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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Weißt du, da war Krieg“

    „Weißt du, da war Krieg“

     

    Das Erinnern an den Großen Vaterländischen Krieg ist in Russland eine feierliche Sache – und war es auch schon zu Zeiten der Sowjetunion: Am Tag des Sieges, der am 9. Mai gefeiert wird, gibt es eine große Parade am Roten Platz in Moskau. Hunderttausende im ganzen Land gehen auf die Straße und feiern den Sieg der Sowjetunion über den Faschismus. Die heutigen militärischen und propagandistischen Ausprägungen des Feiertags – einem der wichtigsten in Russland – werden allerdings immer wieder auch kritisch hinterfragt.

    Eine neue, privatere und persönlichere Form des Erinnerns läutete in jüngster Zeit etwa die Aktion Unsterbliches Regiment ein, eine ursprünglich zivilgesellschaftliche Initiative. Auch wenn diese teilweise von offizieller Seite vereinnahmt wird (auch Wladimir Putin lief bereits mit einem Bild seines Vaters bei einem solchen Gedenkmarsch mit), ist der Ursprungsgedanke, die Geschichte der eigenen Großeltern zu erfragen und zu bewahren. Politische oder kommerzielle Aussagen sind bei dieser Art des Gedenkens dagegen unerwünscht.

    Zum persönlichen Gedenken, das die Geschichte der eigenen Vorfahren würdigt, aber auch kritisches Nachfragen erlaubt, motiviert die Aktion des unabhängigen Exil-Mediums meduza: Es rief seine Leser in diesem Jahr dazu auf, ihnen die Kriegserinnerungen der Eltern und Großeltern zu schreiben. Einzelne Redakteure steuerten außerdem Geschichten aus der eigenen Familie bei. Einige davon hat dekoder übersetzt – und stellt sie an diesem für beide Länder wichtigen Tag neben die russischen Originale.

    Wladimir Zybulski

    Wladimir Zybulskis Großvater Wladimir (rechts) mit einem Kameraden / Foto © Wladimir Zybulski/meduza
    Wladimir Zybulskis Großvater Wladimir (rechts) mit einem Kameraden / Foto © Wladimir Zybulski/meduza

    [bilingbox]Ich bin nach meinem Großvater benannt. Einen Großteil meines Lebens wusste ich Folgendes über ihn: Mit 18 kam er an die Front in den Nachrichtentrupp, er kämpfte bei Stalingrad, arbeitete nach dem Krieg in einer Lokomotivfabrik und hat einmal in einem Film mitgespielt. Ich habe nie mit ihm gesprochen: Er starb zwei Jahre vor meiner Geburt.

    Mama und Oma erzählten immer, dass Großvater sehr zurückhaltend war und dass es Großmutter große Anstrengung gekostet hat, bis er bei seinen Chef um eine Wohnung bat. Außerdem wurde noch erzählt, dass die Orden auf dem feierlichen Portraitfoto in Wirklichkeit nicht seine waren. Er hatte all seine Orden und Medaillen verloren, als er in Berlin in den Zug stieg, und das Portrait musste dann mit den gleichen, aber eben den Orden von jemand anders gemacht werden. Großvater hat lange Jahre an das Ministerium geschrieben, damit sie ihm neue machen, aber vergeblich.

    Wofür genau mein Opa all seine Orden bekommen hat, wurde mir allerdings nie erzählt: Ruhmesorden II. und III. Klasse, den Orden des Großen Vaterländischen Krieges I. Klasse und einige Medaillen.

    Vor ein paar Jahren entdeckte ich dann die Website podvignaroda.ru, auf der man etwas über Verwandte erfahren konnte, die im Krieg waren. Dort fand ich auf Auszeichnungs-Listen, dass mein zurückhaltender Großvater mit 21 Jahren nach Korrektur des Frontverlaufs deutsche Maschinengewehrschützen entdeckt hatte, die um den Beobachtungsposten verteilt waren. Er erschoss damals 15 Deutsche, die übrigen entkamen. Ein bisschen später dann in Berlin „stürmte er ein Haus, in dem Deutsche waren – durch Kugeln aus seiner Maschinenpistole starben acht deutsche Soldaten, drei nahm er gefangen“.

    Ich erzählte meiner Mutter von meiner Entdeckung und die zeigte es meiner Oma. Keine von ihnen wusste, was mein Großvater im Krieg gemacht hatte. Wenn du über Morde im Krieg in Büchern oder in Interviews mit Frontsoldaten liest, ist es das eine; wenn du erfährst, dass auch dein eigener naher Vorfahre getötet hat, beziehst du es auf dich und dir wird ganz schön mulmig. Aber du spürst auch Stolz – auf den Mut deines Opas.~~~Меня назвали в честь деда. Большую часть моей жизни я знал про него следующее. В 18 лет его забрали на фронт связистом, он воевал под Сталинградом, после войны работал на тепловозостроительном заводе и однажды засветился в одном фильме. Сам я никогда с ним не разговаривал: он умер за два года до моего рождения.

    Мама с бабушкой рассказывали, что дед был очень скромный, и бабушке больших усилий стоило заставить его попросить у начальства квартиру. Еще рассказывали, что медали, которые у него на портрете, на самом деле не его. Все свои медали и ордена он потерял, когда садился в поезд из Берлина, и парадный портрет пришлось делать с такими же, но чужими. Дед потом долго писал в министерство, чтобы ему сделали новые награды, но тщетно.

    Чего мне не рассказывали, так это того, за что именно дед получил все свои награды: ордена славы II и III степеней, орден Отечественной войны I степени, ордена Славы II и III степеней и несколько медалей.

    Несколько лет назад я узнал про сайт «Подвиг народа», где можно узнать про воевавших родственников. Там я нашел наградные листы, и выяснилось, что мой скромный дед в 21 год, возвращаясь после исправления линии, обнаружил немецких автоматчиков, окружающих наблюдательный пункт. Тогда он застрелил 15 немцев, остальные разбежались. А чуть позже, уже в Берлине, «ворвался в дом, где находились немцы, и огнем своего автомата убил восемь немецких солдат и троих пленил».

    Я рассказал про свою находку маме, та показала бабушке. Никто из них тоже не знал, что дед делал на войне. Когда читаешь про убийства на войне в книгах или в интервью фронтовиков — это одно; когда узнаешь, что и твой самый ближайший предок убивал тоже, примеряешь на себя — и становится жутко. Но и гордость чувствуешь — за смелость деда.[/bilingbox]


    Lika Kremer

    Lika Kremers Großeltern Marianna und Mark mit Sohn Gidon / Foto © Lika Kremer/meduza
    Lika Kremers Großeltern Marianna und Mark mit Sohn Gidon / Foto © Lika Kremer/meduza

    [bilingbox]Ein Jahr bevor die Deutschen Riga eroberten, bekamen mein Opa Mark und seine Frau – nach 13 Jahren kinderloser Ehe – endlich eine Tochter.

    Der Bruder meines Opas hatte ein Geschäft für Männerhemden, darum hat man ihn gleich nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1940 mit seiner Familie als „Kapitalisten“ nach Sibirien deportiert. Mein Opa blieb. Er war Geiger, spielte außerdem Saxophon und leitete ein kleines Unterhaltungsorchester, das in Restaurants auftrat und Stummfilme im Kino Splendid Palace begleitete.

    Als die Gefahr einer deutschen Okkupation aufkam, wussten Opa und seine Familie nicht, ob sie emigrieren sollten oder nicht. Letztlich entschieden sie, dass man mit einem Kleinkind besser nicht ins Unbekannte flieht, und blieben. Zum eigenen Schutz ließen Mark und seine Frau eine Lettin bei sich einziehen, in der Hoffnung, dass die Familie verschont bleibe, wenn die eine Lettin den Pogromverbrechern die Tür öffnet.

    Ab August 1941 gab es in Riga ein Ghetto, in das man meinen Opa mit Frau und Tochter schickte. Vier Monate später nahm man ihnen ihre anderthalbjährige Liba weg, verschleppte sie in den Rumbulski-Wald und tötete sie. Die Frau meines Opas kam ins Konzentrationslager Kaiserwald.

    Mit allen, die arbeiten konnten, durchquerte Mark jeden Morgen unter Aufsicht die ganze Stadt, um Zwangsarbeit zu verrichten. Eines Tages entschied er sich mit einem Mithäftling, Willi Kaplan, zur Flucht.

    Elvira Ronis, jene Lettin, die kurz vor der Deportation bei meinem Opa eingezogen war, lebte noch immer dort. Sie war eine feinfühlige, mutige Frau. Mein Opa erklärte es damit, dass sie einen Buckel und deswegen viel durchgemacht hatte. Als mein Opa noch im Ghetto lebte, kam Elvira täglich an den Zaun und brachte ihm und seiner Familie heimlich Milch. Als Mark und Willi flohen, versteckte sie die beiden schließlich im hintersten Zimmer jener Wohnung.

    Sie lebten dort eine Weile, doch dann entwickelte sich eine Affäre zwischen Elvira und einem deutschen Offizier. Der Offizier schöpfte Verdacht, dass irgendwas in der Wohnung nicht stimmt.

    Aus Angst, aufzufliegen, mietete Elvira eine Werkstatt in der Terbatas Straße 56. Opa und sein Kamerad hoben unter dem Boden eine große Grube aus und versteckten sich in dieser Erdhöhle. Elvira brachte ihnen regelmäßig zu essen. Manchmal setzte sich mein Opa eine Sonnenbrille auf, klebte sich einen Schnurrbart an, verließ das Versteck und ging auf den Markt, um verbliebene Gegenstände zu verkaufen, damit Elvira Geld für Lebensmittel hatte.

    Mein Opa verbrachte ein Jahr und sieben Monate in der Grube. Anfangs waren dort nur zwei untergetaucht, zum Ende des Kriegs hin waren sie zu siebt.

    Am 13. Oktober 1944 hat die Rote Armee Riga befreit. Mein Opa erhielt eine Stelle als Stimmführer der zweiten Geigen beim Orchester des Rigaer Radios. Dort lernte er meine Großmutter Marianna kennen.

    Meine Oma kam gebürtig aus Deutschland, aus der Familie eines erfolgreichen schwedischen Geigers. Ihre Mutter war Jüdin, deshalb war die Familie nach Estland geflohen, als Hitler an die Macht kam. Das wohlhabende deutsche Mädchen lernte über den Sommer alle 14 Fälle der estnischen Grammatik und ging in Tartu in die Schule. Fünf Jahre später wurde Estland sowjetisch, dann begann der Krieg. Meine Oma fuhr mit ihren Eltern per Zug durch das riesige fremde Land bis nach Alma-Ata.

    Während der Evakuierung spielte meine junge Großmutter im Orchester des Mossowet-Theaters, litt Hunger, lernte Russisch sprechen, mit Gewehr überm Rücken Ski fahren und Zuckerrüben ernten. In ihrer Freizeit strickte sie den Schauspielerinnen Pullis mit Hirschen und Sternen und tauschte sie gegen Kartoffeln. Nach dem Krieg zog die Familie nach Riga. Meine Oma begann beim Radio-Orchester zu arbeiten, traf meinen Opa und … mein Papa wurde geboren.

    Ende der 1970er Jahre wanderten meine Großeltern nach Westdeutschland aus. Meine Oma Marianna begann dort ein neues, aufregendes Leben. Sie wurde zur Modenärrin, reiste viel, liebte es, Geschenke zu machen und andere zu überraschen. Und fast alles, was ich machte, kommentierte sie – ohne das „r“ zu rollen, wie es sich gehört – mit dem Wort „Horror“. ~~~За год до того, как немцы захватили Ригу, у моего дедушки Марка и его жены, после тринадцати лет бездетного брака, наконец родилась дочь.

    У дедушкиного брата был магазин мужских сорочек, поэтому сразу после ввода советских войск в 1940 году его вместе с семьей депортировали в Сибирь как «капиталиста». А дедушка остался. Он был скрипачом, играл на саксофоне и руководил небольшим эстрадным оркестром, который выступал в ресторанах и сопровождал немое кино в кинотеатре «Сплендид палас».

    Когда возникла опасность немецкой оккупации, дедушкина семья никак не могла понять, стоит эмигрировать или нет. Решили, что все-таки с маленьким ребенком бежать неизвестно куда нельзя — и остались. Чтобы обезопасить себя, Марк с женой поселили в квартиру латышку, надеясь, что если дверь погромщикам откроет она, семью не тронут.

    В августе 1941-го в Риге появилось гетто — их с женой и дочкой отправили туда. Через четыре месяца полуторагодовалую Либу отобрали, отвезли в Румбульский лес и убили. А дедушкину жену отправили в концлагерь «Кайзервальд».

    Вместе со всеми, кто мог работать, каждое утро Марк шел под конвоем через весь город на принудительные работы. И однажды они, с еще одним узником, Вилли Капланом, решились бежать.
    Эльвира Ронис, та самая латышка, которую дедушка поселил у себя незадолго до депортации, все еще жила у него дома. Это была чуткая и смелая женщина, дедушка объяснял это тем, что у нее был горб — и она сама много натерпелась. Когда дедушка еще был в гетто, Эльвира каждый день приносила к решетке и тайно передавала ему и его семье молоко. В итоге она спрятала сбежавших Марка и Вилли в дальней комнате в той же самой квартире.

    Они прожили там какое-то время, но тут у Эльвиры случился роман с немецким офицером. Офицер начал подозревать, что в квартире что-то не так. Опасаясь разоблачения, Эльвира сняла мастерскую на улице Тербатас, 56. Дедушка и его товарищ вырыли под полом большую яму и спрятались в этой землянке. Эльвира регулярно приносила им продукты. Время от времени дедушка надевал темные очки, наклеивал усы, выходил из укрытия и шел на рынок — продавать сохранившиеся вещи, чтобы добыть для Эльвиры деньги на еду.

    В этой яме дедушка провел год и семь месяцев. Сначала беглецов было двое, но к концу войны стало уже семеро.

    13 октября 1944 года Красная армия освободила Ригу. Дедушка получил место концертмейстера вторых скрипок в оркестре рижского радио. Там он познакомился с бабушкой Марианной.

    Бабушка родилась в Германии в семье успешного шведского скрипача, ее мама была еврейкой, поэтому когда Гитлер пришел к власти, семья бежала в Эстонию. Благополучная немецкая девочка за лето выучила все 14 падежей эстонского языка и пошла в школу Тарту. Через пять лет Эстония стала Советским Союзом, а потом началась война. Бабушка с родителями проехала на поездах через огромную чужую страну и оказалась в Алма-Ате.

    В эвакуации юная бабушка играла в оркестре театра Моссовета, голодала, училась говорить по-русски, бегать на лыжах с винтовкой и собирать сахарную свеклу. В свободное время она вязала артисткам свитера с оленями и звездами и меняла их на картошку. После войны семья переехала в Ригу. Бабушка пошла работать в оркестр радио, встретила дедушку — и у них родился мой папа.

