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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die Perestroika lebt“

    „Die Perestroika lebt“

    Im Westen verehren ihn viele – in Russland selbst ist das anders: Im März 2016 räumten in einer WZIOM-Umfrage zwar 46 Prozent der Befragten ein, Michail Gorbatschow habe zum Wohl des Landes handeln wollen, aber 47 Prozent waren der Ansicht, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Ganze 24 Prozent meinten sogar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die Großmacht Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe.

    Sicher ist die Bilanz von Gorbatschows Regierungsjahren eine gemischte, und die Begeisterung, die ihm speziell in Deutschland entgegengebracht wird, lässt sich nicht einfach verallgemeinern. Oft zum Beispiel wird vergessen, dass Gorbatschow zwar beim Zerfall des Warschauer Pakts (und so auch bei den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten) auf jede Gewaltausübung verzichtete, in der damaligen Sowjetunion aber durchaus für Militäreinsätze gegen die sich verselbständigenden Republiken verantwortlich war, wie etwa beim Vilniusser Blutsonntag.

    In den letzten Jahren gibt der heute 88-jährige Michail Gorbatschow nur noch wenige Interviews. Meduza hat im März 2018 mit ihm gesprochen, natürlich auch über die Perestroika und seine Sicht der Dinge.

    „Wenn ich gefragt werde, was ich bedauere, antworte ich, ‚Ich habe zuviel verziehen‘.“ – Michail Gorbatschow im Interview / Foto © Veni/flickr unter CC BY-SA 2.0
    „Wenn ich gefragt werde, was ich bedauere, antworte ich, ‚Ich habe zuviel verziehen‘.“ – Michail Gorbatschow im Interview / Foto © Veni/flickr unter CC BY-SA 2.0

    Ilja Scheguljow: Sie waren sechs Jahre an der Macht, das entspricht nach heutiger Gesetzeslage einer Amtszeit des Präsidenten. Haben Sie nie daran gedacht, dass Sie, wenn Sie nicht die Reformen angestoßen hätten, vielleicht heute noch Generalsekretär sein könnten? Dann hätten Sie doppelt so lang regiert wie Breshnew.

    Michail Gorbatschow: Dann wäre das schon nicht mehr Gorbatschow. Das wäre dann ein Jelzin oder irgendein anderer Kerl.

    Wie auch immer Ihre Haltung zu Jelzin sein mag, Sie haben etwas mit ihm gemein. So sind weder Sie noch er gegen die Meinungsfreiheit vorgegangen, auch wenn die Ihnen beiden riesige Probleme bereitete.

    Solschenizyn hat irgendwo gesagt: Gorbatschows Glasnost hat alles zugrunde gerichtet. Ich fand eine Gelegenheit, ihm darauf zu antworten: Das ist ein tiefgreifender Irrtum eines Menschen, den ich sehr achte. Und schließlich die Frage: Wie kann das sein, dass Menschen mit verschlossenem Mund [leben], dass sie nicht einmal einen Witz erzählen können, dass sie sofort irgendwohin verschickt werden, zur Umerziehung, oder zum Holzfällen? Aber genau so war das ja bei uns. Wenn es keine Glasnost gegeben hätte, hätten bei uns keine Veränderungen zum Besseren eingesetzt.

    Wenn es keine Glasnost gegeben hätte, hätten bei uns keine Veränderungen zum Besseren eingesetzt

    Und es hätte keinerlei Freiheit gegeben. Freiheit, das bedeutet vor allem Glasnost. Die Freiheit, mit den Menschen über seine Sorgen zu reden, darüber, was man [rundum] wahrnimmt, und wie man sich dazu verhält. Und wenn sich jemand täuscht, wird man ihm qua Freiheit helfen, das zu korrigieren. Sowohl die Presse wie auch die Gesellschaft …

    Die ganzen 1990er Jahre und die erste Hälfte der 2000er Jahre haben Sie von Vorträgen gelebt. Worum ging es in diesen Vorträgen?

    Ich bin zum Beispiel kurz vor der Wahl Obamas in den Mittleren Westen [der USA] gefahren, nach St. Louis. Dort kamen 13.000 Menschen zu dem Vortrag, im Stadion der Universität. Das Thema meines Vortrags lautete „Perestroika“. 

    Da stand ein junger Mensch auf, so in deinem Alter, und fragte: „Herr Präsident, dürfte ich Sie etwas fragen: Sie sehen, dass sich die Lage in Amerika immer mehr verschlechtert, was raten Sie uns?“ Ich antwortete: „Wissen Sie, ich werde Ihnen jetzt keinen Fahrplan, kein Menü vorschlagen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Meiner Meinung nach braucht Amerika eine eigene Perestroika.“ Der ganze Saal erhob sich. Nun, und zwei Jahre später haben sie Obama gewählt.

    Also selbst Mitte der 2000er Jahre waren alle interessiert, von der Perestroika zu erfahren?

    Die Perestroika lebt. Auch wenn man sie jetzt beerdigen will. Aber man kann Gorbatschow und die Perestroika nicht begraben. Das geht nicht. Wem sonst ist es schon gelungen, einfach so die ganze Welt zu verändern? Und gleichzeitig will man mich erschossen sehen. Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, warum ich mich nicht erschossen habe. Weil ich angeblich schuld sei. „Sie hätten sich umbringen sollen, Herr Gorbatschow. Und wenn Ihnen das schwerfällt, rufen Sie mich, ich erledige das.“ Solche Briefe kriege ich. Es gibt da aber auch andere.

    Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, warum ich mich nicht erschossen habe

    Woran soll ich schuld sein? Die einen werfen mir vor, dass ich Ungarn weggegeben habe. Andere sagen, ich hätte Polen weggegeben. Weggegeben? Wem denn? Den Polen und den Ungarn. Das ist natürlich wirres Zeug. Andere geben nichts weg, stimmt.

    Ihre Vorträge haben Ihnen gutes Geld eingebracht …

    Ja, auf unserer ersten Reise 1992 haben wir eine Million [Dollar] verdient. Wir haben sie für unsere Sache eingesetzt. Übrigens, zum Thema, wie ich das Geld, was ich bekommen habe, verwendete. [1990] erhielt ich den Nobelpreis: 1,1 Millionen Dollar. Von der Million wurden sechs Kliniken gebaut, zur Hilfe für die Opfer von Tschernobyl, am Aralsee in Asien und in Russland.

    Erzählen Sie von ihrer Tätigkeit im Umweltbereich. Schließlich sind Sie der Gründer und Präsident des [Internationalen  dek] Grünen Kreuzes, einer großen zivilgesellschaftlichen Umweltschutzorganisation.

    Ja, das Grüne Kreuz, das ist tatsächlich mein Kind. Da waren alle möglichen Leute versammelt: Angehörige der Intelligenzija, Politiker, Vertreter der Religionen, Frauen, junge Menschen, und natürlich die Presse. In 31 Ländern wurden Grüne Kreuze gegründet! Das Ansehen [der Organisation] ist riesig. Zu einem gewissen Grad hatte mich damals Pitirim ins Boot geholt. Er ist auch sonst zu einem guten Freund geworden.

    Nach Ihrem Rücktritt haben Sie versucht, Politik zu machen. Sie haben beispielsweise 2001 die Sozialdemokratische Partei organisiert, gemeinsam mit dem damaligen Gouverneur der Oblast Samara, Konstantin Titow. Warum? Wer ist Titow, aus Ihrer Sicht? 

    Ein Dreckskerl.

    Warum?

    Er hat fürchterlich getrickst. Aber dann hat er mit der Regierungspartei angebandelt, und sie haben einen Deal gemacht. Die Hauptsache war, dass wir bei den Wahlen außen vor bleiben sollten. Sie hatten Angst vor uns, deshalb haben sie alles unternommen, um [uns] kleinzukriegen.

    Aber wozu hatten Sie Titow überhaupt gebraucht?

    Ich habe vieles verziehen. Übrigens, wenn ich gefragt werde, was ich bedauere, antworte ich: Ich habe zu viel verziehen.

    Ich habe zu viel verziehen

    Aber stell dir mal vor, was gewesen wäre, wenn ich aus ähnlichem Holz geschnitzt wäre wie Josef [Stalin]? So kann man einem Land auch den Rest geben.

    Warum war es überhaupt nötig, dass Sie in die Politik zurückkehrten?

    Es musste etwas geschaffen werden, was unverdorben ist. 

    Und warum?​

    Die Menschen verlangen nach einer Organisation, nach einer Bündelung der Kräfte; allein kann man nichts bewegen. Zusammen werden wir siegen!

    Aber warum mussten Sie sich da persönlich hineinziehen lassen?

    Ungefähr diese Frage hat mir auch mal ein junger Mann gestellt, der war in der Regierungspartei mit der Innenpolitik befasst …

    Etwa Surkow?

    Ja. Ein talentierter Kerl. Aber mit starkem Beigeschmack.

    Er hat Sie angerufen?

    Nein. Wir hatten 82 Regionalverbände gegründet, die Partei hatte schon 35.000 Mitglieder. Danach bin ich zu eben diesem Freund Surkow gegangen. Ich musste mich registrieren lassen, und alle haben die [Partei]Unterlagen angeschaut. Und Surkow sagte: „Michail Sergejewitsch, was wollen Sie denn? Sie haben doch erreicht, was noch niemandem in der Geschichte gelungen ist. Was wollen Sie also?! Das haben Sie doch nicht nötig.“ Ich habe ihm gesagt: „Das ist eine dumme Frage. Wenn jemand sein ganzes Leben so mit der Politik verbunden war, dann ist er schon … Das ist mein Wesenskern.“

    Surkow sagte: ,Michail Sergejewitsch, was wollen Sie denn? Sie haben doch erreicht, was noch niemandem in der Geschichte gelungen ist. Das haben Sie doch nicht nötig.‘

    Letztendlich kamen sie dann mit Beanstandungen, sie hätten da irgendwelche Unterschriften gefunden, die nicht korrekt wären [die Sozialdemokratische Partei Russlands wurde 2007 vom Obersten Gericht aufgelöst, wobei Gorbatschow sie bereits 2004 – nach einem Konflikt mit Konstantin Titow – verlassen hatte – Anm. Meduza].

    Ich habe mich vor einigen Jahren mit Boris Beresowski unterhalten, wenn Sie sich an den erinnern.

    Natürlich erinnere ich mich.

    Und er hat mir damals gesagt, dass er es bedauert, immer eine schlechte Menschenkenntnis gehabt zu haben, dass er die menschlichen Qualitäten der Leute nicht erkannte. Von sich können Sie so etwas nicht behaupten?

    Ja, das würde ich auch sagen. Ich war zum Beispiel der Meinung, dass man nicht auf alle möglichen Angriffe und Ausfälle reagieren sollte. Wenn sich mal was zuspitzte, haben wir Mittel gefunden, nicht etwa Druck zu machen, sondern die Dinge intellektuell klarzustellen. 

    Wie jene Geschichte [mit dem Putsch] 1991. Ich dachte: Wieviel Versuche hatte es da gegeben! Mal wollte jemand dem Präsidenten Rechte entziehen, sie jemandem anderen übertragen, mal dies, mal das. Das war eine Sitzung in Ogarjowo unter meiner Leitung, wir wollten den neuen [Unions-] Vertrag vorbereiten, und die veranstalten da sowas hinter meinem Rücken. Ich kam am zweiten Tag und habe sie zusammengestaucht. Da dachte ich, dass ich alle Fragen geklärt hätte, und diese Überzeugtheit wurde dann fast zu einer Überheblichkeit.

    Ich habe auch Putin gewarnt [, dass zu große Selbstsicherheit schädlich ist]. Als ich sagte, dass er sich für den Vertreter Gottes hält. Das machte ihn natürlich wütend: Er hat ja mal gesagt, dass man Gorbatschow das Maul stopfen sollte. Einem Präsidenten! Das Maul stopfen!

    Gefällt Ihnen Putin?​

    Ich denke, er ist da recht am Platz. Durch Zutun aller sind dort die Dinge bis ins Letzte verkommen – aber es musste bewahrt werden, damit es nicht zerfällt. 

    Sie meinen Russland?

    Ja, ja. Wir müssen das in Betracht ziehen, trotz aller Verstöße und Fehler. Ich erinnere mich natürlich, wie er sagte, dass er mich – angeblich – bei den Feiern zum Sieg [am 9. Mai 2016] nicht gesehen habe. Als Putin [vom Regisseur Oliver Stone in dessen Film] gefragt wurde, warum er mich nicht gegrüßt hat, sagte er, dass er mich nicht bemerkt habe.

    Sie haben ihn einige Male unter vier Augen getroffen, soviel ich weiß.​

    Ja.

    Hat er sich mit Ihnen beraten?​

    Nein.

    Aber wozu haben Sie sich getroffen? Welchen Sinn sollte das haben? ​

    Gar keinen: Händeschütteln. Die letzte Begegnung war am 12. Juni 2017, am Tag Russlands.

    Nur Sie zwei?

    Nein, nein. Absolut zufällig. Wir kamen gerade aus diesen Zelten, die da im Kreml stehen, wo der Tag Russlands gefeiert wurde. Wir gingen draußen zum Kremlpalast hinüber. Und plötzlich schau ich, irgendwie hatte es bei denen, die mich begleiteten, einen Ruck gegeben, und sie hatten angehalten. Was war los? „Da läuft Putin.“ „Na und?! Und was heißt das jetzt, Leute? Was habt ihr denn bloß? Lasst uns weitergehen!“ Und ich ging ihm direkt entgegen, gerade so, wie es passiert, wissen Sie, dass man sich auf einem Pfad begegnet, zwischen Feldern, und nicht ausweichen kann. Wir grüßten uns. Ich sagte: „Wir haben uns lange nicht gesehen!“ Und er darauf hin: „Mur, mur, mur“ – er brummelt jetzt ganz viel.

    Brummelt?

    Damit es unklar ist. Ich sagte: Sie haben für mich dreimal einen Termin angesetzt, Wladimir Wladimirowitsch, und dreimal hat der nicht stattgefunden. Danach bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich mich nicht aufdrängen werde. Und das war’s dann auch.

    Putin brummelt jetzt ganz viel

    Vergnügung hat er genug. Er trinkt, tanzt, fliegt, fährt Schiff und macht, weiß der Teufel, was man alles so machen kann. Nur in den Weltraum traut er sich nicht. Dann würden ja alle schreiben: „Herr Putin, bleiben Sie dort, tun Sie dem Volk einen Gefallen!“

    Wir unterhalten uns hier in den Büroräumen der Gorbatschow-Stiftung. Die Stiftung ist bereits 26 Jahre tätig, und Sie haben sie die ganze Zeit unterstützt. Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit der Stiftung?

    Sie hält, was sie verspricht.

    Was wurde erreicht? Welche Ziele hatten Sie sich gesetzt?

    Das Ziel war erstens, die Geschichte der Perestroika zu erforschen. Und überhaupt war das Ziel ein kulturelles, politisches und gesellschaftliches Zentrum.

    Gaidar oder Kudrin zum Beispiel haben ähnliche Stiftungen. Sie schreiben Entwicklungskonzepte für Russland.

    Das sind Wirtschaftsfachleute. Uns geht es eher um ein neues Modell. Und dieses Modell muss gesucht werden. Wenn Einiges Russland [weiter so] arbeitet [wie jetzt], dann wird diese Partei das gleiche Schicksal erleiden wie die Kommunistische Partei.

