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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Kronos‘ Kinder“ von Sergej Lebedew

    „Kronos‘ Kinder“ von Sergej Lebedew

    Auf der Frankfurter Buchmesse hat Sergej Lebedew seinen neuesten Roman vorgestellt: Kronos‘ Kinder erzählt die Geschichte des jungen Russen Kirill, der sich auf die Spuren seiner Ahnen macht. Erst als Erwachsener hatte er erfahren, dass sie Deutsche waren.

    In großen Teilen ist es auch Lebedews eigene Geschichte und die seiner Vorfahren: 1993, er war schon Anfang 20, da hat Sergej Lebedew von seiner Großmutter erfahren, dass seine Vorfahren Deutsche waren. „Die Nachricht war ein Schock“, erzählt Sergej Lebedew im Gespräch mit dekoder. „Plötzlich wusste ich, es gibt ein Netz an Menschen und Geschichten, die ich alle nicht kenne.“
    In seinem Roman heißt es an einer Stelle, der Protagonist Kirill (Lebedews Alter-Ego) war während der Sowjetzeit „geschützt durch das absolute Fehlen einer Biografie“.
    Wie gefährlich es mitunter war, die falsche Biografie zu haben, das zeichnet Kronos‘ Kinder anhand der Familiengeschichte der Familie Schwedt nach. Lebedew ist dafür nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland gereist. Er fuhr nach Halle und Leipzig, hat in den Archiven nach Dokumenten der eigenen Vorfahren gesucht. Und weil doch viele Leerstellen blieben, ist es ein Roman geworden, keine Dokumentation. Sein Buch, sagt Lebedew, das sei nun auch der Versuch, mit diesem Schock fertig zu werden, plötzlich eine Biografie zu haben. 

    In seinen beiden vorherigen Romanen Der Himmel auf ihren Schultern (2013) und Menschen im August (2015) setzt sich Lebedew vor allem mit der Stalinzeit auseinander. Ins Deutsche gebracht wurden die Bücher von Franziska Zwerg, die auch Kronos‘ Kinder übersetzte.

    Im Ausschnitt unten beschreibt der Protagonist Kirill eine Szene aus seiner Kindheit, als er von seinen deutschen Vorfahren noch nichts ahnte. Der Ganter Fritz, so auch der Originaltitel des Buches, hatte seinen deutschen Namen vom Dorfbewohner Spieß bekommen. Immer an einem bestimmten Tag im Juli besoff Spieß sich besinnungslos.