    В конце 1970-х дедушка с бабушкой эмигрировали в Западную Германию. Там бабушка Марианна зажила новой увлекательной жизнью. Стала модницей, много путешествовала, обожала дарить подарки, устраивать сюрпризы. И почти про все, что я делала, бабушка, не выговаривая букву «р», говорила «кошмар».[/bilingbox]


    Galina Timtschenko

    Galina Timtschenkos Großvater Pjotr Iwanowitsch Zerkowny  / Foto © Galina Timtschenko/meduza
    Galina Timtschenkos Großvater Pjotr Iwanowitsch Zerkowny / Foto © Galina Timtschenko/meduza

    [bilingbox]Unmöglich ist es, sich zu erinnern, wann sie dir das erste Mal gesagt haben: „Weißt du, da war Krieg.“ Du blätterst im Fotoalbum mit den Portraits von Opa in Uniform mit den Rauten am Kragen; du siehst, wie Omas Gesicht anfängt zu zittern, wenn sie über ihn spricht; du weißt, dass Mama jedes mal den Ton ausschaltet, wenn sie im Radio oder Fernseher hört Erhebe dich, du großes Land [Wstawai, strana ogromnajadek]; merkst, dass sie deinem Vater nie Kartoffeln auftun und erklären, dass „sie im Krieg nur gefrorene Kartoffeln gegessen haben“; voll Entsetzen schaust du auf den buckeligen orthopädischen Schuh und gewaltigen Stock von Omas Bruder.

    Meine Mama war sechs, als der Krieg anfing. Opa war zu dieser Zeit Hauptmann bei der Roten Armee. Er fuhr schon am 22. Juni los an die Front. Oma und Mama gelang es wie durch ein Wunder in die ihre Heimat nach Perwomaisk in die Ukraine zu gelangen. Einen Monat später wurde das Gebiet [von Deutschen – dek] besetzt.

    Sie unterteilten die vier Jahre unter den Deutschen in die Zeit, „als die Ingenieure da waren“ – damals sorgten die Deutschen für Infrastruktur und zogen gen Osten; „als die Italiener kamen“ – da erinnerte sich Oma, dass die „nie etwas wegnahmen, im Gemüsegarten ernteten sie Tomaten und brachten im Tausch entweder Wäsche oder Brot; „als die Rumänen kamen – da wurde das Haus ratzeputze leergeräumt“; „als die SS-Einheiten kamen“ – das war eine Strafoperation, nachdem sie den Untergrund aufgespürt hatten; und schließlich, „als unsere Leute vorstießen“ – da wurde die Stadt drei Tage bombardiert, und alle saßen drei Tage im Keller.

    Die ganzen vier Jahre nahm meine Urgroßmutter die vier Fotos mit Männern in Uniform nicht von der Wand: ihre drei Söhne Alexej, Pjotr und Nikolai und ihr Schwiegersohn (mein Großvater) Pjotr. Alle waren an der Front, und bis Kriegsende hatte sie von keinem Nachricht.

    Ihr ältester Sohn Alexej war seit 1942 verschollen. Der mittlere Pjotr beendete den Krieg der Garde als Hauptmann und Ordensträger. Der jüngste kämpfte als Infanterist und Oberfeldwebel, ausgezeichnet mit dem Orden des Roten Sterns; aufgrund einer Splitterverletzung hinkte er sein ganzes Leben.

    Mein Großvater, Hauptmann Pjotr Iwanowitsch Zerkowny, war seit Juni 1941 in der Nähe der Stadt Uman verschollen. Nach dem Tod meiner Großmutter fand ich in ihren Unterlagen einen Stapel Suchanfragen an das Verteidigungsministerium. Die letzte hat sie 1991 abgeschickt.~~~Невозможно вспомнить момент, когда тебе впервые сказали: «Знаешь, была война». Ты просто листаешь альбом с портретами деда в военной форме с ромбами на воротнике; видишь, как начинает дрожать лицо у бабушки, когда она говорит о нем; знаешь, что мама каждый раз выключает звук, если слышит по радио или в телевизоре «Вставай, страна огромная»; замечаешь, как отцу никогда не кладут на тарелку картошку, объясняя, что «в войну только мерзлую картошку и ели»; с ужасом смотришь на горбатый ортопедический ботинок и здоровенную трость бабушкиного брата.

    Моей маме было шесть, когда началась война. Дед, к тому времени капитан Красной армии, уже 22 июня уехал на фронт, а бабка с мамой чудом смогли доехать до родного дома в Первомайске (Николаевская область Украины). А через месяц оказались в оккупации.

    Они делили прожитые «под немцем» четыре года на «когда стояли инженеры» — это немцы налаживали сообщение, двигаясь на восток; «когда пришли итальянцы» — тут бабка всегда вспоминала, что те «никогда ничего не отнимали, собирали в огороде помидоры и приносили то белье, то хлеба в обмен»; «когда пришли румыны — и в доме не осталось ничего»; «когда пришли эсэсовцы» — это в городе была карательная операция после обнаружения подполья; и, наконец, «когда наступали наши» — город бомбили трое суток, и все трое суток они просидели в подвале, а во дворе под грушей до 46 года лежала неразорвавшаяся бомба — и прабабка поставила вокруг плетень «от греха».

    Все четыре года прабабка не снимала со стены четыре фотографии мужчин в военной форме: трое сыновей Алексей, Петр и Николай и зять (мой дед) Петр. Все были на фронте, и ни от кого из них до конца войны не было вестей.

    Старший ее сын пропал без вести в 42-м. Средний Петр закончил войну гвардии капитаном и орденоносцем. Младший воевал в пехоте, гвардии старшина, награжден орденом Красной звезды, остался навсегда хромым из-за осколочного ранения.

    Мой дед, капитан Петр Иванович Церковный пропал без вести в июле 1941 года под городом Умань. После бабкиной смерти в ее документах я нашла пачку запросов в министерство обороны, последний из них она отправила в 1991 году.[/bilingbox]

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  • Triumph der Propaganda über den Journalismus

    Triumph der Propaganda über den Journalismus

    Der Kampf gegen Fake News ist derzeit allerorten ein großes Thema. Auf der Website des russischen Außenministeriums sollen nun unter der Rubrik „Nedostowernie Publikazii“ (dt. „Unglaubwürdige Publikationen“) Fake News ausländischer Medien und Politiker entlarvt werden. Am gestrigen Mittwoch, 22. Februar 2017, ging die Rubrik online. Abgebildet ist jeweils der Screenshot eines nicht-russischen Textes, darüber ein roter Stempel mit Schriftzug „Fake“. Unter den einzelnen Screenshots steht: „Die in diesem Text verbreiteten Informationen entsprechen nicht den Tatsachen“. Auf eine tiefergehende Analyse der einzelnen Materialien scheint das Ministerium zunächst zu verzichten.

    Stanislaw Kutscher nimmt die Initiative des Ministeriums zum Anlass, um auf Kommersant FM den journalistischen Umgang mit Fakten zu hinterfragen – nicht nur in Russland, sondern auch im Westen.

    Die neue Rubrik auf der Website des russischen Außenministeriums soll Fake News entlarven / © Screenshot der Site www.mid.ru/nedostovernie-publikacii
    Die neue Rubrik auf der Website des russischen Außenministeriums soll Fake News entlarven / © Screenshot der Site www.mid.ru/nedostovernie-publikacii

    Als ich 1989 mein Studium am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) begann, war ich unangenehm überrascht, dass der Fachbereich Internationale Journalistik umbenannt worden war in Fachbereich für Informations- und Propagandaarbeit. Uns wurde damals geradeheraus gesagt, das sei ein Erfordernis der Zeit: Der Westen nutze die Perestroika, um die UdSSR zu zerstören, daher brauche man keine Journalisten, sondern Propagandisten, die fähig sind, das Vaterland im Informationskrieg gegen den Westen zu verteidigen.

    „Manipulation der öffentlichen Meinung“, „Informations-Sabotage“, „Rhetorik und Psychologie der Massenpropaganda“ – all diese Begriffe lernte ich schon im ersten Semester. Ich hoffte allerdings naiv, dass dieses Wissen schon bald nutzlos sein würde. Doch das Gegenteil ist der Fall.

    Ein Vierteljahrhundert später bin ich Zeuge eines beispiellosen Triumphs der Propaganda über den Journalismus. Nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt. Jedoch muss ich zugeben, dass im neuen Jahrtausend gerade mein Vaterland die Gesetze vorgab für diesen Trend, der für jede gesunde Gesellschaft gefährlich ist.

    „Es herrscht Krieg, die Zeiten des unparteiischen Journalismus sind vorbei“, so versicherte es mir mit funkelndem Blick 2014 ein alter Kamerad, der einst ein hervorragender Reporter war. „Von welcher Objektivität kann denn hier überhaupt die Rede sein, wenn dein Land angegriffen wird?!“

    Diese Haltung wurde in Russland gegen Ende 2013 zur Norm. Denn nach jahrelanger Militarisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins war die These des „von Feinden umzingelten Vaterlandes“ für die Mehrheit im Land bereits ein Grundprinzip.


    Was soll’s, dann gab es den gekreuzigten Jungen halt nicht! Aber es hätte ihn ja durchaus geben können!

    „Was soll’s, dann gab es den gekreuzigten Jungen halt nicht! Aber es hätte ihn ja durchaus geben können! In Kiew gibt es ja tatsächlich Faschisten! Wieso sollten wir uns da für irgendwas entschuldigen?“ Dieses Zitat aus meiner Konversation mit einem Mitarbeiter des Ersten Kanals offenbart den Clou des „Journalismus“ zu Zeiten des neuen Kapitels im historischen Konflikt zwischen Moskau und Kiew – oder weiter gefasst: zwischen Russland und dem Westen. Fakes, Verdrehungen von Fakten, Inszenierungen und absichtliche Akzentverschiebungen gelten nicht mehr als Schwindelei, Verrat am Beruf oder Ausdruck von Unprofessionalität, sondern höchstens als unvermeidliche Abstriche, die man für die gute Sache im Dienst am Vaterland in Kauf nimmt.

    Besessenheit vom Kampf gegen Feinde, innere oder äußere, ist eine ansteckende Krankheit. Nach Maidan, Krim und Donbass ist die Zeit des ehrlichen Journalismus auch für die Ukraine vorbei. „Von welcher Unparteilichkeit kann denn hier überhaupt die Rede sein, wenn dein Land angegriffen wird?!“ Diese Worte wiederholen nun meine Kiewer Kollegen. Und nicht nur die Kiewer! „Wenn ich davon überzeugt bin, dass Putin böse ist, was macht es dann für einen Unterschied, mit welchen Mitteln ich meine Leser davon überzeuge? Wichtig ist das Ergebnis!“ Das entstammt meinem Streit mit einem einst glänzenden liberalen Journalisten, der sich vor aller Augen verwandelt hat in einen nicht minder glänzenden Publizisten, gar Politkommissar.

    Mittlerweile schreibt jeder Hinz und Kunz im Westen über die Notwendigkeit der Gegenpropaganda

    Die US-amerikanische Presse hat sich am längsten gehalten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat man sich dort weit weniger um Russland gekümmert, als es die russischen Propagandisten gewollt hätten. Die Gefahr der russischen Propaganda ist dort erst seit vergangenem Jahr ein richtiges Thema, seit dem dortigen Wahlkampf. Mittlerweile schreibt jeder Hinz und Kunz im Westen über die Notwendigkeit der Gegenpropaganda, voller Vorwürfe gegen die eigenen Regierungen und gegen sich selbst: Man hätte  die „Moskauer Informations-Aggression“ verpennt.

    „Von welcher Objektivität kann denn hier überhaupt die Rede sein, wenn unser Land angegriffen wird?!“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich derlei Worte bald aus dem Mund befreundeter amerikanischer und europäischer Journalisten hören werde.

    Der Westen ist natürlich kein zusammengehöriges Land, und alle westlichen Medien in eine zentral gelenkte Propagandamaschine umzuwandeln, ist schlichtweg unmöglich. Aber man kann erreichen, dass Journalisten zu Propagandisten werden und sich als Teil „der großen Sache im Widerstand gegen Moskau“ fühlen, das geht.

    Kein Krieg kommt ohne Mythen und Lügen aus

    Die Propaganda beschreitet triumphierend den Planeten. Die Nachfrage nach Websites und Experten für die Schaffung und Enthüllung von Fake News wächst eifrig. Kein Krieg kommt ohne Mythen und Lügen aus. Also macht Maria Sacharowa alles ganz richtig.

    Ein Dieb gehört ins Gefängnis, und die Menschen kümmert es nicht, wie ich ihn einbuchte. Komm, lass uns gleich hier hundert Leute fragen, was ihr Herz erreicht: meine Lügen oder deine Wahrheit?“ [So streiten die beiden Protagonisten Sheglow und Scharapow in einem sowjetischen Spielfilm – dek]

    Die russischen Machthaber und mit ihnen die Propaganda haben zwischen den streitenden Sheglow und Scharapow gewählt. Nun trifft auch der Rest der Welt seine Wahl.

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    Vorbild Feind

  • Russischer Winter

    Russischer Winter

    Im Donbass gibt es im Moment die schwersten Kämpfe seit Langem zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten. In Awdijiwka harren zehntausende Einwohner ohne Strom und Heizung aus, auf beiden Seiten der Frontlinie gibt es Tote. Neue Tote in einem Konflikt, der nach UN-Angaben bislang knapp 10.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die Waffen haben trotz des 2015 vereinbarten Minsker Friedensabkommens nie geschwiegen.

    In einigen russischen Medien wird derzeit über die konkrete Gemengelage vor Ort spekuliert, während andere analysieren, wie sich die Haltung des neuen US-Präsidenten Trump künftig auswirken könnte. Auf dem unabhängigen Online-Portal Republic fragt Journalist Oleg Kaschin dagegen nur am Rande nach möglichen Interessen oder Stellungskämpfen, sondern fokussiert auf Gefühle und Befindlichkeiten innerhalb der russischen Gesellschaft.

    Kaschin selbst polarisierte mitunter mit Aussprüchen wie dem, dass die Ukraine von Russland keinen Kniefall erwarten könne, gilt jedoch als  scharfsinniger Kritiker des Kreml und der russischen Ukraine-Politik.

    In seinem Kommentar nun fragt Kaschin: Ist das, was im Donbass geschieht, eigentlich jemals in den Köpfen angekommen?

    Beschuss von Awdijiwka und Donezk – das klingt wie eine Nachricht aus dem vorletzten Winter, die wie durch ein Missverständnis in den Informationsstrom von 2017 geraten ist. Dimitri Peskows Wortschöpfung „eigenmächtige Kampfeinheiten“, denen die Schuld an der Eskalation zugeschrieben wird, ist dermaßen schwammig, dass man darunter fassen kann, wen man will – sowohl prorussische Separatisten als auch ukrainische Freiwilligenbataillone, die unabhängig handeln, oder aber auch die ukrainische Armee (in dem Sinne, dass die Ukraine ein eigenmächtiger Staat ist und seine Kampfeinheiten entsprechend auch eigenmächtig sind). Die unvorsichtige Äußerung eines ukrainischen Generals, die ukrainischen Streitkräfte würden „Schritt für Schritt“ vordringen, hatte Peskow ebenfalls aufgeschnappt: Seht, die Ukrainer haben selbst zugegeben, dass sie angreifen, also sind sie der Aggressor. Und ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in dem eine anonyme Quelle aus deutschen Regierungskreisen davon spricht, die ukrainische Seite sei an einer Zuspitzung interessiert, wird in der offiziellen russischen Presse schon den dritten Tag munter zitiert.