    Uns geht es um ein neues Modell

    Wir werfen diese Fragen in Artikeln auf, in allen möglichen Denkschriften, in Reden und so weiter. Und weißt du, man spürt jetzt, dass ein Bedarf an Sozialdemokratie entsteht. Und dass die Suche nach einer neuen Plattform vonnöten ist. Wir haben ein Buch herausgegeben, das heißt Ein sozialdemokratisches Projekt für Russland. Wie es so schön heißt: Alles, was wir geschaffen oder noch nicht ganz geschaffen haben, es steht alles da drin …

    In meiner Familie sagen sie: „Wann gibst du endlich Ruhe?“.

    Die gleiche Frage hätte ich auch.

    Dazu muss man ein Leben in der Politik gelebt haben, so wie ich es getan habe. Ehrlich gesagt, habe ich mir die Frage auch schon gestellt. Ich denke aber, dass es für mich schlimmer wäre, wenn ich mich aus der Politik zurückziehen würde.

    Sie halten sich also für einen Politiker?

    Vor allem werde ich als Politiker wahrgenommen. Es gibt bei uns viele, die sich für Politiker halten, obwohl sie gar keine sind.

    Wie kam es dazu, dass ein großer Teil Ihrer Familie jetzt nicht mehr bei Ihnen lebt?

    Die haben alle hier gelebt, in Moskau. Dann hat Irina [die Tochter Gorbatschows – dek] zum zweiten Mal geheiratet. Andrej Truchatschow. Und der arbeitet [in Deutschland] in der Wirtschaft: Logistik, Transporte. Er gefällt mir, er ist ein guter Kerl. Aber er muss vor Ort sein. Und als sie [Irina und er] umzogen, zog es alle anderen hinterher, ihre Töchter. Wir haben fast das ganze Geld zusammengekratzt; wir haben ja nur ganz bescheidene Reserven. Aber wir konnten ihnen allen dort, in Berlin, Wohnungen kaufen.

    Und Sie wollen nicht dorthin umsiedeln?

    Nein, ich ziehe da nicht hin.

    Warum? Sie meinen, dass Sie als ehemaliger Präsident nicht einfach übersiedeln können? Dass das unpatriotisch wäre?

    Ich will einfach nicht mit Russland brechen!

    Ihre Familie aber hat mit Russland gebrochen?

    Nein. Sie und mich zu vergleichen … das wär‘ wie Äpfel mit Birnen oder Spatzen mit Stuten.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • „Das ist ein Teufelskreis beidseitiger Paranoia“

    „Das ist ein Teufelskreis beidseitiger Paranoia“

    Viele Legenden ranken in Russland um die Diebe im Gesetz. Armin Mueller-Stahl verkörperte 2007 einen Bandenboss in dem Oscar-nominierten Film Tödliche Versprechen und steuerte damit eine weitere Verklärungsnote bei zu dem auch im Westen verbreiteten Mythos um die Welt der Diebe (worowskoi mir). 

    Das 2018 erschienene Buch The Vory. Russia's Super Mafia kommt ohne Romantisierungen aus und analysiert, wie die Organisierte Kriminalität Russland geprägt hat und prägt – und umgekehrt. Der Autor Mark Galeotti gehört zu den weltweit besten Kennern der von Russland ausgehenden transnationalen Kriminalität. Der britische Historiker forscht außerdem auch zu russischen Geheimdiensten und Sicherheitspolitik. Nach seinem viel gelobten Werk über die Diebe im Gesetz hat er 2019 bereits drei weitere Bücher veröffentlicht: über Putin, hybride Kriege und den Krieg im Osten der Ukraine. 

    Im Interview mit Ilja Asar von der Novaya Gazeta spricht Galeotti über die Verstrickungen der Mafia mit Politik, über den Fall Skripal und darüber, warum der Westen den russischen Präsidenten falsch wahrnimmt.

    Novaya Gazeta/Ilja Asar: Sie sagen, Russland sei kein Mafia-Staat, behaupten aber gleichzeitig, zwischen dem Staat und Kriminellen würden enge Verbindungen bestehen. Was sind das denn für Verbindungen?

    Mark Galeotti: Zum einen ist offensichtlich, dass der Staat bestimmt, wie ein annehmbares Verhalten des organisierten Verbrechens auszusehen hat. Der Staat gibt deutlich zu verstehen, dass es bestimmte Aktivitäten gibt, die nicht gestattet sind, und alle Gangster wissen, wo ihre Grenzen liegen. 

    Zweitens bestehen viele Verbindungen, die noch aus den 1990er Jahren stammen, als die Welten des Verbrechens, der Wirtschaft und der Politik sehr viel enger miteinander verknüpft waren. Jetzt haben sie sich wieder voneinander entfernt, aber die alten Verbindungen gibt es immer noch.

    Drittens sind wir in Westeuropa Zeuge geworden, dass der Staat das organisierte Verbrechen als Instrument eingesetzt hat. Allerdings nur einige Male – ich möchte da nichts übertreiben – aber es bleibt gleichwohl ein alarmierendes Symptom. Wir müssen natürlich schauen, wie sich das im Weiteren entwickelt.

    Während aber die Ermordung von Litwinenko oder der Anschlag auf Skripal, für die russische Geheimdienste verantwortlich gemacht werden, in aller Munde sind, ist von ähnlichen Operationen westlicher Geheimdienste nichts zu hören. Machen die sowas nicht?

    Ich denke, hier geht es um unterschiedliche Denkweisen.

    Die russischen Geheimdienste denken, dass sie in einen Krieg um Russlands Platz in der Welt verwickelt sind, dass der Westen Russland ungerechterweise in die Enge zu treiben und einzuschränken versucht.

    Die russischen Geheimdienste denken, dass sie in einen Krieg um Russlands Platz in der Welt verwickelt sind

    Die westlichen Geheimdienste denken anders; sie bemühen sich, vorsichtiger zu sein. Man kann allerdings nicht sagen, dass westliche Geheimdienste diese Taktik nie verfolgt hätten. Wir erinnern uns, wie die Franzosen das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior in die Luft gejagt haben. Das sind aber extreme Methoden, die nur in Notsituationen eingesetzt werden. Russland meint aber, dass es sich jetzt in einer solchen Notsituation befindet.

    Russland ist derzeit, seinen Möglichkeiten nach, objektiv keine Supermacht, wie einst die UdSSR eine war und die USA jetzt eine sind. Es versucht jedoch, die bestehende Weltordnung herauszufordern und die übrige Welt zu zwingen, Russland wie eine reale Großmacht zu behandeln. Um das zu erreichen, muss man Risiken eingehen, und Russland ist dazu bereit.

    Ich glaube, dass Russland sich nach der Skripal-Affäre gedacht hat: „Ok, die Antwort war heftiger als erwartet“, und daher nun sein taktisches Vorgehen ändert. Ich glaube aber nicht, dass sich an Russlands Strategie etwas ändern wird.

    Meinen Sie, dass die Verbindungen zwischen Staat und Mafia Auswirkungen auf die Gesellschaft in Russland haben, oder werden kriminelle Elemente nur für internationale Angelegenheiten eingesetzt?

    Ich glaube nicht, dass sich das auf den Straßen abspielt. Deshalb gefällt mir auch der Begriff „Mafiastaat“ nicht, der impliziert ja vieles.

    Die Zeiten, als es eine reale Nähe zwischen dem Regime und der Welt des Verbrechens gab, sind im Großen und Ganzen vorbei, die 1990er Jahre sind Vergangenheit. Doch ist der Status quo zu lange aufrechterhalten worden, und nachdem er verletzt wurde, ist etwas in Gang gekommen, insbesondere mit der Ermordung von Ded Hassan. Das könnte einen größeren Konflikt provozieren. Allerdings sind alle bemüht, ihn einzudämmen. Ich denke, die Gefahr einer Explosion in der Unterwelt besteht deshalb, weil der Staat den so lang schon bestehenden Status Quo verletzt hat.

    Und die Ermordung Nemzows?

    Wenn der Staat etwas machen will, dann tut er das auch. Ich glaube aber nicht, dass die Ermordung Nemzows eine Operation auf Staatsebene war. Sie kam für den Kreml überraschend.

    Ich glaube nicht, dass die Ermordung Nemzows eine Operation auf Staatsebene war. Sie kam für den Kreml überraschend

    Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Putin auf den Straßen Leningrads großgeworden ist, die Sprache der Straße mag, und oft nach den ungeschriebenen Regeln der Ponjatija handelt.

    Er verwendet diese Wörter, um zu betonen, was er für ein cooler Typ ist; oder was will er sonst noch? Und wenn er nach den Ponjatija handelt, dann macht das vor allem deutlich, wie stark die Gewohnheiten und die Sprache des Gulag und der Verbrecher an die gesamte russische Gesellschaft weitergegeben wurden.

    Die Art und Weise, wie der Kreml vorgeht – das hat Sygar gut beschrieben – bedeutet nicht, dass die Nation per Handsteuerung regiert wird.

    Putin und der Kreml walten mit Hilfe von Andeutungen, damit die Leute selbst erraten, was von ihnen erwartet wird. So ist auch die Welt des Verbrechens gestrickt. 

    Putin und der Kreml walten mit Hilfe von Andeutungen, damit die Leute selbst erraten, was von ihnen erwartet wird

    Das kommt aber nicht daher, weil diese Leute Gangster wären, sondern weil in der Gesellschaft der Sowjetunion und Russlands alles so funktioniert hat; so hat sich das nun mal entwickelt.

    Meinen Sie auch, dass Russland Einfluss auf die Wahlen in den USA und anderen Ländern genommen hat?

    Es gibt viele Belege, dass russische Geheimdienste mit Hacker-Operationen in Verbindung standen. Das bedeutet nicht, dass sie hinter allen Hacker-Angriffen stehen. Mittlerweile aber ist es so, dass nach jedem derartigen Fall jemand die Russen beschuldigt. Manchmal zurecht, manchmal nicht. Was die Geschichte mit den US-Wahlen betrifft, denke ich jedoch, dass die russischen Geheimdienste beteiligt waren.

    Im Kreml war man überzeugt, dass Clinton siegen würde, und man wollte ihr einfach zusätzliche Probleme bereiten

    Ich denke nicht, dass die russische Regierung geglaubt hat, dass Trump gewählt werden könnte, oder dass sie unbedingt wollten, dass er gewählt wird. Im Kreml war man überzeugt, dass Clinton siegen würde, und man wollte ihr einfach zusätzliche Probleme bereiten, weil davon ausgegangen wurde, dass sie einen Kreuzzug gegen Russland anführen wird. Leute vom Fach, mit denen ich sprach, haben eingeräumt, dass es sie völlig kalt erwischt hat.

    Das bringt uns zu einem anderen Ihrer neuesten Bücher. Es geht darum, wie Putin vom Westen falsch wahrgenommen wird und dass der Westen Putin nutzt, um die eigenen Fehlschläge zu erklären. Funktioniert diese Strategie und wird sie von allen geglaubt?

    Ich denke nicht, dass es sich um eine Strategie handelt. Aber es gibt dieses Phänomen, weil man in Russland bestrebt war, ein Image von Putin als Mann der Tat und weisem Führer zu schaffen, der über alles im Bilde ist, was vor sich geht. Im Westen wurde er so zu einem modernen Widersacher von James Bond, der hinter allem steckt, was faul ist …

    Im Westen wurde Putin zu einem modernen Widersacher von James Bond

    Das ist sehr menschlich: Wir suchen immer jemanden, dem wir für alles die Schuld geben können. Der Westen erlebt gerade eine Legitimitätskrise – es gibt Trump, den Aufschwung der Populisten, den Brexit. Viele haben Fragen zum derzeitigen Status Quo, und in einer solchen Situation wird ein Buhmann gebraucht, auf der anderen Seite des Abgrunds.

    Das Gefährliche an der derzeitigen Krise zwischen Russland und dem Westen liegt darin, dass es zu vielen verpassten Möglichkeiten kommt. Es gibt nahezu keine Bereiche, in denen Russland und Europa offen zusammenarbeiten. Dabei ist Russland doch ein europäisches Land und kein eurasisches Imperium, wie Dugin meint.

    Die Probleme werden sich nur sehr schwer überwinden lassen, wenn Sie glauben, dass Putin ein böses Genie ist, das ständig neue Pläne zur Vernichtung des Westens und der gesamten Weltordnung ersinnt. Jedwede Initiative Russlands wird als Teil eines gerissenen Planes aufgefasst. Für den Westen wird es dann schwierig, konstruktiv mit Russland umzugehen.

    Sie ziehen sich ihren eigenen Putin heran …

    Ja, aber wenn wir von der Paranoia des Westens sprechen, dürfen wir auch nicht die Paranoia in der russischen Regierung vergessen. Dort gibt es Leute, die der Ansicht sind, dass der Westen Russland vernichten will. Das ist ein Teufelskreis beidseitiger Paranoia.

    Russland will als Weltmacht wahrgenommen werden. Zwar ist nicht die gesamte übrige Welt damit einverstanden, doch Russland versucht, dies zu erzwingen. In diesem Kontext ist es nicht gut, wenn du als finstere Macht aufgefasst wirst, die hinter allem Schlechten steckt, das geschieht.

    Und die Krim einzunehmen ist für eine solche Strategie förderlich?

    Nein. Ich verstehe zwar, warum die Krim erobert wurde, ich verstehe aber nicht die Art, wie das gemacht wurde, unter Verletzung des Völkerrechts, illegitim.

    Hätte es denn einen legitimen Weg gegeben?

    Wenn Russland wirklich geglaubt hat, es müsse die Krim schützen, so hätte es Möglichkeiten gegeben. Man hätte zum Beispiel Kiew zwingen können, ein legitimes Referendum unter internationaler Beobachtung abzuhalten. Und ich bezweifle nicht, dass die Bevölkerung der Krim Russland sowieso unterstützt hätte. 

    Wenn Russland wirklich geglaubt hat, es müsse die Krim schützen, so hätte es Möglichkeiten gegeben

    Das Referendum aber, das abgehalten wurde, sowie auch die Beteiligung am Konflikt im Donbass haben Moskau die Möglichkeit genommen, dass die Krim auf legitime Weise nach Russland zurückkehrt. Und das ist eine Tragödie, weil Moskau dadurch selbst die internationale Gemeinschaft von sich stößt und dafür sorgt, dass kaum jemand auf Russland hört.

    Der Effekt der Krim nach außen ist klar. Es gab jedoch eine Wirkung nach innen, die die Umfragewerte Putins himmelhoch ansteigen ließ. Vielleicht war das wichtiger?

    Es gibt hier einen Unterschied zwischen Politiker und Staatsmann. Für einen Politiker war die Aneignung der Krim ein absolut richtiger Schritt. Ich war damals in Moskau und erinnere mich an die riesige Begeisterung der Bevölkerung. Für einen Staatsmann aber, der an sein Land und an dessen langfristige Zukunft zu denken hat, [war dieser Schritt falsch].

    Sie haben in Ihren Interviews gesagt, dass Putin sich selbst eher als Staatsmann wahrnimmt, denn als Politiker, dass er an seine historische Rolle denkt, an die historische Rolle Russlands. Also ist er ein schlechter Staatsmann?

    Ich denke, er versteht nicht bis ins Letzte, was Russland in der Zukunft erwartet. Russland kann seine Zukunft nicht einfach als ein Land aufbauen, das in Opposition zum Westen steht.

    Russland kann seine Zukunft nicht einfach als ein Land aufbauen, das in Opposition zum Westen steht

    Das würde Russland jenen Ländern entgegenstellen, die seine natürlichen kulturellen Verbündeten sind, die über jene Technologien und Investitionsmittel verfügen, die Russland für seine Entwicklung benötigt.

    Ein kürzlich geführtes Interview mit Ihnen trug die Überschrift: „Wir müssen mehr über Russland lachen“. Denken Sie wirklich, dass sich bei uns etwas Lustiges abspielt?