    Betrunken war Spieß an jenem Julitag, an dem ihm, der damals flach am Boden gekrochen war, ein deutscher Splitter den Hintern aufgeschlitzt hatte. Er trat vors Tor, starrte die Kinder an, und schon verging dem „Lenker“ die Lust, den Lastwagen zu ziehen. Spieß kam auf sie zu, besah sich die Disposition, brummte – Scheißpartisanen –, schaute von einem zu anderen. Er mochte keine Kinder, nannte sie Pest, verfluchtes Elend; aber er rührte sie nie an. Zum ersten Mal bemerkte Kirill, was für riesige Hände Spieß hatte, als seien sie für einen Zweimeterriesen gemacht und Spieß im Hospital angenäht worden; er sah das graue Wolfshaar, das ihm auf den Fingern wuchs, die dicken, gelben Nägel. 
    „Husch, haut ab!“, kommandierte Spieß. Alle Freunde von Kirill verdrückten sich zum Zaun, die Straßengräben entlang; er aber musste in die andere Richtung, zögerte ein wenig, und Spieß hatte sich bereits abgewandt in der Gewissheit, dass seine Worte alles und jeden hinwegfegten. 
    Kirill verzog sich zum Sandhaufen. 
    Spieß ging indes zum Teich, und wieder sah Kirill seine riesigen Hände, die in Taschen wohl kaum Platz gefunden hätten; nicht menschlich waren sie, sondern bullig, bärenhaft. 
    Auf dem Teich schwammen die Gänse der Fedossejewna; Fritz stolzierte am morastigen Ufer entlang, bewachte die das Wasser erforschenden Gänsejungen. Als er Spieß sah, drehte sich der Ganter um und ging ihm entgegen; er zischte, seine Augen waren wütend, er erkannte seinen Beleidiger, Spieß hatte ihn, auch nüchtern, oft geärgert. Man hätte meinen können, Spieß weiche zurück, drehe sich weg, laufe sogar davon, denn ein Betrunkener konnte es mit dem schlauen und wendigen Ganter nicht aufnehmen, und Spieß’ Bosheit war matt, verfault, wie eine Salzgurke vom Vorjahr; der Ganter hingegen voll reiner, triumphierender Wut, als sinne er schon lange auf Revanche.
    Aber Spieß schien nur auf den Angriff des Ganters gewartet zu haben. Mit einer unmerklichen Bewegung des Arms, der auf einmal allzu lang, teleskopisch geworden war, packte er den Ganter beim Hals, hob ihn hoch, presste die Hand zusammen, sperrte ihm die Luftzufuhr. Der Ganter zappelte, schlug mit den Flügeln, er war an die fünfzehn Kilo schwer – wie konnte man ein solches Gewicht mit ausgestrecktem Arm halten? Aber Spieß hielt ihn, und Kirill begriff, welche Kraft im Körper des Alten wohnte, eine zähe, klammernde Kraft, wie bei einem Schraubstock; das begriff er, als sei er selbst jener Ganter, als fühle er stählerne Finger an seinem Hals.
    Der Ganter sackte zusammen, die Flügelenden zitterten leicht. Seine Augen, aus denen die Wut des Angriffs gewichen war, wurden sanft, rollten weg; und Spieß strich dem Ganter mit der linken Hand über den Kopf und sprach dabei:
    „Das war’s nun, Fritz. Reingefallen. Schluss und aus, Fritz, wehr dich nicht. Das macht’s nur schlimmer. Das war’s Fritz, deine Zeit ist um, vorbei.“
    Spieß schaute dem Ganter direkt in die Augen, und Kirill wurde klar, dass Spieß gerade keinen Vogel sah, sondern irgendeinen deutschen Gefreiten, einen Militärkoch oder einen jungen Adjutanten, der unglücklicherweise im falschen Moment aus der Deckung getreten war. Still musste dieser kleine
     Deutsche sterben – er war nutzlos, von niederem Rang –, durfte nicht schreien, nicht aufschluchzen, und deswegen begleitete Spieß den kleinen Deutschen in den Tod, flüsterte seine Worte fast zärtlich, damit dieser sich auf dem Totenweg nicht verirrte, keine Sekunde lang zurückwollte, gehorsam und diszipliniert starb, ohne unnötigen Aufruhr.
    Kirill wollte hervorspringen, sich an Spieß’ Hand klammern, den Ganter befreien. Aber er fühlte, Spieß würde auch ihn, den Jungen, für jemand anderen halten: in diesem Moment sah Spieß weder Teich noch Gänse oder Dorfhäuser, er war ganz und gar dort, im Krieg, in den Sümpfen am Dnjepr oder in irgendeiner zerschossenen, deutschen Kleinstadt. Es gab keine Möglichkeit, ihn von dort herauszuholen, denn alles in seinem Kopf war verrückt; und wenn er an Kirills Stelle einen Kindersoldaten des Volkssturms sah, dann war das wirklich so; dann sah er ihn nicht unklar wie in einem trügerischen Traum, sondern mit letzter Gewissheit, und seine Erinnerung kleidete Kirill um, veränderte sein Gesicht, drückte ihm eine Panzerfaust in die Hand.
    Furchtsam war Kirill schon immer gewesen, aber so fürchtete er sich zum ersten Mal. Er merkte, dass er sich eingenässt hatte. Der König aller Ängste war in Gestalt von Spieß gekommen und würgte den Ganter Fritz. Spieß glaubte, er töte einen leibhaftigen Deutschen; und der Schrecken bestand in der Möglichkeit selbst, dass so etwas geschehen konnte, denn das hieß, es gab keine Grundfeste, keine Gesetze zwischen den Menschen.
    Spieß hatte Fritz mit beiden Händen beim Hals gepackt und zugedrückt. Der Kopf des Ganters begann sich zu drehen. Erst jetzt hörte Kirill, wie der Ganter schrie – nicht zischte, nicht schnatterte, sondern schrie. Der Laut ähnelte der menschlichen Rede, als mühe sich der Ganter zu erklären, er sei kein deutscher Soldat und riefe die Welt als Zeugen an. Aber der Kopf bewegte sich schon unnaürlich, wie Lebendiges sich nicht bewegen kann. Dann knirschte es, das raue Lebensfädchen riss, der Kopf kippte zur Seite; grüner Magensaft tropfte aus dem Schnabel.
    Spieß legte den Ganter vorsichtig auf der Erde ab, stand da, starrte den verendeten Vogel an. Dann ließ er seinen Blick umherstreifen, erblickte wie von Neuem die anderen Gänse, die sich um den Teich drängten und leise schnatterten. Fritz’ Sohn, dem Alter nach der zweite Ganter der Herde, trieb sie zusammen und stellte sich ein winziges Stück voran, um seine Anführerschaft zu bezeichnen, Spieß dabei aber nicht mit Kühnheit zu reizen.
    Kirill wollte rufen – fliegt, lauft weg, rettet euch! – aber es hatte ihm die Sprache verschlagen. Und Spieß murmelte mit kaltem Eifer:
    „Die Fritzen! Uuuh, wie viele ihr seid! Die Fritzen!“ Er ging zu seinem Haus, wiederholte nur „Uuuh! Uuuh!“, nicht wie ein Mensch oder ein kleines Waldtier, sondern als habe sich in ihm ein tiefer, fleischfressender Abgrund von der Größe eines Dinosauriermagens aufgetan, aus dem dieses Uuuh nun drang.
    Kirill hatte ein wenig gehofft, Spieß würde noch ein Glas trinken gehen, und dann hätte er die Gänse ins Gebüsch, ins Schilf gejagt oder jemanden von den Erwachsenen gerufen. Spieß war im Haus verschwunden; Kirill wollte weglaufen, aber in ihm erwachte gleichsam ein Soldatengespür, das sagte: ruhig, versteck dich. Und richtig – Spieß kam mit seinem Jagdkarabiner auf die Veranda, darauf steckte ein Visier. Er hockte sich an den Zaun, schob den Lauf zwischen die Latten hindurch, schaute durch das Visier. Kirill glaubte, es würde ihm die Gänse näher bringen, Spieß’ Auge schärfen – die Optik, reines Glas konnte ja nicht lügen – und dann käme Spieß zu sich, würde begreifen, gegen wen er kämpfte an diesem heißen Julitag, wer sich am Teich verschanzte, die weißen Hälse reckte. Auf einmal bemerkte Kirill, dass Spieß’ Hosentaschen ausgebeult waren, vollgestopft mit Ersatzpatronen.
    Der erste Schuss klang wie der Hieb einer Hirtenpeitsche. Die spitz zulaufende Karabinerkugel durchschlug den Ganter; Schuss, Schuss, Schuss, – die Gänse fielen, blutige Federbüschel wirbelten umher; Spieß schoss nicht daneben. Dann verklemmte sich der Karabiner, seine Finger ließen ihn im Stich, gehorchten nach dem Brandwein nicht mehr, luden die Patronen schief. Spieß rüttelte am Magazin und erstarrte – als sei vom Widerstand des störungsfreien Mechanismus auch in ihm etwas verrutscht.
    Die Fedossejewna kam angelaufen, stürzte zu den Gänsen; die lagen im Gras, eine zuckte mit dem Flügel, Spieß hatte ein wenig danebengeschossen. Das Blut war aus der Ferne nicht zu sehen, aber man merkte, dass sie tot waren. Ein Mensch kann auch im Tod lebendig aussehen, ein Vogel hingegen liegt da wie ein Sack, alles hat ihm die Kugel genommen – die Anmut, den Charakter.
    Spieß stand auf, drehte sich um – und schaute direkt zu Kirill, der sich hinter dem Sandhaufen versteckte. Kirill wollte sich im Sand vergraben, wusste aber, es war zu spät – Spieß hatte ihn entdeckt, mit jenem Blick entdeckt, der Gänse in Deutsche verwandelte. Kirill fühlte sich wieder als Ganter Fritz, spürte Hände an seinem Hals. Und er wusste, Spieß würde ihn töten, er unterschied nicht zwischen einem Jungen und einer Gans.
    „Was hast du getan, Herodes! Herodes!“, die Fedossejewna stürzte sich auf Spieß und trommelte gegen seine Brust. „Herodes! Herodes! Herodes!“
    Herodes; dieses Wort, das Kirill nicht kannte, versetzte Spieß einen Schlag, drang in seinen trunkenen Kopf. Vielleicht hatte er sich als Kind die Worte des Popen eingeprägt, schließlich hieß das Dorf früher nicht Tschapajewka, sondern Tschassownaja, nach der Kapelle über der Quelle und der Kirche, in der sich nun ein Lagerraum der Kolchose befand.
    Kirill meinte, Spieß würde die Fedossejewna niederschlagen.
    Niemand durfte ihn anrühren, und sie hatte ihn am Hemdkragen gepackt. Aber Spieß setzte sich auf die Stämme nieder, schüttelte den Kopf, und dann kippte er zur Seite um. Die Fedossejewna vergaß die Gänse, rannte ins Haus, wobei ihr unreiner Unterrock von den abgetragenen Absätzen hochgeworfen wurde. Sie kam mit einem Eimer wieder und übergoss Spieß schwungvoll mit Brunnenwasser, eiskalt.
    Er kam zu sich. Die Leute lugten hinter ihren Zäunen hervor, traten aber nicht auf die Straße, wussten, dass die beiden die Sache unter sich ausmachten. Spieß schüttelte angewidert seine nassen Ärmel, schaute sich um, als wisse er nicht, wer und wo er sei. Er sah die Fedossejewna mit dem Eimer und fragte friedlich, nur etwas befremdet:
    „Bist du übergeschnappt, Alte? Das ist mein Tag heute. Mein Recht zu trinken.“
    Spieß war so leise geworden, dass Kirill hinter dem Sandhaufen hervorkam, um ihn besser zu sehen: Wo war der Mörder, der drei Minuten zuvor auf Gänse geschossen hatte? Da saß ein harmloser Alter, trocknete sich in der Sonne, und Kirill meinte, einen schlechten Traum gehabt zu haben, der sich nicht wiederholen würde.
    Aber dann begriff Kirill: Er würde sich wiederholen. Es käme ein Tag, ebenso klar, nichts Böses verheißend, und Spieß träte heraus, wirr vom Brandwein, und wen er auch träfe – einen Hofhund, ein Milchkalb, einen Elektriker mit Leiter – jeder wäre ein Faschist. Und wieder würde er, Kirill, es nicht schaffen zu fliehen, weil die anderen pfiffiger, schlauer, mutiger waren, er aber jener, der für Spieß’ Gemetzel herhalten musste, dazu verdammt war, der Ganter zu sein.
    Für dieses Wissen begann Kirill Spieß zu hassen, es würde ihm von nun an keine Ruhe mehr lassen; als sei sein ganzes Leben im Voraus bestimmt.
    Spieß bemerkte inzwischen die toten Gänse. Er schwieg, dann fragte er die Fedossejewna düster:
    „War ich das?“
    „Du“, antwortete die Fedossejewna und fing auf einmal an zu weinen, nicht so wie sonst, mit faden Tränen, sondern schluchzend, bitter und hilflos. Selbst ein Kleinkind hätte begriffen, dass sie Spieß liebte.
    Spieß hickste, einmal, zweimal, dreimal, als hätten ihn die großen Dämonen bereits freigegeben, und nun kämen kitzelnde Dämonenjungen aus seinem Mund gekrochen, harmlos, aber zudringlich wie Fliegen; immer noch schluchzend klopfte ihm die Fedossejewna auf den Rücken und greinte:
    „Nicht du, nicht du warst das! Das ist der verfluchte Krieg, der in dir sitzt!“
    Kirill fühlte, dass die Fedossejewna Spieß verziehen hatte, voll und ganz, und dass sie ihm noch Dutzende Male verzeihen würde, selbst wenn er das ganze Dorf in Brand steckte, alles unschuldige Vieh abschlachtete. Und würde Spieß ihn, Kirill, niederschießen, dann würde die Fedossejewna um ihn weinen – aber verzeihen.
    Spieß’ Schluckauf verging. Er umarmte die Fedossejewna leicht, brachte sie ins Haus, ließ jedoch nicht den Blick von den getöteten Gänsen, als wolle er sagen – meine Schuld, das weiß ich, aber anschuldigen lasse ich mich nicht.




