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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag

    Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag

    „Nie wieder Krieg“ waren einmal die Worte, die den 9. Mai, den „Tag des Sieges“, über Jahrzehnte hinweg in vielen Familien des (post-)sowjetischen Raumes bestimmten. Eigentlich war es immer schon ein Mythos – mehr Wunschdenken denn Realität: In Wirklichkeit kämpften hunderttausende sowjetische und später russländische Soldaten etwa in Afghanistan und in Tschetschenien, viele Militärangehörige (sog. Wojenspezy) beteiligten sich an Kriegen in Afrika.  

    Außerdem brachen nach dem Zerfall der Sowjetunion zahlreiche regionale Kriege aus. Bergkarabach und Georgien waren bis Februar 2022 die bekanntesten Beispiele. 

    Doch erst der vollumfängliche Krieg Russlands gegen die Ukraine seit dreieinhalb Jahren legt endgültig offen, wie hochproblematisch die Erinnerungskultur in manchen Teilen des postsowjetischen Raums ist: Einige Aspekte dienen Russland im aktuellen Krieg als Rechtfertigung dafür, ein Volk anzugreifen, das zusammen mit dem russischen und vielen anderen eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den Faschismus Nazi-Deutschlands gespielt hat. So benutzt die (pro-)russische Propaganda das 80. Jahr nach Kriegsende auch, um nicht nur an die Befreiung Europas 1945 zu erinnern, sondern vielmehr an die imperialen Ambitionen des heutigen Russlands. 

    Dekoder-Redakteur Dmitry Kartsev spricht anlässlich des heutigen Gedenktages mit dem Historiker Alexej Uwarow, der derzeit in Deutschland zur Erinnerungskultur in Osteuropa forscht.  

    dekoder: Die russische Propaganda rechtfertigt den Angriffskrieg gegen die Ukraine als angeblichen Verteidigungskrieg gegen „Nazis“ und verweist dabei systematisch auf angebliche Parallelen zum Großen Vaterländischen Krieg. Inwieweit hat sich die Geschichtspolitik des Kreml seit dem Zerfall der Sowjetunion verändert?  

    Alexej Uwarow: Das ursprüngliche geschichtspolitische Konzept, mit dem Russland 1991 angetreten ist, ist in den Hintergrund geraten und hat sich schließlich inhaltlich substanziell verändert. Ich habe eine Zeit lang die Reden der Präsidenten Putin und Medwedew zum 12. Juni verglichen, dem Tag Russlands. In den frühen 2000er Jahren fanden sich dort noch viele Wörter wie Demokratie, Föderalismus, Recht und Freiheit.   

    Seit der berüchtigten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, vor allem aber seit 2014 wurde der Ton immer aggressiver:  Russland sei mehr als die Russische Föderation, es gebe ja noch das „historische Russland“, für das die Grenzen der 1990er Jahre nicht gelten würden etc. Solche Begriffe wie „Zone privilegierter Interessen“, „russki mir“, „nahes Ausland“ wurden zunehmend wichtiger und verdeutlichten den imperialen Anspruch Russlands. Vor diesem Hintergrund ist der Sieg im Zweiten Weltkrieg teilweise zu einem Vehikel zur Legitimation des aktuellen Krieges verkommen, und dieser bildet nun in der neuen Geschichtspolitik einen neuen Gründungsmythos, im Rahmen dessen die Ausweitung Russlands auf etwas Größeres, möglicherweise bis hin zu den Grenzen des Russischen Reichs als etwas Normales und Wünschenswertes gilt.  

    Gleichzeitig sehe ich aber keine wirklich neuen gesellschaftlichen und sozialen Praktiken im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Es findet zwar eine aggressive Militarisierung der gesamten Gesellschaft statt, doch diese kommt hauptsächlich von oben. Breitenwirksame Grass Roots Initiativen wie Georgsbändchen oder das Unsterbliche Regiment (die natürlich schnell verstaatlicht worden sind) gibt es heute nicht.  

    Es ist nicht auszuschließen, dass in Zukunft Elemente aus dem aktuellen Krieg ins gesellschaftliche Bewusstsein zum „Tag des Sieges“ Einzug halten werden, bislang sehe ich aber keine Hinweise dafür, dass die Gesellschaft besonders aktiv auf die politischen Angebote reagiert, die beiden Kriege zu einer gedanklichen Einheit zu verschmelzen. 

    Der Kult um den Sieg im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg galt vielen Beobachtern als die Heilige Kuh der russischen Geschichtspolitik unter Putin. Falls die Menschen diese geschichtspolitische Verschmelzung weiterhin jedoch nicht annehmen und die Erzählungen in Konkurrenz geraten – würde der Kreml da nicht diese zentrale geschichtspolitische Ressource verlieren? 

    Wie sich die russische Erzählung über den Krieg gegen die Ukraine entwickelt, zeigt, wie eklektisch sie ist. Betrachten wir zum Beispiel, wie der russische Staat in den eroberten Gebieten vorgegangen ist, also in den okkupierten Teilen der Oblasten Cherson und Saporischschja. Denn dort gab es erstaunliche Pirouetten: Militärs kamen, um eine sogenannte „Denazifizierung“ vorzunehmen, und sie griffen dabei zu quasi-sowjetischer Rhetorik.

    Dazu brachten sie es fertig, Flaggen und Wappen aus der Zarenzeit hervorzuholen sowie Bilder von Potjomkin oder Suworow. Nicht nur der Zweite Weltkrieg und der andauernde Krieg haben darin Platz. Da finden auch alle möglichen anderen Helden aller erdenklichen Epochen der russischen Geschichte ihren Platz. So werden sicherlich auch die von der Ukraine-Front zurückkehrenden Soldaten als Helden stilisiert und damit in das vorhandene Pantheon aufgenommen.

    Die russische Geschichtspolitik hat weniger ideologische Beschränkungen als das sowjetische. Und das macht es flexibler. 

    Schauen wir auf die Betroffenen der aktuellen russischen Aggression, die Ukraine – wie wurde und wird dort des Zweiten Weltkriegs gedacht? Früher wurde in der Sowjetunion gemeinsam in allen Republiken der „Tag des Sieges“ gefeiert. Wie hat sich das seit den 1990er Jahren – besonders in der Ukraine – verändert? 

    In der Ukraine gab es ab 1999 – unter Viktor Juschtschenko erst als Ministerpräsident, später dann als Präsident – Versuche, zwischen den Veteranen der Roten Armee und den Veteranen, die in den Reihen der OUN und UPA gekämpft haben, zu vermitteln – der sogenannten Division Halytschyna und anderen antisowjetischen Formationen. 

    Ich erinnere mich noch, wie die russische Propaganda das schon Mitte der 2000er Jahre als Gleichsetzung der beiden Seiten, eine Relativierung bis Heroisierung des Nazismus darstellte. 

    In der gesamten Amtszeit von Juschtschenko ging es um die Stärkung des ukrainischen Nationalbewusstseins, insbesondere auf Grundlage der historischen Ereignisse im 20. Jahrhundert. Juschtschenko konzentrierte sich dabei auf die Ukrainische Volksrepublik, auf die Westukrainische Volksrepublik, und auf die Fortsetzung des antisowjetischen nationalen Befreiungskampfes. Vor seiner Amtszeit hatte die UPA keine große Aufmerksamkeit bekommen, Juschtschenko war der erste ukrainische Präsident, der sie in die staatliche Erinnerungspolitik integrierte.  

    Schon damals führte das zu Kontroversen, weil die UPA, die gegen die Sowjetmacht kämpfte, auch Verbrechen gegen Juden und Polen beging. Aber es war nicht Juschtschenkos Absicht, das Gedenken an die sowjetischen Veteranen durch ein Gedenken an die UPA zu ersetzen. Eher war es der Versuch, all das im Sinne einer ukrainischen Nationalerzählung zu verbinden. 

    Der Zusammenhang sollte darauf basieren, dass alle Ukrainer sind, dass alle Teil einer ukrainischen Nation und einer ukrainischen Geschichte sind – mit all ihren tatsächlichen Widersprüchen und Konflikten. Das ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass es, stark vereinfacht, Gruppen im Land gibt, die den Zweiten Weltkrieg grundverschieden betrachten. Damit muss man einen Umgang finden. Man braucht man eine nationale Erzählung, die nicht spaltet, sondern eint.  

    Leider widersprach dieser Ansatz der Einstellung vieler, die in der Sowjetunion aufgewachsen und sozialisiert waren. Russland indes hat diese Zerwürfnisse für seine Interessen genutzt und die Konflikte weiter geschürt

    Und wie entwickelt sich der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in Belarus? 2020 klang es ja an, als gäbe es eine Spaltung zwischen der staatlich verordneten Erinnerungspolitik und dem, was die Menschen für richtig halten: Als Lukaschenko die weiß-rot-weiße Flagge verbieten wollte, das Symbol der Massenproteste und der alten national-demokratischen Opposition. Er tönte, dass die Flagge auf die Nazi-Kollaborateure zurückgehe und seine heutigen Gegner ebenfalls Neonazis seien und so weiter. 