    Die Überschriften für unsere Interviews denken wir uns ja nicht selbst aus. Ich hatte damit gemeint, dass es insbesondere in politischen Kreisen derzeit eine Hysterie um Russland gibt; und alles, was das Land unternimmt, wird als Teil eines albtraumartigen Plans wahrgenommen.

    Insbesondere in politischen Kreisen gibt es derzeit eine Hysterie um Russland 

    Was ich sagen möchte, ist, dass man damit aufhören sollte, in Hysterie zu verfallen und mit Russland umzugehen, als ob es das Reich des Bösen oder Mordor wäre.

    Manchmal muss man, anstatt enttäuscht zu sein, lachen und weitergehen.

    In der russischen Opposition gibt es einen populären Schlachtruf zu Putin, den wir hier wegen des Gesetzes über Missachtung oder Beleidigung der Staatsmacht nicht wiedergeben dürfen …

    Das ist ein blödsinniges Gesetz, aus dem die Ängste des Regimes sprechen: Wenn Sie Kritik verbieten, dann heißt das, dass sie viel Kritik erwarten, und dass Sie keinen besseren Ausweg wissen. Selbstsicherheit ist besser als die Kriminalisierung von Kritik. 

    Zwei Zitate von Ihnen: „Russland befindet sich in einem Transformationsprozess. Es bewegt sich, wenn auch langsam, auf ein westlicheres Modell zu“, und: „In 20 Jahren wird Russland dort stehen, wo sich Ungarn oder Bulgarien jetzt befinden“. 
    Woher nehmen Sie diesen Optimismus?

    Ich nehme bei der Bevölkerung den Wunsch nach einem normalen Leben wahr. Selbst Menschen, die sagen, dass sie Putin unterstützen, nennen bei der Frage, was für ein Land sie sich wünschen, Rechtsstaatlichkeit, freies Reisen ins Ausland, die Möglichkeit, ein Unternehmen zu gründen, ohne dass man Gefahr läuft, dass es einem von Bürokraten wieder genommen wird. Sie beschreiben also Freiheiten, die wir im Westen als unabdingbar sehen. Kulturell liegt Russland in Europa.

    Selbst wenn man nicht wegen der jungen Generation sentimental wäre, glaube ich zumindest an den Pragmatismus der Kleptokraten. Es gibt eine Generation, die in den 1990er Jahren mit beiden Händen geraubt hat, die meisten konnten ihr Vermögen bewahren. Jetzt aber bereiten sie sich darauf vor, diese Gelder an die nächste Generation weiterzugeben. 

    Das wird der größte generationenübergreifende Geldtransfer, den es je gab

    Das wird der größte generationenübergreifende Geldtransfer, den es je gab. Genau wie Mafiosi, die wollen, dass ihre Kinder Ärzte und Juristen werden, wollen die, die Geld gestohlen und alle möglichen Fiesheiten begangen haben, dass ihre Kinder in Einklang mit dem Gesetz und sicher leben und dass ihr Vermögen nicht in Frage gestellt wird. Es sind nicht die heldenhaften Proteste auf der Straße, die dem Land neue Gesetze bringen. So etwas geschieht, weil unangenehme Leute innerhalb des Systems sich klar werden, dass dies in ihrem Interesse ist. Und das wird auch geschehen.

    Wird Putin abtreten, und wenn ja, wie?

    Putin scheint selbst einen Nachfolger zu suchen, oder einen potentiellen Mechanismus zur Machtübergabe. 
    Es wird viel darüber geredet, ob ein Szenario a la Nasarbajew in Russland funktionieren würde. Ich denke, für Putin wäre es super, die Frage der Diversifizierung der Wirtschaft und der Renten jemand anderem zu überlassen. Er hat aber Leute um sich, die er schützen will, und zwar nicht nur seine Familie. Daher wird er wohl eine Position anstreben, die ihm Sicherheit verschafft, und die Möglichkeit, sich einzumischen. 

    Ganz subjektiv sieht es für mich nicht so aus, als ob Putin ewig regieren wolle.

    Wie unterscheiden Sie jemanden, der 30 Jahre regieren möchte, von einem der ewig herrschen will?

    Das ist vollkommen subjektiv. Ich schaue mir den Direkten Draht an, und da sieht er nicht so aus, als ob er es genießen würde. Er fährt jetzt weniger in die Regionen, um dort Probleme anzugehen; er ist weniger sichtbar.

    Putin versucht, dem Text der Verfassung zu folgen, wenn auch nicht ihrem Geist, was wir ja bei der Rochade mit Medwedew beobachten konnten. Er könnte 2024 mit einem verfassungsrechtlichen Schachzug aufwarten und das Spiel neu eröffnen, doch sieht es derzeit eher danach aus, als werde an einer neuen Funktion für ihn gearbeitet …

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    Am 31. März fand in der Ukraine die Präsidentschaftswahl statt. Für Beobachter war es schwer vorherzusagen, wer in die Stichwahl am 21. April kommen wird. Diese scheint nun genauso unberechenbar: Obwohl der Abstand zwischen Herausforderer Wolodymyr Selensky und Amtsinhaber Petro Poroschenko in der ersten Runde etwa 14 Prozentpunkte betrug, ist es nicht klar, wer am Ende gewinnen wird.

    Seit 2014 – mit der Angliederung der Krim und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine – sind die Beziehungen zwischen Moskau und Kiew zerrüttet: Der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch floh im Februar 2014 nach Russland, sein Nachfolger Petro Poroschenko vertritt dezidiert eine Anti-Kreml-Haltung. In seinem aktuellen Wahlprogramm befürwortet er etwa die EU- und NATO-Integration seines Landes. Demgegenüber äußert sich sein Herausforderer Selensky eher zurückhaltend: Sein Wahlprogramm, so einige Beobachter, sei in diesen Punkten eher schwammig formuliert.

    Wie schaut der Kreml auf die Wahl in der Ukraine? Auf welchen Kandidaten setzt Moskau bei der Stichwahl zwischen Poroschenko und Selensky?

    Diese Fragen beantwortet im Interview mit der Novaya Gazeta Gleb Pawlowski – ehemaliger Polittechnologe, der zu den Architekten des Systems Putin gezählt wird.

    Novaya Gazeta / Wjatscheslaw Polowinko: Wie zufrieden ist die russische Regierung mit der gegenwärtigen Lage nach dem ersten Wahlgang: Selensky in Führung, Poroschenko auf dem zweiten Platz?

    Gleb Pawlowski: Die russische Regierung ist mit dem Status quo natürlich nicht zufrieden. Ich denke, dem Kreml würde außer einem Sieg Boikos keine Konstellation passen. Selensky macht Poroschenkos Chancen auf einen Sieg im zweiten Durchgang praktisch zunichte. Aus der Sicht Moskaus wirkt er zu merkwürdig und unberechenbar.

    Moskau hat bisher nur mit Angehörigen des ukrainischen politischen Establishments zu tun gehabt und hat es sehr wohl vermocht, sich mit ihnen zu arrangieren – mit allen, auch mit Poroschenko. Der Kandidat Selensky steht für den Protest der Wähler gegen das Establishment, und er wird sich in seinem Vorgehen nicht sehr weit von seinen Wählern entfernen können.

    Selensky steht für den Protest der Wähler gegen das Establishment

    Seine Wähler, das ist die breite Masse der Bevölkerung, die des Krieges und der Welt müde ist, die sich nicht ins russische Bett legen will und die Korruption in Kriegszeiten nicht mehr ertragen kann. Man muss aber wissen, dass das keine pazifistischen Wähler sind; sie verlangen von Selensky nicht, dass er sofort den Krieg beendet. Im Grunde folgte die Wahl der Logik negativer Umfragewerte, und Selensky ist davon am wenigsten betroffen.

    Moskau könnte mit Selenskys Kandidatur teilweise zufrieden sein, weil er aus Sicht des Kreml ein schwacher Kandidat ist.

    Schließlich wird er ja nicht automatisch von der gesamten ukrainischen Bevölkerung akzeptiert werden; falls er gewinnt, wird das für ihn ein Problem sein, unter anderem mit Blick auf die Armee und die Kampfverbände, die im Großen und Ganzen nicht für ihn sind. Und außerdem ist da wieder das Problem der Westukraine, weil die Wahl dieses eindeutig nicht ukrainisierten Kandidaten bedeuten würde, dass es eine mehrheitliche Opposition gegen die Rolle gibt, die die Westukraine in letzter Zeit im Land gespielt hat.

    Der Kreml wird auf eine Chaotisierung des Spielfelds abzielen

    Es wird jetzt potentiell ein gewisses Machtvakuum entstehen, das nach dem zweiten Wahlgang zum Tragen kommen wird: Selensky wird es schwerfallen, die Anerkennung der gesamten Ukraine zu bekommen, und es wird einen gewissen Einbruch geben, eine Pause, in der Moskau in das Spiel einsteigen kann. Dass der Kreml das Spiel aufnehmen will, wird aus verschiedenen Vorstößen deutlich, etwa durch die Initiative, die Ergebnisse der Wahl in der Ukraine nicht anzuerkennen. Das ist eine recht dumme und schädliche Idee, weil dies eine direkte Einmischung in die Angelegenheiten der Ukraine bedeuten würde. Und zwar zu einem Zeitpunkt, da sich die Gelegenheit für politisches und diplomatisches Spiel ergibt. Der Kreml aber spitzt die Situation zu, wie das so seine Art ist, wenn es ein Problem gibt. Es ist zwar gefährlich, aber der Kreml wird auf eine Chaotisierung des Spielfelds abzielen.

    Selensky wird es nach Ansicht Moskaus damit nicht aufnehmen können; es wird zu dem für die Ukraine üblichen Krieg zwischen den Gruppierungen kommen. Die Kalkulation ist, dass die Probleme erneut von den Herren des Geldes und den bewaffneten Ressourcen gelöst werden.

    In den russischen wie auch in den ukrainischen Medien kursiert die Theorie, dass Selensky im Falle seines Sieges Julia Timoschenko zur Ministerpräsidentin machen könnte. Da sie schon einmal mit Russland zusammengearbeitet hat, könnte sie nach Ansicht der Analytiker zu einem zusätzlichen Faktor werden, mit dem Moskau auf ukrainische Politiker Druck ausüben könnte. Wie realistisch ist ein solches Szenario?

    Dann würde Selensky das Risiko eingehen, sofort die Unterstützung zu verlieren. Die Ukraine hat so etwas schon einmal durchgemacht: Sie hatte einen dritten Kandidaten gewählt, aber sobald dieser einen Deal mit dem Establishment gemacht hatte (wie das etwa bei Serhij Tihipko der Fall war), verlor dieser Kandidat für die Menschen sofort jede Bedeutung und schied aus der Politik aus. 

    Selensky muss schleichend und schweigend die Zeit bis zum zweiten Wahlgang überstehen und sollte sein Ansehen nicht durch Allianzen beschädigen. Allerdings kann ich mir nur schwerlich vorstellen, dass sich selbst dann um Poroschenko herum eine starke Koalition gegen den Gewinner des ersten Wahlgangs bildet.

    Es gibt das Stereotyp, dass der Kreml über viele Einfluss nehmende Agenten in der ukrainischen Politik verfügt. Wie sehr hat Russland derzeit von innen Einfluss auf die Politik der Ukraine?

    Russland hatte tatsächlich seit langer Zeit hervorragende und sehr gut entwickelte Verbindungen zum ukrainischen Establishment.

    Und wenn der Kreml nicht im Jahr 2014 eine Dummheit begangen und sich in ukrainische Angelegenheiten eingemischt hätte, wäre Putin auch heute noch oberster Schiedsrichter für alle zukünftigen politischen Kombinationen in der Ukraine.

    Andererseits bedeutet das aber nicht, dass ukrainische Politiker Agenten Moskaus sind. Selbstverständlich waren für Moskau die Kriegssituation und die Gebietsverluste seitens der Ukraine keineswegs hilfreich hinsichtlich einer Stärkung seines Einflusses. Das ist keine Frage der Agenten, sondern meiner Ansicht nach eine Frage der abnormen Enge der Verbindungen zwischen den Establishments der beiden Länder. Sie machen sich auf pathologische Weise gegenseitig das Leben schwer. Zumindest ist das für mich im Falle Russlands offensichtlich, weil diese Fixierung auf die Ukraine, wo es doch im eigenen Land solche Probleme gibt, schlichtweg Irrsinn ist. Uns sollte die Ukraine offen gestanden derzeit überhaupt nicht beschäftigen.

    Könnte der mögliche Sieg Selenskys für den Kreml zu einem unangenehmen Signal werden, da die Menschen in Russland dann vielleicht denken: Oh, es sieht so aus, als könnte man gegen die „alte Schule“ ankommen?

    Es ist schon seit langem bewiesen, dass die Dinge bei uns so nicht laufen. Diese Vorstellung stammt ebenfalls vom russischen Establishment, nämlich, dass die Bevölkerung nur auf das Geschehen in der Ukraine schaut.

    Selensky ähnelt sehr vielen Akteuren in unserem Showbusiness, den Schauspielern aus den Serien, es ist aber sonnenklar, dass keiner von ihnen eine solche Rolle übernehmen könnte, mal ganz davon abgesehen, dass gegen so jemanden sofort ermittelt werden würde.

    In Russland fehlt diese ukrainische Kombination aus Verzweiflung und der Bereitschaft, es mal zu probieren.

    Die Ukrainer treffen diese Wahl und sind sich des Risikos bewusst, was an sich schon wichtig und interessant ist. Bei uns ist die Situation eine andere, wir sind nicht die Ukraine, und nicht Kasachstan.

    Inwieweit kommt der bislang lokale Triumph Selenskys der russischen Propaganda gelegen? Man könnte ja bei seinen Misserfolgen dann sagen: „Schaut nur, wen die Ukrainer da gewählt haben!“. Wenn es Erfolge gibt, ließe sich ebenfalls etwas konstruieren. 

    Aus Sicht unserer Propaganda gelingt der Ukraine nie auch nur irgendetwas. Unsere Propaganda beruht auf der Vorstellung der vermeintlichen „ukrainischen Dummheit“. Die landesweiten Fernsehsender verbreiten, dass diejenigen, die sich für Ukrainer halten, einfach nicht sonderlich helle sind, und zu nichts fähig, vor allem nicht zum Aufbau eines Staates. Ich denke, dass die Propaganda auch weiterhin mit diesem recht toxischen Motiv operieren wird. Eine Wahl Selenskys dürfte als weiteres Zeichen dieser „ukrainischen Dummheit“ dargestellt werden.

    Eine Wahl Selenskys dürfte als Zeichen dieser „ukrainischen Dummheit“ dargestellt werden

    Wichtig ist, dass diese Thesen nicht nur Richtung Ukraine, sondern auch Richtung Europa verlautbart werden: Man sollte die Ukraine nicht unterstützen, die kann ja nicht einmal bei sich selbst für Ordnung sorgen. Das können nur wir, unterstützt also uns!

    Das sind doch recht fruchtlose Bemühungen…

    Bislang sind sie fruchtlos. Wir wissen allerdings nicht, wie die Lage in der Ukraine in einem halben Jahr ist. Wenn dort Chaos entsteht, könnte der Kreml meinen, dass Europa abwinken wird.

    Sie haben vor vielen Jahren fast alles vorhergesagt, was mit der Ukraine geschah. Hätten Sie sich in ihren kühnsten Prognosen vorstellen können, dass einer der Wahlsieger jemand sein könnte, der der Politik sehr fernsteht?

    Den Sieg eines Populisten vorauszusagen ist nicht schwierig. Das ist weltweiter Trend und Mainstream: Überall siegen die Populisten. Die sind aber alle unterschiedlich. Auch Wladimir Putin war ein Populist, der als solcher seiner Zeit voraus war. Selensky und seine Taktik sind etwas anders. Sein Populismus ist friedlicher und ist daher schwerer dingfest zu machen; ihm ist schwieriger etwas entgegenzusetzen. In seinem Programm gibt es keinen Feind, er ist kein Trump: Selensky verspricht nicht, die Ukraine groß zu machen und gleichzeitig alle Russen aus dem Land zu jagen.