    Interessant ist eine Beobachtung der russischen Life-Journalistin Anastasija Kaschewarowa. Sie schreibt, Drehteams staatlicher russischer Fernsehsender aus Moskau seien schon frühzeitig nach Donezk geschickt worden – und zieht den naiven Schluss, dass die russischen Geheimdienste offensichtlich wussten, die Ukrainer würden einen Angriff beginnen. Aber genauso gut kann man die Entsendung von Journalisten in den Donbass als Beweis dafür nehmen, dass man in Moskau schon frühzeitig über einen bevorstehenden Angriff der Separatisten im Bilde war – schließlich sind solche Informationen für Russland einfacher zugänglich als die Pläne der ukrainischen Armee. 

    Geblieben ist einfach nur ein Krieg. Ein endloser, sinnloser, keine Seele mehr berührender Krieg

    Noch vor kurzem wurde dem Donbass gern ein ähnliches Schicksal wie Transnistrien vorausgesagt. Vorerst jedoch erinnert er eher an Bergkarabach. Denn die beiden Seiten stehen dem derzeitigen politischen Schwebezustand und umstrittenen Status nicht gleichgültig gegenüber, wie es dagegen in Moldawien der Fall ist. Stattdessen kommt es bei jeder erstbesten Gelegenheit zu Gefechten, unter ständiger Gefahr eines großen Krieges. Aber auch der Vergleich mit Bergkarabach hinkt ein wenig: In dem südkaukasischen Konflikt sind beide Seiten zumindest in einem, wenn auch ausgedachten, Geist erzogen, nämlich im Geist einer fanatischen Verbundenheit mit der für beide Länder heiligen Erde.

    Im Donbass dagegen klingt schon allein das Wort Koksochim (so heißt die beschossene Fabrik in Awdijiwka, von der die Wärmeversorgung der Stadt abhängt) dermaßen finster, dass bei seinem Klang nicht einmal das Herz des glühendsten Patrioten höher schlagen wird. Tote Erde, bevölkert von lebenden Menschen – so müsste man den Donbass im Moment wohl korrekterweise nennen.

    Nach nicht einmal drei Jahren herrscht hier Krieg in seiner reinsten Form, jeglicher Verzierungen entledigt: ohne ergreifende Losungen, eingängige Parolen, weltweite Aufmerksamkeit und ohne klaren Schlusspunkt, auf den ein garantierter Frieden folgt.

    Das alles ist in den Jahren 2014 und 2015 verlorengegangen und geblieben ist einfach nur ein Krieg. Ein endloser, sinnloser, keine Seele mehr berührender Krieg. 
    Es ist schwer zu sagen, ob Donald Trump sich darüber im Klaren ist oder ob er überhaupt Zeit hat, sich darüber Gedanken zu machen – zwischen Migrantenbekämpfung und Mauerbau an der mexikanischen Grenze. Doch liegt es auf der Hand, dass es dabei gerade um ihn geht: Jede Salve bei Awdijiwka ist an den neuen amerikanischen Präsidenten adressiert, selbst wenn er das gar nicht im Blick hat.

    Für den Kreml gehörten die vorherigen Phasen dieses Kriegs zu einem großen, in vielen Teilen imaginierten, internationalen Spiel, in dem gleichermaßen nonchalant mal Sewastopol, mal Aleppo auf den Tisch geworfen wurden. Donezk kam irgendwo dazwischen – auch wenn das niemand laut gesagt hat.

    Der Kreml hat die Beziehungen zur Ukraine nach 2014 nie als bilateral angesehen. Das Propagandabild eines Barack Obama, der Kiew unmittelbar steuert, hat auf die eine oder andere Weise sicherlich die Vorstellung Moskaus und ganz persönlich die von Putin über das Geschehen widergespiegelt. Alles Weitere hängt vom Rahmen ab, den der Kreml sich ausdenkt: Wenn es nun keinen Obama gibt, dann gibt es auch keine Regeln, nach denen man mit ihm spielen muss. Aber was nun die neuen Regeln sind, das wird man via Trial and Error herausfinden müssen.

    Die Abwesenheit der russischen Gesellschaft in diesem Krieg schützt sie in keiner Weise vor großen Traumata

    Diese Logik kann man übrigens gleichermaßen auch auf die ukrainische Seite anwenden: Schließlich wurde über Trumps Loyalität gegenüber Russland in den vergangenen Monaten derart viel geredet, dass wohl keine Menschenseele sie im tiefsten Herzen anzweifeln konnte. Was muss passieren, damit die Stimme des amerikanischen Präsidenten in diesem Konflikt erklingt? Keiner weiß es, aber alle glauben, dass sie erklingen wird; also muss man ausprobieren. Und egal wie unterschiedlich die Ziele und Weltanschauungen Moskaus und Kiews sein mögen, Instrumente haben beide nur wenige, und das erste dieser Instrumente ist leider die Artillerie.

    Das ist der einzig mögliche Schluss aus der Verschärfung um Awdijiwka: Ja, wir haben es mit einem diplomatischen Feldexperiment zu tun. Beide Seiten tasten in einer verfahrenen Situation mit Grad-Raketenfeuer neue Grenzen des Möglichen ab. Die Neutralität der russischen Machthaber gleicht einer Parodie, wenn die einzige offizielle Positionierung ein verhaltenes Mitgefühl für die Separatisten ist, bei denen sowieso allen klar ist, wie unabhängig diese von Moskau sind (nämlich gar nicht).

    Aus diplomatischer Sicht ist das wahrscheinlich wirklich die bequemste Positionierung. Aber so bequem sie auch für internationale Deals ist, so unmoralisch ist sie in Bezug auf die sterbenden und ohne Obdach dastehenden Bewohner des Donbass auf beiden Seiten der Front.

    Dasselbe gilt in Bezug auf die russischen Soldaten, deren Intervention (natürlich in der für diesen Krieg traditionell anonymen Form des Nordwinds) nun sowohl in Donezk als auch in Kiew erwartet wird. Menschenleben und Zerstörungen sind belanglos, es gibt nur gewichtige internationale Interessen und die vom Kreml geliebte Geopolitik, in der ein Anruf von Trump tatsächlich wesentlich mehr wert ist als hunderte Awdijiwkas und ihre Bewohner.

    Die Chronologie dieses Krieges in Donezk ist verwirrend – es ist nicht einmal klar, ob man ihn als andauernd begreifen soll, oder ob man sagen kann, dass es vor einer Woche keinen Krieg gab, und er jetzt, da in Awdijiwka geschossen wird, von Neuem begonnen hat. Streng genommen hat es diesen Krieg im Leben der russischen Gesellschaft nie gegeben – es gab das Jahr 2014 mit Fernsehgeschichten über Banderowzy und Jubel ob des Russischen Frühlings, es gab anschließend ein Umschalten der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit auf andere Themen. Und nun gibt es das Awdijiwka von heute, das nur noch als belangloser Hintergrund zu den Weltnachrichten läuft.

    In der Zeit, als die Ukrainer sich ihrer Selbstwahrnehmung nach auf dem Höhepunkt eines Vaterländischen Krieges befanden, scherzte in Russland die patriotische Öffentlichkeit, dass die russische Armee auf dem Schlachtfeld sogar dann gewinne, wenn sie gar nicht anwesend ist. Zwei Jahre später kommt dieser patriotische Witz wie ein Bumerang zurück: Die Abwesenheit der russischen Gesellschaft in diesem Krieg schützt sie in keiner Weise vor großen Traumata, die sich auch noch Jahrzehnte später durch völlig unerwartete Probleme bemerkbar machen können. 

    In Russland verhält sich mittlerweile eine breite Masse gegenüber lebendigen Menschen so, als seien diese Statisten in TV-Geschichten. Es gibt eine allgemeine Bereitschaft, über den Krieg nur noch in der Sprache einer frei erfundenen Geopolitik zu sprechen, eine Gleichgültigkeit gegenüber Todesopfern und ein Desinteresse daran, ob die russische Armee sich an Konflikten beteiligt, und wenn ja, auf welcher Grundlage. All das hat die russische Gesellschaft auf jeden Fall verändert.

    Bisher ist nicht klar, wer stärker traumatisiert ist – der, der bei der Beerdigung geweint hat, oder der, der den Tag der Beerdigung verbracht hat, ohne auch nur entfernt daran gedacht und sich nicht im geringsten dafür interessiert zu haben. Statt des Russischen Frühlings ist jetzt Russischer Winter. Aber wenn sein Schnee schmilzt, werden Schmutz und Blut, die unbemerkt unter ihm liegen, noch ihre Rolle spielen.

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  • Wer hat Irkutsk vergiftet?

    Wer hat Irkutsk vergiftet?

    Die russische Regierung will dem Alkoholmissbrauch im Land seit Jahren Einhalt gebieten. Trinkverbote auf offener Straße und nächtliche Verkaufsverbote wurden erlassen, auch an der Preisschraube wurde gedreht. Teils konnte die Staatsführung dadurch Erfolge erringen. Nun spielt sich im ostsibirischen Irkutsk eine Tragödie ab. Mehr als 110 Menschen sind von einer Methanolvergiftung betroffen. Darunter sind mehr als 70 Tote zu beklagen, in der Region wurde der Notstand in Kraft gesetzt. Selbst Premier Dimitri Medwedew spricht jetzt davon, es sei “wie in den Neunziger Jahren”. Die Wirtschaftskrise trieb damals viele Menschen dazu, statt Wodka billigen Fusel zu kaufen oder selbst zu brennen. Auch auf Mittelchen aus dem medizinischen oder Haushaltsbereich greifen die Menschen immer wieder zurück. Aktuell befindet sich Russland erneut in einer tiefen Rezession.

    Für 2016 spricht die Verbraucherschutzbehörde bisher von mehr als 36.000 Fällen schwerer Alkoholvergiftung, darunter mehr als 9.000 mit tödlichem Ausgang. Bekannt sind zudem mehr als 550 schwere Vergiftungen mit Methanol, das aus Kostengründen häufig illegal unter anderem Reinigungsmitteln zugesetzt wird. Die meisten dieser Fälle endeten tödlich.

    In Irkutsk nun wurde ein gepanschter Badezusatz von den Ermittlern als Ursache für die Vergiftungswelle ausgemacht. Alexej Tarassow fragt in seinem Meinungsstück für Novaya Gazeta: Wie kann so etwas passieren?

    Foto © Wladimir Smirnow/TASS
    Foto © Wladimir Smirnow/TASS

    Der Badezusatz Bojaryschnik, mit dem sich am Wochenende im Irkutsker Stadtteil Nowo-Lenino etliche Leute vergiftet hatten, war ein Imitat. In der Mixtur war kein Ethylalkohol, sondern Methylalkohol. Methanol. Gift. In dem Gemisch wurde außerdem Frostschutzmittel gefunden. Ethylenglycol. Ebenfalls Gift. Bis Dienstag 15 Uhr Ortszeit waren 54 Personen daran gestorben [inzwischen ist die Zahl auf über 70 gestiegen – dek]. Die Wirkung von Methanol tritt erst mit Verzögerung ein, manchmal erst nach drei Tagen (sie hängt nicht nur von der konsumierten Menge ab, sondern auch von dem, was man dazu gegessen hat, und ob daneben Ethylalkohol konsumiert wurde – der in diesem Falle als Gegengift wirkt). Unter die Liste der Opfer kann also noch kein Schlussstrich gezogen werden. Von den 28 Personen, die ins Krankenhaus eingeliefert wurden, befinden sich 13 in kritischem Zustand und werden künstlich beatmet.

    Die Rettungsteams haben (in fast gleicher Zahl) Männer und Frauen zwischen 35 und 50 Jahren aus unterschiedlichen Straßen und Häusern, aber aus demselben Stadtteil und mit den gleichen Symptomen eingeliefert: akute Vergiftung, toxischer Schock. Es ist nicht so, dass es nur Menschen betraf, die ganz unten sind; viele hatten Arbeit. Unter den Opfern ist beispielsweise auch eine Erzieherin aus einem Kindergarten.

    Die Polizei und das Ermittlungskomitee haben in Nowo-Lenino die Märkte sowie hunderte Verkaufsstellen für Hochprozentiges durchkämmt und tonnenweise gepanschte Produktfälschungen beschlagnahmt. Darunter nach Angaben des Ermittlungskomitees mehr als 2000 Fläschchen Bojaryschnik mit insgesamt über 500 Litern Flüssigkeit.

    Auf dem heiter daherkommenden Etikett des Badezusatzes Bojaryschnik (250 Milliliter für 60 Rubel [knapp 1 Euro – dek]), das als Inhaltsstoffe Ethylalkohol, Weißdornextrakt und Zitronenöl verspricht, ist eine prächtige Stadtansicht Petersburgs zu sehen. Als Hersteller ist die Petersburger OOO Legat vermerkt. Offen zugänglichen Angaben der Steuerbehörden zufolge wurde dieses Unternehmen vor vielen Jahren abgewickelt. Allerdings gelangen regelmäßig Produkte einer OOO Legat in den Handel. Erst im November ist einer der Gründungsgesellschafter, die OOO Rosstroilising, in Konkurs gegangen. Aber von Anfang an war klar: Das Land ist groß und es gibt viele findige Leute, sodass das Methanol wer weiß wo in die Flaschen gelangt sein kann. Zu Vergiftungen ist es bislang nur in einem Wohngebiet von Irkutsk gekommen. Klar ist allerdings, dass es eine ganze Warenpartie war, nicht weniger. Die Spuren der letzten Massenvergiftung durch Produktfälschung in Krasnojarsk hatten übrigens ins Moskauer Umland geführt.

    Kein Verkaufstrick mehr, sondern Massenmord

    Jetzt wurde innerhalb von 24 Stunden die erste Untergrund-Abfüllanlage für Bojaryschnik ausfindig gemacht: im Gartenbaubetrieb namens 6. Fünfjahresplan unweit von Nowo-Lenino. Zwei der Besitzer und fünf Verkäufer wurden festgenommen, 47 Kanister mit dem Getränk beschlagnahmt. Dabei wurden dort auch Wodkafälschungen der Marken Zarskaja Ochota [Zarische Jagd], Finskoje Serebro [Finnisches Silber] und Belaja Berjosa [Weiße Birke] entdeckt. Eine zweite Anlage wurde am Dienstag in einer ehemaligen Molkerei in Schelechowo gefunden. Außer Bojaryschnik wurden dort auch Vitasept und Tschisty S aus demselben Produktsegment abgefüllt. Die Proben werden derzeit auf Methanol untersucht.

