ist in den internationalen Beziehungen, und wenn sie patriotisch gesinnt sind, dann leisten sie ihren Beitrag“, meinte Wladimir Putin im vergangenen Jahr.

    Projekte, bei denen nichtstaatliche Kräfte eingesetzt werden, sind von erheblicher Bedeutung. Es ist also kein Programmfehler, sondern es ist das Programm – eine bewusst aufgebaute Public-private-Partnership im politischen und militärischen Bereich. Ganz offensichtlich ist das Besondere an in diesem Ansatz, dass sich eine Beteiligung des Staates leugnen lässt, ohne sich groß verbiegen zu müssen. 

    Alibi für den Kreml

    Dem Kreml ein Alibi zu verschaffen, ist natürlich nicht die einzige Aufgabe, an der Oleg Deripaska, Jewgeni Prigoshin, Konstantin Malofejew und andere sehr wichtige Privatpersonen arbeiten – jeder in seinem Bereich.

    Eine untergründige, aber wichtige Entwicklung all der Jahre unter Putin bestand darin, den Charakter von Eigentum zu ändern: Grundsätzliche Voraussetzung für Besitz ist mittlerweile der Dienst am Staat. Wer über „altes Geld“ verfügte (in Wirklichkeit waren das natürlich junge Leute mit sehr jungem Geld), ging auf dem Wege von trial and error dazu über, ungeschriebene Eigentumsverträge durch neue zu ersetzen, nachdem man gelernt hatte, wie Verhandlungen laufen; jeder gab nach seinen Fähigkeiten: Die einen subventionierten ganze Regionen sowie verlustträchtige, aber sozialpolitisch wichtige Unternehmen. Andere unterstützten Jugendgruppen und politische Parteien, bei denen die Regierung Pate steht, die dritten beteiligten sich an der Sanierung oder dem Bau von Palästen und Projekten zur nationalen Prestigesteigerung.

    Es ging dabei nicht nur um den Neuabschluss alter Verträge, sondern auch um das Knüpfen neuer Beziehungen. Im Unterschied zu den alten Oligarchen erhalten die neuen Leute – von denen viele lustigerweise gar nicht so jung sind – einfach die Möglichkeit großer Gewinne (beispielsweise durch Kontakte zu Gazprom oder dem Verteidigungsministerium), vorausgesetzt, sie übernehmen für das Gemeinwohl nützliche Aufgaben. Ein wertvoller Beleg für diesen Prozess sind die Materialien von Sergej Kolesnikow, der einst munter medizinische Geräte aus Deutschland nach Russland lieferte, sich dann aber entschloss, die Geschichte des „Putinpalastes“ publik zu machen.

    Wichtige Vorgänge aus den staatlichen Institutionen auszulagern, ist heute ein äußerst wichtiges politisches Instrument des Kreml. Natürlich könnte man den Einsatz dieser Mechanismen ausschließlich in Korruptionsmotiven suchen: weniger Transparenz, also mehr Möglichkeiten zu stehlen. Das wäre jedoch zu eindimensional. Für das konsequente Vorgehen, das außerhalb Russlands oft angriffslustig wirkt, ist eine solche Erklärung nicht hinreichend. Es ist völlig klar: Putins neue Oligarchen erhalten unbeschränkt Zugang zu Gewinnquellen, aber sie führen seine Kriege und bauen seine Brücken.

    Sie führen Putins Kriege und bauen Putins Brücken

    Paradoxerweise vertraut der Staatsmann Putin dem gewöhnlichen Staat nicht, der ihm zu unpersönlich ist. Und für jeden CIA-Agenten ist es ein Leichtes, die Berichte einzusehen; er ist also für den Feind transparent. Der Staat mag sich zwar heute unter der Kontrolle Putins befinden, aber er ist nach Grundzügen aufgebaut, die – zumindest theoretisch – Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und eine Verantwortlichkeit gewählter Politiker gegenüber der Gesellschaft vorsehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein nicht im Vorhinein abgesegneter Kandidat bei Wahlen gewinnt, ist natürlich verschwindend gering, aber sie ist nicht gleich Null. Und für einen vorsichtigen Spieler ist bereits diese geringe Wahrscheinlichkeit einer Niederlage Grund genug, sich abzusichern.