    Ausschnitt aus dem Roman Kronos‘ Kinder von Sergej Lebedew, ins Deutsche übersetzt von Franziska Zwerg. Erschienen im S. Fischer Verlag, 2018.


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  • „Die Vergangenheit ist uns allen im Blut”

    „Die Vergangenheit ist uns allen im Blut”

    Ein junger Autor auf der Frankfurter Buchmesse 2011. Ein großartiges Buch über den Gulag habe er geschrieben, heißt es. Wie kann das sein, mit gerade mal 30 Jahren? Es ist Sergej Lebedew, geboren 1981 in Moskau.

    Das Leben habe ihm diese Aufgabe beschert, mit zwei sehr unterschiedlichen Großvätern mütterlicherseits, sagt er. Und er hat sich ihr gestellt. 

    Mittlerweile liegen vier Romane des Autors Sergej Lebedew vor, zwei davon sind von Franziska Zwerg übersetzt auf Deutsch erschienen: Der Himmel über ihren Schultern (2013), Menschen im August (2015). Es sind Werke über seine jenseits der glatten Oberfläche komplizierte Familiengeschichte. Lebedew, Sohn von Geologen, die oft in den kalten Nordregionen Russland unterwegs waren, hat sie ausgegraben.  

    Im Interview mit Natalia Fjodorowa spricht er über die Notwendigkeit und die Grenzen des Schreibens. Gerade, wenn es um das Erinnern geht.

    Sergej Lebedew, die Literaturhistorikerin Natalia Gromowa beschrieb Sie mit den Worten: „Ein junger Schriftsteller, der über den Stalinismus in unserem Blut schreibt.“ Stimmen Sie dem zu?

    Sergej Lebedew: In dieser Formulierung ist das Schlüsselwort „Blut“. Denn eigentlich wollte ich nie Schriftsteller werden. Meine Eltern haben in der Sowjetunion als Geologen gearbeitet. Ab Mitte der 1990er Jahre war ich während acht Grabungssaisons auf geologischen Expeditionen dabei. Wir suchten seltene Mineralien für Museen, für Sammler. Fast alle Expeditionen führten uns an Orte ehemaliger Gulags, weit entfernt von Häusern und besiedelten Gegenden. Man kann sagen, es war das Gulag-Grenzland. Als in den 1960er Jahren die Lager geschlossen wurden, verließen die Menschen diese Orte. Was blieb, war ein Gulag-Atlantis, das über 40, 50 Jahre spurlos in der Vergangenheit verschwand.

    Gibt es viele solcher Orte?