    Im Gebiet Irkutsk wurde der Notstand in Kraft gesetzt, offizielle Trauer verkündet und der Handel mit nicht zum Verzehr bestimmten stark alkoholischen Flüssigkeiten vorübergehend verboten. Man wird wohl eine Zeit lang ohne Corvalol und Frostschutzmittel fürs Auto auskommen müssen. Der Kreml hat die Vorkommnisse in Irkutsk als schreckliche Tragödie bezeichnet. Gleichzeitig weiß Dimitri Peskow nichts von irgendwelchen Schlüssen, die das Staatsoberhaupt daraus gezogen hätte: „Das ist kein Thema für die Präsidialverwaltung, dafür ist das Kabinett zuständig.“

    Die Methode dieses Massenmords besteht aus zwei ganz einfachen Schachzügen. Sie ist ein Klassiker. Schlichte russische Geschäftspraxis. Der erste Schritt ist es, sich ein Markenzeichen auszusuchen, das in unteren Schichten populär ist. Bojaryschnik ist so eins. Jeder, der ganz unten ist, kennt die kleinen gläsernen Flacons (nicht mehr als 100 Milliliter) mit der Tinktur, die früher ausschließlich in Apotheken verkauft wurden. Jenes Bojaryschnik, mit dem die Leute in Irkutsk vergiftet wurden, ist kein solches Elixier, sondern eine Haushalts-Chemikalie, die in Plastikflaschen zu 250 Milliliter abgefüllt wurde.

    Ist Schritt eins noch ein findiger Verkaufstrick, dann ist Schritt zwei bereits vorsätzlicher Massenmord. Wenn mit einem Mal nämlich kein Ethyl- sondern Methylalkohol verwendet wird. Warum? Wer hat etwas davon?

    Die Staatsanwaltschaft veranlasste Wohnungsbegehungen bei den Opfern, ihren Bekannten und Angehörigen. Und bei potenziellen Opfern. Polizisten gehen durch die Bauman-, die Jaroslawski-, die Sewastopoler und die Pionierstraße, schauen in die Keller und bei den Fernwärmeleitungen. Die Beamten haben zwei Aufgaben: Tote und Komatöse zu suchen sowie Bürger zu informieren, die noch ahnungslos sind.

    Wer wird denn schon vermisst?

    So ist das immer, es ist nicht das erste Mal. Der Unterschied ist nur, dass jetzt die für die Region zuständige Hauptverwaltung des Katastrophenschutzministeriums massenhaft SMS mit der Bitte verschickt, keine „stark alkoholhaltigen Flüssigkeiten zu sich zu nehmen, die bei nicht genehmigten Handelsstellen erworben wurden“. Früher waren in solchen Situationen Lautsprecherwagen durch die Straßen gefahren.

    Wie zum Beispiel im Sommer 1997 in einem Teil von Krasnojarsk. Seinerzeit waren nach offiziellen Angaben 22 Menschen zu Tode gekommen, zwölf hatten schwere bleibende Gesundheitsschäden davongetragen, nachdem Methanol in Wodkaflaschen abgefüllt worden war. Die Rechnung im Volk ging anders: Rund hundert Leute seien erblindet und rund siebzig innerhalb eines Jahres gestorben. Tatsächlich sind alle Angaben nur ungefähr: Die Sache passierte in den Elendsvierteln. Wer zählt da alle durch, in den Kellern und auf den Dachböden? Wer wird denn schon vermisst? Viele hatten ja zur Stunde ihres Todes bereits alle sozialen Bindungen verloren.

    Vor einem Jahr, ebenfalls am Wochenende, ebenfalls durch Methanol, diesmal jedoch in Flaschen mit Jack Daniels auf dem Etikett, die übers Internet vertrieben wurden. Elf Krasnojarsker starben auf einen Schlag. 27 blieben als Krüppel zurück. Jener Jack Daniels forderte auch später noch seinen Tribut, im April dieses Jahres etwa, als eine Vierzehnjährige und ein Vierundvierzigjähriger dadurch umkamen.

    Nun also Bojaryschnik. Davor waren es Troja und Trojar, Badreiniger (90-prozentiger Ethylalkohol). SSHMT („denaturierte flüssige Multikomponentenmischung, für technische Zwecke“). Der Haushaltsreiniger Tschisty S (technischer Ethylalkohol, auf 75 Prozent verdünnt). Rosinka. Der Duft Kanskaja. Ljux (ebenfalls 75-prozentig), „zum Waschen und Reinigen von Autoscheiben und -spiegeln“.

    In der Region Krasnojarsk und im Gebiet Irkutsk gab es besonders viele Mixturen und Mittel, da hier eine unglaubliche Menge biochemischer Fabriken und Hydrolyse-Produktionsanlagen konzentriert war. Aber alle schon lange geschlossen (und verrammelt). Es gab Nitchinol. Und dann alle möglichen braunen Fläschchen: Tinkturen zu 100 Milliliter aus der Apotheke für 20 bis 25 Rubel. Viele gab es davon, und gibt es, und wird es wohl weiterhin geben … Amen!

    Der für den Alkohol-Sektor verantwortliche Vize-Premierminister Alexander Chloponin forderte dieser Tage, eine Besteuerung für alkoholhaltige Kosmetika und Medikamente einzuführen (lebensnotwendige Präparate ausgenommen), und beauftragte das Finanzministerium, entsprechende Gesetzesänderungen vorzubereiten. Solche Maßnahmen kennen wir schon, ihre Wirkung ist hinlänglich bekannt. Die Frage – trinken oder nicht trinken? – stellt sich für ausgesprochen viele Mitbürger gar nicht; trinken werden sie ohnehin, aber bei den begrenzten Mitteln nach günstigen Alternativen suchen. Die Nachfrage schafft das Angebot.

    Wer mischt Gift in etwas, was andere trinken?

    Um das nochmal klarzustellen und Missverständnisse zu vermeiden: Chloponin sprach über echte Bojaryschniki, Chili-Tinkturen und andere hochprozentige Destillate in Mengen von bis zu 100 Milliliter – genau solche fallen aktuell noch nicht unter die Alkoholbesteuerung. Aber Irkutsk hat sich an etwas ganz anderem vergiftet.

    Gleichwohl forderte Dimitri Medwedew in der Kabinettssitzung die Aufmerksamkeit auf ein „Geschäft zu richten, das im Wesentlichen darauf abzielt, normalen Alkohol vom Markt zu verdrängen. Surrogaterzeugnisse werden oft unter dem Deckmantel von Medikamenten verkauft, auch über Automaten“. „Das ist ein Skandal und es ist klar, dass dem ein Ende gesetzt werden muss – der Handel mit derartigen Präparaten gehört einfach verboten“, erklärte der Premier.

    Chloponin antwortete, die Gesetzesänderungen seien vorbereitet und berücksichtigten „alle Fragen zu verzehrbaren und unverzehrbaren Zusätzen und Trink-Lotionen. All diese Erzeugnisse werden künftig strikt erfasst und kontrolliert durch das EGAIS-System [System zur automatischen Erfassung von Produktions- und Absatzmengen unter anderem von Alkohol – dek], sodass sie nicht illegal in Umlauf gelangen können. Wenn es sich um medizinische Produkte handelt, so werden diese nur auf Rezept ausgegeben. Ansonsten sind sie voll steuerpflichtig, sie werden sich vom Preisniveau her nicht unterscheiden.“

    Da gibt es noch ein Missverständnis, nicht neu und äußerst hartnäckig. Es ist Usus geworden, zwei Probleme, zwei Phänomene zu vermischen: Ja, Leute vergiften sich auch mit all diesen Glasreinigern und Badezusätzen, aber doch nicht sofort und gleich und gleichzeitig und in Massen.

    Die andere ganz konkrete Frage lautet: Wer mischt Gift in etwas, was andere Mitbürger trinken, sei es auch offensichtlicher Fusel? Ja, auf der Flasche Bojaryschnik steht ein Warnhinweis: „Nur zur äußeren Anwendung!“ Aber auch ein Bad in Methanol ist gefährlich. Methanol ist überhaupt nicht für den Alltagsgebrauch bestimmt.

    Verschwörungstheorien schießen ins Kraut

    Für viele steht eine Frage im Mittelpunkt: Wer vergiftet uns? Darauf wird Ihnen niemand antworten – weder die Staatsanwaltschaft, noch das Fernsehen, noch Medwedew oder Chloponin und auch nicht das Ermittlungskomitee oder der Katastrophenschutz.

    Auf den Etiketten der Bojaryschniki, an denen sich die Irkutsker vergiftet haben, ist keine GOST-Zertifizierung zu finden. Da sind nur die Inhaltsangaben des Herstellers, in denen es heißt: Ethylalkohol. Warum lässt sich diese Ratte nicht finden, die sich einen Dreck um diese Angaben schert? Wo soll man sie suchen? Im Gartenbaubetrieb 6. Fünfjahresplan? Und wozu war das nötig? Dem Geschäft ist das doch überhaupt nicht zuträglich, wie man es auch dreht und wendet. War es ein Fehler? Oder wird hier um den Markt gekämpft, sind es Machenschaften unter Konkurrenten?

    Und wenn es ein Kampf um den Markt ist, wer kämpft da gegen wen? Schlagen sich die Illegalen mit den Fälschern oder ist es eine Attacke des legalen Segments auf die, deren Produktion fünf Mal billiger ist? Oder auf die, bei denen die Nachfrage (auf ihre Surrogate) jährlich um 20 Prozent steigt (Angaben der staatlichen Alkohol-Regulierungsbehörde)? Handelt es sich um Marketing kurz vor den Feiertagen dafür, dass man lieber bei den großen Ketten einkaufen solle?

    Die Medien in Irkutsk zitieren schon Andrej Tschernyschew von Einiges Russland rauf und runter, den Wahlkreis-Abgeordneten der Duma: Er hat sich für ein vollständiges Verkaufsverbot von ähnlichen Flüssigkeiten ausgesprochen. Dem Abgeordneten untersteht der Großhandel Jurmiko, in Ostsibirien einer der bedeutendsten Anbieter für Alkohol.

    Von dem, was derzeit über die Hintergründe durch sibirische Städte geistert, sei hier beispielhaft ein kurzer Abriss wiedergegeben: Die vorherige Vergiftung in Krasnojarsk geschah genau zu der Zeit, als Chloponin eine Erweiterung des EGAIS-Systems angestrengt hat. Sprich: Als der Staat versucht hat, mehr Kontrolle über den verkauften Alkohol zu gewinnen. So habe der Notfall damals Chloponins Ausgangsposition gestärkt.

    Nun gibt es wieder eine Vergiftung – als stünde das mit seinen Versuchen in Zusammenhang, den Markt zu ordnen. Als Chloponin noch Gouverneur im Krasnojarsker Kraj war, hatte er sehr ernstzunehmende Leute in der amtlichen Aufsicht über die Alkoholproduktion installiert. Mit dem Geheimdienst im Rücken, dem Militärgeheimdienst. Als Chloponin auf der Karriereleiter aufstieg und wegging, waren sie es, die blieben. Es kostet die doch nichts, heißt es da von Seiten hiesiger Verschwörungstheoretiker, so eine Sabotage zu organisieren.

    Keine Frage, die aktuellen Fälle sehen nach einem Angriff oder nach Sabotage aus. Aber niemand von denen, die da an eine Verschwörung glauben, stört sich daran, dass es solche Methanol-Vergiftungen vor nicht allzu langer Zeit genauso gut in der Pensenskaja Oblast und ebenso in Orenburg gab. Ja, solche Fälle gab es gar im Ausland. Auch wenn dort keine Badreiniger gefälscht werden.

    Ein Land, in dem die einen frommen Gläubigen nicht davor zurückschrecken, gefälschten Bojaryschnik zu produzieren, während die anderen ihn trinken – weil sie sich keinen Wodka leisten können, obwohl sie in Arbeit sind. Dieses Land ist offensichtlich irgendein anderes Russland, nicht das, das im Fernsehen gezeigt wird, wo es sich groß nennt und vorgibt, eine gewichtige Kraft innerhalb einer multipolaren Welt zu sein.

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  • Umzingelt von Freunden?

    Umzingelt von Freunden?

    Mit Donald Trump als designiertem neuen US-Präsidenten betritt im Januar ein Mann die internationale Bühne, der schon vor der ersten Amtshandlung das Credo „Make America Great Again“ ausgab. Wie er die USA in den alltäglichen Regierungsgeschäften führen wird, ist bisher allerdings unklar. Ebenso, welche Rolle das Land innerhalb der Nato und im Verhältnis zu Europa einnehmen wird – und damit in Syrien-Krieg und Ukraine-Konflikt.

    Von Russland aus betrachtet sehe diese neue Situation schon klarer aus, glaubt Andrej Kolesnikow, politischer Analyst beim Carnegie-Zentrum Moskau. Zumindest ein bisschen. Denn neuerdings befinde sich Russland gewissermaßen unter Gleichgesinnten, schreibt er in dem oppositionellen Wochenblatt The New Times. Aber was hieße das für ein Land, das sich bisher eher als geächteter Außenseiter positionierte? Und was wird dann aus alten Feindbildern? Skizze eines komplizierten Ausblicks.

    Grafik © Chris Piascik/flickr.com (exp. background)
    Grafik © Chris Piascik/flickr.com (exp. background)

    Brexit, Sieg von Donald Trump, Erfolg des Putin-Freunds Francois Fillon bei den Vorwahlen (und höchstwahrscheinlich auch bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2017) – nach all diesen Ereignissen fühlen sich Putin und seine Eliten beinahe wie Trendsetter der neuesten Innen- und Außenpolitik: „Wir haben’s euch ja gesagt! Und ihr wolltet nicht auf uns hören! Also, bitte sehr, da habt ihrs!“

    Festung plötzlich ohne Feinde

    Einerseits hat sich das äußere Umfeld für Russland tatsächlich verändert. Andererseits lassen all diese Veränderungen völlig unerwartet eine grundlegende, ungeschriebene Doktrin erodieren. Eine, auf der die Post-Krim-Konsolidierung der Putinschen Eliten beruht: die Doktrin der belagerten Festung. Der Westen übt Druck auf Russland aus, führt einen Informationskrieg, die NATO nähert sich Russlands Grenzen, und wir verteidigen uns, sichern die belagerte Festung, erweitern ihre Grenzen, führen gerechte Kriege, ergreifen innerhalb der Festung Nationalverräter und rücken um den Kommandanten dieser Festung eng zusammen, sprich um den Anführer der Nation.

    Ein solches Modell, das noch zusätzlich mit geistigen Klammern und Mythen wie den 28 Panfilow-Helden umrankt ist, hat nicht nur für die Konsolidierung der Eliten, sondern auch für die Bereitschaft von 70 Prozent der Bevölkerung gesorgt, eine selbstzerfleischende Politik von Gegensanktionen zu unterstützen (laut Angaben des Lewada-Zentrums eine der stabilsten Zahlen in soziologischen Erhebungen).

    Doch wenn wir unterdessen selbst die Trends in der Weltpolitik setzen – vor wem soll man sich dann noch schützen? Die belagerte Festung wird von Moos bewachsen und der Festungsgraben wird zum Sumpf mit Seerosen.

    Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bemühte sich Putin, in einer Reihe mit George Bush junior und Tony Blair zu stehen und nach ihren Regeln zu spielen. Aber weltpolitischer Anführer nach westlicher Art zu werden, klappte nicht. Mittlerweile ist er weltpolitischer Anführer auf seine Art. Und diese Art hat der Westen gekauft. Dort, im Westen, verkauft Putin erfolgreich Ängste – und im Inland Drohungen. Jetzt ist ausgerechnet er der Hügelkönig.