    Von einem Populismus dieser Art konnte ich nicht ausgehen, und ich konnte nicht davon ausgehen, dass in Zeiten eines Krieges so jemand gewinnt. Das Phänomen Selensky macht deutlich, dass der neue Populismus sich nicht auf Figuren wie Trump oder Orbán beschränkt. Dieser Populismus wird neue Konstellationen hervorbringen. Darauf müssen wir vorbereitet sein.

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  • Vom Versuch der „einheitlichen“ Geschichte

    Vom Versuch der „einheitlichen“ Geschichte

    Kann Geschichte objektiv sein? Nein. Es geht immer um eine Neudeutung, um einen multiperpektivischen Blick. Was bedeutet das aber für ein einheitliches Geschichtslehrbuch? Die Initiative dafür wurde kurz nach Putins Amtseinführung gestartet, 2013 schließlich wies Präsident Putin das Bildungsministerium an, ein solches einheitliches Geschichtsbuch zu konzipieren. Es solle eine „kanonische Version“ der russischen Geschichte bieten. Zum Gegenargument, dass es eine solche nicht geben könne, da Historiker die Geschichte in einigen Fragen unterschiedlich bewerteten, sagte er, er sehe dabei keinen Widerspruch zu einem „einheitlichen Standard“. 
    Letzten Endes war es dann auch nicht ein einheitliches, sondern waren es drei Lehrbücher, aus denen russische Schulen ab dem Schuljahr 2015/16 auswählen sollten.

    Was bedeutet der Wunsch nach einheitlicher Geschichtsschreibung aber etwa für komplexe und umstrittene Fragen wie die Zeit des Großen Terrors unter Stalin oder die Revolution? Olga Filina hat für Kommersant-Ogonjok den Praxistest gemacht.

    Sechs Jahre, nachdem die Diskussionen hochgekocht waren, wie nützlich oder schädlich das „Einheitsgeschichtsschulbuch“ sei, stellt sich heraus, dass diese Schwalbe noch keinen Sommer macht: Selbst wenn es nun [drei] empfohlene Lehrbücher gibt, können den Schülern unverfälschte Versionen von Geschichte vermittelt werden – alles hängt allein von den Neigungen und dem Engagement des Lehrers und von seinen Methodikbüchern ab. Und gegen Neigungen und Methodiken ist, wie Ogonjok herausfand, bislang noch kein Kontroll-Kraut gewachsen.

    Unerwarteter Effekt

    „Die konzeptuelle Ausarbeitung eines neuen Lehr- und Methodik-Kompendiums zur russischen Geschichte sollte einen Konsens von professionellen Historikern, Lehrern und dem Staat festschreiben“, erläutert Galina Swerewa, Leiterin des Lehrstuhls für Geschichte und Kulturtheorie der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU). „2016 bildeten sich die Konturen einer gemeinsamen Position heraus: Zum einen war man übereingekommen, dass sich eine allgemeingültige Vorstellung über die wichtigsten Entwicklungsetappen des russischen Staates herstellen lässt, und dass – aufgepasst! – ,die verbreitetsten Ansichten in Zusammenhang gesetzt werden können‘ mit den wichtigsten Ereignissen unserer Geschichte. Zweitens einigte man sich darauf, dass man einander ausschließende Interpretationsstränge historischer Ereignisse durchaus vermeiden könne. 

    Es gehörte großes Geschick dazu, auf dieser Grundlage ein Lehrbuch zu verfassen, schließlich hatten die Autoren alles in „Zusammenhang“ zu bringen und Widersprüche auszuschließen. Was ist dabei herausgekommen? Eine Art Telefonbuch, ein leerer Raum von Text mit einer Aneinanderreihung von Namen, Daten und ‚Standpunkten‘. Also musste man sich überlegen, wie die Schüler zu unterrichten wären. Und hier kam die Methodik ins Spiel …“

    Vieles hängt nun vom Lehrer ab

    „In nächster Zeit werden im Internet und in großer Auflage gedruckte Methodik-Hefte erscheinen, zu jeder der 20 ,schwierigen Fragen unserer Geschichte‘. Sie sind von unserem Team entwickelt worden“, berichtet Alexander Tschubarjan, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften und Leiter der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung neuer Lehrbuchrichtlinien. „Ein Lehrer kann natürlich auch andere Methodik-Hefte nutzen, die ihm interessanter erscheinen. Wir können ihm etwas empfehlen. Wir können aber nicht verfolgen, ob er die Empfehlungen umsetzt. Außerdem, das möchte ich hervorheben, haben die neuen Standards für den Geschichtsunterricht in der Schule dazu geführt, dass sich die Rolle des Schulbuches im Unterrichtsgeschehen erheblich verringert hat, während gleichzeitig die Rolle des Lehrers stärker geworden ist. Von dessen Einschätzungen hängt nun sehr viel ab.“

    Wenn man das jemandem 2013 gesagt hätte, dass die Idee eines Einheitsgeschichtslehrbuches den überraschenden Effekt hat, dass die „Interpretations-Anforderung“ an den Lehrer steigt, hätte einem das kaum jemand geglaubt.

    Zu Beginn des Projekts hatten alle auf das vereinheitlichende Potenzial gehofft (und es gefürchtet). In Wirklichkeit hat sich das Einheitslehrbuch weniger als ein hochgezogener Damm erwiesen denn als Schutzschirm, der die angsteinflößende Vielfalt an Sichtweisen auf die Geschichte Russlands verdecken soll.

    Inspiziert man die didaktischen Materialien zur Geschichte, die in einer großen Buchhandlung zur Auswahl stehen, so lassen sie sich (grob) in vier Gruppen unterteilen: in „vermittelnde“, prosowjetische, monarchistische und „aktuell politische“ Werke. In der Regel gelten Lehrer und auch Hochschulstudenten als Leserschaft dieser Lehrwerke, doch können sie praktisch an jeden adressiert sein. Die Reichweite des Vertriebs hängt eher vom Lobbypotenzial ihrer Macher ab.

    Diplomatische Geschichtsschreibung

    Eines der respekteinflößendsten Werke sind die Schwierigen Fragen der Geschichte Russlands: Vom 20. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts eines Autorenkollektivs der Moskauer Pädagogischen Hochschule. Gattungsmerkmal der „vermittelnd“ ausgerichteten  Lehrmaterialien ist die Formulierung „einerseits … andererseits“. So begegnen uns in dem weniger bekannten Begleitbuch von Juri Schestakow, einem Historiker einer Außenstelle der Staatlichen Technischen Don-Universität (das Buch hat immerhin zwei Neuauflagen erfahren), meisterlich geschmiedete Wechselwirkungen, die die Mobilisierung in den 1930er Jahren gehabt hätte: „Einerseits zwang dieser Weg dem Volk einen hohen Preis auf (Massenrepressionen, Leibeigenschaft in den Kolchosen, niedriger Lebensstandard, fehlende bürgerliche Freiheiten und so weiter). Andererseits waren die sozialen Kosten teilweise niedriger als in den Ländern mit Marktwirtschaft (fehlende Arbeitslosigkeit, kostenloses Bildungs– und Gesundheitssystem, geringe Kommunalabgaben, garantiertes Konsum-Minimum und so weiter).“

    Die rote Geschichtsschreibung

    In den prosowjetisch ausgerichtetender Begleitbüchern sind alle Schattierungen des Roten vertreten, von dubiosen Werken bis hin zu wissenschaftlich anerkannten Arbeiten wie beispielsweise denen des Historikers Lennor Olschtynski.

    Als kleines Stilbeispiel mag das im Internet intensiv beworbene Material von Jewgeni Spizyn dienen, einem „Geschichtslehrer mit 20-jähriger Berufserfahrung“, der die Herausgabe seines mehrbändigen Werkes über Crowdfunding finanzierte: 

    „Was die sogenannten Erschießungslisten anbelangt, so läuft hier eine ganz direkte Fälschung seitens sämtlicher eingefleischter Antistalinisten“, erklärt der Autor. „[…]  Es hat keinerlei persönliche und konkrete Anweisungen zur Erschießung bestimmter Menschen gegeben, weder durch Josef Stalin, noch durch dessen engste Mitstreiter; all diese Menschen wurden von Gerichten zur Höchststrafe [der Todesstrafe – dek] für Verbrechen verurteilt, die im Zuge einer gerichtlichen Untersuchung nachgewiesen worden waren.“

    Die monarchische Geschichtsschreibung

    Die Monarchisten, die zunächst gewissenhaft und gebildet durch Bücher des Historikers Andrej Subow hervorgetreten waren, melden sich seit dem vergangenen Jahr lauter zu Wort. Die unlängst gegründete Gesellschaft für historische Bildung Doppelköpfiger Adler (Initiator und Spiritus rector der Gesellschaft ist Konstantin Malofejew, der Besitzer des Fernsehsenders Zargrad) hat unter dem Titel Schwierige Fragen unserer Geschichte ihr eigenes Lehrwerk veröffentlicht. Herausgeber ist Dimitri Wolodichin, Professor an der Historischen Fakultät der MGU

    Das sowjetische Regime wird in diesem Buch erwartungsgemäß negativ bewertet. Dabei wird als Hauptmerkmal Stalins dessen „tiefer quasireligiöser Fanatismus“ genannt. Und die Untätigkeit des Zaren Nikolaus' II. in der Zeit, die heute als „Große russische Revolution“ bezeichnet wird, erfährt dort folgende Charakterisierung: 

    „Wie hätte der Herrscher den Befehl zum Krieg mit seinen eigenen Untertanen geben können? Mit jenen, denen er so viel Kraft und Arbeit gewidmet hat. Die russischen Monarchen betrachteten ihr Volk stets als ihre Kinder, und wie kann der Vater gegen seine Kinder in den Krieg ziehen? Nikolaus II. beschloss, sich selbst zu opfern …“ 

    Eine Präsentation des Lehrbuches hat – folgt man allein den Informationen auf der Website – bereits in der Schule Nr. 41 in Kaluga, in der Schule Nr. 37 in Iwano-Wosnessensk, im Kadetten-Corps der Kosaken in Schachty sowie in einem Dutzend Bibliotheken anderer Städte stattgefunden. Eingeladen waren hierzu „führende Geschichtslehrer“ (den Bibliotheken wurden kostenlos Exemplare des Buches übergeben).

    Die offiziöse Geschichtsschreibung

    Schließlich sind da noch jene Lehrbücher irgendwie zu benennen, die auf Initiative bekannter Vertreter des russischen Staatsapparates verfasst wurden. Kurz gesagt könnte man sie als „aktuell-politisch“ bezeichnen.

    Die Siegerpalme gebührt hier einem Werk, das bereits 2012 entstand und von Wladimir Jakunin, dem Ex-Chef der Russischen Eisenbahn, gesponsert wurde: das Lehrbuch für den Lehrer zur Geschichte Russlands. Herausgeber war Stepan Sulakschin. Das Buch ist durch seine chauvinistische Ausrichtung bekannt und durch Zitate wie: 

    „Der Große Terror stellte, unter der gegebenen Fragestellung, einen Feldzug nationaler Kräfte gegen die internationalistische Übermacht dar.“ 


    Doch das „offizielle Gesicht“ des aktuellsten Lehrbuches ist natürlich Kulturminister Wladimir Medinski, unter dessen Redaktion das für Schüler geschriebene Buch Militärgeschichte entstanden ist. Wladimir Solotarjow von der MGU hob als Rezensent die Objektivität der Autoren hervor, die vermieden, von „der Fiktion einer aggressiven sowjetischen Politik am Vorabend des Krieges zu sprechen, […] wie sie bis heute von westlichen und zum Teil von russischen Medien verbreitet wird“.

    „Gefährdende“ Geschichtsschreibung

    In dieser ganzen Vielfalt von Veröffentlichungen sind natürlich auch Interpretationen der Vergangenheit zu finden, die aus der Ecke der Bürgerrechtler und Liberalen stammen. Doch die sind auf dem Massenmarkt weniger konkurrenzfähig: Allen zu Ohren gekommen ist der Fall des Methodik-Begleitbuches für Lehrer der 9. bis 11. Klasse des Historikers Andrej Suslow aus Perm und seiner Kollegin Maria Tscheremnych. Das Buch wurde 2017 per Gericht als gefährlich für die psychische Gesundheit von Kindern eingestuft. Ein Gutachten der Aufsichtsbehörde für Massenkommunikation Roskomnadsor, befand: Aussagen in dem Lehrbuch zum sowjetischen Regime der 1930er Jahre, wie zum Beispiel „die maßgebliche Rolle von Gewalt in der Ideologie und Praxis der Bolschewiki“, „die Grausamkeit der bolschewistischen Anführer (Stalin, Lenin und andere) gegenüber dem eigenen Volk“ und so weiter – würden einen „schweren, emotionalen Druck der Angst und des Hasses“ reproduzieren und seien daher für Schüler ungeeignet. Das Buch ist nach wie vor im Internet zu finden, von der Website des regionalen Bildungsministeriums ist es aber verschwunden.

    Meinung statt Fakten?

    Bedeutet dies alles nun, dass die Regierung nach einer „einheitlichen Richtlinie für Lehrbücher“ intensiver auch eine „einheitliche Richtlinie für methodische Begleitmaterialien“ einführen sollte, weil sonst Gefahr und Bürgerkrieg drohen?

    „Die Freie Historische Gesellschaft machte ihre Position deutlich: Bevor irgendetwas zu ‚Lehrmaterial‘ wird, ist eine Erörterung des Projekts in Fachkreisen erforderlich“, sagt der Historiker Iwan Kurilla, Professor der Europäischen Universität in Sankt Petersburg. „Es kann keine Rede davon sein, dass Historiker den Meinungspluralismus zerstören wollen: Pluralismus ist gut, aber nur dann, wenn er nicht unter dem Anschein, es handele sich um Fakten, Meinungen aufnötigt.“

    Doch anscheinend werden die fachliche Bewertung und das Einvernehmen, das Historiker mit Regierung und Lehrern bei gemeinsamer Betrachtung unserer Vergangenheit herstellen konnten, ziemlich genau durch diejenigen Schulbücher umrissen, die vorhanden sind. Dort bleiben nämlich alle schwierigen Fragen gewissermaßen außen vor. Innerhalb der „schwierigen Fragen“ Meinung von Fakten zu trennen, ist eine überaus komplizierte Aufgabe, die schlichtweg eine Erneuerung nicht nur der Lehrprogramme, sondern auch der allgemeinen Haltung der Gesellschaft zum 20. Jahrhundert erfordern würde. 

    Es ist es allem Anschein nach unmöglich, zu einem eingängigen, den Schülern vermittelbaren Verhältnis zur Geschichte zu gelangen, ohne bei dem, was mit Russland geschah, die berüchtigte Unterscheidung zwischen Gut und Böse vorzunehmen.

    Olga Malinowa, Professorin an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Higher School of Economics in Moskau, meint: „Der Versuch, alle zufriedenzustellen und in der Schule eine einheitliche Version der Geschichte zu entwickeln, konnte wohl kaum gelingen, weil der Konflikt zwischen den Geschichtsinterpretationen sehr viel tiefere Gründe hat.“ 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Wir sind dann mal weg …

    Wir sind dann mal weg …

    Wie viele Russen das Land verlassen, wohin und weshalb sie gehen. Das Onlinemedium Projekt hat verschiedene Zahlen aufbereitet und verglichen.