    Gewöhnlicher Staat versus Staat des Zaren

    Eine solche Absicherung ist die Schaffung eines Staates, der außerhalb des gewöhnlichen Staates existiert. Einst gab es ein Synonym für wne („außerhalb“), otdelno („gesondert“) oder snarushi („von außen“): Es lautete opritsch. Die Opritschnina war ihrem Sinne nach ein Staat des Zaren außerhalb der gewöhnlichen Semschtschina. Sie war eine neue institutionelle Realität, mit neuen Leuten, die Eigentum und Reichtum nur für treue Dienste erhielten und dem Geltungsbereich der verhassten Feudalordnung entzogen waren.

    Die Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten müssen sich nicht unbedingt derart blutig gestalten, wie Iwan IV. („der Schreckliche“) es eingerichtet hatte (auch wenn die Abrechnung mit einigen Gouverneuren und dem ehemaligen Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Alexej Uljukajew, etwas von Opritschnina hatte). Ein Hort idyllischer Harmonie werden sie aber wohl nie werden.

    Der „andere Staat“ sammelt Einkommensquellen und rekrutiert Oligarchen, die sie überwachen. Dem gewöhnlichen Staat überlässt er die Kosten, soziale Verpflichtungen und das Fußvolk der Gouverneure.

    Den gewöhnlichen Staat leitet der Premierminister, dem ist alles übertragen, womit sich der Anführer des „anderen“, des zarischen Staates, nicht befassen will.

    Die Reformprogramme werden für den gewöhnlichen Staat geschrieben, dessen Beamte berechnen ächzend die Haushalte und führen Handelsgespräche. Aber es reicht eine Bewegung des unberechenbaren „anderen Staates“ und alles war umsonst – wie schon mehrfach geschehen. 


    Sollte Putin irgendwann einmal die Kontrolle über die Wahlen lockern, wird er zwar die Wahl eines Oberhaupts für den gewöhnlichen Staat zulassen, den Staat des Zaren aber wird er selbst behalten.

    Der „andere Staat“ bleibt unsichtbar

    Russland fällt in der Welt immer stärker durch das Vorgehen des „anderen Staates“ auf (jenes Staates, der private Kriege führt und die öffentliche Meinung manipuliert). Doch ist der „andere Staat“ für Russen wie für Ausländer unsichtbar: Wir kennen seine Dimensionen nicht, wissen nicht, wieviel Geld und wieviel Leben durch ihn aus dem gewöhnlichen Staat abgezapft werden und dann in der Blackbox des parallelen, privaten Staates verschwinden. Offiziell werden nur die üblichen Zahlen veröffentlicht und diskutiert, und nur auf dieser Grundlage werden Prognosen erstellt. Das vermittelt uns aber keine Vorstellung von den Plänen des privaten Staates. 

    Welcher von beiden Staaten wird mehr Gewicht haben? Den meisten Bürgern des Landes, so scheint es, gefällt es, auf die Erfolge des agilen „anderen Staates“ stolz zu sein. Sie leben aber in der Realität des depressiven gewöhnlichen Staates, eines Staates, in dem die staatlichen Angestellten mit Ach und Krach versuchen, ein schändliches Minimalgehalt an das kärgliche Existenzminimum anzugleichen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Putin, Patriarch, Premier – bitte nicht berühren

    Putin, Patriarch, Premier – bitte nicht berühren

    Am 23. Januar hatte das Investigativ-Portal Russiangate seine Recherchen über unversteuerten Immobilienbesitz von FSB-Chef Alexander Bortnikow veröffentlicht. Innerhalb weniger Stunden war die Website blockiert – ohne Vorwarnung durch die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor. Am 24. Januar war die Seite wieder zugänglich, der Artikel über Bortnikow allerdings nicht mehr darauf zu finden. Chefredakteurin Alexandrina Jelagina erklärte am gleichen Tag im Radiosender Echo Moskwy, dass ihr gekündigt worden und das Medium geschlossen worden sei, da die Investoren ihre Unterstützung zurückgezogen hätten. Der offizielle Vorwurf gegen Russiangate laute, es würde „extremistische Inhalte“ verbreiten.