    Das für alle hässliche (aber für uns hübsche) Entlein Donald (Trump) passt perfekt zu den Bestrebungen von Russlands oberstem Politiker: #DonaldTrumpNasch, #FillonNasch, alle rechten (na, und die linken) Populisten gehören uns. Putin ist weltpolitischer Anführer. Was will man mehr? Mit wem soll man noch kämpfen?

    Trump kann Erwartungen auch verfehlen

    Nun ja, erstens hat sich die Post-Krim-Mehrheit nicht nur durch äußere Kriege konsolidiert. Innere Kriege mit der Fünften Kolonne, mit der Opposition, mit korrupten Liberalen (und Generälen ebenso – der Silowiki-Teil des Systems reinigt sich selbst) können genauso effektiv das eigene Ansehen heben. Zumindest bis zur Wahl 2018.

    Zweitens ist noch nicht völlig ersichtlich, ob sich die breit verkündete Trumpisierung der demokratischen Welt als stabiler Trend erweist, der das Putinsche Russland vom Geächteten zum Trendsetter macht.

    Sollte Trump dann mit einem Mal doch nicht die Erwartungen der russischen Führung erfüllen und Europa in seiner politischen Ausrichtung und in der Frage der Sanktionen solidarisch bleiben, sollte die Haltung der NATO für die westliche Welt weiterhin Konsens bleiben, dann wird die Frustration im Putinschen Russland äußerst heftig ausfallen. Es gibt nichts Schlimmeres als zu hohe Erwartungen. Trumps Amerika gegen Putins Russland – das wäre eine abenteuerliche Unternehmung mit offenem Ergebnis.

    Wenn wir nun über wirklich langfristige Trends sprechen, darf man außerdem nicht vergessen, dass alle Schlüsselländer der westlichen Welt Demokratien sind. Der Rechtspopulismus muss nicht von Dauer sein. Immerhin gehen Wahlen im Westen bisher noch nicht nach russischem Schema vor sich: Das Pendel des Wählervotums kann komplett in die andere Richtung ausschlagen. Wer weiß schon, wie lange sich dieser neue Politikertyp erfolgreich und stabil an der Macht hält.

    Muss Putin sich neu erfinden?

    Begehen wir nicht einen Fehler, wenn wir die aktuelle Tendenz der Trumpisierung auf die Zukunft hochrechnen? Selbst wenn man außer Acht lässt, dass die Faktoren, die diese Tendenz bedingt haben (das Verlangen nach Politikern neuen Typs, Migrationsströme, Terrorbedrohung), keineswegs verschwunden sind. Es ist ohne Zweifel ein Test für die Demokratie westlichen Typs, wobei ihre institutionellen Grundlagen stark genug sind, daher ist anzunehmen: Sie wird diese Regierenden al là Trump mittel- und langfristig verdauen.

    Kurzum, die Konturen der Außenwelt, in der sich die Putinsche Regierung fortan bewegt, beginnen gerade erst, sich abzuzeichnen. Bisher gibt es keine Klarheit darüber, worauf die Akzente des bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampfes für 2018 gesetzt werden und wie es mit der Suche nach neuen und alten Feinden aussieht, mit denen gekämpft werden muss, damit sich die Massen stabil um ihren Anführer scharen. Klar ist nur, dass Putin den Eliten mögliche Antworten auf die neuen außenpolitischen Herausforderungen aufzeigen muss, um sie davon zu überzeugen, dass er die Situation unter Kontrolle hat. Sonst könnte man ihn aus innen- wie außenpolitischen Gründen nach 2018 als „lahme Ente“ wahrnehmen. Und dann jemanden suchen, der eine klare und deutliche Antwort auf die neuen Herausforderungen formulieren kann.

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  • Sieg der Stille

    Sieg der Stille

    Die Wahl zur Staatsduma am vergangenen Sonntag hat der Partei Einiges Russland eine breite Machtbasis verschafft. Präsident Putin ist selbst ist nicht Mitglied, steht offiziell über jeder Partei. In der Praxis gilt Einiges Russland jedoch als Mittel zum Zweck, als Machtpartei, um dem obersten Mann im Kreml und seinen Direktiven auch über die Dumawahl Legitimität zu verschaffen. Bereits bei allen drei Parlamentswahlen zuvor hatte sich Einiges Russland die Mehrheit gesichert und geht aus der jetzigen Wahl mit 76 Prozent der Dumasitze so stark hervor wie nie.

    Aber heißt das auch tatsächlich, dass die Menschen ihr in allem wofür sie steht, zustimmen? Grigori Golossow, Politikwissenschaftler an der Europäischen Universität St. Petersburg, geht für das unabhängige Magazin slon der Frage nach, woraus sich die immense Stärke von Einiges Russland speist. Welche Rolle spielt die Verstrickung von politischer Elite und Staatsbediensteten? Und wieso ist die Wahlbeteiligung auf ein historisches Tief gefallen? Millionen sind zu Hause geblieben. Ob das ein souveräner Akt war, darüber fällt Golossow ein zweischneidiges Urteil.

    Falls an den Wahlergebnissen etwas überraschend ist, dann ihre filigrane Präzision – findet Grigori Golossow / Foto © Alexander Miridonow/Kommersant
    Falls an den Wahlergebnissen etwas überraschend ist, dann ihre filigrane Präzision – findet Grigori Golossow / Foto © Alexander Miridonow/Kommersant

    Am 18. September 2016 wurde die nächste – vielleicht sogar die letzte oder vorletzte – Seite  in dem traurigen Buch über das russische Demokratieexperiment geschrieben. Falls an den Ergebnissen irgendetwas überraschend ist, dann ihre filigrane Präzision. Nach leichtem Ab- und Aufrunden der Stimmanteile und unter Einbeziehung der Direktmandate führt die Stimmauszählung zu folgender prozentualer Zusammensetzung der neuen Staatsduma: 75 (Einiges Russland) – 10 (KPRF) – 10 (LDPR) – 5 (Gerechtes Russland). Die Präzision besteht nicht darin, dass die Zahlen den Prognosen entsprechen. Nicht einmal die allerloyalsten Soziologen haben der Partei Einiges Russland  54 Prozent zugedacht. Die Präzision liegt in der Magie der Zahlen, an der man erkennt, dass die russischen Machthaber dieses Mal ihre Aufgabe voll und ganz erfüllt haben.

    Der Mechanismus, durch den eine solch filigrane Präzision erreicht wird, ist wohlbekannt. In der Politikwissenschaft spricht man vom Klientelismus, der darin besteht, dass sowohl diejenigen zur Wahl gehen, die faktisch dazu verpflichtet sind, als auch diejenigen, für die es sich materiell lohnt. Zum Gesamtpaket gehört neben dem Erscheinen zur Wahl auch, dass die Menschen dazu angehalten werden, für eine bestimmte Partei zu stimmen.

    Im Großen und Ganzen gibt es da keinen großen Unterschied zwischen einem ungebildeten nicaraguanischen Bauern, der vor ein paar Jahrzehnten von einem Gutsherren zu den Wahlen gejagt wurde, und dem gut ausgebildeten russischen Staatsangestellten, der um die Wahlen einfach nicht drum herumkommt, Sie verstehen, so ist halt das Leben.

    Ein durchaus beträchtlicher – und ständig wachsender – Teil unserer Mitbürger geht tatsächlich zu den Wahlen, weil er keine Wahl hat. Er muss es tun. Das schließt nicht aus, dass es vielen sogar gelingt, sich davon zu überzeugen, dass das auch so sein muss, Ordnung ist und bleibt Ordnung, dafür gibt es wenigstens ein Gehalt und das bedeutet Stabilität und so weiter. Entsprechende Argumente liefert der Fernseher in Massen.

    Dem Ganzen liegt jedoch Nötigung zugrunde. Ohne die würden die Menschen einfach übers Wochenende auf die Datscha fahren, obwohl viele sich schämen würden, das zuzugeben. Psychologisch angenehmer ist es da, sich eine staatsbürgerliche Motivation zuzulegen.

    Jedoch erreicht dieser Mechanismus der Wählermobilisierung nicht jene ziemlich breiten Schichten des Wahlvolks, die sich immer noch die berühmte Autonomie gegenüber den Machthabern bewahrt. Denen gegenüber verfolgt die Regierung die Strategie, dass die Datscha ihre erste Option bleiben möge. Und wenn sie keine Datscha haben? Dann macht doch irgendetwas anderes Sinnloses, aber Angenehmes. Fangt von mir aus Pokémons, wenn ihr so cool und modern seid. Aber geht nicht zu den Wahlen. Das ist unnötig. Ja, unwichtig.

    Dem Ganzen liegt jedoch Nötigung zugrunde. Ohne die würden die Menschen einfach übers Wochenende auf die Datscha fahren

    Die russischen Sofa-Oppositionellen haben sich die Finger wundgetippt, um zu zeigen, dass man durch die Teilnahme an diesen fiktiven Wahlen das System nur legitimiere und was das alles bedeute und welche folgenschweren Probleme das mit sich bringe. Das war vergebene Liebesmüh.

    Der Informationsraum, in dem der russische Durchschnittswähler lebt, ist nicht mit Sozialen Netzwerken oder Internetmedien für coole Auskenner bestückt, sondern mit einem Fernseher. Der setzt die Akzente. Die Machthaber haben aus der Wahlkampagne von 2011 gelernt und diesmal alles dafür getan, um dem Wähler einen ganz einfachen Gedanken nahezubringen: Die Wahlen sind unwichtig.

    Dass hierfür das Vorziehen der Wahl von Dezember auf September entscheidend war, muss man nicht groß erklären. Wobei das noch nicht alles ist. Der Wahlkampf war dermaßen leise, dass ihn viele Wähler gar nicht bemerkt haben. Hinter dieser scheinbaren Stille verbarg sich jedoch fieberhafte Arbeit, die darauf abzielte, die Wahlen aus der täglichen Berichterstattung der wichtigsten Internetmedien zu verdrängen. Syrien und die Ukraine – das ist wichtig. Clinton und Trump – wichtig. Die EU-Krise – wichtig. Die Wahlen in Russland – wer bitteschön soll sich dafür interessieren? Und es hat sich auch niemand dafür interessiert. Weil Interesse nicht einfach so von selbst aufkommt, sondern durch die tägliche Berichterstattung der Medien gebildet wird.

    2011 hatten die Regierenden bei der Bevölkerung Interesse an den Wahlen geweckt. Und genau daran, an dieses von den Regierenden geweckte Interesse, knüpfte die Kampagne an, die Nawalny dann im Internet führte.

    Die politische Internetcommunity in Russland ist sehr klein, sowohl vom Umfang her als auch was die Zahl aktiver Nutzer angeht. Für sich genommen ist das Internet nicht fähig, das Verhalten der Massen zu beeinflussen. Der Fehler der Machthaber bestand 2011 also genau darin, ein Kommunikationsfenster zu öffnen zwischen diesem kleinen Weltlein und der Welt des Durchschnittswählers.

    Die Folge war, dass auf diese Art zwei virale Ideen in die Welt der Massen durchdrangen: „Partei der Gauner und Diebe“ und „Wähl eine andere Partei, egal welche!“ Das Ergebnis war eine nur logische Konsequenz.

    Diesen Fehler haben die russischen Machthaber nicht wiederholt. Regierungsfreundliche Kommentatoren sprechen oft vom Krim-Konsens als einem Faktor, der die Ergebnisse der September-Wahl mitbestimmt hat. Ich finde diese Überlegungen nicht überzeugend, da sich die breite gesellschaftliche Unterstützung für die Angliederung der Krim nicht zwingend in Stimmen für Einiges Russland niederschlagen musste. Da hätte man tatsächlich beinahe auch jede andere Partei wählen können.

    Syrien und die Ukraine – das ist wichtig. Clinton und Trump – wichtig. Die EU-Krise – wichtig. Die Wahlen in Russland – wer bitteschön soll sich dafür interessieren?

    Eher würde ich in diesem Zusammenhang von einer Krim-Firewall sprechen. Mit der im Vorfeld der Wahlen festgelegten medialen Konzentration auf die Außenpolitik (und alle außenpolitischen Probleme Russlands ergeben sich ja selbstverständlich aus der Angliederung der Krim) ist es den Machthabern gelungen, das oppositionelle politische Internet wirksam vom dominierenden Informationsraum des Landes zu isolieren.

    In den Sozialen Netzwerken konnte man über Sinn und Zweck der Teilnahme an den Wahlen diskutieren, soviel man wollte, und sich über Korruption und die Ineffektivität der Regierung wütend echauffieren. Aber echtes Gewicht bekamen diese Themen nicht. Sie blieben ein winziges Segment, nicht nur im Massenbewusstsein, sondern sogar im Internet.

    Am Ende sind die Wähler, die etwas an dem uns nun vorliegenden Ergebnis hätten ändern können, zu Hause geblieben. Und die Wahlbeteiligung? Ja, sie ist, wie Putin anmerkte, im Normbereich, auch nach europäischen Maßstäben.

    Allerdings nur nach denen Osteuropas – das sollte man hier noch ergänzen. Denn dort sind die Parteien sehr schwach und nicht wirklich in der Lage, den Wähler zum Gang an die Urne zu bewegen, und auch der Staat hat keine Mittel, um sie zu mobilisieren.

    In Russland, seien wir ehrlich, sieht es mit den Parteien und ihrem Wählerbezug kaum anders aus, aber dafür funktioniert hier der Klientelismus immer besser.

    In vielen Regionen im Nordkaukasus, in der Wolgaregion und in Sibirien hat die Praxis gezeigt, dass es nichts nützt, den Gouverneuren immer wieder vorzubeten, dass Wahlfälschungen bestraft werden. Die reale Wahlbeteiligung wird kurzerhand ergänzt durch Wähler, die lediglich in den elektronischen Protokollen auftauchen. Aber Zahlen sind Zahlen.

    Es gibt eine ständig wiederkehrende Metapher in den Texten derer, die sich gegen eine Teilnahme an fiktiven Wahlen aussprechen: „Mit Betrügern setze ich mich nicht an einen Spieltisch.“ Sie beruht auf der Annahme, dass man sich dem Spiel mit Falschspielern entziehen kann. Aber das ist nicht immer so und was die Wahlen angeht, ganz sicher nicht. Du spielst immer mit. Und wenn du das Gefühl hast, dass du es nicht tust, dann nur deswegen, weil du die Regeln befolgst, die dir der Falschspieler aufzwingt, und keinen Deut von ihnen abweichst. Weil du, wenn er plötzlich deine Zehn mit einer Sieben übertrumpft, nicht reagierst. Gewinnen wirst du sowieso nicht: Er ist ja ein Falschspieler. Du könntest ihm zwar das Leben schwermachen – doch diesmal ging das leider nicht.


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Die verlorenen Siege

    Die verlorenen Siege

    Olympische Spiele in Rio mit oder ohne Russland – darüber entscheidet das Internationale Olympische Komitee (IOC) noch in diesen Tagen. Erst am Montag hatte die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) eine ausführliche Untersuchung über die russischen Doping-Verstöße vorgelegt. Chefermittler McLaren weist darin unter anderem nach, dass bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 auf staatliche Anordnung hin manipuliert wurde. Russland hatte damals den Medaillenspiegel angeführt.