    In Belarus gab es schon 1996 erste Tendenzen Lukaschenkos, den Tag der Freiheit am 25. März, an dem 1918 die Belarussische Volksrepublik ausgerufen wurde und der auf national-oppositionelle Initiativen zurückgeht, durch den Tag der Unabhängigkeit am 3. Juli zu verdrängen, an dem die Befreiung von Minsk von der deutschen Besatzung begangen wird. In der Folge wurden Museen bis hin zu Geschichtsbüchern in einer Weise umgestaltet, die selbst russischen Hurra-Patrioten Sorgen bereitete. Denn manche belarussischen Schulbücher konzentrierten sich in der Darstellung des Zweiten Weltkriegs weitgehend auf die Ereignisse in Belarus  –  also auf die sowjetische Besatzung von Westbelarus ganz zu Beginn, dann die deutsche Besatzung, die Partisanenbewegung, die Operation Bagration, während alles andere, etwa die Schlachten um Moskau und Stalingrad, die Belagerung von Leningrad, in den Hintergrund rückte. Und obwohl die Glorifizierung der Heldentaten im Zweiten Weltkrieg in dieselbe Richtung ging wie in Russland, entstand eine besondere, nationale Version.  

    Es ist zwar eine Geschichte gemeinsamer Helden, der belarussischen Partisanen, die ja auch im russischen Pantheon vertreten sind, aber doch auch eine Abgrenzung vom russischen Narrativ. Das betrifft sogar die Symbolik. Das Georgsband hat sich in Belarus nicht durchgesetzt, dort hält der Staat dazu an, eine Apfelblüte auf einer rot-grünen Schleife auf dem Revers zu tragen. Ähnlich der Mohnblume, die in Großbritannien an die Opfer des Ersten Weltkriegs erinnert und mittlerweile auch das Gedenksymbol der Ukraine für ihre Opfer des Zweiten Weltkrieges ist.   

    Trotz der gestiegenen Abhängigkeit vom Kreml versucht Lukaschenko diese seine nationale Variante der Erinnerungspolitik gegenüber dem sowjetischen Erbe weiterzuverfolgen.   

    Zurück zur Ukraine: Was passierte dort seit Juschtschenko? 

    Da muss ich an ein Video aus dem Jahr 2015 denken, in dem einem alten Offizier, gespielt von Wolodymyr Talaschko aus dem sowjetischen Kultfilm W boi idut odni stariki (dt.: Erfahrene Hasen des Geschwaders), von seinem Enkel, einem jungen Soldaten der ukrainischen Streitkräfte zum Tag des Sieges gratuliert wird. Der Opa setzt sich die Schirmmütze der sowjetischen Armee auf und sagt „Slawa Ukrajini“.

    In dieser Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs findet die sowjetische Bildsprache mit dem ukrainischen Nationalbewusstsein nicht nur ein Auskommen, sondern unterstützt es sogar. Während früher die Verwendung solcher Bilder Teile der Bevölkerung vor den Kopf stieß und eher spaltend wirkte, verloren sie nach der Annexion der Krym und dem Kriegsbeginn im Donbas dieses Konfliktpotenzial.  

    Wolodymyr Selensky setzte diese Linie fort, als er am „Tag des Sieges“ 2022 über den Kampf gegen Eroberer von außen sprach, gegen Faschisten und Raschisten

    Sie leben und arbeiten in Bonn, forschen zur russischen Geschichtspolitik. Wie sehen Sie den Einfluss der russischen Aggression gegen die Ukraine darauf, wie man in Deutschland nun die Rolle Russlands im Kampf gegen den Faschismus wahrnimmt? Auch die Rolle der Ukraine, natürlich.   

    Soweit ich das anhand meiner Gespräche mit Deutschen und anhand dessen, was ich in den Medien sehe, beurteilen kann, ist das Hauptproblem, dass Russland als einziger Rechtsnachfolger der Sowjetunion gilt: als wichtigster Erbe nicht nur, was Eigentum und den Sitz im UNO-Sicherheitsrat angeht, sondern auch, was die Nachkriegszeit und den Sieg über den Faschismus angeht. So wurde Russland der Löwenanteil der Aufmerksamkeit zuteil, bei allem, was den Krieg an der Ostfront betraf. Immer wieder wird Russland oder russisch synonym anstelle von Sowjetunion bzw. sowjetisch verwendet. 

    Erst jetzt fängt das an, sich zu verändern. Auch andere Länder rücken in den Fokus, vor allem natürlich die Ukraine.  

    Als ich dieses Jahr an einer Podiumsdiskussion zum historischen Gedenken im Museum Karlshorst teilnahm, hatte ich dort nicht den Eindruck, dass die deutschen Kollegen dazu geneigt wären, Russland durch die Ukraine zu ersetzen oder die Landkarte der Erinnerung abzuändern. Meinem Eindruck nach unterscheiden sie den heutigen Staat der Russischen Föderation, der einen Angriffskrieg führt, von der Sowjetunion als Befreier von Nazi-Deutschland. Und die Russen als jene Menschen, die heute dort leben, von den Russen als Nachkommen der Opfer des Faschismus. Das ist eine komplexe Angelegenheit mit feinen Nuancen.  

    Trotzdem, ich sehe einfach keine grundsätzliche Möglichkeit, Russland vollends von dieser Erinnerungskarte zu tilgen. Offenbar bleibt uns nichts anderes übrig, als den Staat außen vor zu lassen und mit jenen Vertretern der russischen Gesellschaft zu interagieren, die zum Dialog bereit sind. Ich habe das Gefühl, in Europa besteht Bedarf an neuen Repräsentanten genau da, wo früher Abgeordnete des russischen Staates saßen: Vor nicht allzu langer Zeit ist ein Freund von mir als Memorial-Mitarbeiter zu einer Zeremonie nach Auschwitz gefahren, zu der früher ein russischer Diplomat eingeladen worden wäre, wo aber jetzt er die russische Zivilgesellschaft repräsentierte. Das ist alles ziemlich merkwürdig und noch recht neu.  

    Den Anspruch auf eine eigene Stimme im Dialog über den Zweiten Weltkrieg können nun alle unabhängigen Länder erheben, die einst zur UdSSR gehörten, alle, die das wollen – die Ukraine, Belarus, Usbekistan, Kirgisistan, Kasachstan, Georgien, Armenien … Es hat einfach früher eines davon die meiste Aufmerksamkeit bekommen, das gleicht sich jetzt aus. 

    Sie sprechen von einem Dialog mit der russischen Zivilgesellschaft. Aber glauben Sie, dass die Russen, die gegen den Krieg sind, irgendeine andere Interpretation des Zweiten Weltkriegs entwickeln könnten, abseits der revanchistischen und expansionistischen Bestrebungen des Staates?  

    Ich glaube, die Menschen, die oppositionell und regierungskritisch eingestellt sind, haben das alles immer schon differenzierter, komplexer und widersprüchlicher wahrgenommen. Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag. Aber natürlich hat der Krieg gegen die Ukraine das alles verschärft. Die Frage ist, ob eine komplexe Sicht auf den Krieg das ablösen kann, was der Staat heute als Begründung für den Kampf gegen den „kollektiven Westen“ durchsetzen will.   

    Aber selbst wenn: Ich befürchte, dass es in der russischen Geschichte sehr viele Kriege gibt, die sich instrumentalisieren und als Teil eines jahrhundertelangen Widerstands abbilden ließen, in dem die Russen und die Sowjetbürger ziemliche Helden waren … Das ist ein Problem, da muss man was tun, ich glaube nicht, dass es darauf schon eine Antwort gibt.  

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  • Diese Absurdität muss ein Ende haben

    Diese Absurdität muss ein Ende haben

    Am 8. Juli hat ein Gericht in Moskau die Dramaturgin Swetlana Petriitschuk und die Regisseurin Shenja Berkowitsch zu sechs Jahren Haft verurteilt. Das Theaterstück, das vom Gericht als „Rechtfertigung des Terrorismus“ ausgelegt wurde, hatte zuvor renommierte Preise gewonnen. Es basiert auf Prozessakten aus Verfahren gegen junge Frauen, die aus Russland nach Syrien reisen um Kämpfer des Islamischen Staats zu heiraten. In ihrem Schlusswort vor der Urteilsverkündung erklärte Petriitschuk, dass sie überzeugt war, mit ihrer Arbeit etwas gegen die Ausbreitung des Terrorismus zu tun. Das Gericht sah es anders. Meduza dokumentiert Petriitschuks letzte Rede. 

    Swetlana Petriitschuk am 8. Juli 2024, dem Tag der Urteilsverkündung. Rechts neben ihr die Mitangeklagte Regisseurin Shenja Berkowitsch / Foto: Valery Sharifulin, TASS, Imago Images

    Das Erste, was mir mein Verteidiger am ersten Verhandlungstag sagte, war, dass Berkowitsch und ich in demselben Aquarium sitzen, in dem damals auch die Angeklagte Warwara Karaulowa ihr Urteil gehört hatte. Er muss es wissen, er war auch ihr Verteidiger. Mein Dozent für szenisches Schreiben hat mir seinerzeit natürlich beigebracht, dass man die Figuren für Theaterstücke so genau wie möglich studieren muss, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass ich ihnen derart nah kommen würde. 