    Fast ganz Sibirien besteht daraus. Der Historiker Alexander Etkind hat die Theorie, dass der Gulag ein Instrument zur inneren Kolonisation des Landes war. Und als diese Welle der Kolonisation abebbte, blieben Ruinen von diesen Lagern, blieben Steinbrüche, Bergwerke und Straßen zurück. Das waren die Halbinsel Kola, die Republik Komi mit dem polaren und subpolaren Ural, wie auch die Region Krasnojarsk, Tschukotka, Kolyma.

    Es blieb ein Gulag-Atlantis, das über 40, 50 Jahre spurlos in der Vergangenheit verschwand. Fast ganz Sibirien besteht aus solchen Orten

    Damals, Mitte der 1990er Jahre, hatte ich den Eindruck, wir leben in einem neuen Land. Die Geschichte hatte den richtigen Weg eingeschlagen. Das Leben war hart, schwierig, ärmlich, und doch war es ein anderes Land. Über die Straflager konnte man in Büchern lesen, bei Schalamow. Und dann stehst du auf einmal selbst inmitten dieser Lagerrealität und merkst, dass sie parallel zu unserer Zeit existiert. Diese Ruinen sind sich selbst ein Denkmal. 
    Über die vielen Jahre, in denen ich dort gearbeit habe, entstand bei mir das seltsame Gefühl, dass auch ich Zeuge bin – Zeuge dieser entsetzlichen, verlassenen Post-Existenz des Gulags. Die niemand sieht, weil niemand an diese Orte kommt.

    Und wie war das für Sie? Als Privatperson, die unerwartet dieses Atlantis für sich entdeckt?

    Ich dachte nicht, dass das etwas mit meinem Leben zu tun hat. Ich wusste aus unserer Familiengeschichte, dass einige meiner Verwandten verfolgt, inhaftiert waren. Es gibt diesen bekannten Satz von Achmatowa: Es gab ein Russland, das einlochte, und ein Russland, das einsaß. Ich identifizierte mich mit jenem Russland, das einsaß. Ein beruhigendes Gefühl: Gott sei Dank, wir waren an Grausamkeit und Verbrechen nicht beteiligt, wir sind Opfer. Dadurch konnte ich die verlassenen Lager aus der Perspektive derjenigen betrachten, die dort gelitten hatten.

    Auf einmal stehst du selbst inmitten dieser Lagerrealität und merkst, dass sie parallel zu unserer Zeit existiert. Diese Ruinen sind sich selbst ein Denkmal

    Aber später geschah etwas, was meine Sichtweise veränderte. Nie wollte ich in der Familienvergangenheit wühlen, als hätte ich geahnt, dass dort nicht alles so eindeutig war wie in den glatten Familiengeschichten, die vielfach wie eine Legende klangen. Aber dann starb meine Großmutter mütterlicherseits. Ich sah ihre Sachen durch und fand eine dicke Mappe mit verschiedenen Dokumenten, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte. 

    Meine Großmutter hatte zwei Ehemänner – meinen leiblichen Großvater und einen zweiten, den sie nach dessen Tod geheiratet hatte. Beide Großväter habe ich nie gesehen, ich wurde nach ihrem Ableben geboren. Doch mein leiblicher Großvater war das Objekt meiner kindlichen Verehrung. In der Wohnung meiner Großmutter gab es eine Pralinenschachtel, in der Orden und Medaillen aus der Sowjetzeit aufbewahrt wurden: ein Lenin-Orden, ein Orden des Roten Sterns, ein Rotbannerorden.

    Ich wusste, dass mein leiblicher Großvater Offizier gewesen war, den gesamten Krieg mitgemacht hatte, vom ersten bis zum letzten Tag, und dass er die Schlacht von Stalingrad überlebt hatte. Selbstverständlich hielt ich mich als Kind der 1980er Jahre eher für seinen Enkel als für den Sohn meiner Eltern. Für mich war er ein echter sowjetischer Held, ein Mensch, der Heldentaten vollbracht hatte und dafür zu Recht ausgezeichnet worden war. Ich träumte aufrichtig davon, auch selbst einmal etwas zu vollbringen, was meines Großvaters würdig wäre. Und wenn ich allein zu Hause war, erlaubte ich mir sogar, einen dieser Orden anzuprobieren und steckte ihn mir an die Brusttasche meines Karohemds. 

    Nie wollte ich in der Familienvergangenheit wühlen, als hätte ich geahnt, dass dort nicht alles so eindeutig war wie in den glatten Familiengeschichten, die vielfach wie eine Legende klangen

    In jener Mappe fand ich die Papiere der beiden Ehemänner meiner Großmutter, zwei Offiziersausweise. Und zu meinem größten Erstaunen stellte ich fest, dass mein leiblicher Großvater im Krieg gewesen war, bei Stalingrad gekämpft hatte, zweimal verwundet wurde, aber nie eine Auszeichnung bekommen hatte, nur die Jubiläumsmedaille Sieg über Deutschland, die alle Kriegsteilnehmer überreicht bekamen. 
    Den zweiten Offiziersausweis schlug ich mit unguter Vorahnung auf. Und ich fand heraus, dass alle Auszeichnungen, diese Objekte meiner kindlichen Träumereien, dem zweiten, nichtleiblichen Großvater gehörten – einem Oberstleutnant der Tscheka-GPU-OGPU-NKWD, der seinen Dienst im Jahr 1918 angetreten hatte, als er gerade 15 Jahre alt war. In den Ruhestand ging er 1954, nach Stalins Tod, und zwar als stellvertretender Kommandeur des Zwangsarbeitslagers in der Oblast Gorki. 
    Die meisten seiner Orden hatte er 1937 und 1938 bekommen. Das heißt, er gehörte zu denen, die an Verhaftungen und Erschießungen beteiligt gewesen waren.

    Und Sie merkten, wie das Leben Sie auf den Arm nahm.

    Ja, ich hatte gedacht, ich sei dadurch geschützt, dass es unter meinen Verwandten nur Leidtragende gab. Und nun steht man da und begreift, dass die engsten Angehörigen mit diesem Menschen zusammengelebt haben, ihn in ihre Familie aufgenommen, mit ihm an einem Tisch gesessen, mit ihm gesprochen, ihm die Hand gedrückt haben.

    Aber es hat sich in meinem Leben so ergeben, dass ich an jene Orten kam, wo dieser zweite Großvater sein Unwesen getrieben hatte. Ich sah die Spuren davon. Und auf einmal wusste ich, dass es nur einen Ausweg für mich gibt – literarisch darüber zu schreiben, einen Roman über diesen Menschen. Denn seine Akte hätte man mir nicht ausgehändigt. Ich bin kein naher Verwandter.