    Bereits Ende Juni waren die russischen Leichtathleten wegen Dopings für Rio gesperrt worden. Das IOC hatte die Sperre zunächst für nachweislich saubere Sportler gelockert. Schon damals gab es kritische Stimmen, die Vorwürfe gegen die russischen Sportler seien politisch motiviert, Russland würde stärker bestraft als andere Länder, wie etwa China (dekoder bildete die Debatte darüber ab).

    Präsident Wladimir Putin jedoch kündigte noch am Montag die Kooperation Russlands an. Er hat inzwischen zahlreiche Verantwortliche, die im McLaren-Report namentlich genannt sind, entlassen. Sportminister Mutko ist allerdings weiterhin im Amt.

    Viele Stimmen in Russland sehen die Schuld bei Funktionären und ehrliche Sportler als die eigentlich Leidtragenden des Skandals.

    Sport und Medaillen sind oft eng mit dem Selbstverständnis des Staates und dem Selbstbild der Gesellschaft verknüpft: Deswegen betrachtet der Schriftsteller Dmitry Glukhovsky in seinem vielbeachteten Artikel auf dem unabhängigen Portal snob.ru zwar ebenfalls die Funktionäre als die Hauptschuldigen – möchte aber auch weder Fans noch Sportler so leicht aus ihrer Verantwortung entlassen:

    Ich erinnere mich an die allgemeine Stimmung kurz vor den Olympischen Spielen in Sotschi: Niemand glaubte an den Sieg unseres Teams. Diskutiert wurden nur die massiven Veruntreuungen bei den olympischen Bauprojekten, die explodierenden Kosten und verpassten Fristen. Es schien, als wäre diese Klauerei überhaupt der einzige Grund, die Spiele in Russland zu veranstalten – wie auch alles andere, wie schon immer.

    Der Sieg des russischen Teams, der erste Platz im Gesamt-Medaillenspiegel – das war ein wirkliches Wunder. Nach einer Reihe von Niederlagen hatten wir uns schon auf eine erneute Schande eingestellt, das ganze Volk. Wir hatten uns darauf eingestellt, beschämt Witze zu erzählen, uns vor aller Öffentlichkeit selbst zu kasteien. Dennoch hofften wir – ganz leise, jeder für sich, damit man nicht ausgelacht wird.

    Wir wollten unglaublich gerne stolz sein auf unsere Heimat

    Und erst als unsere Jungs und Mädels den ersten Platz belegten, brach das durch. Schließlich war das der erste Sieg des neuen Russlands, der erste große Sieg seit Jahrzehnten.

    Und wir – erinnert ihr euch? – verspürten damals einen heftigen, aufrichtigen Stolz auf unser Land. Niemand blieb außen vor, sogar die nörgelnde liberale Intelligenzija. Wir wollten eben alle unglaublich gern stolz sein auf unsere Heimat, aber die Staatsmacht zwang uns jahrzehntelang dazu, nur Verlegenheit und Scham zu empfinden.

    Das war ein Glücksgefühl: Während wir die Abschluss-Zeremonie der Olympischen Spiele schauten, fühlten wir Russländer uns – unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit – als eine geeinte große Nation, die diesen Triumph verdient hatte. Und wir waren glücklich darüber, dass wir uns wieder auf das Welt-Podest erheben, dass wir friedlich hierher zurückkommen, von allen als Sieger anerkannt, ganz ohne Zwang.

    Diesen Sieg haben wir uns nicht verdient

    Wir mussten damals keine Panzer durch die Ukraine rollen lassen, mussten den Westen nicht mit Jagdbombern ängstigen, erinnert Ihr euch? Uns genügte der Sieg im Sport, uns genügte das Symbol. Wir sehnten uns so sehr nach Anerkennung, und so leidenschaftlich wollten wir uns daran erinnern, wie groß wir einmal waren! Das war ein Rausch.

    Und jetzt stellt sich plötzlich raus: Diesen Sieg haben wir uns nicht verdient. Unsere Sportler haben gewonnen, weil man sie mit Doping vollgepumpt hatte. Das war Mauschelei, Trickserei, eine weitere Lüge. Unser Staat – ganze Ministerien und Geheimdienste – haben geschummelt und gefälscht, geblendet und gelogen, um die ganze Welt und uns alle zu betrügen. Sie haben diesen Sieg erschlichen, haben wie die Gauner sowohl den anderen Länder als auch uns allen einen Bären aufgebunden – und wofür? Für wen? Uns zuliebe?

    Eine Fälschung, ein Potemkinsches Dorf wie unsere Demokratie

    Der Triumph von Sotschi ist offensichtlich genau so eine erniedrigende Fälschung, genau so eine KGB-Spezialoperation wie die Medwedewsche Modernisierung, wie unser Silicon Valley in Skolkowo, wie unsere Demokratie, wie unsere Wiedergeburt aus der Asche. Er hat sich als ein eindimensionales Potemkinsches Dorf entpuppt, als das Sobjaninsche europäische Moskau. Als eine gemalte Feuerstelle, die weder leuchtet noch wärmt; und mitten in die hat man uns mit unserer langen Lügennase hineingestoßen.

    Wir wollten uns einfach nur daran erinnern, wie sich das anfühlt – stolz zu sein auf das eigene Land. Aber sie haben uns mit diesem ergaunerten Sieg für dumm verkauft und dazu gezwungen, an eine Weltverschwörung gegen uns zu glauben. Sie verdrehten unsere Gefühle und beschmierten sie mit Teer und Scheiße, entstellten sie – und hetzten uns auf unsere Brüder. Wir wollten ja gar nicht gegen die Ukrainer kämpfen, wir wollten sie nicht hassen, wir wollten den Westen nicht ständig verdächtigen und ihn fürchten, erinnert Ihr euch? Wir wollten einfach nur, dass man uns endlich als gleichwertig betrachtet. Wir wollten keine Angst, sondern Anerkennung.

    Wir glauben die Lügen, weil das einfacher ist

    Jetzt verlieren wir alles. Der Betrüger wurde in flagranti ertappt. Die Medaillen reißen sie uns vom Hals runter. Man zeigt mit dem Finger auf uns und lacht. Wir träumten von Anerkennung und bekommen Schande.

    Um die Lüge zu verdecken, werden sie uns noch mehr belügen. Auf allen Kanälen werden sie uns wieder sagen, dass das eine Verschwörung sei, Geopolitik, dass versucht werde die Großmacht, die sich von den Knien erhebt, auszurotten, zu zermürben, sie bluten zu lassen. Und wir glauben diese Lügen, weil das einfacher ist und wir anders nicht können.

    Und eben unser störrischer, kompromissloser Unwille die Wahrheit zu hören erlaubt uns keinen Neuanfang. Wir können nicht aus der Asche wiederauferstehen, wir sind ja auch nicht verbrannt, und ein verrotteter Phönix wird nicht wiedergeboren.

    Bis das geschieht, bleiben unsere Siege erschlichen und ergaunert. Aber wir werden laut herausbrüllen, dass wir an sie glauben, denn ein solches Russland braucht keine Liebe, sondern das laute Herausbrüllen, dass man es liebt.

    Das sind die Spiele, die wir alle verdient haben.

     

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  • Liberale in Russland

    Liberale in Russland

    Selbst Menschen, die sich als liberal verstehen, zögern in Russland oft, sich so zu bezeichnen und gehen dem Wort aus dem Weg – in der Absicht, keine unerwünschten Assoziationen hervorzurufen. Seit Lenins Zeiten belegte man mit dem Begriff einen besonderen Typus von Gegnern im Ausland: solche, die weder bourgeois genug waren, um sie als Feinde zu betrachten, und zugleich zu weit vom „Volk“ entfernt standen, um mit ihnen auch nur vorübergehende Bündnisse zu schließen. In der frühsowjetischen Zeit erlangte der Begriff „Liberaler“ seine besondere Bedeutung, die bis heute erhalten ist: ein „politischer Schwächling“.

    Bis zur Revolution im Jahr 1917 existierte noch keine negative Konnotation des Wortes (nicht zuletzt, weil es noch keine ausdrücklich liberalen politischen Kräfte gab). Wenngleich das Wort „Liberaler“ ein wenig fremd, unrussisch, importiert klang1 und durchaus in abwertenden Kontexten auftauchte2, war es doch mit seiner ursprünglichen gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Bedeutung noch eng verbunden.

    Die zunehmende Entfernung des Worts von seinen vorigen Bedeutungen, wie sie sich in der Sowjetzeit herausbildete, brachte eine paradoxe Situation mit sich: Im Laufe der 2000er Jahre verbreitete sich die Auffassung, Liberale seien „verantwortungslose Staatsgegner“, und vom Wort blieb eigentlich nur noch seine Verwendung als Beschimpfung übrig, für Menschen, die „unfähig sind, Dinge zu regeln“ und die „sich gegen den Staat wenden, weil sie zu nichts anderem in der Lage sind“.

    Liberalismus als westliche Krankheit

    Der einzige Fall, in dem eine politische Partei das Wort „liberal“ erfolgreich einsetzen konnte, ist die Liberal-Demokratische Partei der Sowjetunion (später – Russlands), die Wladimir Shirinowski im Jahr 1990 als „erste Oppositionspartei der Sowjetunion“ gründete – mit mutmaßlicher Unterstützung des KGB. Heute ist die LDPR eine radikal rechte Vereinigung, die mit eiserner Disziplin ihrem Gründer und ewigen Vorsitzenden ergeben ist. Beide Labels – „demokratisch“ und „liberal“ – verwendet die Partei in einem Sinne, der der geläufigen Bedeutung in Europa diametral entgegensteht.3

    Aus der sowjetischen politischen Sprache überlebte die Deutung des Begriffs des Liberalismus als westliche Krankheit politischer Schwäche, Schlampigkeit und Unfähigkeit, für seine Interessen einzustehen. Zugleich etablierte sich durch die LDPR die Vorstellung der „liberalen Demokratie“, die sich mit Shirinowskis demagogischer Rhetorik verband. Zusammengenommen wirkten diese beiden Einflüsse zerstörerisch auf den Begriff des Liberalismus: Das Wort kann heute beinahe alles bedeuten.

    Der Liberale wurde zum politischen Hipster

    Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen der Jahre 1999 bis 2016 wurde der Liberale in Russland zum politischen Hipster, der in der traditionell homophoben russischen Gesellschaft auch als „Liberast“ (Liberal + Päderast)  bezeichnet wird. Diese Bezeichnung reduziert das Konzept des Liberalismus auf eine plumpe Beschimpfung, die man gegen jedweden politischen Gegner einsetzen kann. Dadurch, dass der Begriff in die Nähe einer sexuellen Normabweichung rückte, wurde er als politisches Identifikationsmerkmal vollständig entwertet. Es ist daher kein Zufall, dass in den heutigen Diskussionen der beliebte Terminus „Pseudoliberalismus“ als Synonym für Liberalismus gebraucht wird.

    Drei Typen des Liberalen

    Die Verwendung des Begriffs in den unabhängigen Medien reflektiert zwar oft diese Schimpfwort-Eigenschaft, meistens wird „liberal“ hier aber im lexikalischen Sinne benutzt. Auch gibt es Stimmen, die den Begriff normativ fassen und ihn zum Beispiel analog zum Solidaritätsprinzip der westeuropäischen Gesellschaften begreifen. Daneben sind einzelne zaghafte Versuche anzutreffen, das Stigma positiv umzudeuten: Als ein sogenanntes Geusen–  beziehungsweise Trotzwort soll sich sowohl „liberal“ als auch „liberast“ von der diffamierenden Bedeutung lösen, wie es beispielsweise die US-Schwulenbewegung der 1970er und 1980er Jahre bei dem Begriff „homo“ vorgemacht hat.  

    Insgesamt wird das Wort in der modernen russischen Sprache aber vor allem für Personen und weniger für eine politische Orientierung gebraucht. Es gibt im Wesentlichen drei Typen, die verschiedene Facetten des Liberalismus im russischen Verständnis verkörpern. Da ist zunächst Boris Nemzow: Als „Liberast“ (oder politischer Liberaler) wurde er dargestellt als unbeholfener Kritiker der Staatsmacht, als schwacher Oppositioneller, der Freiheit predigt, aber unfähig ist, für sie zu kämpfen.

    Zweitens gibt es die so genannten Systemliberalen wie etwa Anatoli Tschubais, Andrej Illarionow oder Alexej Kudrin: Personen, die mit den Mächtigen in engem Kontakt stehen und maximale wirtschaftliche Freiheit fordern, doch dabei von der starken Hand des Staates abhängig sind.

    Drittens bezeichnet „Liberaler“ den angeblich käuflichen und zynischen westlichen Politikertypus, der vordergründig von Russland die Einhaltung der Menschenrechte verlangt, in Wahrheit aber bereits davon träumt, bei erster Gelegenheit einen persönlichen Vorteil aus einer politischen und wirtschaftlichen Öffnung (Liberalisierung) Russlands zu ziehen.

    Die Begriffsverwirrung um das Liberalismus-Konzept im russischen Sprachgebrauch zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass in russischen Universitäten der politische Liberalismus ausschließlich als zeitgenössisches europäisches Phänomen untersucht wird. Eine Behandlung des Begriffs im russischen Kontext findet – bezeichnenderweise – nicht statt.


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  • Der russische Frühling

    Der russische Frühling

    Ein Blick zurück auf die Protestbewegung, die nach den zweifelhaften Duma-Wahlen Ende 2011 die großen Städte erfasste: Hunderttausende von Menschen gingen mit der Forderung nach ehrlichen Wahlen und echter Demokratie auf die Straße. In seiner umfassenden Analyse untersucht Andrej Kolesnikow die Beweggründe für die Proteste, ordnet sie in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang ein und stellt die Frage: Wie kann es weitergehen?

    Vor drei Jahren [2011 – dek] begann in Russland eine Protestbewegung neuen Typs. Sie wird inzwischen allgemein die Bolotnaja-Bewegung genannt, benannt nach dem Bolotnaja-Platz in der Moskauer Innenstadt, auf dem die ersten großen Proteste stattfanden. Dieser Platz befindet sich – welch Ironie der Geschichte – direkt gegenüber vom Haus an der Uferstraße, auch bekannt als Geisterhaus der Stalinära.

    Als die friedlichen Proteste Fahrt aufnahmen, als die Staatsführung zunächst nicht wusste, ob und wie sie reagieren sollte, als es für einen Augenblick so schien, dass die Ethik der Freiheit einen Klebstoff bilden könnte, der das Volk wieder vereint, wurde auf den Versammlungen der Oppositionsführer und der Intelligenzija nur um eine Frage gestritten: Wie lange wird das Putin-Regime noch durchhalten? Es ist vielen noch im Gedächtnis, wie auf einer dieser Sitzungen die Literaturwissenschaftlerin Marietta Tschudakowa dem Ancien Régime noch zwei Jahre gab … Inzwischen sind drei Jahre vergangen, das ehemalige politische Schlachtfeld bietet einen trostlosen und hoffnungslosen Anblick, wie in den Jahren der Stagnation, als die Zeit „alt und lahm wurde“, der Protest sich fragmentierte und in die Privatwohnungen und Küchen zurückzog. Und das Regime scheint, wie schon damals vor 30 oder 40 Jahren, für die Ewigkeit gemacht.