    Das gesamte Jahr [seit ich in Untersuchungshaft sitze – dek] fühle ich mich als Opfer einer Absurdität größten Ausmaßes. Der größten, die mir je im Leben oder in der Kunst begegnet ist. Und darüber hinaus bin ich auch gekränkt: Denn vor sechs Jahren, als ich das Stück schrieb, war ich mir sicher, dass ich etwas tat, dass von den Strafverfolgungsbehörden unbedingt begrüßt werden müsste: Mit den Mitteln, die mir als Schriftstellerin zur Verfügung stehen, wollte ich helfen, Verbrechen vorzubeugen. Ich habe versucht, Motive hinter Straftaten zu erforschen – genau wie das bereits Dutzende Schriftsteller vor mir getan haben. Ich habe geschrieben, dass es solche Frauen [gemeint sind die Frauen, die vom Islamischen Staat angeworben wurden und nach Syrien reisten – dek] gibt – und Sie, verehrtes Gericht wissen das besser als alle anderen. Wir haben mehr als 20 Zeugen gehört, die bestätigt haben, dass es in dem Stücke keine Rechtfertigung von Terrorismus gibt. Und letztlich geht es doch um einen Text in russischer Sprache, ohne schwieriges Vokabular oder Fachterminologie. Um festzustellen, ob die Autorin für den IS wirbt oder nicht, muss man weder promovierte Kunsthistorikerin sein noch Linguistin. Es reicht aus, Russisch zu sprechen und einen mittleren Schulabschluss zu haben. 

    Nach Auffassung der Anklage haben im Verlauf von sechs Jahren sowohl einige Hundert professionelle Theaterleute nicht gemerkt, dass dieser Text eine Rechtfertigung von Terrorismus enthält. Außerdem auch das Kulturministerium, der Theaterverband, der Strafvollzugsdienst sowie Tausende Zuschauer und Hunderte Menschen, die uns während der vergangenen 14 Monaten in Untersuchungshaft geschrieben haben. Ja, selbst einige Linguisten; einer von ihnen schreibt Bücher über die Methoden linguistischer Gerichtsgutachten. Aber die Anklage weiß es besser. 

    Der 15. Monat unserer Untersuchungshaft ist angebrochen. Und es ist höchste Zeit, dass diese Absurdität ein Ende hat. Damit Berkowitsch und ich endlich wieder etwas Sinnvolles tun können – arbeiten, uns um unsere Nächsten kümmern, unsere Liebsten umarmen und unsere Gesundheit wiederherstellen. Möge der gesunde Menschenverstand endlich siegen. 

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  • Gulag-Museum unter besonderen Bedingungen

    Gulag-Museum unter besonderen Bedingungen

    Das Museum Perm-36 wurde am 5. September 1995 gegründet. Es ist der einzige in Russland erhaltene Gebäudekomplex eines stalinistischen Arbeitslagers. In den Sowjetjahren saßen hier viele Dissidenten ein, darunter Wladimir Bukowski, Sergej Kowaljow und hunderte andere Polithäftlinge. 
    Beinahe 18 Jahre lang war das Museum in den Händen einer unabhängigen Organisation, doch dann beschloss der Staat, es unter seine Kontrolle zu bringen. Die Organisation, die das Museum gründete und betrieb, wurde zunächst zum ausländischen Agenten erklärt und hat sich 2016 selbst aufgelöst. Max Sher hat 2015 das einzigartige Museum für Meduza fotografiert.

    Einfahrtstor zum Arbeitslager
    Von der Fernstraße Perm-Tschussowoi abbiegen in Richtung des Dorfes Kutschino: Dort befindet sich das Museum „Perm-36“ 
    Kontrollpunkt mit Verwaltungs- und Besuchsräumen, oben Stabsunterkunft, rechts Einfahrtstor und Zaun
    Mehrfachumzäunung des Lagers
    Wohnbaracke aus den 1940er bis 1950er Jahren
    Inneneinrichtung einer Wohnbaracke (Rekonstruktion)
    Fenster der Strafisolationszelle (SchISO) bzw. Karzer
    Gattersäge
    Rote Ecke in der Wohnbaracke. Hier schrieben die Häftlinge Briefe
    Besuchszimmer für kurze Treffen ​
    Besuchszimmer für längere Treffen ​
    Spion an der Tür zum Karzer
    Diese Allee dürfte es eigentlich nicht geben, weil das ganze Lager einsehbar sein sollte. Sie wurde in der Zeit angepflanzt, als ehemals hochgestellte Mitarbeiter des NKWD-KGB und des Innenministeriums verurteilt im Lager einsaßen (1953 bis 1972) 
    Kontrollpunkt des „Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen“ („Sonderregime für besonders gefährliche Wiederholungstäter“) 500 Meter vom Stammlager entfernt. Die einzige Abteilung dieser Art in der späten UdSSR für wiederholt politisch Verurteilte war 1980 gegründet worden
    Eingang zum Kontrollpunkt der Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen
    Wohnbaracke auf dem Gelände des Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen. Der Holzzaun links versperrte zusätzlich den Blick aus den vergitterten Fenstern
    Blick aus einem „Spazierhof”, links der Wach-Balkon
    Wachturm auf dem Gelände des Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen

    Fotos: Max Sher
    Übersetzung der Bildunterschriften: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 05.09.2018

     

    Dieses Visual wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • „Musik lehrt, die Schönheit der Dinge zu sehen“

    „Musik lehrt, die Schönheit der Dinge zu sehen“

    Kedr Livanskiy ist das neue, weibliche Gesicht des russischen Electro, beim US-Label 2MR records unter Vertrag – und in diesem Sommer in Deutschland auf dem MELT-Festival zu sehen und zu hören. Colta.ru hat die Künstlerin, die mit bürgerlichem Namen Jana Kedrina heißt, zum Interview getroffen.

    Das neue weibliche Gesicht des russischen Electro – Kedr Livanskiy / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook
    Das neue weibliche Gesicht des russischen Electro – Kedr Livanskiy / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook
    Kedr Livanskiy: Ich hab schon lange kein Interview mehr gegeben, fast zwei Monate nicht.

    Dennis Bojarinow: Du hast selbst Journalismus studiert und musstest sicher selbst schon mal Interviews führen. Warum hast du seinerzeit das Studium geschmissen?

    Irgendwas muss man ja studieren. Da bin ich an die journalistische Fakultät gegangen, denn ich habe mich schon immer für Literatur, Philosophie und Kunst interessiert. Und es gab dort tolle Dozenten. Im Prinzip habe ich mich da intensiv mit Literatur beschäftigt. Ich wollte aber nie Journalistin werden, ich habe dafür kein Talent, ich kann ganz schlecht Gedanken formulieren. Einmal haben wir als Semesterarbeit eine Zeitschrift gemacht und dafür Interviews mit Studierenden und Jugendlichen gemacht. Sie hatte den schrecklichen Namen JUM, so etwas wie Jugendlicher Maximalismus. Ich stand damals auf Punk-Rock, deshalb gingen mich diese Themen etwas an.

    Die Punk-Rock-Gruppe, in der du gespielt hast, war eine Frauenband?

    Nein, außer mir waren da nur Jungs. Ich habe gesungen und die Lieder und Melodien geschrieben. Die Lieder handelten von Partys, Drogen und Alkohol, so in dem Stil, worüber jetzt die Gruppe Poschlaja Molli singt. So Pop-Punk, aber nur mit Gitarre, ohne Electro. Ich habe mich an 1,5 Kilogramma otlitschnogo Pjure und Blink-182 orientiert. Wir hatten einen total plumpen Sound – nur der Bassist konnte wirklich spielen.

    Aufmerksamkeit haben wir bekommen, weil wir auf Russisch gesungen haben – und weil ein Mädel sang. Damals gab es im Punk-Rock wenig Frauen, ja das ist immer noch so. Überall.


    Was war das größte, was eure Band zustande gebracht hat?

    Eine Tour – vier Städte haben wir abgeklappert in dem Transporter, der als „Todesbus berühmt wurde. Das war unsere einzige Tour. Nach solch einer Tour muss man ein paar Monate auf Entzug. Wir waren in der Hölle und die Zuschauer auch, aber deswegen sind sie ja zu den Konzerten gekommen. Ein einziges gemeinsames dionysisches Bacchanal!

    Wir waren in der Hölle und die Zuschauer auch

    Parallel dazu habe ich mich mit Literatur beschäftigt und der höfischen Kultur hingegeben. Viele meiner Punk-Kumpel haben nichts davon geahnt, haben gedacht, die säuft nur.

    Warum ist es für dich vorbei mit dem Punk?

    Ich glaube nicht, dass Punk stumpf ist. Aber aus dem Punk, den wir gespielt haben, bin ich rausgewachsen. Es kommt der Moment, da nervt es, wenn du immer außer dir bist. Dann will man etwas Ernsteres. Selbst als ich zu Punk- und Hardcore-Konzerten gegangen bin, habe ich weiter Alternative und Electro gehört, CocoRosie, Xiu Xiu, Boards of Canada.

    Wann hast du angefangen, elektronische Musik zu machen?

    Mit 23. Ich bin in einem Kreis von Leuten gelandet, die den Club NII betrieben und die Labels Gost Zvuk und John’s Kingdom. Die Zeit forderte einen neuen Schritt. Wir waren alle Musiker. Gingen zu Partys und auf Electro-Konzerte. Zuerst haben wir alles zusammen gemacht, dann sind wir auseinandergegangen – und jeder hat für sich allein weitergemacht.