    Oleg Kaschin nimmt den Fall zum Anlass und thematisiert auf Republic offene und weniger offene Zensur, „durchgezogene Linien“ und ein paar Faustregeln für russische Journalisten.

    „Ich verhehle nicht, dass das für das Land ein verbotenes Thema ist: Putin … das hab ich immer gesagt. Der Präsident, der Premier und der Patriarch von ganz Russland, das sind drei verbotene Themen.“  Aram Gabreljanow, Boulevardpresse-Zar der 2000er Jahre, der 2011 die Leitung der Zeitung Izvestia übertragen bekam, war wohl der erste, der so offen und laut die grundsätzlichen Beschränkungen umriss, die für ein dem Kreml gegenüber loyales (oder sogar unter dessen Kontrolle stehendes) großes Medium bestehen.

    Heute ist nurmehr schwer vorstellbar, wie monströs in jenen Jahren solch ein Bekenntnis klang. Auf seine Unfreiheit stolz zu sein, sie gar leichtfertig zur Schau zu stellen, das konnte wohl nur ein Neuling auf dem Markt der „erwachsenen“ Medien fertig bringen. Zudem ein einschlägig bekannter, der in einer ganz anderen Welt großgeworden ist, wo es statt Freiheit und Grundsätzen Exklusivberichte über ein Gemetzel oder über die Hochzeit von Alla Pugatschowa (mit Maxim Galkin – die Redaktion) gibt.

    Verbote sind Teil des Alltags

    Mittlerweile ist klar, dass Gabreljanow einfach seiner Zeit voraus war. Die damals von ihm benannten Verbote sind innerhalb nur weniger Jahre für Medien in Russland Teil des Alltags geworden. Als 2016 die Führung von RBC wechselte, versuchten die neuen Redakteure nicht zu sagen, welche konkreten Recherchen der Grund für den Wechsel an der Holdingspitze waren. Sie bemühten vielmehr Begriffe der Straßenverkehrsordnung und beschrieben die neuen Regeln derart, dass es eine gewisse „doppelt durchgezogene Mittellinie“ gebe, die in keinem Fall überschritten werden dürfe, aber eben nur diese, alles andere sei möglich. Seither ist die „doppelt durchgezogene Linie“ zum allgemeinen Mem der Journalisten geworden.

    Offene Zensur

    Inzwischen wundert es niemanden mehr, wenn ein entlassener Chefredakteur eines geschlossenen Presseorgans unumwunden davon spricht, dass die Investoren bei der Gründung des Mediums jene Bedingung formulierten, die seit langem allseits bekannt ist: Man könne über alles Mögliche schreiben, außer über den Präsidenten, die Regierung und den Patriarchen.

    Das Ende Januar geschlossene Medienprojekt namens Russiangate hatte sich auf investigative Recherchen spezialisiert. Der Skandal begann nach der Veröffentlichung eines Artikels über eine nicht deklarierte Immobilie des Direktors des FSB, Alexander Bortnikow. Hier haben wir es eindeutig mit einer äußerst weiten Auslegung der Drei-P-Regel zu tun. Denn Bortnikow ist weder Präsident, noch Premier & Co, noch Patriarch, allerdings – so hat es den Anschein – eine Figur, die allen dreien nahesteht und somit ihnen gleichzustellen ist.

    Ruft man sich die journalistischen Standards nicht nur der 1990er, ja selbst noch der 2000er Jahre in Erinnerung, so erscheint eine solche Beschränkung inakzeptabel und unterscheidet sich nicht im Geringsten von offener Zensur.

    Millimeter um Millimeter

    Jetzt befinden wir uns am Ende der 2010er Jahre – und die russischen Medien haben seit jenen Jahren kein einziges Mal erlebt, dass die journalistische Freiheit von einem Moment auf den anderen drastisch eingeengt worden wäre. Im Gegenteil, dieser Prozess vollzog sich fließend und allmählich, Millimeter um Millimeter.

    Es gibt keinen Grund für Vorwürfe, schließlich lässt es sich viel einfacher arbeiten, wenn die durch Zensur gesteckten Grenzen klar und deutlich formuliert sind. Dann ist es nicht wie auf einem Minenfeld, wo jederzeit etwas hochgehen kann, ganz gleich wo man hintritt. Dann ist jede Tretmine gekennzeichnet und durch eine „doppelt durchgezogene Linie“ markiert. Solange du nicht über Putin oder den Patriarchen schreibst, ist alles in Ordnung. So stellt es sich zumindest in der Theorie dar.