    Außerdem wurde mir klar, dass ich kein Einzelfall bin. Es gibt noch andere, die eine alte Truhe öffnen und ähnliche Familiengeheimnisse entdecken. Ich hatte es noch leichter, weil ich wusste, dass er kein Blutsverwandter von mir war. Aber gleichzeitig fühlte ich, dass diese Vergangenheit uns allen im Blut ist und man sich nicht mit einem geringen Verwandtschaftsgrad rechtfertigen kann.

    Mir wurde klar, dass ich kein Einzelfall bin. Es gibt noch andere, die eine alte Truhe öffnen und ähnliche Familiengeheimnisse entdecken

    Und dann begann ich zu schreiben, zu suchen. Ich stieß auf weitere Familiengeschichten. Jetzt gibt es schon drei Bücher, das vierte erscheint diesen Winter. Zusammen bilden sie eine Tetralogie – die Erforschung von Leerstellen und Stigmata in der Geschichte einer Familie. Das alles in ein einziges Buch zu stecken, war unmöglich, es gibt zu viele Narben, Verletzungen und blinde Flecken.

    Ihre Bücher stützen sich auf Fakten oder mussten Sie etwas dazuerfinden?

    Bei den Familiengeschichten des 20. Jahrhunderts arbeitet man wie ein Detektiv. Denn die sowjetische Geschichte hat sich selbst ständig umgeschrieben, retuschiert und zensiert. Und es gibt viele verschiedene Gesichter der Sowjetunion – das der 1920er Jahre, der 1930er Jahre, der Kriegszeit, der Nachkriegszeit – und sie alle befinden sich in einem verborgenen Widerstreit.

    Bei den Familiengeschichten des 20. Jahrhunderts arbeit man wie ein Detektiv. Denn die sowjetische Geschichte hat sich selbst ständig umgeschrieben, retuschiert und zensiert

    Deswegen liegt der Ausgangspunkt meiner Bücher in den Geheimnissen, über die nur im Flüsterton gesprochen wurde oder überhaupt nicht. Das letzte Buch zum Beispiel handelt von Russland und Deutschland. Wir hatten deutsche Vorfahren, aber diese Tatsache wurde während der Sowjetzeit verschwiegen. Während der Stalinzeit ein Deutscher zu sein, reichte manchmal für ein Todesurteil. Deswegen ging ein riesiger Teil unserer Familienidentität verloren. Bücher auf Deutsch wurden weggeworfen, die Verbindung zu den Verwandten im Ausland brach ab.
     
    In der „offiziellen“ Familiengeschichte taucht mein Urgroßvater erst auf, als er die Schirmmütze der Rotarmisten trug, und als er, ein Militärarzt, 1918 seinen Dienst in der Roten Armee antrat. Ich wusste nicht einmal, dass er vor der Revolution Offizier der Zarenarmee gewesen war, von hohem Rang … All das wurde wegretuschiert.

    Der Ausgangspunkt meiner Bücher liegt in den Geheimnissen, über die nur im Flüsterton gesprochen wurde oder überhaupt nicht

    Zu Sowjetzeiten wusste ich nicht, dass unsere historischen Verbindungen viel umfassender sind als das, was mir sichtbar war. Dabei wird das Schicksal einer Familie genau von diesen wesentlichen Dingen bestimmt, über die niemand spricht. Deswegen stelle ich in den Büchern, in den Romanen die Größenordnungen wieder her, die historischen Zusammenhänge und mich selbst als Mensch innerhalb der Geschichte.

    Wie sehen Sie heute, nach dieser Arbeit, den Gulag? Was war das genau?

    Zunächst einmal besteht die üble Einzigartigkeit des Gulags auch darin, dass die Straflager weit weg von jeglicher Zivilisation und Kultur lagen. Sie befanden sich also in einer Art geografischem Verschlag. Die Lager der Nazis in Deutschland dagegen sind eingeschrieben in die Topographie, in die Geschichte, man kann sie schwerlich von dort herauslösen. Was jedoch die Lager im Norden oder in Sibirien betrifft, so liegen sie im Nirgendwo – dort gab es zuvor historisch kein Leben, dort war einfach nur Taiga, und auch jetzt gibt dort historisch kein Leben. Ihre Existenz zu einer Tatsache unseres gesellschaftlichen Lebens und Gedenkens zu machen, ist deshalb eine äußerst schwierige und keineswegs triviale Aufgabe. 

    Die Lager der Nazis in Deutschland sind eingeschrieben in die Topographie, in die Geschichte. Was jedoch die Lager im Norden oder in Sibirien betrifft, so liegen sie im Nirgendwo

    Zweitens: Einmal stand ich auf einem Gelände eines zerstörten Lagers, und mein erster Gedanke war, dass hier ein Denkmal stehen sollte. Und der nächste Gedanken war, dass ein Denkmal unmöglich ist. Denn ein Denkmal an sich bringt kein Gedenken hervor, es verweist nur darauf. Ein Denkmal würde dort in der Luft hängen. Denn es gibt nur kleine Inseln des Gedenkens wie die Inseln des Archipel Gulag, aber sie haben sich noch nicht zu einem Ganzen gefügt. Das liegt vor allem daran, dass die enorm vielen Tode, die es dort gegeben hat, immer noch abstrakte Tode sind. Das Sterben vollzog sich nicht innerhalb unserer Kultur und Gesellschaft, was sonst das hervorbringt, was wir als Totengedenken bezeichnen.

    Dort herrscht Permafrost. Die verstorbenen Häftlinge sind nicht verwest. Sie stecken gleichsam zwischen Dies- und Jenseits fest

    Und ich habe gesehen, wie die, die dort umkamen, im Stich gelassen worden sind. Dort herrscht Permafrost. Und im Permafrost verwest keiner. Wie Mammuts, zum Beispiel. Die verstorbenen Häftlinge sind ebenfalls nicht verwest. Sie stecken gleichsam zwischen Dies- und Jenseits fest. Sie sind gestorben, aber nicht zu Ende gestorben.

    Diese Situation scheint ausweglos. Es sind jetzt riesige Anstrengungen gefordert, um aus diesen Orten trotzdem Friedhöfe zu machen, sie in die Nekropole des ganzen Landes einzugliedern. Das ist es, was mir klar wurde und worum ich mich nicht nur als Autor kümmern möchte. Denn ich habe die Begrenztheit literarischer Mittel erkannt sowie ihre Unfähigkeit, an die Stelle von elementaren Dingen zu treten – ich meine Rituale, das Aufstellen von Kreuzen, Grabsteinen, Totengedenkfeiern. Das ist elementar und viel archaischer und wichtiger als die Literatur.