    Moskauer Plattenbau-Meere aus Drohnenperspektive mit „Vtgnike“ von „Gost Zvuk“
    Und wie bist du in den Kreis hineingeraten?

    (Lacht.) Ich habe einfach mit dem Oberhaupt der Gruppe angebandelt, mit Pascha Miljakowy, der ist jetzt als Buttechno bekannt. Aber der hatte nichts direkt mit dem zu tun, was ich mache. Wir sind zusammen gewachsen, ich glaube, dass unsere Beziehung unseren Projekten in ihrer Entwicklung geholfen hat.

    Als ich mit Punk aufgehört habe, wollte ich unbedingt Musik machen. Aber ich kann kein Instrument spielen. Ich habe mal Gitarre gelernt, aber um so zu spielen, um es richtig ordentlich zu können, braucht man viel Geduld. Um elektronische Musik zu machen, muss man nicht unbedingt Instrumente spielen können (lacht).


    „Buttechno“-Set bei einer Party von „Boiler Room“. Das Projekt „Boiler Room“ organisiert geheime Electro-Events an verschiedenen Orten der russischen Hauptstadt

    Ja, das ist für viele verlockend.

    Das Tolle ist – ich mache jetzt vier Jahre Electro, und ich beherrsche das Instrument schon intuitiv; ich weiß, wo was ist, und spüre die Harmonien.
    Ich schaue immer mal wieder Tutorials auf YouTube. Aber cooler ist, jemanden zu besuchen und dann zusammen Musik zu machen, dann sehe ich wie dieser Mensch die Software benutzt.

    Mein Hauptinstrument ist beispielsweise Ableton, aber zehn Leute können das auf zehn verschiedene Arten benutzen. Du schnappst das eine oder andere auf und entdeckst dann für dich etwas Neues. Wenn ich grad mal Geld habe, kaufe ich Instrumente, Synthesizer oder Drum Machines. Aber ich benutze sie nicht bei Konzerten. Meine Musik ist sehr geeignet, um gleichzeitig zu spielen und zu singen.

    Ich mache jetzt vier Jahre Electro, und ich beherrsche das Instrument schon intuitiv; ich weiß, wo was ist, und spüre die Harmonien / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook
    Ich mache jetzt vier Jahre Electro, und ich beherrsche das Instrument schon intuitiv; ich weiß, wo was ist, und spüre die Harmonien / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook

    Du machst zu Hause Musik – bist eine typische Bedroom-Musikerin. Denkst du manchmal, dass du einen Schritt weiter gehen musst in ein professionelles Studio?

    So ein professionelles Niveau ist keine unbedingte Voraussetzung für gute Musik. Zum Beispiel Timati und Black Star Burger, die machen das auf so professionellem Niveau, nehmen alles im Studio auf, und? Natürlich muss man sich mit der Materie auskennen, muss mixen und mastern können. Aber du kannst auch zu Hause gute Ergebnisse erzielen, wenn du Studiomonitore hast. Und wenn nicht, dann gehst du zu Freunden, die mehr von Sound Engineering verstehen.

    Das ist jedenfalls nicht die Richtung, in die ich strebe. Mir ist schon klar, dass es für ein Massenpublikum einen anderen Sound braucht, glatter, und so. Aber ich habe nicht das Anliegen, ein großes Publikum zu erobern.

    Und welches Anliegen hast du dann?

    Mehr Musik zu machen, die sich transformiert und entwickelt und mir weiterhin Freude macht. Ich mag es, wenn alles harmonisch geschieht. Ich habe nicht das Anliegen, Ruhm und Ehre zu erwerben, vielleicht würde meine Psyche das gar nicht aushalten.

    Vor welchen Electro-Musikern aus Russland hast du ernsthaft Respekt?

    Vor allen Musikern bei den Labels Gost Zvuk und RASSVET records, das Pascha Miljakow gegründet hat, auch vor denen vom Samaraer Label Oblast. Die sind zwar nicht sehr berühmt, aber ich sehe, wie diese Jungs und Mädels leben. Nur 200 oder 300 Leute, die ins NII gehen, kennen sie, aber die sterben für die Musik. Die haben keine Ego-Motive. Das ist geil.


    „Lapti“ von „Gost Zvuk“ mit einem Video im Trashpop-Stil

    Wie kam es, dass du berühmter geworden bist als sie?

    Meine Musik ist einfacher. Sie basiert auf Melodien. Sie ist verständlich und eingängig. Aber einfacher heißt nicht schlechter.

    Um experimentelle Musik verstehen zu können, braucht es Erfahrung und Wissen. Man muss sich dahinterklemmen und lernen, Schönheit in anderen Dingen zu sehen.

    Derzeit arbeitest du mit dem US-amerikanischen Label 2MR records zusammen. Wie ist euer Verhältnis zueinander? Hast du einen Vertrag?

    Ja, ich habe einen Vertrag. Ich bin bei solchen Dingen recht leichtfertig. Erst vor Kurzem wurde mir bewusst, dass ich einen Vertrag über vier LPs unterschrieben habe!

    Erschienen ist bisher eine.

    Genau. Und noch eine EP, ein Mini-Album, aber das zählt nicht. Und das ist ein bisschen traurig, weil mich auch andere Label anschreiben, echt gute. Aber alles, was ich mache, muss ich 2MR geben oder zumindest mit ihnen absprechen. Und die wollen niemandem was geben. Ich bin also in einer Art Geiselhaft, aber bisher bedrückt mich das nicht.

    Ich bin leider keine sehr produktive Künstlerin. Ich kann nicht pro Jahr ein Album machen.

    Du schuldest ihnen noch drei Alben, was schulden sie dir? Wie sieht es mit einer Finanzierung aus?

    Sie können mir einen Vorschuss zahlen, pro Videoclip kriege ich beispielsweise 1000 Dollar. Aber dieses Geld wird später von der Beteiligung abgezogen, die aus dem Verkauf bei mir landet. Sie leihen mir was. Das sind keine Mäzene, das ist ein Label.

    Machen sie dir Vorschläge, wie du deine Musik besser vermarkten könntest, nach dem Motto: Wir müssen jetzt einen Clip drehen, was hältst du von diesem wunderbaren Regisseur hier?

    Zum Glück nicht. Nur manchmal schubsen sie mich ein bisschen, schreiben mir zum Beispiel: Dem und dem musst du unbedingt ein Interview geben. Oder sie schreiben: Jana, in dieser Welt kann eine Künstlerin nicht drei Monate am Stück schweigen – du musst unbedingt mit einer Single oder einem Clip kommen. Und ich antworte ihnen: Sorry, Leute, später (lacht).


    Dir stehen Auftritte auf großen europäischen Festivals bevor: Primavera in Barcelona und MELT in Deutschland. Willst du da irgendwas besonderes machen?

    Ich will mit Visuals, also mit Videobegleitung auftreten. Normalerweise ging das immer ohne, aber wenn da mehr als 2000 Leute im Publikum sind, kann ich nicht ganz allein auf der Bühne stehen. Außerdem will ich mich noch mit einem Tonmeister treffen und mit ihm mein Live-Programm durchgehen, vielleicht mischen wir das nochmal neu ab.

    Jana, in dieser Welt kann eine Künstlerin nicht drei Monate am Stück schweigen

    Ich bin schon in anderen Ländern aufgetreten, aber eher auf Partys, zu dem mein Publikum kommt, für die, die meine Musik kennen. Hier muss ich die Aufmerksamkeit eines Publikums gewinnen, das mich überhaupt nicht kennt. Das ist eine echte Herausforderung!

    In der Musik von Kedr Livanskiy steckt eine klare russische Identität, die fehlt fast überall – nicht nur in der elektronischen Musik. Du hast das: russische Texte, sogar russische Lyrik, und das Flair der New Wave aus der Spätperestroika und der Elektronik wie bei NII Kosmetika. Arbeitest du absichtlich in diese Richtung?

    Nein, nicht absichtlich. Als ich versucht habe, etwas absichtlich zu machen – Mensch, jetzt mach ich mal so was wie Stuk Bambuka w 11 Tschassow, da kam bei mir gar nichts raus (lacht). Es war einfach nur Zeug.

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    Video #19: Best of Kleimjonow

    Neue Sprache im staatlichen Ersten Kanal: Die Anmoderationen von Kirill Kleimjonow sollten nicht mehr sachlich und nüchtern sein. Das ist ihm gelungen. Ein Best of mit Kommentaren von Oleg Kaschin.