    Im Oktober 2018 hat Wladimir Putin ein neues Konzept zur Migrationspolitik unterzeichnet. Es gilt als Versuch, Landsleute aus dem Ausland zur Rückkehr nach Russland zu bewegen. Gründe, besorgt zu sein, hat die Regierung sehr wohl: Das Jahr 2017 ist in der Statistik durch einen drastischen Anstieg der Auswandererzahl gekennzeichnet: 377.000 Personen, die das Land verlassen haben, hat das russische Amt für Statistik Rosstat in diesem Jahr verzeichnet. In dem Zeitraum vergleichbarer Messwerte [2012 bis 2017] ist das ein Rekordwert. Gegenüber 2012 hat sich die Zahl der Ausgewanderten fast verdoppelt.

    Anmerkung von dekoder: Die russische Statistikbehörde Rosstat modifizierte in den vergangenen Jahren mehrmals die Methodik bei der Erfassung von Migrantenzahlen, zuletzt 2011. Damals entschied Rosstat, auch Arbeitsmigranten in die Statistik aufzunehmen. Diese kommen vor allem aus Zentralasien und dem Kaukasus nach Russland. Streng genommen handelt es sich bei dieser Gruppe nicht um Emigranten, sondern um sogenannte Gastarbeiter, die in ihre Heimatländer zurückkehren.

    Gestiegen ist nicht nur die Gesamtzahl der Emigranten [inklusive der Arbeitsmigranten, die von der offiziellen Statistik ebenfalls erfasst werden. Streng genommen sind diese aber keine Emigranten, sie kehren lediglich in ihre Heimatländer zurück – dek]. Auch die Zahl derjenigen, die das Land in Richtung fernes Ausland verlassen haben, ist angestiegen. 
    Bezogen auf russische Staatsangehörige ist die Situation die gleiche. 2017 sind fast doppelt so viele russische Staatsangehörige ausgewandert wie noch 2012. Allein im Laufe der dritten Amtszeit von Präsident Putin sind 1,7 Millionen aus Russland fortgezogen, das sind zunächst einmal nur die Berechnungen von Rosstat.



    Quelle: Rosstat (1, 2) / zitiert nach Projekt

    Ein Vergleich mit Statistiken anderer Länder über zugezogene Menschen aus Russland zeigt aber: Die Angaben von Rosstat sind um ein Vielfaches zu niedrig. Aktuelle Daten (zuletzt zu 2017) sind nur für einige Länder verfügbar. Sie besagen Folgendes: Das Ministerium für Heimatschutz der Vereinigten Staaten zählte sechs Mal mehr zugezogene Russen als Rosstat. Am stärksten weichen die Angaben von Rosstat von den Daten aus Tschechien und Ungarn ab, sie liegen dort beim Zwölf- beziehungsweise Vierzehnfachen. Insgesamt ergibt sich, dass in 24 Ländern der OECD, aus denen für 2016 Angaben zu Ankommenden aus Russland vorliegen, sechsmal mehr Menschen Russland verlassen haben, als bei Rosstat angegeben sind.
    Bei der russischen Statistikbehörde werden die Unstimmigkeiten eingeräumt; nicht alle Emigranten würden registriert: „Viele lassen sich nicht von den Meldelisten streichen und fallen dadurch nicht in die Kategorie Emigranten. Diese Menschen sind in Russland gemeldet, leben aber in Wirklichkeit in anderen Ländern.“

    Differenz: Rosstat vs. Statistikbehörden der jeweiligen Länder (2016)

    Quelle: Rosstat / OECD / Eurostat etc. / zitiert nach Projekt

    Der Begriff „Russische Welt“ [Russki Mir] hat sich unter Putin zu einem politischen Statement gewandelt: In den Reden des Präsidenten und seiner Umgebung – besonders bei Patriarch Kirill – ist der Begriff oft zu hören. Eben diese Russische Welt, deren Eindringen man in vielen Ländern fürchtet, könnte eine ganz andere Bedeutung bekommen: Unsere Studie zeigt, wie groß weltweit die Zahl derer ist, die sich als [ethnische] Russen oder als Bürger Russlands wahrnehmen.
    Russland lag bei der Zahl der „Verluste“ 2017 weltweit auf Rang drei: Über die Welt verstreut leben 10,6 Millionen Menschen, die Russland verlassen haben. Das sind sieben Prozent der Bevölkerung Russlands im Jahr 2017 und vier Prozent aller Emigranten weltweit.

    Top-10 der Herkunftsländer von Migranten weltweit

    Quelle: UN (2017) / zitiert nach Projekt

    Laut Rosstat hat die Einwohnerzahl Russlands im Jahr 2018 zum ersten Mal seit 2008 abgenommen. Sie beträgt mit der völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Krim 146.793.700 Menschen. Laut UN gibt es derzeit mehr als 250 Millionen Migranten weltweit. 



    Quelle: UN / zitiert nach Projekt

    Der Anstieg der Migrantenzahlen ist ein globaler Trend. Die Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten in den meisten Ländern zu einer drastischen Zunahme der Auswandererzahlen geführt.

    Die Russische Welt ist sehr viel größer, als sich berechnen ließe. Diejenigen, die sich den ethnischen Russen zurechnen, aber nicht mehr die Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation besitzen, tauchen in den Statistiken nicht auf. Auch jene Nachkommen von Emigranten, die sich durch die Sprache eine nationale Identität bewahrt haben, gelangen nicht in die Statistiken. Es gibt weltweit sehr viel mehr Russen (im weiteren Sinne), als sich durch die Emigrationsstatistiken nachvollziehen lässt. Ihre Gesamtzahl ist nicht bekannt, Zahlen gibt es nur für einige Länder. 
    Im Jahr 2017 haben beispielsweise in den USA 2,6 Millionen Menschen eine russische Herkunft angegeben. Als Herkunft gilt hier die ethnische Zugehörigkeit einer Person, ihre Wurzeln, ihr Geburtsort oder der ihrer Vorfahren. Die Anzahl solcher Personen ist in den letzten Jahren rückläufig: 2010 hatte sie noch 2,9 Millionen betragen. Eine entgegengesetzte Tendenz ist hinsichtlich des Gebrauchs des Russischen zu beobachten. Wenn 2010 noch 854.000 Menschen Russisch als die Sprache angaben, die zu Hause gesprochen wird, waren es 2017 bereits 936.000. 2018 landete das Russische in den USA auf Platz neun der zu Hause gesprochenen Sprachen.

    Russische Migranten in Deutschland

    Ein weiteres Land, das bei Russen begehrt ist, ist Deutschland. Hier wird keine Statistik darüber geführt, wie viele Menschen sich als aus Russland stammend wahrnehmen. Berechnungen ergeben aber, dass es in Deutschland unter den 19 Millionen Menschen ausländischer Herkunft 1,4 Millionen mit Wurzeln in Russland gibt. Das bedeutet, dass diese Menschen selbst oder ihre Vorfahren aus Russland nach Deutschland gekommen sind. Dazu zählen Menschen, die entweder als Ausländer in Deutschland leben, oder solche, die bereits die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben.
    Was die Sprache betrifft, so wird in Deutschland in 14 Prozent aller Haushalte, in denen die Hauptsprache nicht Deutsch ist, Russisch gesprochen. Nach Berechnungen von Projekt sprechen im Schnitt 1,1 Millionen Menschen in Deutschland vorwiegend Russisch zu Hause. Nach dem Türkischen liegt das Russische bei den nichtdeutschen Sprachen, die in Deutschland zu Hause gesprochen werden, auf dem zweiten Platz.

    Gründe für die Emigration

    2016 hat das Lewada-Zentrum eine Umfrage zu den Gründen durchgeführt, die die Menschen an Emigration denken lassen. Die meisten nannten bessere Lebens- und Alltagsbedingungen im Ausland und klagten über die instabile Wirtschaftslage in Russland. Die übrigen wollten ihren Kindern eine anständige und hoffnungsvolle Zukunft sichern oder Russland wegen fehlenden Schutzes vor Behördenwillkür verlassen. Ein nicht geringer Anteil der Befragten begründete den Auswanderungswunsch mit der Möglichkeit, im Ausland eine bessere medizinische Versorgung zu erhalten. Weitere Gründe waren die Geschäftsbedingungen für Unternehmen in Russland, die politischen Zustände und fehlende Möglichkeiten für beruflichen Aufstieg.

    Warum kommen die Menschen auf die Idee, aus Russland zu emigrieren?


    Anteil der Respondenten, die angegeben haben, über eine Emigration nachgedacht zu haben. Quelle: Lewada (2016) / zitiert nach Projekt

    Die stärkste Tendenz zur Emigration haben laut Rosstat in Russland junge Menschen. Die meisten Emigranten sind zwischen 20 und 34 Jahre alt. Dabei bevorzugen die Jüngeren die Länder des fernen Auslands als Ziel, dorthin zieht es Menschen zwischen 20 und 24. In die Länder der GUS gehen meist jene, die über 30 sind.

    Auswanderer russischer Staatsangehöriger nach Altersklassen


    Quelle: Rosstat (2015, 2016, 2017) / zitiert nach Projekt

    Schaut man sich in den Rosstat-Statistiken die russischen Staatsangehörigen an, ist die Situation eine andere. Die meisten Auswanderer sind zwischen 25 und 34. Die Hälfte jener, die aus Russland ins ferne Ausland fortziehen, hatte noch keine Familie gegründet und war niemals verheiratet gewesen. Das erhöht die Chancen, in einem anderen Land Wurzeln zu schlagen.

    Auch der Brain Drain nimmt an Fahrt auf: 2017 hatten 22 Prozent der Emigranten, zu denen Rosstat Bildungsdaten vorliegen, eine abgeschlossene höhere Bildung, unter anderem auch akademische Grade. Die Zahl der Emigranten mit Hochschulbildung wächst mit jedem Jahr, von 17 Prozent 2012 auf heute 22 Prozent. Vor der Änderung der Methodik, mit der Emigranten durch Rosstat registriert werden, war ein ähnlicher Anstieg zu beobachten gewesen – von 28 Prozent 2008 auf 34 Prozent 2011. 

    Die meisten Arbeitsmigranten aus Ländern der GUS haben keine höhere Bildung, und das führte im Weiteren in den Statistiken zu einem sinkenden Anteil der Emigranten mit höherer Bildung.

    Im Jahr 2017 sind Russen mit Hochschulbildung meist nach Deutschland, in die USA, nach Israel und in die Volksrepublik China gegangen. Diese Länder des fernen Auslands hatten auch im vergangenen Jahrzehnt in Bezug auf russische Einwanderer mit höherer Bildung an der Spitze gelegen: Auf dem ersten Platz lag Deutschland, dann die USA, Israel, China und Kanada.



    Quelle: Rosstat / zitiert nach Projekt

    Nicht nur Menschen mit höherer Bildung emigrieren aus Russland, sondern auch solche mit viel Geld. Den Daten der Studie Global Wealth Migration Review 2018 der Consultingfirma New World Wealth zufolge liegt Russland bei der Zahl der Dollarmillionäre, die das Land 2017 verlassen haben, an sechster Stelle. Diesen Angaben zufolge sind rund 3000 Millionäre aus Russland fortgezogen, vor allem in die USA, nach Zypern, Großbritannien, Portugal und in die Länder der Karibik. Und diese Zahl umfasst nur jene, die das Land tatsächlich hinter sich gelassen haben. In der Studie sind dies Personen, die sich über ein halbes Jahr im Ankunftsland aufgehalten haben.

    Es entfliehen nicht nur jene dem Land, denen es gut geht: Auch Asylanträge, die wegen Problemen in der Heimat gestellt werden, sind eine Erscheinungsform von Emigration. Die Demografin Julia Florinskaja erläutert, dass aufgrund der politischen Situation derzeit unter den Asylsuchenden vermehrt Oppositionelle zu finden sind, die strafrechtlich verfolgt werden, sowie Menschen mit „nicht traditioneller“ sexueller Orientierung. Insgesamt sind 2017 in den 28 Ländern der EU rund 12.700 Asylanträge von russischen Staatsangehörigen eingegangen. Was die Zahl der gestellten Anträge angeht, liegt Deutschland an der Spitze, gefolgt von Frankreich, Polen, Österreich und Finnland.

    Russen suchen nicht nur in Europa Asyl: Weitere 2700 Anträge wurden 2017 in den USA gestellt. Während die Gesamtzahlen für die EU-Staaten seit 2014 zurückgehen, stellen in den USA Jahr für Jahr mehr Russen einen Asylantrag. 2000 waren es noch 856, 2014 wurde dann die Tausendermarke überschritten und bis 2016 hatte sich die Zahl noch einmal verdoppelt.  

    Top-10 der EU-Länder, in denen Menschen aus Russland 2017 Asyl beantragt haben


    Quelle: Eurostat (2017) / zitiert nach Projekt

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    Schlimmer gehts nimmer

    Wenn das Realeinkommen fünf Jahre hintereinander fällt, dann sollte man den Chef der Statistikbehörde feuern – so höhnten einige russische Wirtschaftsexperten nach der Kündigung des Rosstat-Leiters Ende Dezember 2018. 

    Die Wirtschaft schwächelt; wegen Rentenreform, Inflation und Steuererhöhungen bleibt am Ende weniger in der Tasche. Und genau das trieb viele Menschen unlängst auf die Straße.

    Doch Reformen seien derzeit nicht zu erwarten, meint der Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin, da viel zu viele Amtsträger in den Sicherheitsstrukturen vom derzeitigen System profitieren würden. Wie ist der Wirtschaftsmisere also beizukommen? Oder, anders gefragt: Worauf hofft Putin noch? Diese Frage stellt The New Times mehreren Experten, unter anderem dem Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew.

    Worauf ist der Rückgang der Umfragewerte von Wladimir Putin wie auch der Regierungspartei Einiges Russland zurückzuführen? Auf den alles andere als glänzenden Zustand der heimischen Wirtschaft, die Anhebung des Rentenalters und die ständig steigenden Steuern und Preise. Das hat unter Experten erneut zum Nachdenken darüber geführt, worauf der Präsident eigentlich hofft, welche seine nächsten Schritte sein werden und was Russland „nach Putin“ erwartet.

    Die letzten Regierungsmaßnahmen unterscheiden sich deutlich von dem, was wir während der Krisen 2008/09 und 2011/12 beobachten konnten, so unterschiedlich diese Krisen auch gewesen sein mögen. 
    Bei der ersten Krise wurde aus Angst vor einem bevorstehenden wirtschaftlichen Kollaps mehr Geld in die Wirtschaft gepumpt als je zuvor in postsowjetischer Zeit. Dadurch wurden die Einkommen der Bevölkerung auf einem Vorkrisenniveau gehalten und sogar ein wenig angehoben, was in keinem der westlichen Länder gelang. Bei der zweiten Krise setzte der Kreml auf eine Reform des Wahlsystems und führte die Gouverneurswahlen wieder ein. Das war ein Versuch, die politische Situation unter Kontrolle zu behalten, was zugegebenermaßen auch durchaus gelang.

    Heute sehen wir ein entgegengesetztes Bild: Weder in der Wirtschaft noch in der Politik sind Zugeständnisse, ganz zu schweigen von einem Kurswechsel, abzusehen: Die Steuern werden weiter steigen (selbst bei Haushaltsüberschüssen), und unpopuläre Kandidaten werden auf einflussreiche Posten gehievt (obwohl oppositionelle Kandidaten nicht weniger verhandlungsbereit sind).