    Das heißt, um diese einfachen Wahrheiten zu verstehen, ist so viel innere und äußere Arbeit nötig? Und nur dann wird jeder einzelne Mensch die Notwendigkeit für ein aktives Gedenken erkennen?

    Wissen Sie, als ich meinen literarischen Weg begann, dachte ich, Literatur vermag alles. Es reicht, einen Roman zu schreiben.

    Aber dann las ich für eines meiner Bücher viele Zeitungen und Zeitschriften aus den späten 1980er Jahren, ganze Jahrgänge Ogonjok. Ich sah, wie das Thema Repressionen und stalinistische Vergangenheit aufkam, wie es sich zu einer Lawine von Veröffentlichungen auswuchs. Und ich bemerkte eine seltsame Sache – alles dies war gemäß der klassischen Vorstellung der Russen über die Wahrheit verfasst. Die Wahrheit ist ja eine Figur aus dem russischen Märchen. Es gibt die Prawda und die Kriwda (die Wahrheit und den Trug). Die Wahrheit ist ein Wesen, und man muss sie nur freilassen, damit sie alles in Ordnung bringt. In diesem Sinne besteht die Rolle des Kulturschaffenden darin, dieser Wahrheit die Tür zu öffnen.
    Aber mir wurde auf einmal klar, dass es so nicht funktioniert. Das ist zu naiv. Es hat auch auf längere Sicht nicht funktioniert, zumal sich zu dieser Zeit niemand fand, der diese Dinge gut formuliert hätte. Oder wir haben ihn nicht gehört.

    Und Juri Dmitrijew?

    Ja, mit Juri Dmitrijew habe ich endlich einen Menschen getroffen, der intuitiv einen Weg fand, wie man mit den Grabstätten umgehen muss. Wie sie gestaltet sein müssen, damit das eine persönliche Angelegenheit für eine große Zahl von Menschen wird – und nicht zu einer Initiative von oben, wo ein Denkmal aufgestellt wird und damit ist das Thema erledigt.

    Und ich denke, es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt, wo man bei uns die Zeichen einer wiederkehrenden Vergangenheit deutlich erkennen kann, auf einmal so viele Menschen von Dmitrijews Geschichte erfahren. Denn es kommt vor, dass sich ein einziger Mensch der wiederkehrenden Vergangenheit in den Weg stellt und sie nicht durchlässt. Das mag pathetisch klingen, aber so ist es.

    Gibt es aus Ihrer Sicht heute in Russland überhaupt so viele Menschen und Gemeinschaften, die über dieses Thema nachdenken? Im von Ihnen erwähnten Deutschland sind, soweit ich weiß, Reflexionen zum Nazismus und offene Reue bis heute weit verbreitet, und zwar nicht nur in Schriftstellerkreisen.

    Das große Verdienst der westdeutschen Intellektuellen der 1960er bis 1980er Jahre bestand darin, dass sie verhinderten, dass Diskussionen verhallen und verstummen. Und sie formulierten gewisse Dinge, die dann, wenn auch unter Schwierigkeiten, zur offiziellen Position wurden. Das ist aus Deutschland nicht mehr wegzudenken, es ist bereits Staatsräson.

    Selbstverständlich sind deutsche Historiker und öffentliche Personen sehr sensibel gegenüber solchen Dingen. 
    Bei uns hat der Staat gar nicht die Absicht, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Mehr noch, er kümmert sich äußerst aktiv um das Gegenteil.
    Aber dennoch entstehen in Russland Gruppen und Initiativen, die es vor fünf, sechs Jahren noch nicht gegeben hat. Momentan sind wir in einer historischen Situation, in der sich die Dinge zuspitzen. Es ist allzu offensichtlich, dass viele Missstände der Gegenwart ihre Ursache in der mangelnden Aufarbeitung der Vergangenheit haben. Ob sich das zu etwas Größerem verdichtet, weiß ich nicht. Ich würde mir wünschen, dass eine gesellschaftliche Bewegung entsteht, die für bestimmte Prinzipien in der Erinnerungspolitik einsteht. Und wenn sie nur erreicht, dass es in Russland keine Denkmäler mehr gibt für Dsershinski oder Stalin. 

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    Wie schon in der Ukraine sind auch in Syrien russische Kämpfer als Freiwillige am Konflikt beteiligt. Die Vermittlung dieser Kräfte übernehmen spezielle Agenturen im Internet. Das russische Portal The Insider, das vornehmlich Informationen aus schwer zugänglichen Quellen sowie geleakte Dokumente veröffentlicht, hat mit dem Vertreter einer solchen Vermittlungsagentur gespochen. Dabei entstand ein Interview, das seltene Einblicke in diese fast unbekannten Abläufe gewährt.

    Wir veröffentlichen das Material einschließlich des redaktionellen Vorspanns von The Insider.

    Nachdem in der Süd-Ost-Ukraine eine relative Waffenruhe eingetreten ist, hat sich Russland auf einen neuen Krieg zur Verteidigung des syrischen Dauerpräsidenten Baschar al-Assad eingestellt. Wie im Fall der Ukraine befinden sich an diesem Brennpunkt neben regulären Truppen auch Freiwillige. „The Insider“ berichtete bereits davon, wie deren Anwerbung für den Krieg in der Ukraine erfolgte. Jetzt wurden dieselben Mechanismen bei der Suche nach Freiwilligen im Krieg für Assad angewandt.

    Am 24. September kündigte dobrovolec.org [wörtl. Freiwilliger.org – dek] ein Auswahlverfahren für Interessenten an, die im Rahmen der „russischen heroischen Passion“ nach Syrien wollen, um dem „proamerikanischen oder religiös-extremistischen Regime Widerstand zu leisten“. Um für den Einsatz angenommen zu werden, muss man älter als 23 sein, eine Ausbildung im Umgang mit Schusswaffen haben, eine suchtmedizinische Unbedenklichkeitsbescheinigung und Angaben zu den nächsten Verwandten vorlegen.

    Wie viele russische Kriegsfreiwillige in Syrien tatsächlich im Einsatz sind, wie sie mit Assads Regierungstruppen kooperieren und warum durchaus nicht jeder, der in der Süd-Ost-Ukraine im Einsatz war, nun gegen die Dschihadisten kämpfen darf, erzählt einer der Koordinatoren von dobrovolec.org, hier unter dem Namen Kirill.

    Warum hat Ihr Projekt eine neue Richtung genommen?