     

    „Der Beruf des Verräters“, sagt Kleimjonow, „ist einer der gefährlichsten auf der ganzen Welt.“ Dann beginnt ein Beitrag über den vergifteten russischen Ex-Spion Sergej Skripal.
    Kirill Kleimjonow war zwischen Februar und Mai wieder Moderator der Abend-Nachrichtensendung Wremja im staatlichen Ersten Kanal. Er hatte sie bereits zwischen 1998 und 2004 moderiert.
    Wremja ist nicht irgendeine Nachrichtensendung, sie hat die höchsten Einschaltquoten, erreicht täglich mehrere Millionen Zuschauer. Der Journalist Oleg Kaschin schreibt auf Republic:

    [bilingbox]Die Sendung Wremja [dt. „Zeit“] ist zweifellos ein Symbol für Russlands TV-Staatlichkeit. Gleichzeitig ist sie wahrscheinlich mit das wichtigste Element des sowjetischen Medienerbes, das bis in unsere Tage überlebt hat. Vergleichen kann man die Sendung Wremja nur mit der Prawda. Während letztere in unserer Zeit zu einem auflagenstarken Firmenblatt der KPRF geworden ist, die nichts mehr mit der wichtigsten und größten Zeitung der Sowjetunion gemein hat, ist Wremja eine derart konstante Größe im Sendungsspektrum – als hätte sich im Land nie etwas geändert, als wäre es ewig 9 Uhr abends Moskauer Zeit.~~~Программа «Время» – бесспорный символ российской телевизионной государственности и одновременно, вероятно, важнейший элемент советского медийного наследия, доживший до наших дней; сравнить программу «Время» можно только с газетой «Правда», и если последняя в наше время превратилась в корпоративную многотиражку КПРФ, не имеющую ничего общего с главной газетой Советского Союза, то программа «Время» – это такая эфирная константа, как будто в стране никогда ничего не менялось, вечные девять часов вечера по Москве.[/bilingbox]


    Das Gesicht von Wremja ist eigentlich Jekaterina Andrejewa, die die Nachrichtensendung seit 1997 moderierte, außerdem auch Witali Jelisejew. Ab Februar übernahm Kirill Kleimjonow wieder diese Rolle und machte alles anders als bisher: Aus einem neuen modernen Studio heraus ersetzte er die bislang eher nüchterne Nachrichten-Sprache in seinen Anmoderationen durch subjektive Kommentare. Nach der Amtseinführung Putins Anfang Mai diesen Jahres zog sich Kleimjonow, der seit 2016 auch im Direktorenrat des Senders ist, dann wieder hinter die Kamera zurück. Ist sein Experiment, einen neuen Ton zu finden, geglückt? Oleg Kaschin kommentiert: 

    [bilingbox]Wremja als Abend-Show lässt flache Witze über Grudinins Goldbarren los, bringt das unglaubliche „Fröhlicher-aber-kürzer“ über die Lebenserwartung der Russen und quittiert Skripals Vergiftung mit Schadenfreude, die der westlichen Presse als ein Beweis diente, dass die russische Regierung an dem Mordversuch des ehemaligen Spions beteiligt war.

    Sieht man in Kleimjonows Experiment einen Versuch, für die Sendung Wremja eine menschliche Sprache zu finden, dann ist das Ergebnis des Experiments grausig. Es zeigt: Lieber die unmenschliche Sprache, wie bisher in der Sendung üblich, leidenschaftslos, ohne Mimik und treu dem aus fremder Feder oder auch einer Maschine vorgeschriebenen trockenen Text. Denn wenn Wremja anfängt menschlich zu sprechen, kommt dabei eben ein solches „Fröhlicher-aber-kürzer“ heraus.~~~Программа «Время» как вечернее шоу – это казарменные шуточки про золотые слитки Грудинина, невероятное «веселее, но короче» о продолжительности жизни россиян и злорадство после отравления Скрипалей, ставшее для западной прессы одним из доказательств причастности российских властей к попытке убийства бывшего шпиона. Если считать клейменовский эксперимент попыткой поиска человеческого языка для программы «Время», то итог этого эксперимента жутковат – оказывается, лучше говорить на нечеловеческом, вот как было принято в этой программе до сих пор, бесстрастно, не меняя выражения лица и не отклоняясь от написанного другими людьми, а то и машиной, сухого текста, потому что если программа «Время» начинает говорить по-человечески, то получается вот это «веселее, но короче».[/bilingbox]


    Mehr zur Medienlandschaft in Russland:

    Alles Propaganda? Russlands Medienlandschaft

    Mehr zur schwarz-orangenen Schleife im zweiten Teil:

    St. Georgs-Band


    dekoder-Redaktion
    erschienen am 24.5.2018

    Dieses Video wird gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Leuchtturmwärter am Ende der Welt

    Leuchtturmwärter am Ende der Welt

    Am nördlichen Ufer des Ochotskischen Meeres auf der Starizki-Halbinsel liegt der Tschirikow-Leuchtturm, 18 Kilometer entfernt von Magadan. Von Mai bis September ist er nur mit kleinen Booten erreichbar: Wegen der Felsen kann weder ein Lastschiff noch ein Kutter dort anlegen. Im Winter hat der Leuchtturm keine stabile Transportverbindung – die letzten acht Jahre war das Eis nicht tragfähig. Wer zum Leutturm will, der geht zu Fuß durch die Taiga. 
    Die Menschen am Leuchtturm leben weitgehend autonom, Lebensmittel und Treibstoff liefert das Verteidigungsministerium einmal jährlich über den Seeweg. Über das Jahr leben die Leuchtturmwärter von getrockneten Lebensmittelvorräten, von Beeren, die sie auf der Halbinsel sammeln, und vom Fisch, den sie fangen.
    Zapovednik hat sie am Leuchtturm besucht.

    Auf der Landzunge Tschirikow - fast wie in Griechenland, fehlen nur Ziegen … / Fotos © Evgeny Serov
    Auf der Landzunge Tschirikow – fast wie in Griechenland, fehlen nur Ziegen … / Fotos © Evgeny Serov

    Nikolaj Beljajew arbeitet seit 13 Jahren am Leuchtturm. Jeden Tag überwacht er den Dieselgenerator, der das Leuchtfeuer versorgt, und betreut die Lichtanlage. 
    Nikolaj ist in Polen geboren, in der Familie eines sowjetischen Аrmeeangehörigen. 1976 kam er auf dem Weg zu seiner Schwester nach Tschukuta auch nach Magadan. Er dachte, er würde vorübergehend bleiben, blieb dann aber bis 1994, als er mit Frau und Kindern in den Krasnodarski Krai zog, wegen des angenehmeren Klimas. Nach Beginn des ersten Tschetschenien-Krieges wurde es dort unruhig, und die Familie ging zurück nach Magadan.

    Nikolaj Viktorowitsch hat früher als Mechaniker in einem Bade- und Wäschereibetrieb und einer Fischverarbeitungsfabrik gearbeitet, dann bekam er den Posten als Mechaniker am Leuchtturm angeboten. Beljajew stieg schnell zum Leuchtturmvorsteher auf, denn es gibt nicht viele, die dort arbeiten wollen. Am Leuchtturm gibt es vier Arbeitsstellen, aber manchmal sind dort nur Beljajew und seine Frau tätig.
    „Ich vergleiche uns immer mit Kosmonauten: ein abgeschlossener Raum, jeden Tag dieselben Gesichter. Im Sommer ist es besser: Manchmal fährt ein Schiff vorbei, manchmal ein Boot – es ist lustiger, auch das Wetter. Im Winter ist es manchmal nicht auszuhalten“, erzählt Nikolaj.

    Das Licht des Tschirikow-Leuchtturms hilft den Schiffen, die sich im Nebel des Ochotskischen Meeres verirrt haben.