    Nachholende Revolution

    Heute denkt man nur noch selten daran, aber einer der wichtigsten Gründe für die damaligen politischen Turbulenzen war der Verzicht Medwedews auf eine zweite Präsidentschaftskandidatur. Mit anderen Worten: Die Machtrochade vom September 2011, als verkündet wurde, dass Putin ins Präsidentenamt zurückkehren und Medwedew als eine Art Entschädigung für seine Zeit als Sesselwärmer den Posten des Premierministers erhalten würde. Dies bedeutete zugleich das Aus jeglicher Hoffnung auf Modernisierung.

    Die Rochade nährte damals Kritik und gab den Menschen Anlass zur Empörung. Den eigentlichen Sturm der Entrüstung aber entfesselten die offensichtlichen, dreisten und zynischen Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011. Am nächsten Tag wurden während einer Demonstration in Moskau über 300 Personen festgenommen. Am 10. Dezember versammelten sich auf dem Bolotnaja-Platz schon über 150.000 Menschen zu Protesten. Bei diesen Demonstrationen kann man mit Fug und Recht von einem ethisch motivierten Protest sprechen – genau deshalb kamen auf dem Bolotnaja Platz auch Menschen zusammen, die sich vorher nie besonderes für Politik interessiert hatten und die bis dahin mit Putin grundsätzlich sogar zufrieden waren.

    Diese ethische Basismotivation ist Jahrzehnte zuvor von der berühmten sowjetischen Dissidentin Larissa Bogoras beschrieben worden, im Zusammenhang mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei. Sie erklärte damals vor Gericht in ihrem Schlussplädoyer als Angeklagte: „Ich stand vor der Wahl zu protestieren oder zu schweigen. Hätte ich geschwiegen, hätte ich dadurch Vorgängen zugestimmt, denen ich unmöglich zustimmen konnte. Schweigen wäre für mich gleichbedeutend gewesen mit Lügen.“

    Doch neben der ethischen gab es auch – bewusst oder spontan – eine politische Motivation. Der Staat, der einer sozialen und politischen Modernisierung bedurfte, verkündete de facto offen, dass es keine Veränderungen von oben geben würde – der ruhmlose Abgang Medwedews und die gefälschten Wahlen dienten hierfür als Beweis. Die Gesellschaft, oder wenigstens ein wirksamer Teil von ihr, war in seiner Entwicklung dem Staat voraus. Und zeigte daher seinen Anspruch auf Veränderung.

    Der Staat seinerseits war nicht bereit, diese Ansprüche zu befriedigen, denn er verstand nicht, dass Revolutionen nicht auf Straßen und Plätzen stattfinden, sondern in den Köpfen der Menschen.

    Die Proteste der Jahre 2011 und 2012 waren ein (weil das Land nicht modernisiert, sondern immer mehr archaisiert wird, nicht wiederholbarer) Versuch, Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse von Politik und Wirtschaft zu vollenden, die während Gorbatschows Perestroika und Gaidars Reformen nicht zu Ende geführt worden waren. Der Philosoph Jürgen Habermas nennt solche Versuche, versäumte Entwicklungsschritte mit Verspätung, dann aber schlagartig zu vollziehen, „nachholende Revolutionen“. Die Farben- und Frühlingsrevolutionen der letzten Jahre fallen allesamt unter diesen Begriff, seien es nun die arabischen oder die russischen.

    Präsident nicht aller Russen

    Die Proteste auf dem Bolotnaja-Platz und die auf sie folgende reaktionäre Kehrtwende der Staatsführung nach den Präsidentschaftswahlen (der sogenannte Antifrühling 2012) haben das Modell des Präsidenten aller Russen endgültig begraben. Putin entschied sich, fortan nur noch die Interessen eines bestimmten Teils der Gesellschaft zu vertreten, aber nicht die aller Russen: Von der sich an demokratischen und markwirtschaftlichen Werten orientierenden Klasse fühlte er sich verraten. Und konnte ihnen die Proteste von 2011-2012 nicht verzeihen. Daher auch seine Besessenheit vom positiven Staatshaushalt: Erst der Überschuss im Budget erlaubt es ihm, sich die nötige Loyalität von Schlüsselfiguren des mittleren Machtgefüges zu erkaufen – und der ihm persönlich nahestehenden sozialen Schichten.

    Diese Schichten, die zahlenmäßig starke Klasse unterhalb der Mittelschicht, sind die Stütze des derzeitigen Systems. Mit ihren Vertretern hat Putin so etwas wie einen separaten Gesellschaftsvertrag geschlossen: Er bewahrt sie vor dem Abgleiten in tatsächliche Armut und verschont sie auch weitgehend in Hinblick auf Anforderungen an ihre ökonomische Leistungsfähigkeit. Als Gegenleistung legen sie gegenüber ihren äußeren Lebensumständen Gleichgültigkeit an den Tag und wählen ihn. (Nach Schätzungen der Wirtschaftsexpertin Tatjana Malewa macht die Klasse unterhalb der Mittelschicht 70 % der Bevölkerung aus, wobei 40 % von ihnen von Armut bedroht sind).

    Einen ähnlichen Fall beschrieb Karl Marx in seinem Achtzehnten Brumaire: „Bonaparte möchte als der patriarchalische Wohltäter aller Klassen erscheinen. Aber er kann keiner geben, ohne der andern zu nehmen.“

    Daraus ergibt sich das Modell einer künstlichen Spaltung der Gesellschaft in Nicht-Richtige und Richtige: Bolotnaja gegen Poklonnaja, die Fünfte Kolonne gegen die ehrlich arbeitende Bevölkerung, Nerze gegen Güterwaggons aus der Uralwagonsawod, das weiße Band gegen die St.-Georgs-Bänder

    Der Kreml fährt derzeit einen sehr harten Kurs gegenüber demjenigen Teil der Bevölkerung, der auf Veränderungen aus ist. Jegliche nicht staatlich abgesegnete Protesttätigkeit wird unterdrückt. Mit „seinem“ Teil der Bevölkerung spricht der Staat mit Hilfe des Budgets, das dank der Entwertung des Rubels erfolgreich weiter gefüllt wird. Und wenn der Staat Proteste befürchtet, dann von dem Teil der Bevölkerung, den er selbst als „seinen“ ansieht.

    Es gibt noch ein wichtiges Detail des Protestwinters 2011–2012 und dieses betrifft die Nationalisten. Ihr Traum, auf der Welle des gesellschaftlichen Protests in Richtung Macht zu reiten, ist nicht in Erfüllung gegangen. Allerdings haben sie es geschafft, der Reputation der Oppositionsbewegung und ihrem Koordinationsrat einigen Schaden zuzufügen. (Bei Alexander Werchowski, Forscher über russischen Nationalismus, heißt es: „Erstens waren die fremdenfeindlichen Losungen ziemlich wirkungslos und unpopulär innerhalb der Protestbewegung. Zweitens hielt die erdrückende Mehrheit der radikalen Nationalisten es nicht für möglich, mit Liberalen und Linken an gemeinsamen Protestmärschen teilzunehmen.“ Zitiert nach: Ethnopolitik föderaler Macht und Aktivierung des russischen Nationalismus, Pro et Contra, 18, S. 24). Neutralisiert wurden sie aber letztlich von den Regierenden selbst, die Patriotismus und Nationalismus in einen staatstragenden Mainstream verwandelt haben und so ein eindrückliches Zeichen setzten, wer denn hier der eigentliche Nationalist ist.

    All dies hat auch dazu beigetragen, dass die russische Bolotnaja-Bewegung sich insgesamt weniger radikalisiert hat als der ukrainische Maidan. 

    Evolution des Protests

    Die Bereitschaft der Bürger, aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen an Protesten teilzunehmen, hat inzwischen nahezu ein historisches Minimum erreicht. Die persönliche Bereitschaft an politischen Protesten teilzunehmen betrug im Oktober 2014 ganze 8 %, an wirtschaftlichen 12 %.

    Einerseits ist das nachvollziehbar: Eine Protestwelle kann nicht beliebig lange auf demselben hohen Niveau bleiben, und auch die harten Maßnahmen der Staatsmacht wirken ohne Zweifel einschüchternd. Nicht jeder geht gern freiwillig ins Gefängnis. Auch der Post-Krim-Triumph des Patriotismus hat die Protestbereitschaft merklich gedämpft. Außerdem zeigte sich, dass die „Furcht vor der Freiheit“, von der Erich Fromm in seinem gleichnamigen Werk von 1941 schreibt, im Vergleich zum Bürgerprotest viel mehr das Zeug zum Massenphänomen hat. Bei Fromm heißt es: „Indem man zum Bestandteil einer Macht wird, die man als unerschütterlich stark, ewig und bezaubernd empfindet, hat man auch Teil an ihrer Stärke und Herrlichkeit. Man liefert ihr sein Selbst aus […], verliert seine Integrität als Individuum und verzichtet auf seine Freiheit. Aber man gewinnt dafür eine neue Sicherheit und einen neuen Stolz durch Teilhabe an der Macht, in der man aufgeht.“

    Über die letzten Monate hat sich der Staat so sehr der Abwendung einer möglichen Farbrevolution gewidmet, dass er dabei andere, neu entstehende Protestformen vollkommen übersehen hat – beispielsweise die Proteste der Ärzte in Moskau, die sich letztlich als überaus radikal erweisen könnten. Ein anderes Protestpotenzial entsteht ausgerechnet in denjenigen sozialen Schichten, die der Kreml eigentlich als sich selbst nahestehend begreift und auf deren Loyalität er bisher stets setzen konnte. Ihr Widerstand würde sich dann eher aus sozialer denn aus ethischer Unzufriedenheit speisen, aber auch er könnte sich schließlich politisieren. Denn allmählich gewinnt die Bevölkerung ein Bewusstsein dafür, dass eine Verbindung besteht zwischen der staatlichen Politik einerseits (Angliederung der Krim, Gegensanktionen, Steuerpressing) und den sozialen Problemen (sinkender Lebensstandard, Inflation) auf der anderen Seite.

    Bolotnaja vs. Maidan

    Gründe dafür, dass die Protestbewegung in Russland nicht zu einem Machtwechsel geführt hat, gibt es mehrere. Zum ersten besitzt die Ukraine kein Öl. Damit fehlt ein wichtiger außenwirtschaftlicher Posten im Budget, und dem Staat bleibt weniger Spielraum, sich die Loyalität der Bevölkerung mit Hilfe von punktuellen Sozialleistungen zu erkaufen. Zweitens ist Russland im Gegensatz zur Ukraine nicht zweigeteilt, sondern besteht aus mehreren Russländern mit ihren jeweiligen Eigenheiten. Laut der Wirtschaftsgeographin Natalja Subarewitsch gibt es Russland ganze vier Mal: Sie unterscheidet das Land der Großstädte, das Land der mittleren Industriestädte, das Land der Dörfer und Kleinstädte sowie die Region Nordkaukaukasus und Südsibirien. Bereits von daher ist es für die russische Protestbewegung schwieriger, sich zu konsolidieren.

    Der dritte Grund besteht darin, dass – im Unterschied zum ukrainischen Maidan – die aggressivsten Bevölkerungsschichten sich den Bolotnaja-Protesten gar nicht angeschlossen haben. Das hat den Staat allerdings nicht davon abgehalten, Schauprozesse gegen vermeintliche Extremisten zu inszenieren, um das Bild von den „unverfrorenen Oppositionellen“ im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. (In insgesamt drei Gerichtsverfahren sind zwölf Personen zu Haftstrafen von 4,6 (Udalzow) bis 2,3 Jahren (Beloussow) verurteilt worden.)

    Zu guter Letzt hat die russische Staatspropagandamaschine alles darangesetzt, den ukrainischen Maidan als ein „faschistisches Lager“ darzustellen, welches er in Wirklichkeit nie war, obwohl dort genug Radikale teilnahmen. Die vom Staatsfernsehen verbreiteten Bilder und noch mehr die Kommentare zu ihnen haben viele in unserem Land dazu bewegt, auf Abstand zu der Protestbewegung zu gehen. Und die Parole „Krim nasch!“ hat auch ihren Teil zur Unterstützung der Machthaber beigetragen.

    Eine Revolution in Russland ist ein langwieriger Prozess, und dieser Prozess ist noch nicht zu Ende. Unser politisches Regime ist von Bonapartismus geprägt – einer „labilen Beständigkeit innerhalb einer langfristigen Instabilität“, wie die Historiker W. Mau und I. Starodubrowskaja es ausdrücken (Große Revolutionen: von Cromwell bis Putin, Moskau, 2010, S. 519–520). Der Dreifuß aus Präsident, Kirche, Armee wird vom Superkleber Krim zusammengehalten. Doch einen zweiter Kleber mit gleicher Bindekraft gibt es nicht. Dabei hat die Politik der Staatsführung uns jetzt schon in die Stagflation gelenkt und führt uns voller Zuversicht weiter in die Rezession. So werden die Bolotnaja-Proteste bestimmt nicht die letzte Herausforderung für die Machthaber gewesen sein.

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    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

    Seit inzwischen vier Monaten stehen in Moskau vier Basejumper unter Hausarrest. Sie waren am 20. August [2014 – dekoder] auf einen der Türme des Hochhauses am Kotelnitscheskaja-Ufer geklettert und von dort mit ihren Gleitschirmen abgesprungen. Am gleichen Tag – jedoch auf einem anderen Turm des gleichen Gebäudes – hat jemand den weithin sichtbaren Sowjetstern auf der Spitze des Turmaufbaus in den Farben der Ukrainischen Landesflagge angestrichen: gelb und blau. Dies führte zu einem gehörigen Skandal.

     

    Kaum waren die Basejumper in der Nähe des Gebäudes gelandet, wurden sie umgehend festgenommen. Binnen kürzester Zeit jedoch stellte sich heraus, dass nicht sie für die provokative Stern-Aktion verantwortlich waren, sondern ein ganz anderer Extremsportler: Ein ukrainischer Hochhauskletterer mit dem Spitznamen „Mustang“. Er veröffentlichte auf seiner facebook-Seite Fotos von seinem Kletterausflug, komplett mit Bildern, die ihn mit Pinsel und Farbeimer in der Hand zeigen. Zugleich entlastete er ausdrücklich die vier russischen Basejumper, von deren Anwesenheit auf dem Nebendach er überhaupt nichts mitbekommen hatte. Auch keines der bei Gericht angefertigten Gutachten hat irgendwelche Anhaltspunkte für eine Beteiligung der Russen am Vorfall mit dem Stern liefern können. Dennoch wurde die Anklage gegen die Basejumper nicht fallengelassen. 
    Und so warten die vier jungen Leute – Anna Lepeschkina, Alexej Schirokoshuchov, Alexander Pogrebow und Jewgenija Korotkowa – weiterhin auf ihre Verhandlung. Aufgrund der vom Gericht verfügten Einschränkungen können sie mit niemand kommunizieren ausser mit ihren Anwälten und den engsten Familienmitgliedern. Sie dürfen weder Internet noch Telefon benutzen, sie haben keine Möglichkeit zu arbeiten, zu studieren oder Sport zu treiben. Wie lange der Arrest sich noch hinziehen wird, weiss niemand. Am 17. November 2014 ist er um zwei Monate verlängert worden. So hat sich aufgrund eines zufälligen Zusammentreffens in schwindelnder Höhe das Leben der vier Sportler und ihrer Familien von einem Moment auf den anderen vollkommen verändert. Darüber, wie es sich anfühlt, wenn ein Familienmitglied zum Beschuldigten in einem sehr öffentlichkeitswirksamen Verfahren wird, befragten wir den Vater des Basejumpers Alexej Schirokoshuchov.