    Wir haben das Programm erstmal dichtgemacht, zumindest vorübergehend. Schon seit einigen Tagen ist das Auswahlverfahren gestoppt – für die wichtigsten Gebiete der Organisation waren die Kontingente voll. Wir sehen das so: Es gibt eine Front, es gibt da Arbeit, warum also nicht hinfahren? Ich denke, der Bedarf wird sich in nächster Zeit verdoppeln. Wenn sich die Front ausweitet, braucht man mehr Fachleute. Nach diesem für die Verhältnisse der syrischen Armee derart erfolgreichen Angriff kann das jetzt durchaus so kommen. Also, sagen wir mal, jetzt werden Fachleute für die Panzerabwehr gebraucht. Später sinkt der Bedarf dann wieder …

    Mit der Vorbereitung Richtung Syrien haben wir Ende des Sommers begonnen, aber die Front Noworossija hat nach wie vor Priorität – in Prozenten ausgedrückt beansprucht die neue Richtung nur 5 Prozent unserer organisatorischen Kapazität und null der materiellen. Alles ist auf Noworossija und die angrenzenden Gebiete abgestimmt.

    In welchen Teil von Syrien gehen diejenigen, die Ihre Dienste in Anspruch nehmen?

    Geografisch kann ich das nicht sagen. Das wird alles geheimdienstlich kontrolliert – da wird ja schließlich geschossen. Die ausgewählte Truppe arbeitet eng mit der Regierungsarmee zusammen, aber auch Russen haben direkte Befehlsgewalt. Ja, letztlich stehen sie unter Leitung des Befehlshabers Baschar al-Assad, aber sie sind ihm nicht direkt unterstellt.

    Wie das alles abläuft? Jemand schreibt uns: „Ich diene in der-und-der-Einheit der Volksrepublik Lugansk, kann bis zum so-und-so-vielten kündigen, möchte zwei Wochen zu meiner Familie und besorge dort gleich alle Papiere.“ Alles auf freiwilliger Basis – der Betreffende entscheidet selbst, ob er am nächsten Tag fährt oder nicht. Wir drängen schon darauf, dass sie länger bleiben, aber auch wenn es weniger als ein halbes Jahr ist, passt das – niemand wird dort festgehalten. Es gab schon Fälle, da wollten die Leute aus familiären Gründen weg, wenn irgendwas Schreckliches passiert war zum Beispiel.

    Was die Ausrüstung angeht, empfehlen wir das mitzunehmen, was jeder Profi sowieso hat – Schießbrille, Kolben, Visiere. Jeder nimmt das, woran er gewöhnt ist. Aber eine Schutzweste und eine Munitionstasche MOLLE sollte man dabeihaben. Für seine Verlegung muss der Betreffende nichts zahlen.

    Das heißt, die Transferkosten übernimmt die andere Seite?

    Das geht auf Kosten verschiedener Fonds, Spenden, also alles aus dem Wohltätigkeitssektor, kurz gesagt. Auch den Kurden haben wir ein paar Freiwillige geschickt, das war noch im Frühjahr. Aber das waren wirklich buchstäblich Einzelfälle – ein junger Mann aus Petersburg ging zu den YPG (Volksverteidigungseinheiten von West-Kurdistan). Er wollte die syrische Kultur kennenlernen, ein wenig kämpfen vielleicht, ja, und er hatte schon immer mit den Kurden sympathisiert. Er ist Orientalist, wollte gern Erfahrungen sammeln – wir konnten ihm Kontakte vermitteln. Mittlerweile ist er wieder in Russland. Die Kurden stellen keine ernstzunehmende Kraft dar. Wenn man von irgendeiner Art Organisiertheit sprechen will, dann sind sie das genaue Gegenteil – vom Niveau her eine schlichte Volksmiliz.

    Für den Fall einer Gefangennahme, ist da eine Versicherung vorgesehen?

    Es ist überhaupt nicht vorgesehen, dass sich jemand gefangennehmen lässt, schließlich sind die Leute nicht unmittelbar in der Nähe von gefährlichen Einsatzorten. Ein Techniker der Funküberwachung hält sich womöglich 300 Kilometer von einem gefährlichen Ort entfernt auf. Wir haben eine Karte, auf der die Gebiete eingezeichnet sind, wo man so etwas gern macht, Geiselnahmen, Sklavenhaltung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt herrscht in diesen Gebieten keine derartige Gefahr. Aber sollte etwas passieren, dann wird was unternommen – wir brauchen die Fachleute ja selbst, warum sollten wir sie jemandem anders überlassen? Viel wahrscheinlicher ist es, dass Journalisten, von denen es dort weitaus mehr gibt, in so eine Lage geraten.

    Welche Motivation hat Ihre Klientel?

    Viele fahren aus patriotischen Beweggründen – sie waren im Ersten und Zweiten Tschetschenienkrieg, haben sich an den Antiterrormaßnahmen im Nordkaukasus beteiligt. Diese Menschen kennen das bärtige Gesicht des Feindes, und viele sind revanchistisch gestimmt, schließlich haben sie mit schon einmal mit solchen Rebellen gekämpft, vom gleichen Typ.

    Was sind das für Rebellen?

    In dem Fall eher Usbeken und Tadshiken, auch Tschetschenen. Solche, die in den 1990er Jahren [aus den russischen Teilrepubliken – dek] ausgereist sind, sich in Westeuropa niedergelassen haben und dann in der Ukraine im Bataillon Scheich Mansur und im Bataillon Dschochar Dudajew [auf ukrainischer Seite gegen die Russen – dek] gekämpft haben.

    Wir haben einen tollen Jungen bei uns, der hat von Ende Mai 2014 bis zum August im Gebiet um den Flughafen von Donezk gekämpft. Er ging nach Syrien mit den Worten: „Ich war noch nie da, aber eine aufregendere Last-Minute-Tour hätte ich nicht finden können!“ Die Leute sympathisieren schon rund fünf Jahre mit Assad – nicht mit seinen Ideen, nicht mit der Baath-Partei (Arabische Sozialistische Partei der Wiedererweckung), sondern weil dieser Mann der westlichen Aggression, den radikal eingestellten Bartträgern und sonstigem Unsinn Widerstand leistet. Und nun gibt es die Möglichkeit, dorthin zu gehen, und die Leute denken sich: „Vier Jahre lang habe ich Posts geteilt, ihn geliked, da muss ich ihm doch jetzt helfen.“

    Das Auftauchen des großen und schrecklichen IS hat eine Rolle gespielt, aber eine kleinere als für den durchschnittlichen Zuschauer. Die meisten von uns haben den Konflikt lange beobachtet und wissen, dass beim Thema IS viel Mythos ist, der unbesiegbare Staat, die haben ja selbst ein solches Medienbild geschaffen, alles ein bisschen an den Haaren herbeigezogen. Der IS kontrolliert einen riesigen Medienraum, und den füllen sie mit einzigartigen Inhalten.