    Die harte Variante

    Warum wird dieses Mal auf eine harte Variante gesetzt? Hierfür gibt es meiner Ansicht nach eine Reihe von Gründen.
    Zum einen hat Putin zwar nicht direkt seinen Realitätssinn eingebüßt, ist aber meiner Meinung nach endgültig der Überzeugung, dass er kein Volk regiert, sondern eine amorphe Masse, die schon längst aufgehört hat, sich als Subjekt zu fühlen. Und da liegt er richtig, wenn man die Proteste gegen die Rentenreform mit den Ereignissen 1995 in Frankreich vergleicht, und die Reaktion auf die steigenden Preise und Steuern ebenfalls mit Frankreich, und zwar mit dem von heute. Widerstand gegen seine Politik hat er nicht zu erwarten, und Umfragewerte bedeuten nichts in einer Gesellschaft, in der es zwar Wahlen, aber keine Opposition gibt.

    Zweitens hofft der Präsident angesichts der sich verschärfenden Sanktionen, der instabilen Ölpreise und der stagnierenden Wirtschaft wahrscheinlich auf ein Wunder, wie es im Laufe seiner Regierungszeit nicht wenige gegeben hat. Er selbst und seine nähere Umgebung sind endgültig zu Ikonomen geworden in jenem Sinne, wie in folgendem bekannten Witz: „Was, denken Sie, sollen wir gegen die sinkenden Löhne tun?“, fragt ein Russe einen Amerikaner. Der antwortet: „Improve the investment climate – it’s only about economy. Just economy!“ „Oh, danke! Gut, mit Ikonen also!“. Daher ist der nächste Besuch des Präsidenten bei seinem Seelsorger alles, was wir als Antwort auf die  wirtschaftlichen Probleme erwarten können.

    Drittens muss berücksichtigt werden, dass der politische Kurs im Land heute von einer Sekte sogenannter Methodologen bestimmt wird, mit Sergej Kirijenko an der Spitze. Das Grundprinzip besteht, wie bei Rollenspielen,  darin, dass der Auftraggeber zunächst in eine immer kritischere Lage gebracht wird und dann einen Ausweg finden soll. 

    Derzeit befinden wir uns in der ersten Phase eines solchen Prozesses, in der alles hinreichend kontrollierbar erscheint. Bis zur eigentlichen Krise ist es noch weit.

    Viertens hat sich der Druck von Seiten der Außenwelt erschöpft – auf den viele in Russland als Beschleuniger eines Wandels gehofft hatten: Der Westen sieht keine Gründe, seine Interessen nur dafür zu opfern, um die Stabilität eines Regimes zu untergraben, gegen das die eigene Bevölkerung nur höchst unwillig aufsteht. Radikale Maßnahmen wie der Ausschluss Russlands von den internationalen Clearingsystemen für Finanzoperationen oder ein Embargo auf russische Energieimporte erscheinen da unrealistisch.

    Es wird schlechter, eine Revolution bleibt aber aus

    All das führt mich zu der Auffassung, dass sich die Situation in nächster Zeit weiter verschlechtern wird, wobei Putin wahrscheinlich noch nicht alle „Trümpfe“ aus dem Ärmel gezogen hat (so bleibt etwa eine Verfassungsreform, die ihm lebenslang die Macht sichern würde, weiter auf der Agenda).

    Allerdings sehe ich bislang keine Gründe, warum eine solche Verschlechterung irgendwelche revolutionären Änderungen hervorrufen sollte: Wenn wir uns die Geschichte sämtlicher postsowjetischer Länder anschauen, und seien es die schwierigsten dieser Momente und die ärmsten dieser Länder, so werden wir kein einziges Beispiel einer ernsten Destabilisierung finden, die durch rein wirtschaftliche Probleme ausgelöst worden wären. Selbst bei solchen, die alle Bürger betreffen – wie die Anhebung des Rentenalters, die Inflation oder die Steuererhöhung.

    Daher denke ich nicht, dass es der Präsident nötig haben wird, zur Aufbesserung seiner Umfragewerte Belarus zu besetzen oder irgendwo in Afrika einen Krieg anzufangen. Die größte Gefahr kommt für ihn derzeit nicht von seinen Untertanen, sondern von der Bürokratie: Denn der Anstieg der Aufwendungen für Bürokraten – eine Art Lohn für Loyalität – macht den Effekt jedweder Steuererhöhung zunichte. Die wachsenden Ausgaben für sie decken bereits einige Jahre schon nicht mehr die von ihnen produzierten öffentlichen Güter. Und dahingehend wird sich die Lage nur verschlechtern. Doch ob in genau diesem Bereich Änderungen erreicht werden können, davon wird letztendlich das Überleben des Putinismus abhängen. Eines Putinismus, für den die Bevölkerung immer unwichtiger wird.

    Das System bleibt bestehen

    Wird das derzeit in Russland bestehende System in nächster Zukunft auseinanderbrechen? Nein, und das aus zwei Gründen.

    Einerseits hat sich die Wirtschaft als erheblich stabiler erwiesen, als von vielen erwartet, und das sogar unter sehr schwierigen Bedingungen. Es wird noch lange eine Nachfrage nach Öl geben, und die Manipulierung des Rubelkurses bei stagnierendem Wachstum und geringer Inflation ermöglicht es, noch geraume Zeit die Finanzierung der Staatsausgaben zu gewährleisten. 

    Andererseits leben wir in einem Staat, der von einer Mafia gekapert wurde, für die es keinen Weg zurück zur Normalität gibt. Die russischen Gesetze, die im Interesse dieser Elite verabschiedet wurden, werden heutzutage erbarmungslos gebrochen. So wird die Mehrheit jener, die sich heute als Herren über das Leben vorkommen, einen Zusammenbruch des Regimes nicht unter Beibehaltung ihres gegenwärtigen Status überleben (wenn sich nicht ihre Bedeutung ändert, so doch zumindest ihr Vermögen). Ich bin daher überzeugt, dass die unterschiedlichsten Gruppierungen in der Elite einen Weg finden werden, sich zusammenzuschließen; und dass sie sogar bereit sein werden, ihre gegenseitigen Ansprüche auf die Reichtümer zu begrenzen, die sie dem Volk abgenommen haben. Schlichtweg, um die Gefahr einer politischen Explosion zu minimieren.

    Wovor sollte man sich heute noch fürchten? 

    Russland hat sich viele Male unter der Macht (und mitunter im Grunde auch im Besitz) kleiner Elitengruppen befunden. Doch ist es bisher kaum vorgekommen, dass die Gruppe, die über das Land verfügt, derart kriminell ist, und derart ungeeignet, die Aufgaben bei der Entwicklung des Landes zu bewältigen. Innerhalb von 20 Jahren hat sie die Gesellschaft von der Zukunft in die Vergangenheit umkehren lassen. Sie hat sämtliche Prinzipien sozialer Gerechtigkeit mit Füßen getreten und Russland an den Rand der internationalen Bühne manövriert.

    Das Regime ist heute imstande, diese Lage der Dinge für recht lange Zeit zu konservieren. Die nachfolgende Gruppe wird das aber wohl kaum fortführen können. Experten, die damit schrecken, dass Russland „nach Putin“ noch aggressiver, verschlossener und oligarchischer werde, übersehen eine Gesetzmäßigkeit, die sich konsequent in der russischen Geschichte zeigt: Nach einer Phase übergroßer Anspannung folgt eine Zeit der Lockerung, nach zunehmender Konfrontation mit der Außenwelt folgt die Suche nach Wegen der Zusammenarbeit.

    Wovor sollte man sich heute fürchten? Dass sich der Anteil des geraubten Gemeinguts erhöht? Das kann man sich nur schwerlich vorstellen. Dass noch weniger professionelle Führungskräfte ans Ruder gelangen? Wo sollen die nach zwei Jahrzehnten negativer Auslese noch herkommen? Dass sich Tschetschenien ein weiteres Mal von Russland loslöst? Ein solcher Schritt wäre meiner Ansicht nach nur zu begrüßen. Dass gegenüber dem Westen radikale Zugeständnisse gemacht werden? Angesichts der Liebedienerei gegenüber China wäre hier jede Konzession in höchstem Maße akzeptabel. 
    Je mehr ich mir die bestehende Situation genau anschaue, desto fester bin ich überzeugt: schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden. Ganz wie vom Nordpol jeder Weg nach Süden führt, so wird jede Variante eines Zusammenbruches des bestehenden Regimes einen Wandel zum Besseren bedeuten.

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  • Stalins Henker

    Stalins Henker

    Vor 101 Jahren, am 20. Dezember 1917, wurde die Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage (kurz: Tscheka) unter Felix Dsershinski gegründet – die Vorläuferorganisation des KGB. Der Kampf gegen vermeintliche innere Feinde führte knapp zwei Jahrzehnte später unter Stalin zu einer Maschinerie von Repression, Willkür und massenhaften Erschießungen, der hunderttausende Bürger der Sowjetuntion zum Opfer gefallen sind und die als Großer Terror zu einem der dunkelsten Kapitel der sowjetischen Geschichte wurde.

    Wie konnte sich dieses riesige Gewaltsystem etablieren, woher rekrutierte es seine Täter? Welche regionalen Besonderheiten gab es im Verbannungsort Sibirien? Welchen Einfluss hat die Öffnung von Archiven in der Ukraine auf den Diskurs um die Vergangenheit in Russland? Wie sollte die Gesellschaft umgehen mit denen, die zunächst Täter waren und später selber zu Opfern wurden? 

    Über diese Fragen spricht die Novaya Gazeta mit dem Nowosibirsker Historiker Alexej Tepljakow – ein hintergründiges Interview über die Aufarbeitung eines Themas, bei dem noch vieles im Verborgenen liegt.

    Novaya Gazeta: Alexej Tepljakow, in Ihren Büchern entfaltet sich eine nicht abreißende Kette von fürchterlichen Verbrechen, die Angehörige der Strafbehörden begangen haben, und zwar seit Beginn ihres Bestehens. Die Gräueltaten der Bürgerkriegszeit lassen sich noch teilweise durch die exorbitante Brutalität der verfeindeten Seiten erklären. Allerdings brach der Große Terror erst anderthalb Jahrzehnte später aus …

    Alexej Tepljakow: Aus den Unterlagen der Gerichtsverfahren, die ich einsehen konnte – aus der Zeit, in der Tschekisten zur Verantwortung gezogen wurden, die sich in den Jahren des Großen Terrors besonders „hervorgetan“ hatten – erfährt man monströse Dinge. 

    Die Handlungsanweisungen, nach denen die Hinrichtungen durchgeführt wurden, sind bis heute nicht veröffentlicht. Erst kürzlich wurden allerdings Dokumente aus dem Archiv des georgischen Innenministeriums publiziert, in denen als offizielle Methode die Hinrichtung mittels eines Schusses „in die rechte Schläfe“ angegeben wird. Andererseits wurden beispielsweise in Minussinsk Menschen mit dem Brecheisen erledigt … Einen gab es, den versuchten betrunkene Henker mit einem elektrischen Sprengzünder in die Luft zu jagen …

    Wobei der 1939 verurteilte Leiter des Operativen Bereichs [des NKWDdek] in Minussinsk namens Alexejew in seinen Beschwerden über die „Unbegründetheit des Urteils“ angegeben hat, dass er persönlich 2300 „Trotzkisten“ verhaftet habe, von denen 1500 erschossen worden seien. Die Behörden berücksichtigten diese gewichtigen Argumente: Im Januar 1941 wurde Alexejew freigelassen und arbeitete dann im System des Gulag …

    Der ehemalige Leiter des Operativen Bereichs Kuibyschew (bis 1935: Kainsk) der NKWD-Verwaltung für das Gebiet Nowosibirsk, Lichatschewski, gab im August 1940 an: „Bei uns wurden die Urteile auf zwei Arten vollstreckt: Tod durch Erschießung und durch Erdrosseln […] Die Einsätze wurden folgendermaßen durchgeführt: In einem Raum fesselte eine Gruppe von fünf Personen den Verurteilten, dann wurde dieser in einen anderen Raum geführt, wo er mit einem Strick erdrosselt wurde. Insgesamt dauerte es bei jedem eine Minute, nicht mehr […]. Insgesamt wurden rund 500 bis 600 Menschen erdrosselt […]“

    Insgesamt dauerte es eine Minute, bis jemand erdrosselt war

    Einige der Henker hielten einen Wettbewerb ab, wer es schafft, den Verurteilten mit einem einzigen Tritt in die Leiste zu töten. Den Hinzurichtenden wurde der Mund mit einem Knebel verschlossen, wobei der Sekretär der Kreisverwaltung Iwanow ein Werkzeug hatte, mit dem er die Münder solcher, die sich wehrten, zwangsweise öffnete …

    Die gleichen Mitarbeiter des Operativen Bereichs Kuibyschew zwangen 1938 eine verurteilte Lehrerin und einen verurteilten Mann dazu, in ihrer Gegenwart den Geschlechtsakt zu vollziehen, unter dem Versprechen, sie dann zu begnadigen. Nach dem Ende der „Vorstellung“ wurden die Unglücklichen erdrosselt.

    In der NKWD-Verwaltung Shitomir zwangen die Tschekisten einen alten Mann zum Sex mit der Leiche einer gerade erst Erschossenen. Und das ist nur ein Teil des Horrors, den man den Archiven entnehmen kann.

    Und wer waren diese Leute, die das alles angerichtet haben? Können Sie ein allgemeines Portrait eines sibirischen Tschekisten Ende der 1930er Jahre zeichnen?

    Die Anzahl der operativen Mitarbeiter der NKWD-Verwaltung für die Region Westsibirien lässt sich für das Jahr 1937 mit etwas über 1000 beziffern. Das waren vorwiegend junge Männer aus bäuerlichen Familien, die in der Armee gedient hatten, oft beim Grenzschutz oder bei den Truppen des Innenministeriums, aus denen man sie vorzugsweise zu rekrutieren versuchte … Oft waren das ehemalige geheime Informanten, die dann offizielle Mitarbeiter wurden. 

    Auf diese Leute ist dann auch die bis Anfang der 1930er Jahre explosionsartig gestiegene Mitarbeiterstärke der entsprechenden Behörden zurückzuführen. Während der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) hatte diese noch bei rund 18.000 gelegen – in ganz Russland. Ich rede von jenen Mitarbeitern, die wir heute als Offiziere bezeichnen würden: Ermittler, Führungsoffiziere … Anfang 1937 gab es 25.000 von ihnen, zu Kriegsbeginn waren es 50.000.

    Wie konnte der Terror in dieser Massivität bewerkstelligt werden? Schließlich war das System im Grunde nicht darauf vorbereitet, Hunderttausende zu erschießen. In den 1920er Jahren wurden jährlich 2000 bis 3000 Menschen hingerichtet. Anfang der 1930er Jahre waren es dann bis zu 20.000, danach folgte wieder ein starker Rückgang. 1936 etwa wurden 1118 Personen hingerichtet. Da es keine außergerichtlichen Stellen gab, die berechtigt waren, Erschießungen anzuordnen, verhängten nur Gerichte Todesurteile. 1937 wurden dann 353.000 Menschen hingerichtet und 1938 ungefähr genauso viele.

    In den Jahren des Großen Terrors wurde nahezu die Hälfte der Verurteilten erschossen. Innerhalb von anderthalb Jahren (so besagen es sogar die offiziellen, um einige Zehntausend nach unten korrigierten Daten) waren das 681.692 Menschen.

    Innerhalb von anderthalb Jahren wurden 681.692 Menschen hingerichtet

    Damit die Behörden in diesen Extremsituationen nicht kollabierten, wurden die sogenannten Operativen Bereiche geschaffen: In Städten, in denen es ein Gefängnis gab, entstanden diese Operativen Bereiche, die auch für 10 bis 15 angrenzende Kreise zuständig waren. Dort gab es natürlich die städtische Dienststelle mit 10 bis 15 Mitarbeitern. Und es wurden jeweils sechs erfahrene Ermittler aus der Gebietsverwaltung und ein weiteres Dutzend oder zwei aus den Bezirksstellen des NKWD dorthin abgestellt. Komplettiert wurden sie durch Offiziersschüler, beispielsweise aus Lehranstalten der Grenztruppen. So trafen zum Beispiel in Nowosibirsk 50 Schüler der Moskauer Lehranstalt für Grenztruppen ein. Das waren die „Hauer“, die „Sitzhelfer“ (die den Verhafteten das Schlafen unmöglich machten), die dann zu Ermittlern heranwuchsen.