    Frisch gefangene Plattfische dörren in der Sonne. Das Leben am Leuchtturm läuft weitgehend autonom – einmal jährlich werden Lebensmittel über den Seeweg geliefert
    Frisch gefangene Plattfische dörren in der Sonne. Das Leben am Leuchtturm läuft weitgehend autonom – einmal jährlich werden Lebensmittel über den Seeweg geliefert
    Der König der kleinen Leuchtturmwärterstadt
    Der König der kleinen Leuchtturmwärterstadt
    Das Leuchtfeuer von Tschirikow blinkt - 6,5 Sekunden Dunkelheit, 1,5 Sekunden Licht
    Das Leuchtfeuer von Tschirikow blinkt – 6,5 Sekunden Dunkelheit, 1,5 Sekunden Licht
    Der Leuchtturmwärter prüft den Dieselgenerator - der speist das Leuchtfeuer
    Der Leuchtturmwärter prüft den Dieselgenerator – der speist das Leuchtfeuer
    Vor seiner Schicht begeht der Leuchtturmwärter die Siedlung und den Leuchtturm. Die Ergebnisse notiert er im Funkraum in einem Dienstbuch
    Vor seiner Schicht begeht der Leuchtturmwärter die Siedlung und den Leuchtturm. Die Ergebnisse notiert er im Funkraum in einem Dienstbuch
    Eine Runde Leuchtturm ein- und ausschalten, eine Runde Billard - der Bedienungsraum am Leuchtturm
    Eine Runde Leuchtturm ein- und ausschalten, eine Runde Billard – der Bedienungsraum am Leuchtturm
    Nikolaj posiert für ein Portrait im Zimmer des Wohnhauses der kleinen Leuchtturmstadt. 1958 wurde für das Personal ein Haus mit zwei Stockwerken und vier Dreizimmerwohnungen errichtet
    Nikolaj posiert für ein Portrait im Zimmer des Wohnhauses der kleinen Leuchtturmstadt. 1958 wurde für das Personal ein Haus mit zwei Stockwerken und vier Dreizimmerwohnungen errichtet
    Mit Hund Ryshaja auf dem Weg zum Dieselgeneratorhäuschen
    Mit Hund Ryshaja auf dem Weg zum Dieselgeneratorhäuschen
    Auf dem Vorplatz des Wohnhauses, die Veranda ist Nikolajs Lieblingsort - von hier aus sieht man alle vorbeifahrenden Schiffe
    Auf dem Vorplatz des Wohnhauses, die Veranda ist Nikolajs Lieblingsort – von hier aus sieht man alle vorbeifahrenden Schiffe
    Notizen bei Regen und bei Sonnenschein - Nikolajs Brillen und das Dienstbuch
    Notizen bei Regen und bei Sonnenschein – Nikolajs Brillen und das Dienstbuch
    Kühlwasser für den Dieselgenerator
    Kühlwasser für den Dieselgenerator
    Nikolaj prüft die neue Glühbirne beim Dieselgenerator  – da leuchtet der Leuchtturm gleich heller!
    Nikolaj prüft die neue Glühbirne beim Dieselgenerator – da leuchtet der Leuchtturm gleich heller!
    Um Lasten vom Ufer hinaufzuziehen, gibt es Schienen, einen Miniwaggon und einen Flaschenzug
    Um Lasten vom Ufer hinaufzuziehen, gibt es Schienen, einen Miniwaggon und einen Flaschenzug
    Panorama der kleinen Leuchtturmstadt – oder auch Neu-Lummerland
    Panorama der kleinen Leuchtturmstadt – oder auch Neu-Lummerland
    Krebsreusen – bald gibt’s lecker Meeresfrüchte
    Krebsreusen – bald gibt’s lecker Meeresfrüchte
    „Ich vergleiche uns immer mit Kosmonauten. Ein abgeschlossener Raum, jeden Tag dieselben Gesichter“
    „Ich vergleiche uns immer mit Kosmonauten. Ein abgeschlossener Raum, jeden Tag dieselben Gesichter“
    Stillleben mit Tee und Butterbrot
    Stillleben mit Tee und Butterbrot
    Nikolaj arbeitet seit 13 Jahren am Leuchtturm
    Nikolaj arbeitet seit 13 Jahren am Leuchtturm
    Blick auf den Leuchtturm vom höchsten Punkt der Tschirikow Landzunge
    Blick auf den Leuchtturm vom höchsten Punkt der Tschirikow Landzunge
    Am Leuchtturm gibt es vier Arbeitsstellen, aber manchmal sind dort nur Beljajew und seine Frau tätig
    Am Leuchtturm gibt es vier Arbeitsstellen, aber manchmal sind dort nur Beljajew und seine Frau tätig

    Fotos und Text: Evgeny Serov
    Übersetzung: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am: 17.05.2018

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  • Panel #1: Gelten in Russland andere Werte als im Westen?

    Panel #1: Gelten in Russland andere Werte als im Westen?

    Haben Russland und Westeuropa wirklich unterschiedliche Werte? Haben Begriffe wie „Toleranz“ oder „Demokratie“ hier wie dort eine andere Bedeutung? Gibt es „spezifisch russische Werte“? Und lohnt es sich überhaupt, über Werte zu streiten?

    dekoder hat drei Experten dazu befragt – acht Fragen und je drei unterschiedliche Meinungen:

    Andrej Kortunow, Politikwissenschaftler, Generaldirektor des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten, Präsident der Stiftung Nowaja Jewrasija (dt. „Neues Eurasien“)

     

     

     

    Evgeniya Sayko, Kulturwissenschaftlerin, Kollegiatin am Hertie-Innovationskolleg, Berlin, arbeitet an dem Projekt „Wertediskurs mit Russland: klären, formulieren, vermitteln“. (Foto © Wolfgang Frank/Hertie-Stiftung)

     

     

     

    Gasan Gusejnov, Kulturhistoriker und Philologe, Professor an der Higher School of Economics, Moskau.

     

     

     


    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    1. 1. Alle sprechen über unterschiedliche Werte in Russland und im Westen: Gibt es überhaupt so einen großen Unterschied?

      Andrej Kortunow: Werte – das ist ein sehr breiter Begriff. Wenn über das Auseinanderklaffen der Werte in Russland und dem Westen gesprochen wird, ist damit meistens der russische Sozialkonservatismus gemeint. Zum Beispiel zieht sich durch, dass der Familie und der Religion in Russland eine größere Bedeutung zukommt als im Westen. Bei der Zahl der Scheidungen allerdings unterscheidet sich Russland nicht signifikant von anderen europäischen Ländern.
      Die Religiosität ist in Russland stärker ausgeprägt als in Großbritannien oder Spanien, aber schwächer als in Polen oder sogar in Deutschland. Zwischen Russland und dem Westen klafft etwas anderes auseinander, und zwar die Narrative und, allgemeiner, die Mentalität der politischen Eliten – sofern der Begriff einer politischen Elite auf Russland überhaupt anwendbar ist.


      Evegniya Sayko: Die größten Unterschiede gibt es vor allem auf der rhetorischen Ebene. Während sich die europäische Gemeinschaft über einen gemeinsamen „Wertekanon“ definiert, werden in Russland Stimmen lauter, dass das Land eigene Werte besitze. Eine Auseinandersetzung mit den genauen Unterschieden und ihre Benennung findet aber dabei kaum statt. 
      Betrachtet man aber unterschiedliche Werte-Studien, so sieht man, dass die Russen „westlicher“ eingestellt sind, als es dem Selbstbild nach beabsichtigt ist und als es dem Fremdbild nach scheint. 
      Wertestudien wie die von World Values Survey zeigen, dass zumindest die gesellschaftlich-politischen Werte der Russen gar nicht so weit entfernt sind von denen der anderen Europäer: Sie lehnen Korruption ab und meinen, dass Demokratie die beste Regierungsform ist. Wertedifferenzen gibt es dennoch in Bezug auf Sexualität und Moral: So lehnen viele Russen Homosexualität ab, und es gibt eine unterschiedliche Wahrnehmung der Geschlechterrollen.

      Gasan Gusejnov: Der grundlegende Unterschied liegt im Wertesystem, nicht in den Unterschieden einzelner, jeweils für sich genommener Werte. Im Wertesystem Russlands wird der Staat als Subjekt begriffen, das Priorität hat vor jedem einzelnen Bürger und vor der Zivilgesellschaft als ganzer. Das ist der kardinale Unterschied zwischen europäischen und russischen Werten. Ein Beispiel: In Russland wundert man sich ob des Aufhebens, das in Großbritannien um den Anschlag auf das Leben des Agenten Skripal und seine Tochter gemacht wird. „Was soll’s, da wird ein Verräter aus dem Weg geräumt! Worüber soll man sich da wundern?“

    2. 2. Ist die Wertehierarchie in Russland und im Westen eine andere?

      Andrej Kortunow: Eine Besonderheit war in Russland schon immer die deutliche Ausrichtung auf den sozialen Paternalismus. In Russland gibt es größere Erwartungen an den Staat oder an den Arbeitgeber als in vielen anderen westlichen Ländern. Aber gleichzeitig ist man bereit, vom Staat oder dem Arbeitgeber mehr hinzunehmen als das im Westen durchschnittlich der Fall ist. 
      Der soziale Paternalismus ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der russischen Gesellschaft: Er existiert in unterschiedlichen Formen unter anderem auch in den Ländern Süd- und Mitteleuropas sowie in Ostasien
      Die russischen Werte stehen in diesem Sinne den allgemein-westlichen Werten gar nicht so sehr entgegen, als vielmehr der angelsächsischen Variante; Russland ist dem katholischen Westen näher als dem protestantischen. Aber die Distanz zwischen dem orthodoxen Russland und dem protestantischen Westen ist immer noch weitaus kleiner, als jene zwischen Russland und beispielsweise dem buddhistischen Osten.

      Evgeniya Sayko: Es wird oft angenommen, dass die Russen eine andere Wertehierarchie hätten als zum Beispiel die Deutschen; dass sie etwa „traditioneller“ seien. Damit ist gemeint, dass für die Russen Kollektivismus, Patriotismus oder Religiosität eine deutlich größere Bedeutung haben. 
      Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es sich dabei oft um Mythen handelt. Zum Beispiel wird die besondere Religiosität der Russen immer wieder hinterfragt, auch von den Gläubigen selbst. Denn nur ein paar Prozent der Bevölkerung führen ein wirklich religiöses Leben, halten also zum Beispiel die Fastenzeiten der Russisch-Orthodoxen Kirche ein oder nehmen regelmäßig an der Eucharistie teil.

      Gasan Gusejnov: Ja, die Wertehierarchie unterscheidet sich durchaus. Der Staat ist in Russland keine Maschine, die das würdige Leben der Bürger gewährleisten möge, sondern ein spezielles Mega-Subjekt, das sich über die Gesellschaft erhebt. Mit dieser Vorgabe kann jeder Bürger oder jede Gruppe, die Persönlichkeitsrechte verteidigt, beinahe automatisch zum Staatsfeind erklärt werden. Genau deswegen empfinden viele beispielsweise die Rache des Staates an einer Privatperson als etwas ganz Normales.


    3. 3. Bedeuten Wörter wie Menschenrechte, Freiheit, Toleranz, Diversität oder Gerechtigkeit im Russischen etwas anderes? Gibt es eine Kluft zwischen der russischen und der deutschen Bedeutung dieser Wörter?