    Das Projekt nennt sich dobrovolec.org [Freiwilliger.org], arbeiten die Menschen im Fall von Syrien tatsächlich nur aufgrund ihrer Motivation oder bekommen sie ein Honorar?

    Das kann ich nicht sagen. Wir zahlen niemandem etwas, schauen aber später auch niemandem in die Tasche. Allerdings ist es ein wichtiges Kriterium – wenn jemand in seinen ersten Briefen schreibt, dass er einen bestimmten Lohn in bestimmter Frist braucht, dann lehnen wir ihn ab. Solche Anfragen gab es ziemlich häufig, aber im Wesentlichen sind das so Freundchen, die uns überhaupt nicht interessieren.

    Das sind zwanzigjährige Jungs, die sich für coole Kämpfer halten, die sehen aus wie Agenten oder Supersöldner aus einem Hollywoodfilm. Aber sie haben keine ernstzunehmenden Erfahrungen, keine Ausbildung – das sieht man in den ersten Zeilen ihrer Briefe. Es gibt viele Abenteurer, die sich nicht nur auf europäischem Territorium aktiv dabeisein wollen, sondern auch an exotischen Orten. Aber wir können ihnen keine wilden Partys bieten – die Arbeit hier ist einigermaßen ernst und in gewisser Weise eine sitzende Tätigkeit.

    Treten Leute aus Ihrer Organisation als Ausbilder auf?

    Naja, Ausbilder für irgendeine Spezialeinheit auf nicht-militärischer Ebene können sie schon sein. In Syrien waren unsere Berater in den letzten fünfzig Jahren gelegentlich, aber konkret habe ich nie gehört, dass unsere Leute unmittelbar die Armee ausgebildet hätten.

    Wie viele Menschen, die von Ihnen kommen, befinden sich insgesamt in Syrien?

    Das kann ich nicht sagen.

    Mehr als hundert oder weniger?

    Mehr als hundert, aber nicht sehr viel mehr. Worin der Unterschied zur Rekrutierung nach Noworossija liegt? Dort zählten sowohl Quantität als auch Qualität. Wir mussten damals die goldene Mitte finden, hier haben wir ein solches Problem nicht – Massen sind hier nicht gefragt. Es werden nur Profis ausgewählt, die wirklich gebraucht werden. Deswegen schicken wir nicht mal welche in Reserve, sondern nur so viele, wie wirklich gebraucht werden.

    Wurden viele von denen abgelehnt, die sich beworben haben?

    Von 40 Personen lehnen wir 39 ab. Man muss das Auswahlprinzip verstehen – es ist nicht das Ziel, so viele wie möglich zu finden, es gibt genügend, die kämpfen wollen. Unsere Leute sind nicht nicht direkt an Kampfhandlungen beteiligt, kurz, sie rennen nicht mit Maschinengewehren herum. Unsere Aufgabe ist, grob gesagt, mit Grips zu helfen und nicht mit Händen. Dort fehlen Militärexperten, echte Profis.

    Das an Militärakademien ausgebildete Offizierskorps der syrischen Armee kann es mit unseren jungen Offizieren nicht aufnehmen – das ist ein völlig anderes Niveau. Es fehlt dort an Personal für Hochtechnologie-Anlagen, die mit der Technik umgehen können, an Analytikern. Wenn man kein Profi ist, kann man zum Beispiel viel weniger aus Aufklärungsdaten herauslesen – da fehlt es einfach an der Ausbildung.

    Verstehe ich es richtig, dass alle, die dorthin gehen, Offiziere sind?

    Bei weitem nicht jeder, der dorthin geht, ist Offizier. Natürlich geben wir den Absolventen von Militärakademien den Vorzug, aber es gibt auch solche, die keine militärische Hochschulbildung haben, aber eine Hochschulbildung haben natürlich alle. Oft kann man das durch vielfältige militärische Erfahrungen kompensieren. Manche haben Kampferfahrung aus Noworossija – von denen kommen sehr viele Bewerbungen. Von denjenigen, die wir jetzt nach Syrien schicken, waren 30 bis 40 Prozent in Noworossija. Jetzt sind sie in Syrien, weil dort die Lage eben allgemein unklar ist.

    Und warum sind es so wenige? Reicht die Qualifikation nicht?

    Zum einen ja. Das sind schließlich völlig unterschiedliche Kriege. Können Sie sich vorstellen, welche militärischen Aktionen in Noworossija durchgeführt wurden und wie sehr sie sich von denen im Nahen Osten unterscheiden? Außerdem hat der IS Raketenwerfer, Panzer, Haubitzen – die sind alle genauso veraltet wie die der syrischen Armee, aber klar, in der letzten Zeit wird da erneuert. Aber auch hier gibt es Mangel – es fehlt nach den Luftangriffen an Profis. Die Europäer, die auf Vertragsbasis im Islamischen Staat gearbeitet haben, sind jetzt wieder zu Hause, weil die Summen, die sie bekommen, es nicht wert sind, sich umbringen zu lassen.

    Gibt es vor dem Hintergrund der Waffenruhe immer noch die gleiche Zahl von Freiwilligen, die in die Gegend westlich von Rostow wollen?

    Sie ist geringer geworden im Vergleich mit den Kämpfen von Debalzewo im Januar und Februar, aber der Zustrom ist recht groß, auch wenn das Interesse zurückgegangen ist. Jetzt lehnen wir die Leute oft selbst ab – wenn jemand nur einfacher Schütze ist, hat er da nichts verloren. Dann kann er da höchstens Wache schieben, aber wen interessiert das schon? Dann sagen wir ihm das auch so – du wirst doch höchstens auf der Wache sitzen.

    Wir stehen in Kontakt mit denen, die schon wieder zurück sind, und bei einer Wiederaufnahme irgendwelcher militärischen Handlungen werden sie schnell mobilisiert. Das geht dann alles viel schneller – wir können nach kürzester Zeit alle Positionen besetzen. Etwas anderes sind Ausbilder, die einen intellektuellen Beitrag leisten wollen, die sind bei uns immer willkommen. Aber wenn jetzt jemand dorthin fährt, um zu kämpfen, und in seinem Bereich gibt es keine Einsätze, was soll er dann machen? Warum soll man zur Arbeit gehen, zum Beispiel in ein Büro oder sagen wir in einen Schützengraben, wenn es nichts zu tun gibt?

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