    Die eigentlichen Tschekisten waren entweder auf Dienstreise oder besoffen sich

    Somit arbeiteten in den Operativen Bereichen um die zwanzig, dreißig Tschekisten. Denen wurden ebenso viele (oder mehr) Polizisten der fortgeschrittenen Sorte sowie Feldkuriere beigeordnet. Schließlich gab es in jedem Abschnitt mehr Feldkuriere als Ermittler – der gesamte Postverkehr war ja geheim. Sollte jemand verhaftet werden, wurde dann nicht selten ein Feldkurier losgeschickt, der das übernehmen sollte; sollte jemand erschossen werden, passierte das Gleiche. Die eigentlichen Tschekisten waren entweder auf Dienstreise, besoffen sich oder drückten sich vor dieser Arbeit; die Kuriere jedoch waren verfügbar, die konnte man auch ins Erschießungskommando stecken, nach dem Motto: Sollen sie doch ruhig Erfahrung sammeln! Und so konnte ein energischer Kurier aus einem anscheinend harmlosen System zur Miliz abgestellt werden, oder zum Wachdienst eines Gefängnisses. Dann wurde genauer hingeschaut: Da trinkt jemand nicht besonders viel, ist fähig und gebildet, ist diszipliniert und wird als operativer Mitarbeiter angefordert. Das war der Weg, wie jemand aus einer normalen Bauernfamilie bis zu dieser Ebene aufstieg.

    Das waren die einfachen Tschekisten. Und wer hatte die Leitung?

    In den zwanzig Vorkriegsjahren sind die Organe in Sibirien nacheinander von neun Personen geleitet worden, alles große Figuren, Leute von „Moskauer Rang“. Sechs von ihnen sind Ende der 1930er Jahre erschossen worden, einer wurde zu Lagerhaft verurteilt und ist dort gestorben, einer wurde rehabilitiert; zwei weitere haben sich erschossen.

    Habe ich Sie richtig verstanden, dass sich nach 1938, nach dem Ende des Großen Terrors die Zahl der Tschekisten erhöht hat?

    Und zwar drastisch! Wobei es eine massive Säuberung gegeben hatte – allein 1939 war ein Viertel der Tschekisten entlassen worden. Allerdings war das eine Säuberung der milden Art, von den 20.000 „Gesäuberten“ wurden keine fünf Prozent erschossen.

    Viele hatten fürchterliche Dinge angestellt. Und nicht nur als Gesetzesbrecher, sondern auch als korrupte Figuren, als Räuber und Marodeure. Die große Masse wurde einfach so entlassen, „aufgrund kompromittierender Umstände“.

    Unmittelbar vor Kriegsbeginn gab es plötzlich erheblich mehr Tschekisten als noch 1937

    Es gab allerdings auch viele, die aufstiegen, die weit aufstiegen. Besonders Leute der unteren und mittleren Ebene. Die auf der oberen Ebene galten (zunächst) als Anhänger Jagodas, und später als Jeschows Leute. Von denen wurden am meisten erschossen. Und von den Dienststellenleitern, die besonders exzessiv gewütet und tausende Tote auf dem Gewissen hatten. Die Leutnants oder Oberleutnants aber, die machten eine steile Karriere. Den Gesäuberten folgten massenhaft Nachrücker, und so gab es plötzlich unmittelbar vor Kriegsbeginn erheblich mehr Tschekisten als noch 1937.

    Und das mit all der Erfahrung des Großen Terrors.

    Es gibt eine Version, nach der „all das“ von Letten begangen wurde, von Ungarn … und vor allem von Juden. Wenn man Bücher über den Großen Terror in der Ukraine liest, da schüttelt es einen: durchweg jüdische Namen.

    Das ist eine Besonderheit der Ukraine, wo es einen besonders großen jüdischen Bevölkerungsanteil gab, speziell in den Städten. Die Ukrainer selbst waren Bauern und kaum gebildet. Gebildet waren die Nationalisten, die Petljura-Anhänger … Die Juden nahmen das Regime, nachdem sie die Gleichberechtigung erhalten hatten, als das ihre wahr und machten sich dementsprechend daran, es zu verteidigen; in der Ukraine bestand Mitte der 1930er Jahre der Operative Bereich zu rund vierzig Prozent aus Juden, bei den Leitungskräften waren es zwei Drittel. In Belarus gab es unter den Tschekisten ebenfalls viele Juden. In den anderen Regionen waren erheblich weniger Juden vertreten.

    Es waren einfach aktive Leute, die aufgrund einer Maxime, die ihnen von Kindheit an eingeimpft worden war, Karriere machten: Wenn du ein Jude bist, dann musst du dich doppelt und dreifach ins Zeug legen, sonst ist dir schnell der Weg versperrt. Und das ist kein Phänomen, das es nur in Russland gibt.

    Natürlich würde ich den „jüdischen Faktor“ nicht überbewerten, da die russischen, kaukasischen und ukrainischen Tschekisten keinen Deut milder waren.

    Kann man denn auch von „sibirischen Besonderheiten“ des Großen Terrors sprechen?

    Zweifellos. Obwohl das Regime den Terror ansatzweise rational anging, mit einer für alle Regionen gültigen Logik. Und natürlich gab es auch einen subjektiven Faktor: Sehr viel hing vom Verwaltungsleiter ab, ob dieser mehr oder weniger blutrünstig war.

    Es gab Tschekisten, die waren fürchterliche Karrieristen, oder einfach nur Karrieristen

    Es gab Tschekisten, die waren fürchterliche Karrieristen, oder einfach nur Karrieristen. Und es gab extreme Karrieristen.

    So wurden von den verurteilten Deutschen im Gebiet Nowosibirsk 96 Prozent erschossen. Bei jungen Frauen und bei jungen Männern unter zwanzig ließ man Gnade walten, wenn auch nicht bei allen. Und wer als Spitzel angeworben wurde, wer im Lager „berichten“ sollte, der konnte davonkommen. Von den Polen wurden 94 Prozent [der Verurteilten – dek] erschossen. Im benachbarten Gebiet Omsk und in der Region Krasnojarsk war der Anteil der Erschossenen nichtrussischer Nationalitäten nur halb so groß.

    Was nun das wirklich Besondere der Lage in Sibirien betrifft … Das bestand in den riesigen Dimensionen der Verbannung, der politischen und der von Bauern. Die „Entkulakisierten“ wurden aus den südlichen, fruchtbaren Gegenden der Region Altai und den Gebieten Nowosibirsk, Omsk und Kemerowo nach Norden verfrachtet, etwa nach Narym, weit abseits der Eisenbahn. Es gab also hier die Verbannung, bei der Bauern [aus anderen Landesteilen – dek] „importiert“ wurden, und dann noch eine innersibirische.

    Auch die jüngere Vergangenheit einer Region spielte eine Rolle, nämlich, wie aktiv die antisowjetischen Aufständischen dort während des Bürgerkrieges waren. Immerhin war Sibirien ein Ort riesiger antibolschewistischer Aufstände gewesen, deren Teilnehmer seinerzeit mehrheitlich amnestiert worden waren, die man dann aber aufzuspüren und zu erledigen versuchte – 15 Jahre später.

    Es hatte eine zahlenmäßig starke, wohlhabende Bevölkerung gegeben und schon seit den 1920er Jahren ein riesiges Protestpotential, unter anderem eine ganz beträchtliche Erfahrung mit bewaffnetem Widerstand gegen die Kollektivierung … Für das alles folgte 1937 die Abrechnung.

    In Belarus waren die Repressionen sehr brutal, in der Ukraine waren sie äußerst brutal, [die Zahlen – dek] doppelt so hoch wie sonst im Land. In Sibirien waren sie viermal so hoch.

    Wie markant waren die Veränderungen, die der Antritt Berijas mit sich brachte? Er hat ja unter anderem angeordnet, dass die Todesurteile, die von den Troikas verhängt, aber noch nicht vollstreckt worden waren, nicht mehr vollstreckt werden sollten.

    Ja. Allerdings wurde dieser Befehl in vielen Regionen ignoriert, die Hinrichtungen gingen weiter; dabei wurden sie formal zurückdatiert. Mal waren es 300, mal 200, und auf der Krim sogar 800 … Doch wurden die Tschekisten, die ertappt wurden, verhaftet – und mitunter erschossen.

    Daher verwende ich mit meinem Kollegen Andrej Sawin und dem deutschen Historiker Mark Junge den Begriff „Disziplinierung der Tschekisten“, wenn wir die Ziele von Berijas Politik beschreiben. Den Tschekisten sollte klargemacht werden, dass sie zwar die bewaffnete Avantgarde der Partei sind, aber nicht über der Partei stehen, sondern lediglich deren Anweisungen auszuführen haben; und das wurde eben auch mit Hilfe von Säuberungen bewerkstelligt.

    Die Verhaftungen gingen unter Berija zwar stark zurück, doch wer verhaftet wurde, wurde weiterhin geschlagen; es wurde weiterhin gefoltert. 

    Also sollte man aus Lawrenti Pawlowitsch Berija keinen großen Demokraten und Bürgerrechtler machen?

    Natürlich nicht! Er war ein Pragmatiker und hat die Aufgabe, die er erhielt, präzise umgesetzt, nämlich die Tschekisten zur Räson zu bringen. Schließlich – und das ist wichtig – war das nicht der erste Versuch dieser Art: 1921 hatte eine große Säuberung in der Partei begonnen, von der innerhalb weniger Monate ein Drittel der KP-Mitglieder betroffen war, und am schärfsten traf es wiederum die Silowiki, insbesondere die Tschekisten.

    Bis 1924 waren die Tschekisten heftig zusammengestrichen worden; etliche wurden aus der Partei ausgeschlossen, viele wurden verhaftet, den übrigen wurden die Vollmachten drastisch beschnitten.

    1939/40 wurden dann erneut massenweise Tschekisten entlassen, aus der Partei ausgeschlossen, wurden ins zweite Glied versetzt, zu den Lagerwachen, auf Streife oder in Personalabteilungen großer Unternehmen geschickt.

    Und wie ernsthaft geriet diese Erneuerung der Organe? Uns wird ständig eine Zahl genannt: 20.000 Tschekisten seien während des Großen Terrors repressiert worden. Es wird sogar versucht, diese Opfer der Repressionen zu heroisieren.

    Nun, zunächst mal ist die Zahl von 20.000 „betroffenen“ Tschekisten eine Desinformation der einstigen KGB-Führer Viktor Tschebrikow und Filipp Bobkow, die diese Zahl als erste in den öffentlichen Raum gestellt haben. In Wirklichkeit ist sie um Etliches übertrieben. Wie auch viele andere Fakten, die das Bild der Tschekisten der Stalinzeit veredeln sollen …

    Vieles wird übertrieben, um das Bild der Tschekisten in der Stalinzeit zu veredeln

    Insgesamt waren die Säuberungen des NKWD unter Berija nicht genereller, sondern selektiver Natur. In Omsk gingen 1939 gegen 102 Tschekisten Beschwerden wegen Misshandlung ein, eingereicht von freigelassenen Parteimitgliedern. Von diesen Tschekisten wurden bis zum Januar 1940 relativ wenige bestraft: 12 wurden verhaftet und 16 aus dem NKWD entlassen. Die Übrigen erhielten entweder einen Verweis für eine Ordnungswidrigkeit oder blieben unbehelligt, wegen „Geringfügigkeit des Vergehens“.

    Nachdem ich Ihre Bücher gelesen habe, hat mich die Frage umgetrieben, wie es Ihnen wohl gelungen sein mag, Einsicht in all diese Unterlagen zu erhalten?

    Ich habe mit vielen Ermittlungsunterlagen der Tschekisten gearbeitet, die unter Verschluss waren, dann freigegeben wurden und Personen aus Nowosibirsk und Barnaul betrafen, die heute rehabilitiert sind. Alles andere waren Parteiunterlagen und Dokumente aus Archiven der Sowjetzeit, in denen Berichte der Tschekisten ja unweigerlich ihre Spuren hinterlassen haben. Die Personalakten der Tschekisten liegen seelenruhig in den Parteiarchiven. Mitunter kann man ihnen fast so viel Informationen entnehmen wie den Geheimdienstakten … Damit habe ich Mitte der 1990er Jahre begonnen, als sie geöffnet wurden.

    Die Personalakten der Tschekisten liegen seelenruhig in den Parteiarchiven

    In Sibirien habe ich lange auf eine Gelegenheit gewartet, mit den Beständen der Staatssicherheit arbeiten zu können. Und die ergab sich dann per Zufall: 2002 begann die Arbeit an einem Gedenkbuch, und ich wurde Mitglied der Arbeitsgruppe. Aus der wurde ich erst nach anderthalb Jahren rausgeworfen. Weil die Direktorin des Gebietsarchivs, eine durchaus reaktionäre Dame, dem FSB gesteckt hatte: „Der da“ sammele wohl eine Kartei über „eure Mitarbeiter“! Und ich wurde ohne jede Erklärung … Aber einiges hatte ich bereits geschafft. Üblicherweise sind Fotokopien nicht gestattet, ich hatte mir aber ‘nen Stift mitgenommen …

    Und dann ist da natürlich noch die Ukraine, wo ich 2013 und 2015 jeweils zwei Wochen lang arbeiten konnte, und zwar mit Fotoapparat und in einer Gruppe, so dass wir uns über die Funde austauschen konnten. Das ist etwas ganz anderes. Die Staatssicherheit, das ist eine vertikal organisierte Behörde, da waren alle Vorschriften zu finden, alle Befehle, alle Rundschreiben; ob nun in Nowosibirsk oder in Kiew – überall das Gleiche.

    Außerdem wurden mir in Kiew Unterlagen von Ermittlungsverfahren gezeigt, die nicht gegen einfache Handlanger liefen, sondern gegen die an der Spitze. So veröffentlichen wir einige Dutzend Befehle von Berija an den NKWD zur Bestrafung von Tschekisten. Bei uns sind die Befehle noch immer geheim, die Ukrainer haben sie aber freigegeben, und wir legen sie vor. Übrigens sind dort etliche Dokumente nicht nur aus Moskau enthalten, sondern sogar welche aus Sibirien, die seinerzeit im ganzen Land verschickt wurden. Somit ist also gewissermaßen auch aus den Moskauer Archiven etwas herausgesickert.

    Mein Lieblingsbild hierzu ist ein Wasserhahn: So gut er auch sein mag, er wird trotzdem zu tropfen beginnen, wenn die Dichtung hinüber ist.

    Gerade erst ist in Moskau die Mauer des Gedenkens in Kommunarka mit den Namen der über 6000 Opfer des Terrors eingeweiht worden, die dort begraben liegen. Es sind unter diesen Namen auch die von repressierten Tschekisten zu finden, auch von solchen, die eindeutig Henker waren und die nicht rehabilitiert wurden. Es entstand eine leise, aber erbitterte Diskussion: Wie lassen sich die unschuldigen Opfer von jenen unterscheiden, die unmöglich als unschuldig zu bezeichnen sind? Macht der Tod sie alle gleich? Jeschow und Eiche, Jakir und Wawilow, Bucharin und Jagoda? Was soll man mit denen allen machen?