      Andrej Kortunow: Natürlich gibt es einen Unterschied, der verbunden ist mit historischen, kulturellen, ja, sogar linguistischen Besonderheiten Russlands und anderer Länder. Beispielsweise der Begriff „Gerechtigkeit“ – er ist ein ganz zentraler für den russischen kulturellen Code und äußerst wichtig für das Verständnis der gesamten Geschichte des Landes. 
      Traditionell hat die russische Gesellschaft von den Machthabern eben jene „Gerechtigkeit“ gefordert und nicht „Freiheit“. Der Begriff „Toleranz“ wurde erst vor recht kurzer Zeit aus dem Westen übernommen, und ist schon sehr schnell mit einer negativen Konnotation belegt gewesen: Toleranz als Synonym für Indifferenz und Gleichgültigkeit.

      Evgeniya Sayko: Die Konfrontation mit dem sogenannten Westen und seinen Werten spiegelt sich auch in der Sprache wieder. Die inhaltliche Diskussion über „europäische Werte“ und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Bedeutung der damit verbundenen Begriffe findet im öffentlichen Diskurs Russlands kaum statt. Stattdessen ist eine sehr emotionale Positionierung Russlands als Gegensatz zum Westen zu beobachten, teilweise mit abwehrender bis beleidigender Lexik. Da entstehen Wortspiele und neue Wörter wie „Gayropa“.  
      Da es keine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Werte-Begriffen gibt, werden solche Wörter zum großen Teil zu leeren Worthülsen. Einige Begriffe, wie Toleranz oder Menschenrechte, bekommen in Russland auch eine ironische oder sogar ablehnende Konnotation. Mit einer solch negativen Konnotation wurden etwa die Begriffe „Toleranz“ und „Diversität“ in der Flüchtlingsdebatte belegt.

      Gasan Gusejnov: Ich würde nicht von der russischen Sprache als solcher sprechen wollen, sondern nur über die Sprache moderner Politiker und über die öffentliche Alltagssprache. Wenn man in Russland über europäische Werte spricht, dann spricht man über eine Reihe heuchlerischer Einstellungen, an die sich in Wirklichkeit niemand halte: „Menschenrechte? Aber die gelten doch gar nicht für alle.“ „Demokratie? Die gibt es doch nicht mal im Westen überall.“ „Rechtsstaat? Aber selbst der hält doch dem Druck des großen Geldes nicht stand!“
      In der modernen russischen Sprache werden alle genannten Wörter entweder in Anführungsstrichen verwendet oder ironisch, in Kombination mit Wörtern wie „sogenannte“ oder „hochgelobte“, oder im Wortsinn, dann aber als Druckmittel auf Russland, als Instrument, um Russland seiner vorgeblichen Eigenart zu berauben.

    4. 4. Gibt es Werte, die man als „spezifisch russisch“ bezeichnen kann? 

      Andrej Kortunow: Man muss sehr vorsichtig sein, wenn es um Begründungen von Einzigartigkeit der russischen Gesellschaft geht. Wir haben es mit einer komplexen Gesellschaft mit unterschiedlichen Schichten zu tun, in der man ganz unterschiedliche Wertvorstellungen findet. 
      Doch wenn ich mir eine ganz freimütige Äußerung erlauben darf, würde ich sagen, dass  individueller Erfolg in Russland weniger als Wert wahrgenommen wird als im Westen. Und größerer Wert wird der persönlichen Opferbereitschaft beigemessen. Wobei hier natürlich die historischen und religiösen Besonderheiten berücksichtigt werden müssen.

      Evgeniya Sayko: Es gibt zumindest Versuche, einige Werte als „spezifisch russisch“ zu bezeichnen. Im Gegensatz zu westlichen oder europäischen Werten wird oft das Konzept von traditionellen Werten oder vom „Sonderweg“ Russlands dargestellt. Die Hauptbotschaft lautet: Wir sind nicht so wie ihr. 
      Der Soziologe Lew Gudkow erklärt, dass dieser Mechanismus als Kompensation der negativen Identität dient. Das neutralisiert die tiefe Frustration und das Gefühl einer unbefriedigenden Situation im Land. Außerdem basiert die Konsolidierung der eigenen Gesellschaft auf der Konfrontation mit „dem Westen“.

      Gasan Gusejnov: Hier findet sich ein grausames Paradox. Nach mehreren Jahrzehnten aufgezwungenen Kollektivismus (im sowjetischen Sozialismus) halten sich in Russland viele von Natur aus für Kollektivwesen, obwohl die russische Gesellschaft in Wirklichkeit atomisiert ist. Die Bevölkerung Russlands hält sich für friedliebend, als wichtigste Einimpfung der Friedensliebe gilt der Große Vaterländische Krieg. Und neuere oder noch laufende eigene blutreiche Kriege (von Afghanistan bis Tschetschenien und Syrien) gelten nicht als aggressiv und martialisch.
      In Russland wird „Gerechtigkeit“ höher gewertet als formales „Recht“, gleichzeitig toleriert es massenweise Korruption auf allen Ebenen des gesellschaftlich-staatlichen Lebens. Die Menschen halten sich für „lieb und gut“ und „barmherzig mit den Sündern“ (A. S. Puschkin), sind in Wirklichkeit aber unduldsam und der Nächstenliebe abgeneigt.

    5. 5. In Russland wird Demokratie oft als Dermokratie (vom Wort dermo – Scheiße) bezeichnet. Heißt das, dass Demokratie in Russland kein Wert ist?

      Andrej Kortunow: Demokratie wird in Russland oft stark vereinfacht betrachtet: als freie Wahlen oder eine im politischen Exkurs anwesende Opposition. Im Grunde läuft also alles auf eine direkte, plebiszitäre Demokratie hinaus. 
      Weit weniger Aufmerksamkeit liegt auf den demokratischen Institutionen und Mechanismen, die nicht nur die Rechte der Mehrheit, sondern auch die der Minderheit garantieren. Ein derart reduziertes Verständnis lässt den Wert der Demokratie in den Augen der Gesellschaft sinken. 
      Nichtsdestotrotz wäre es übertrieben zu sagen, die Demokratie würde überhaupt keinen Wert darstellen – ihre Bedeutung zeigt zumindest die traditionell hohe Wahlbeteiligung.

      Evgeniya Sayko: Der Begriff „Demokratie“ wurde tatsächlich durch die sozialen Transformationen der 1990er Jahre in der Wahrnehmung der Bevölkerung ziemlich diskreditiert. Zumindest die „russische Version“ dieses politischen Modells. Denn für viele sind die Vorteile des demokratischen Systems und ihre Effizienz nicht deutlich geworden. Viele Russen assoziieren damit Armut und Kriminalität der 1990er Jahre und nehmen das Wort „Demokratie” als Fiktion, Mythos oder Parodie wahr.
      Allerdings erklärt sich Russland offiziell auch in seiner Verfassung als demokratisches Land. Übrigens hat das auch die Sowjetunion schon in den 1970er Jahren gemacht und sich als „echte Demokratie“ im Gegensatz zur „vermeintlich“ westlichen (hauptsächlich US-amerikanischen) Demokratie dargestellt. 
      Das alles zeigt, dass die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes „Demokratie“ immer noch nicht ausreichend geklärt ist, der Begriff aber durchaus einen Wert darstellt und eine Anziehungskraft hat.

      Gasan Gusejnov: Es gibt einige abwertende Deformationen des Wortes Demokratie (dermokratija, dt. in etwa „Scheißokratie“, demokradija, dt. in etwa „Demo-Kleptokratie“). 
      Unter Demokratie wird in der Regel die Mehrheitsherrschaft verstanden, oder auch das ultimative Recht der Mehrheit, die Minderheit zu unterdrücken. Diese Sichtweise ist in vielfacher Hinsicht geleitet von der Vorstellung, dass Stabilität und die Unerwünschtheit jedweden Risikos einen Wert darstellt. Genau daher rührt die Vorstellung, dass Stabilität möglich ist, indem eine politische Kraft (die Mehrheit) endgültig über andere (die Minderheit) siegt.

    6. 6. Wie bewertet man in Russland das, was in Europa als „europäische Werte“ bezeichnet wird?

      Andrej Kortunow: Wir müssen festlegen, welche europäischen Werte hier gemeint sind. Präsident Putin beispielsweise betont sehr oft, dass gerade Russland die rechtmäßige Erbin wahrer europäischer Werte ist, die Europa heute immer öfter ablehnt. Das sind zum Beispiel christliche Werte, Werte der traditionellen Familie, des Patriotismus und so weiter. 
      Aber wenn wir von Europa sprechen, beziehen sich russische Politiker praktisch nie auf Werte, die in der Epoche der europäischen Aufklärung vorangebracht wurden. Die Haltung gegenüber europäischen Werten ist, was die Politik betrifft, höchst selektiv.
      Was die Bevölkerung als Ganzes betrifft, so sehe ich – abgesehen von einigen Ausnahmen (zum Beispiel sind in Russland Homophobie und Gender-Chauvinismus weiter verbreitet als in vielen europäischen Ländern) – keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Russland und Europa.