    Irgendeine Mine gibt es immer

    In der Praxis jedoch gibt es immer irgendeine Mine, die nicht markiert war und mit der man nicht gerechnet hatte, ganz wie mit Bortnikow im Fall von Russiangate. Den leidtragenden Journalisten käme in dieser Situation die dissidentische Parole aus der Sowjetzeiten zupass: „Haltet euch an eure Verfassung!“. Deren Finesse bestand darin, dass das totalitäre Regime aus irgendeinem Grund nicht in der Lage war, sich an die Gesetze zu halten, die es selbst geschaffen hatte. Die einzige öffentliche Kraft, die seinerzeit bereit war, für diese Gesetze zu kämpfen und deren Einhaltung zu fordern, war nicht der Staat, sondern es waren seine Feinde.

    Heute ist es ganz ähnlich: Wenn sich das Regime und die regimeloyalen Medienbesitzer an die klare Regel „Putin und der Patriarch werden nicht angerührt“ halten würden, gäbe es keine Probleme. Doch aus irgendeinem Grund ist es ausgerechnet die Staatsmacht – die diese Regel ja gesetzt hatte – die ein ums andere Mal neue verbotene Themen findet, die über jene hinausgehen, die öffentlich und klar abgesteckt sind. Die „doppelt durchgezogene Linie" ist nicht statisch, sie liegt nicht ruhig in der Mitte der Fahrbahn, sondern rutscht darauf so herum, dass die Spur für Journalisten immer schmaler wird.

    Die Spur für Journalisten wird immer schmaler

    Das ist ein ganz natürlicher und unausweichlicher Prozess. Beim Verbot Putin, den Premier oder den Patriarchen zu kritisieren geht es nicht um die Person, die außerhalb jeder Kritik stehen soll. Sondern es geht um die Möglichkeit an sich, verbotene Themen zu setzen. Und wenn diese Möglichkeit besteht, wenn niemand sie anficht, dann wird die Verbotsliste unweigerlich immer länger.

    Nach der Geschichte mit Russiangate werden es sich die Chefredakteure etliche Male überlegen, bevor sie in ihren Artikeln Alexander Bortnikow erwähnen. Und schon könnte ein neuer Skandal heraufziehen, dessen Hauptfigur irgendein neuer Bürokrat ist, den zu kritisieren früher erlaubt war und der jetzt davor geschützt ist. Wer das nun sein wird, ob Sobjanin, Schoigu oder jemand aus den weniger prominenten Reihen, werden wir erst erfahren, wenn der nächste Chefredakteur bei Echo Moskwy in der Sendung sitzt und leicht verwirrt erklärt, dass er wohl nicht mehr Chefredakteur ist.

    Ein breit zu interpretierendes Verbot

    Ein Verbot mit der Möglichkeit, es breit auszulegen, ist in der Tat genauso angelegt wie die Gesetze eines totalitären Regimes, denen jeder durchaus loyale Bürger zum Opfer fallen kann. Dafür ist andererseits klar, wie man zum Helden wird: Man muss nur einen Schritt auf verbotenes Terrain tun.

    Ist die russischen Medienwelt heute zu solch einem Schritt in der Lage? Offensichtlich nein, und der Titel der mutigsten russischen Journalisten geht an Irina Resnik, Ilja Archipow und Alexander Sasonow, die einzigen Moskauer Autoren, die heute fähig sind, Recherchen über das Familienleben einer Frau zu schreiben und zu veröffentlichen, die bei uns üblicherweise als „mutmaßliche Tochter Wladimir Putins“ bezeichnet wird. Allerdings muss man erwähnen, dass es sich hier um russische Journalisten handelt, die auf Englisch für die amerikanische Agentur Bloomberg schreiben. Nicht auszuschließen, dass sich die einzige Möglichkeit für unzensierten Journalismus in Russland in absehbarer Zukunft genau so darstellen wird: nicht auf Russisch und nicht in russischen Medien.

    Diese Übersetzung wird gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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