    Der Tod ist ein großer Gleichmacher. Und da sie nun alle dort liegen … Es muss da ein rein rechtlicher Ansatz verfolgt werden, der erklärbar, klar verständlich und allgemeingültig ist. Zu allem Übrigen müssen sich dann die Historiker und die Öffentlichkeit äußern.

    Ob uns das gefällt oder nicht – ohne sie alle wäre unser Volk unvollständig. Soll man sie posthum mit Vergessen bestrafen? Ich weiß nicht … Die Gesellschaft muss entscheiden, vor allem jedoch muss sie möglichst vollständige Informationen erhalten.

    Und dafür müssen vor allem die Archive tatsächlich geöffnet werden.

    Bei uns ist man zu sehr mit dem Problem beschäftigt, wie man es schafft, die Enkel und Urenkel der Henker und Spitzel nicht zu sehr zu beschämen. Jene, die angeblich leiden würden, wenn über ihre Verwandten die Wahrheit gesagt wird. Mit Recht und gesundem Menschenverstand hat diese Haltung nichts zu tun. Als Memorial Ende 2016 seine Datenbank mit über 40.000 Offizieren des NKWD vorlegte, blieb der Versuch der Angehörigen, sie zu blockieren, gleichwohl erfolglos. Dabei ist diese Datenbank ja von ungeheurer Bedeutung, was ich unbedingt betonen möchte. Selbst wenn dort nur Vorname, Vatersname, Nachname, Geburtsdatum, Jahr der Beförderung und der Entlassung aus dem Dienst aufgeführt werden. Allein das ist schon ein riesiger Durchbruch.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Der Westen als Vorbild?!

    Der Westen als Vorbild?!

    Wenn westliche Russland-Experten dasselbe behaupten wie die russische Staatspropaganda, dann zweifeln viele automatisch an diesen Expertenmeinungen. In einem Punkt sind sich jedoch die meisten einig: dass der Westen sich gegenüber Russland oft bigott und arrogant verhalten habe. 

    Das Feindbild des arroganten und doppelmoralischen Westens gilt für viele Beobachter als die wichtigste Legitimationsgrundlage für das System Putin. Heißt es aber im Umkehrschluss, dass diese Grundlage ins Bröckeln käme, wenn westliche Länder etwa keine Projektionsfläche für „doppelte Standards“ böten? 

    Dieses Gedankenspiel beschäftigt den Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin auf Republic. Seine Überlegungen zum sogenannten Sonderweg Russlands und die Rolle des Westens dabei hat er kürzlich in einem Buch veröffentlicht.

    Ab und zu werde ich von ausländischen Journalisten gefragt, welchen Einfluss die Sanktionen auf die Lage der Dinge in Russland haben. Meine Antwort ist für gewöhnlich, dass sie Putins Regime gestärkt haben. Und: Falls ihr Land die Absicht gehabt haben sollte, den russischen autoritären Führer zu unterstützen, so kann man sagen, dass dies durchaus gelungen ist. 
    Die Wahrnehmung von einer belagerten Festung, die durch das Fernsehen bei den Zuschauern entsteht – wobei die Sanktionen eines der Argumente sind – führt zu dem logischen Schluss, dass man „die Pferde nicht mitten im Rennen wechselt“ und somit zu dem Wunsch, sich um Wladimir Putin zu scharen.

    Die belagerte Festung

    Oft sind meine Gesprächspartner verwundert. Schließlich hatten sie angenommen, dass die Sanktionen für Putin eine Strafe für Krim und Donbass sein sollten. Mich verwundert etwas anderes: Der enge Denkhorizont der westlichen Politiker und Journalisten. 
    Manchmal lenke ich das Gespräch auf ein angrenzendes Thema und sage: Falls Sie Russland wirklich helfen wollen, dann kehren Sie erstmal vor der eigenen Tür, machen Sie sich zu einem wahrhaften Vorbild für Entwicklungsländer, wie wir eines sind. Das wäre die beste Unterstützung für die Demokratie in Russland. O weh, nach einer solchen Wendung verlieren die Gesprächspartner gewöhnlich jedwedes Interesse am Thema.

    Schade eigentlich. Denn eine echte Auseinandersetzung mit der Frage, was aus Russland wird und wie der Westen der Demokratie in Russland helfen kann, beginnt gerade dort, wo es um den Zustand der Demokratien im Westen geht. Schließlich sind die Sanktionen nicht mehr als eine formale Reaktion auf die Politik des Kreml. Das sind Pflichtübungen des Westens, aber kein Vorgehen nach gesundem Menschenverstand. Politiker mussten reagieren, damit sie von der Opposition nicht der Untätigkeit bezichtigt werden, und sie haben reagiert. Das aber, was den Westen jetzt wieder für uns attraktiv mache könnte, verlangt von den ausländischen staatlichen Akteuren keine Reaktion „aus Pflichtbewusstein“, sondern einen tiefgreifenden Wandel.

    Zum Beispiel Katalonien

    Ein aktuelles Beispiel: Die spanische Staatsanwaltschaft hat 25 Jahre Gefängnis für den stellvertretenden Ministerpräsidenten Kataloniens gefordert, der des Separatismus beschuldigt wird. Man will jemanden nur deshalb praktisch lebenslang hinter Gitter bringen, weil er die Unabhängigkeit seiner Heimat erreichen wollte, und zwar nicht durch einen Militärputsch, sondern mit demokratischen Mitteln. Man kann über den katalanischen Wunsch, den spanischen Staat zu verlassen, unterschiedlicher Meinung sein, doch gibt es im Grunde keinen Zweifel daran, dass es der aufrichtige Wunsch eines beträchtlichen Teils der Gesellschaft ist und nicht eines kleinen Grüppchens von Aufrührern. Das heißt, dieser „Separatismus“ ist eine politische Frage, keine strafrechtliche. Und die muss über einen Dialog mit den „Separatisten“ gelöst werden, und nicht so, wie die spanische Staatsanwaltschaft es angeht.

    Vor dem Hintergrund des Vorgehens der „spanischen Demokratie“ erscheint das Vorgehen des Kreml zur Festigung des „vereinten und unteilbaren“ Russlands (um es mit einer Parole der Weißen im Bürgerkrieg zu formulieren), durchaus akzeptabel. Immerhin legitimiert eines der führenden Länder Europas mit seinem Vorgehen praktisch jedwede Unterdrückung von Separatismus in Entwicklungsländern. Jeder autokratische Politiker kann jetzt sagen, dass das Bestreben eines Volkes, aus einem Imperium auszuscheiden, sogar aus Sicht europäischer Demokratien scharf unterbunden werden muss. 

    Autoritäre Bestrebungen in der EU

    Ein weiteres Beispiel: Ein Vierteljahrhundert (von dem Moment der Samtenen Revolutionen 1989 in Mittel- und Osteuropa an) wurde davon geredet, dass die Tschechen, Slowaken, Polen, Ungarn, Bulgaren und Rumänen bewusst den Weg der Demokratie gewählt hätten und dass die Erfolge dieser Völker auf deren Streben nach europäischen Werten beruhen würden. Heute jedoch können wir beobachten, wie in Ungarn die Grundlage für ein autoritäres Regime gelegt wird. Und die derzeitige polnische Regierung wurde von einem bekannten demokratischen Politiker des Landes in meiner Anwesenheit als „Liliput-Regime“ bezeichnet – also ein seinem Wesen nach Putinsches Regime, nur weniger hart.

    Wobei die Verstärkung autoritärer Bestrebungen in Mittel- und Osteuropa längst nicht das Wichtigste ist, das den Autoritarismus in Russland stärkt. Über Polen und Ungarn wird selbst in unserem Fernsehen nicht viel gesprochen (es ist kein sonderlich bequemes Thema für die Propaganda). Das größte Problem ist die Ukraine. Niemand hat mehr für die Festigung des Putinschen Regimes getan als die Akteure in der ukrainischen Politik in den letzten Jahren. Sie haben mit ihrer absoluten Ineffizienz ein praktisch ideales Beispiel geschaffen, das sich endlos im russischen Fernsehen hin- und her wälzen lässt. Dem Durchschnittsbürger wird dabei Angst gemacht, was mit unserem Land geschieht, falls anstelle des „großen Putin“ ein Maidan kommt und eine antistaatliche Elite antritt, die eine Demokratisierung der Gesellschaft anstrebt.

    Vor 15 Jahren (während des ersten Maidan) hatte es viel Hoffnung gegeben, dass die Ukraine Russland beispielhaft eine wirkungsvolle demokratische Entwicklung vor Augen führen werde. Leider ist nichts dergleichen geschehen. Die Ukraine ist ein Beispiel für einen demokratischen, aber ineffizient funktionierenden Staat. In Lateinamerika hat es eine Vielzahl solcher Beispiele gegeben, und auch heute stehen die Dinge in einigen Ländern nicht besser. Aber das ferne Amerika ist eine Sache – die uns (territorial und kulturell) nahestehende Ukraine, die zu einem der ärmsten Staaten Europas geworden ist, eine andere.

    Natürlich lässt sich die Oberhand des heutigen Russlands in Bezug auf die Ukraine nicht an den Vorteilen der Putinschen Autokratie gegenüber einer schwachen Demokratie festmachen. Aller Wahrscheinlichkeit nach befände sich die Wirtschaft in Russland – wenn wir nicht all das Öl und Gas hätten – ungefähr auf dem gleichen Niveau wie die der Ukraine. Das sind aber „Feinheiten“, in denen die Experten graben können. Für den russischen Durchschnittsbürger ist die Ukraine ein klassisches Beispiel dafür, was man nicht tun sollte. Nicht umsonst widmet das russische Fernsehen diesem Land derart viel Aufmerksamkeit. Gäbe es das Phänomen Ukraine nicht – der Kreml müsste es im eigenen Interesse erfinden.

    Die US-amerikanische Tragödie

    Lassen wir nun trotzdem die Politik beiseite und wenden uns der Wirtschaft zu. Hier gibt es ein für uns äußerst wichtiges Beispiel: Griechenland, ein Land, das in eine ernste Krise gestürzt ist, weil es nicht in der Lage war, mit seinen Mitteln zu haushalten. Der Fall Griechenland führte aller Welt (auch den russischen Normalverbrauchern) vor Augen, dass die westlichen Länder eine Pyramide aus Staatsschulden anhäufen. In der Regel brechen solche Pyramiden nicht zusammen, aber wer weiß schon, wie das in Zukunft sein wird? Und so wird in der Bevölkerung Russlands die Vorstellung immer populärer, dass die USA überhaupt nichts außer grünen Papierchen produzierten und dieses Land nur ein Parasitendasein friste. Statt von effizienten amerikanischen Unternehmen zu lernen, wie eine Marktwirtschaft zu führen ist, richtet Russland seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Ineffizienz des amerikanischen Staates, auf die Ineffizienz des Militarismus und der sozialen Sicherungssysteme, durch die die Staatsschulden genährt werden.

    Das wichtigste Problem mit Amerika liegt allerdings weniger in der Pyramide der Staatsschulden. Ich erinnere mich sehr wohl, wie leicht in der Ära von Gorbatschows Perestroika Überlegungen aufgenommen wurden, dass die USA nicht so sehr unser Feind als vielmehr ein interessantes Beispiel einer effizienten Wirtschaft sind, die es ernsthaft zu studieren gilt. Die langjährige antiamerikanische Propaganda der Sowjetunion hat kaum zu einer tiefen Verwurzelung antiamerikanischer Gefühle geführt. Das Durcheinander in unserem Land erzeugte bei normalen Leuten das natürliche Bedürfnis, positive Beispiele im Ausland zu suchen. Da sich die Erwartungen, dass wir wirtschaftlich genauso erfolgreich wie Amerika sein würden, nicht erfüllten, änderte sich die Lage in den 1990er Jahren jedoch allmählich. Den heftigsten Schlag für die eigene Reputation fügten sich die Amerikaner allerdings selbst zu. Der Krieg im Irak und das aktive Bestreben, in diversen Regionen der Welt den politischen Einfluss der USA zu verstärken, führten zu einer Akzentverschiebung im Diskurs – weg von den Erfolgen der amerikanischen Wirtschaft hin zu den Niederlagen der amerikanischen Außenpolitik. Und heute ist es selbst im Gespräch mit eher intellektuell angehauchten Menschen sehr viel schwieriger, über positive amerikanische Erfahrungen zu sprechen als noch vor 30 Jahren.

    Große Reformen oder Great Depression?

    Die Wahl unseres Weges wird zu großen Teilen davon abhängen, ob die Länder des Westens in der Lage sein werden, das eigene Haus in Ordnung zu bringen, bevor das Putinsche Regime in die Krise gerät und in Russland erneut über Veränderungen nachgedacht wird. In der Geschichte Russlands ist es mehrfach so gewesen, dass durch positive Erfahrung in Europa eine Verwestlichung angeregt wurde, während negative Erfahrungen nach einem Sonderweg suchen ließen.

    Die Petrinischen Reformen sind unter anderem darauf zurückzuführen, dass der junge Zar den klaren Vorsprung der führenden europäischen Länder beim Schiffbau, bei der Organisation der Armee, im Finanzwesen und bei der Entwicklung jener Bürokratie gesehen hatte, ohne die keine Steuern eingetrieben, kein Militärhaushalt erstellt und keine Armee mit Essen, Kleidung und Munition versorgt werden können. 
    Die Großen Reformen Alexanders II. waren zu erheblichen Teilen dadurch bedingt, dass es in verschiedenen europäischen Ländern mehr Freiheiten gab und damit auch ein wirtschaftlicher Fortschritt verbunden war: Man denke nur an die Abschaffung der Leibeigenschaft in Preußen und Österreich-Ungarn und die Umsetzung der Freihandelspolitik in England und Frankreich. Die Perestroika unter Michail Gorbatschow wurde durch die deutlichen Erfolge der westlichen Wirtschaft angeregt – während sämtliche sowjetische Versuche scheiterten, das Warendefizit zu beseitigen und die Bürger der UdSSR wenigstens mit einem Mindestmaß an Waren zu versorgen, die für ein normales Leben gebraucht werden.

    In jenen Zeiten jedoch, als die Vorzüge des Westens eher zweifelhaft waren, in denen sich der Westen in seinen eigenen Widersprüchen verfing und riesige menschliche und ökonomische Verluste erlitt, verhielt Russland sich anders. So beförderte die Krise, die durch den Ersten Weltkrieg mit seinen gewaltigen Opfern ausgelöst wurde, eindeutig die Russische Revolution und – wichtiger noch – den Umstand, dass anschließend der fatale Weg des Bolschewismus eingeschlagen wurde. 
    In jener Zeit schien es, als würden die Phantasien der Marxisten eine Chance für Erfolg bedeuten, da der Weg, den die westliche bourgeoise Welt bereitet hatte, garantiert – wie Lenin schrieb – in einen monopolistischen, vor sich hin faulenden und parasitären Imperialismus führen werde, der in blutige Kriege mündet. Darüber hinaus trug die Weltwirtschaftskrise, die Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre in den Ländern des Westens ausbrach, dazu bei, dass sich die Illusion von der Effizienz des Stalinschen Wirtschaftsmodells verbreitete: Da werden Fabriken gebaut, da zeigt die Statistik nach oben, da bekommen die Menschen neue Arbeitsplätze und irren nicht – wie im Westen – als Arbeitslose umher.

    Wenn der Westen nicht bis zu dem Zeitpunkt, da eine Reform des Putinschen Systems einsetzt, als gutes Beispiel für Russland dasteht, wird es erneut eine Suche nach einem Sonderweg geben. Umso mehr, als nebenan China heranwächst, ein autoritär regiertes Land mit starkem BIP-Wachstum, beeindruckenden Bauten, strenger Disziplin … und mit vielen Problemen, die sorgsam vor fremden Blicken versteckt werden.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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