      Evgeniya Sayko: Es gibt zwei gegensätzliche Interpretationsschemata: Einerseits versteht man unter europäischen Werten demokratische Grundprinzipien wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sowie ihre Umsetzung nach europäischen Muster als Vorbild auch für Russland. Laut dem Lewada-Zentrum, halten 35 Prozent der Befragten diese politischen europäischen Werte für bedeutsam für Russland. Auch der russische Präsident Wladimir Putin nannte sie im Jahr 2005 „maßgebliche Wertorientierungen“ für die russische Gesellschaft. 
      Andererseits änderte sich in den letzten Jahren aber der Blickwinkel: Jetzt ist im öffentlichen Diskurs Russlands immer mehr die Rede vom Verfall Europas und seiner Werte, gerade im Zusammenhang mit Toleranz und Homosexualität. Es ist von einer Krise der Moral sowie von der Abkehr von christlichen abendländischen Werten die Rede. In diesem Zusammenhang wird Russland auch als Bewahrer der ursprünglichen europäischen Werte dargestellt.

      Gasan Gusejnov: Die Hauptaspekte der „europäischen Werte“ (Demokratie, Menschenrechte, friedliche politische Beilegung von Konflikten, Vermeidung von Gewalt, Gender-Gleichberechtigung und so weiter) halten in Russland sehr viele für Schwäche, Heuchelei, Korruption, Hörigkeit gegenüber den USA („Yankee-Huren“), Dominanz der LGBT-Community in der Politik („Gayropa“), Verleugnung eigener Werte (der „nationalen Identität”) um eines „kosmopolitischen Liberalismus“ willen. Unter „Menschenrechten“ versteht man in Russland oft die Verteidigung der Rechte von Minderheiten und die Vernachlässigung der Rechte der Bevölkerungsmehrheit.

    7. 7. Kann man russischen Politikern vertrauen, wenn sie ihre Handlungen mit dem Hinweis auf Werte bekräftigen?

      Andrej Kortunow: Politikern zu vertrauen, ob nun in Russland oder in Europa, ist sowieso ein Risiko, unabhängig davon, worüber sie sprechen und worauf sie sich beziehen. Aber ich glaube nicht, dass alle Bezugnahmen auf Werte per se heuchlerisch sind. Ohne Werte kann man nicht leben, das Bedürfnis nach Werten gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, genau wie die Politik. 
      Aber die Grenze zwischen aufrichtigen Überzeugungen und politischem Zynismus, wenn nämlich Werte als ein politisches Instrument benutzt werden, ist sehr schmal und nicht immer auszumachen.

      Evgeniya Sayko: Im russischen politischen Diskurs wird auf zweierlei Art von Werten gesprochen: Zum einen geht es um „unsere Werte“. Diese Überzeugung, dass es „besondere russische Werte“ gibt, hält der Politphilosoph Grigori Judin für einen der gefährlichsten Mythen der heutigen Staatspropaganda. 
      Zum anderen werfen russische Politiker ihren „westlichen Partnern“ immer wieder vor, dass die sich in Wertedebatten moralisierend und überlegen zeigten, den Russen würden bestimmte Werte „aufgedrängt“, während dem Westen gegenüber oft andere Maßstäbe gelten („doppelte Standards“). Tatsächlich ist „eine globale Mission des westlichen Werte-Denkens“ in vielerlei Hinsicht gescheitert. 
      In diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Vertrauen weniger relevant als die, welche Ziele und Botschaften hinter einer solchen Rhetorik stecken.

      Gasan Gusejnov: Ich glaube, dass man in der derzeitigen Situation offiziellen russischen Politikern nicht vertrauen kann, weil ihnen der Weg in die Politik nur wegen ihrer Loyalität zu Putin freigemacht wurde. Das kann man an denen sehen, die „Gayropa“ zum Trotz „russische Werte“ verfechten, während ihre Kinder im Westen leben und keineswegs anstreben nach Russland zurückzukehren. Aber es gibt auch andere Beispiele.

    8. 8. Warum ist es so schwierig, Wertedebatten zu führen? Muss man das überhaupt tun?

      Andrej Kortunow: Werte sind keine Atomsprengköpfe und keine Kubikmeter Gas. Man kann sie schwer messen, und über Werte lässt sich schwer streiten. Im Streit um Werte kann ein und dasselbe Wort für verschiedene Teilnehmer völlig unterschiedliches, ja sogar genau das Gegenteil bedeuten. 
      Manchmal heißt es, kommt, lasst uns nicht über Werte streiten, konzentrieren wir uns lieber auf Interessen. Aber der Witz ist, dass unsere Interessen im Großteil der Fälle durch unsere Werte bestimmt werden, und keineswegs andersrum. Deswegen müssten wir über Werte sprechen, obwohl es nicht das einfachste Gespräch ist.

      Evgeniya Sayko: Wertedebatten bergen das Risiko in ein bekanntes Schema abzugleiten: Entweder „wir haben gemeinsame, also richtige, Werte“ (dann gibt es auch kein Problem) oder „wir haben unterschiedliche Werte“, womit oft gemeint ist, dass einer die „richtigen“ und der andere eben die „falschen“ Werte hat. Aus diesem Konflikt entstehen dann Vorwürfe wie „Ihr haltet euch nicht an unsere Werte“, beziehungsweise „Ihr drängt uns Werte auf, die uns nicht entsprechen“. 
      Trotzdem kann man diese Debatte führen, aber unter zwei Bedingungen: 
      Erstens muss man zuerst die Begriffe klären, beginnend mit dem eigenen Verständnis von europäischen, westlichen, universellen und traditionellen Werten. 
      Zweitens, muss man die so ermittelten Unterschiede genau betrachten und sie gemeinsam aufschlüsseln. Dieser Diskurs fordert von beiden Seiten eine ehrliche Auseinandersetzung – auch mit der eigenen Sichtweise. Und das darf auch anstrengend sein.

      Gasan Gusejnov: Man muss über Werte sprechen. Aber man muss sich darauf vorbereiten. Schließlich haben sich die „europäischen Werte“ in der heutigen Form erst nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet. Diese Werte als eine Art ewiges geistiges Eigentum Europas anzusehen, ist gefährlich. Wichtig ist, wie sich diese Werte herausgebildet haben und wie sie neu interpretiert wurden. Außerdem muss man Werte im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Normen diskutieren, die es den Menschen erlauben, nach ihren Werten zu leben.
      In Russland wird es so lange Widerstand gegen die Werte-Diskussion geben, bis die Gesellschaft als ganze anfängt, „Lenin aus dem Mausoleum zu tragen“ und sich von der sowjetischen Vergangenheit verabschiedet, von der kriminellen Erfahrung und den letzten Jahrzehnten.

    erschienen am 20.04.2018

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

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  • Video #17: Schwuler in Pflege

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    Während des Wahlkampfes ist ein anonymer Wahlwerbespot aufgetaucht, der sehr schnell viral ging. Der Spot betont, wie wichtig es ist, wählen zu gehen. Geht man nicht, so zeigt der Film Folgen, vor denen der russische Wähler anscheinend Angst haben soll: Etwa ein Gesetz, dass jede Familie einen Schwulen in Pflege nehmen muss. Die Hauptfigur mimt der beliebte Komiker Sergej Burunow, der sehr bekannt ist aus dem Fernsehen.

    Seit der Spot erschien, spekuliert das Netz: Wer war der Auftraggeber? Steckt gar Putins Wahlkampfstab dahinter?

    Oleg Kaschin kommentiert auf Republic, dass diese Frage im Grunde irrelevant sei, in jedem Fall könne man in dieser Art der Wahlwerbung die Handschrift des Staatsapparates erkennen. Der Spot sage viel darüber aus, wie sich der Staat den Durchschnittsrussen vorstelle, und in welcher Sprache er mit diesem kommuniziere:


    [bilingbox]Die Sprache von Fernseh-Comedians eignet sich sich bestens für eine Wahlkampagnen-Ausschlachtung im Interesse Putins, unter anderem deshalb, weil die jetzige Epoche keinerlei eigene originelle Sprache hervorgebracht hat. Ein Defizit an Worten und Redeweisen sowie die Verarmung politischer Rhetorik in kritischem Ausmaß ist ein Fakt, als dessen leibhaftige Verkörperung die staatlichen Pressesprecher gelten können, allen voran Dimitri Peskow.

    Über deren Stimme kommunizieren die Machthaber mit der Gesellschaft. Und diese Stimme ist nicht imstande auch nur irgendwas Überzeugendes hervorzubringen. Deswegen versammeln die Machthaber – wenn sie dem Volk etwas Ernstes mitteilen wollen (und die Wahlbeteiligung ist das Ernsteste, was es derzeit im Zusammenhang mit den Wahlen gibt) – Komiker und inszenieren mit deren Zugkraft parodistische Stücke.~~~Язык телевизионных юмористов лучше всего подходит для предвыборной эксплуатации в интересах Путина в том числе потому, что никакого другого собственного оригинального языка эта эпоха не произвела. Дефицит слов и интонаций, критическое обеднение политической риторики – факт, живым воплощением которого можно считать государственных пресс-секретарей во главе с Дмитрием Песковым. Их голосом с обществом разговаривает власть, и этот голос не в состоянии произнести ничего убедительного вообще, поэтому, когда власти нужно сообщить народу что-то серьезное (а явка же – это сейчас самое серьезное из всего, что связано с выборами), она собирает комических актеров и ставит их силами пародийный сценарий.[/bilingbox]


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    dekoder-Redaktion
    erschienen am 13.03.2018

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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