    Fotos von Georgij Sultanow / Yod
    Fotos von Georgij Sultanow / Yod


     
    Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb ihr Sohn immer noch unter Hausarrest steht?


    Ich habe einige Bekannte im Polizei- und Justizsystem. Nach Alexejs Festnahme habe ich sie um ihren Rat gebeten. Sie haben mir zu verstehen gegeben, dass der Ausgang des Verfahrens „ganz oben“ entschieden wird. Vor einigen Jahren hätte man eine solche Sache noch mit Geld oder einer anderen Gefälligkeit lösen können … Aber heute, wenn es eine Anweisung von oben gibt, hilft weder Geld noch das Gesetz. Man bekommt einen Menschen aus diesem Räderwerk nicht so einfach wieder heraus. Selbst dann nicht, wenn er vollkommen unschuldig ist. Der Kommissar, der das Verfahren leitet, hat es genau so auch Alexej gesagt: „Ich weiss ja, dass nicht du es warst, der den Stern angestrichen hat. Aber ich kann nicht zulassen, dass das Verfahren eingestellt wird.“ 
    Der Kommissar ist auf unserer Seite, ein sehr netter und gutwilliger Mensch, aber er hat eine Aufgabe bekommen, und er führt sie aus. Genauer, er kann sie eben nicht ausführen, denn das Verfahren gegen die Jumper löst sich sowieso vor aller Augen in Luft auf, es gibt ja keinerlei Indizien gegen Alexej. Deshalb wird dem Kommissar, wie er hat durchblicken lassen, wohl auch bald nichts anderes übrig bleiben als zu kündigen, beziehungsweise ihm wird gekündigt werden. Die Anwälte, die sich um Alexej und die anderen kümmern, haben ihm neulich schon tröstend auf die Schulter geklopft und ihm gesagt, sie könnten ihm dann vielleicht einen neuen Job bei einer Bürgerrechts-Organisation vermitteln. Mir tut dieser Kommissar leid – er ist eigentlich ein guter Kerl. Aber er arbeitet eben für das System, und zugleich ist er selbst dessen Opfer. Meistens sind die Leute von der Polizei und den anderen Staatsorganen ganz sympathisch, wenn man von Mensch zu Mensch mit ihnen redet. Aber im Dienst verwandeln sie sich in Wölfe. Als sie unsere Kinder festgenommen haben, gab es gleich ein sehr starkes Pressing. Im Revier wurde ihnen die Oberbekleidung weggenommen, sie haben kein Wasser bekommen, ihnen wurde nicht erlaubt, die Eltern anzurufen. Statt dessen hieß es: „Wir organisieren jetzt erst einmal die nötigen Indizien für euch.“ Klar, was damit gemeint war. Die Vernehmungsbeamten haben auch versucht, unsere Kinder untereinander in Streit zu bringen, damit sie gegeneinander aussagen. Erst nachdem Mustang, der ukrainische Kletterer, öffentlich bestätigt hat, dass er unsere Kinder gar nicht kennt, haben sie mit dem Pressing aufgehört.


    Was haben Sie nach Alexejs Festnahme als erstes getan?


    Ich habe von der Verhaftung meines Sohnes überhaupt erst aus dem Radio erfahren. Und davon, dass es einen Gerichtsprozess geben soll, auch nur von einem Mitarbeiter des FSB, der zusammen mit Alexej Basejumping macht. Weil Hausarrest nur an der offiziellen Meldeadresse möglich ist, wohnt Alexej derzeit in unserer alten Wohnung, die wir schon längst an jemand anders vermietet hatten. Diese Mieter haben wir, gleich als wir von dem Verfahren erfahren haben, bitten müssen, unverzüglich auszuziehen. Ja, man kann schon sagen: Wir haben sie vor die Tür gesetzt. Das ist nicht schön, natürlich, aber in solch einer Lage denkst du nur an eins: Wie kannst du es schaffen, dass dein Sohn nicht im Gefängnis landet? Wir haben den Leuten als Ausweichmöglichkeit sogar unsere eigene Wohnung angeboten, aber sie sind dann doch zu Bekannten umgezogen. 
    Jetzt sitzt Alexej den lieben langen Tag allein in seinen vier Wänden. Er hat mit niemandem Kontakt ausser mit den engsten Familienmitgliedern, seinem Anwalt, dem Ermittlungsbeamten und den Mitarbeitern des Strafvollzugs. Ich muss sagen, ich war seelisch darauf vorbereitet, dass seine Basejumping-Leidenschaft schlecht ausgehen könnte. Wir leben ja schon lange in dauernder Angst um Alexej. Ich habe ihm oft gesagt: „Eines Tages wird dich nach einem Sprung noch der Leichenwagen einsammeln, oder du sitzt im Rollstuhl, oder es geschieht irgendetwas Drittes – ich weiss nicht, was, aber etwas Schlechtes.“ Und so ist es gekommen.



    Erzählen Sie doch einmal, wie Alexej unter den Bedingungen des Hausarrestes lebt.


    Ich haben meinem Sohn eine gute Nähmaschine gekauft. Alexej näht ganze Tage lang Fallschirme und Gleitschirme, danach übergebe ich diese Erzeugnisse unseres „Häftlings“ an seine Freunde in der Freiheit. Alexej freut sich, wenn er hört, dass sein Material im Einsatz war. Er beklagt sich eigentlich nie – er ist sowieso eher ein verschlossener und schweigsamer Mensch. Aber ich sehe: Es geht ihm schlecht. Für Bücher oder Filme hat er nie eine besondere Leidenschaft gehabt, aber ohne Basejumping und seine Freunde kann er nicht leben. Einmal ist er nach einem Sprung schlecht gelandet, er hatte an beiden Füßen offene Brüche. Man konnte da von aussen bis auf den Knochen sehen. Ich dachte, nach solch einem Unfall hört er auf zu springen. Aber kaum konnte er wieder einigermaßen laufen, hat er weitergemacht. Alexej ist schon immer so gewesen. Er braucht zum Leben das ständige Adrenalin. Wenn er sich nicht bewegt und nicht an der frischen Luft ist, bekommt er Depressionen. 
    Es gibt eigentlich nur ein Gutes an dieser Situation – unsere Familie ist sehr zusammengerückt. Mein Sohn und ich haben uns schon lange nicht so häufig gesehen und so viel miteinander unterhalten wie jetzt. Der Arrest hat unsere Familie zusammengeschweisst. Das letzte Mal waren wir so eng verbunden nach der Geburt unserer jüngsten Tochter. Neujahr werden wir mit der ganzen Familie in der Wohnung feiern, in der Alexej jetzt lebt.


    Seit der Festnahme ihres Sohnes haben Sie viel mit der Polizei, den Gerichten, dem Strafvollzug zu tun, und Sie waren bei den Gerichtsverfahren anwesend. Hat das Ihre Einstellung zum Staat in irgendeiner Weise verändert?


    Ich habe mich schon früher immer bemüht, mich so weit wie möglich von unseren Staatsstrukturen fernzuhalten. Ich habe mich politisch nie besonders engagiert. Berufsmäßig bin ich selbständig, ich bin viel herumgereist. Ich würde mich zur Mittelklasse zählen, wenn sie, natürlich, als solche bei uns existiert. Ich habe vier Kinder: Die beiden älteren Mädchen leben ständig in Europa. Bezüglich des russischen Rechtssystems und der Willkür bei den Gerichten habe ich mir niemals irgendwelche Illusionen gemacht. Meine Hoffnung war, dass nie jemand von uns mit unserer Polizei oder unseren Gerichten überhaupt etwas zu tun haben muss.


     
    Wieviel Geld haben sie ausgegeben, um ihrem Sohn zu helfen?


    Die Hauptausgaben waren die für den Anwalt. Er wurde uns vom Vorsitzenden der Bürgerrechtsorganisation „Agora“, Pawel Tschikow, vermittelt. Ich war schon vorher ihm über Twitter verlinkt. Den ersten Anwalt, den Tschikow uns vorgeschlagen hat, haben wir abgelehnt: Er hatte vorher eine bekannte Regimegegnerin verteidigt, und wir konnten keinen Anwalt gebrauchen, der überall schon gleich in die Schublade eines Oppositionellen gesteckt wird. Unsere Kinder sind keine Oppositionellen, sie sind Extremsportler. Sie mischen sich nicht in die Politik ein, sie leben für ihre eigenen Interessen, in einer kleinen Gruppe von Gleichgesinnten. Und sie haben ein sehr gutes Verhältnis untereinander: Die anderen Basejumper aus dem Freundeskreis von Alexej haben mir zum Beispiel geholfen, Geld für seinen Verteidiger zusammenzubringen. Für die Dienste des Anwalts haben wir ungefähr 300.000 Rubel [damals etwa 8000 Euro] ausgegeben. Das ist für uns nicht übermäßig viel Geld. Wir haben alle feste Arbeit, und Alexej selbst hat auch viel gearbeitet vor seiner Festnahme. Er ist Ingenieur in einer Baufirma, ein Spezialist für Bauwerksplanung. Sein Arbeitgeber hält große Stücke auf ihn. Deshalb entlässt er ihn jetzt auch nicht. Er hält die Stelle frei, bis Alexej wieder zur Arbeit zurückkehren kann. 
     

    Was werden Sie machen, wenn die Basejumper zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden?


    Nun, ich werde wohl keine Meetings und Mahnwachen zur Verteidigung meines Sohns organisieren. Dabei – auch mich haben die Wahlfälschungen bei der Dumawahl von 2011 empört und ich war von Anfang an der Meinung, dass die Mitglieder von Pussy Riot nicht im Gefängnis sitzen sollten. Aber der Großteil der russischen Bevölkerung steht eben auf der Seite von Putin. In ihren Augen sind die Mitglieder und Sympathisanten der Protestbewegung nichts als Vaterlandsverräter, die Fünfte Kolonne oder einfach Verrückte. Ich will nicht, dass landesweit Fernsehsendungen ausgestrahlt werden, die mich mit einem Protestplakat in der Hand zeigen. Sollte der Prozess tatsächlich nach dem schlimmsten Szenario ablaufen, werde ich versuchen, die Frage auf juristischer Ebene zu entscheiden und Briefe an die verschiedensten Instanzen schreiben. Putin habe ich früher schon einmal geschrieben.


    Wie kam es denn dazu?


    Vor einiger Zeit bekam ich ständig Anrufe von einer Bank mit der Forderung, einen Kredit abzubezahlen. Die Sache ist, dass ich diesen Kredit überhaupt niemals aufgenommen hatte. Es war eine Art Erpressung. Alle meine Beschwerden über die Bankmitarbeiter blieben wirkungslos, die Belästigungen gingen einfach weiter. Und da habe ich eine Beschwerde an Putin geschrieben. Nach einiger Zeit kam auch tatsächlich eine Antwort. Man schrieb mir zurück, dass meine Beschwerde an die Bezirksstaatsanwaltschaft weitergeleitet worden sei – und die Anrufe hörten auf. Ich vermute, dass, wenn ein Brief an Putin geschrieben wird, die Präsidialverwaltung verpflichtet ist, mit ihm auch irgendetwas zu tun – man muss ja einen Bericht vorlegen können über die durchgeführten Maßnahmen. Wenigstens lesen müssen sie ihn ja. Auf wen kann man denn sonst noch hoffen?

    Auf die Presse, die Blogger, die öffentliche Meinung?

    Die Journalisten haben sich zu Anfang aktiv für uns interessiert, als unsere Kinder gerade festgenommen worden waren. Vor unserem Haus stand rund um die Uhr ein Wagen des Fernsehsenders NTW. Ein Freund von mir, der bei NTW arbeitet, hat mich aber gleich gewarnt, dass man diesem Sender besser keine Interviews geben sollte. Das Interesse der Journalisten liess dann schlagartig nach, als klar wurde, dass unsere Kinder mit der Sache überhaupt nichts zu tun hatten. 


    Dass sie unschuldig ein halbes Jahr unter Arrest zubringen müssen, ist also nicht interessant?


    Nein, inzwischen hat der Journalismus uns vergessen, die ganze Angelegenheit ist aus den Medien verschwunden.


    Gib es etwas, woraus Sie derzeit so etwas wie moralische Unterstützung beziehen?


    Ein wenig beruhigt mich der Gedanke, dass der Staatsanwalt und der Richter eines Tages auf langsamem Feuer in der Hölle köcheln werden. Aber im Ernst: Dass sie unsere Jungs und Mädchen immer noch nicht freigelassen haben, ist ohne Zweifel eine Ungerechtigkeit. Aber das Leben in unserem Land ist überhaupt ungerecht, und nicht nur in unserem Land. Ich habe mich daran gewöhnt und mache mir keine unnötigen Hoffnungen. Dennoch lässt mir natürlich die Frage keine Ruhe, wie es mit Alexej und den anderen weiter gehen soll. Allen ist inzwischen klar, dass die Basejumper an dem Tag nur zufällig auf dem gleichen Gebäude waren, und auch die Gerichtsexperten haben ihre Schuld in keiner Weise bestätigt. Aber sie werden nicht freigelassen. Statt dessen wird der Hausarrest wieder und wieder verlängert. Alle unsere Vorschläge, den Arrest in einen Freigang zu verwandeln, dass Alexej und die anderen sich also per Unterschrift verpflichten, die Stadt nicht zu verlassen, sind abgelehnt worden. Das Gericht sagt, es bestehe die Vermutung, dass sie dann weiter „gesetzwidrigen Aktivitäten nachgehen“ werden. Dabei ist keiner von ihnen in irgendeiner Weise zuvor auffällig geworden oder gar vorbestraft. Sie arbeiten alle oder studieren. Sie waren einfach nur durch Zufall zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber der Prozess geht weiter, und ein Ende ist derzeit absolut nicht abzusehen … 


    Am 10. September 2015 sind alle vier Basejumper vom Tagansker Bezirksgericht in Moskau freigesprochen worden, nachdem sie über ein Jahr unter Hausarrest zugebracht haben. Mediazona hat eine online-Reportage aus dem Gerichtssaal (auf Russisch). Die Anwälte der Angeklagten gehen allerdings davon aus, dass gegen den Freispruch von Seiten der Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt wird. [dek]

    update: Auf jetzt.de gibt es eine großartige Geschichte über hardcore-Skater, die mit den Basejumpern befreundet sind. Die Skater berichten dort auch vom Schicksal ihrer gleitschirmspringenden Freunde, wie es der Vater von Alexej in diesem Interview schildert.

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