Nach 145 Tagen und 20 Kilogramm Gewichtsverlust beendete der ukrainische Regisseur Oleg Senzow letzten Samstag seinen Hungerstreik. Damit entgeht er der angekündigten Zwangsernährung.
Die Fraktion der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament nominierte ihn gestern für den Sacharow-Preis, auch EU-Menschenrechtspreis genannt. In den Augen der EU-Abgeordneten und vieler russischer Oppositioneller hat Senzow viel erreicht. Durch seinen Streik bekam er eine massive internationale Unterstützung, auch viele Menschen in Russland protestierten für ihn. Sein Hungerstreik erinnerte viele an das Schicksal sowjetischer Dissidenten sowie an die Unnachgiebigkeit der sowjetischen Herrscher.
In einem offenen Brief erklärte Senzow am 5. Oktober das Ende seines Streiks. dekoder bringt die Übersetzung des Briefs sowie Ausschnitte aus staatsnahen und unabhängigen russischen Medien.
Vergangenen Freitag kündigte Oleg Senzow in einem handschriftlichen Brief das unfreiwillige Ende seines Hungerstreiks an. Die Novaya Gazeta hat den Brief veröffentlicht.
[bilingbox]Alle, die es noch interessiert! Aufgrund meines kritischen Gesundheitszustands und wegen pathologischer Veränderungen der inneren Organe ist geplant, in nächster Zeit mit meiner Zwangsernährung zu beginnen. Meine Meinung zählt an dieser Stelle nicht. Ich sei angeblich nicht mehr imstande, meinen Gesundheitszustand und die ihm drohende Gefahr adäquat einzuschätzen. Die Zwangsernährung wird im Rahmen von intensivmedizinischen Maßnahmen zur Rettung des Lebens des Patienten durchgeführt. Unter diesen Umständen bin ich gezwungen, meinen Hungerstreik am morgigen Tag, dem 6. Oktober 2018, zu beenden. 145 Tage Kampf, 20 Kilogramm Gewichtsverlust, plus ein angeknackster Organismus, aber das Ziel ist nicht erreicht. Ich danke allen, die mich unterstützt haben und entschuldige mich bei denen, die ich enttäuscht habe …
Ruhm der Ukraine!
Oleg Senzow, 5.10.18
~~~Всем, кому это еще интересно! В связи с критическим состоянием моего здоровья, а также начавшимися патологическими изменениями во внутренних органах, в самое ближайшее время ко мне запланировано применение принудительного питания. Мое мнение при этом уже не учитывается. Якобы я уже не в состоянии адекватно оценивать уровень здоровья и опасности ему грозящей. Насильственное кормление будет проводиться в рамках реанимационных мероприятий по спасению жизни пациента. В данных условиях я вынужден прекратить свою голодовку с завтрашнего дня, то есть с 6.10.18. 145 дней борьбы, минус 20 кг веса, плюс надорванный организм, но цель так и не достигнута. Я благодарен всем, кто поддерживал меня, и прошу прощения у тех, кого я подвел…
Das Massenblatt Moskowski Komsomolezbefragt gleich zwei „ukrainische Politologen“ und suggeriert damit womöglich, dass auch Ukrainer kritisch gegenüber Senzow sein können. Rostislaw Ischtschenko ist einer von ihnen, seit der Ukraine-Krise lebt er in Russland und tritt hier oft als Experte in staatsnahen Medien auf.
[bilingbox]Wenn einer ein halbes Jahr lang sagt, dass er hungert, dann wirkt es schlicht lächerlich. Man hätte den Hungerstreik schon längst beenden sollen, weil Menschen schon viel früher daran sterben. Senzow musste irgendwie aus diesem Zustand rauskommen – bitte sehr, jetzt ist er raus. Führt man sich vor Augen, dass er sogar diese rein formale Aktion beendet hat, dann glaubt er nicht daran, dass sich an seiner Situation etwas ändern wird. Zumindest sitzt er nicht lebenslänglich ein, früher oder später kommt Senzow raus. Außerdem kann er mit einer vorzeitigen Entlassung rechnen, wenn er sich denn entsprechend verhält. Er muss seine Schuld eingestehen und dafür büßen. Aber mit dieser Tat hat der Regisseur gezeigt, dass er seine Situation nicht ändern will. ~~~Если человек полгода говорит о том, что он голодает, то от этого становится уже просто смешно. Голодовку давно нужно было прекращать, потому что даже за более короткий срок люди умирают. Сенцову нужно было как-то выходить из этого состояния — вот он и вышел. Судя по тому, что он прекратил даже эту чисто формальную акцию, он не рассчитывает на изменения в своем положении. В любом случае у него не пожизненное заключение, и рано или поздно Сенцов выйдет. Кроме того, он может рассчитывать на досрочное освобождение, если будет вести себя соответствующим образом. Он должен принять свою вину и раскаяться. Но этим поступком режиссер показал, что менять свое положение не собирается[/bilingbox]
erschienen am 5. Oktober 2018
Iswestija: Ergebnis peinlich genauer Arbeit
In der staatsnahen Iswestijastellt der stellvertretende Direktor des FSIN Waleri Maximenko den beendeten Hungerstreik als Verdienst seiner Behörde dar.
[bilingbox]Das Ende des Hungerstreiks ist in diesem speziellen Fall das Ergebnis bedachtsamer und peinlich genauer Arbeit unserer Mitarbeiter. Zu sagen, die Entscheidung wäre ad hoc getroffen worden, ist falsch. Der behördenübergreifende Föderale Strafvollzugsdienst FSIN, unter dessen Beobachtung sich Senzow befand, überwachte seinen Gesundheitszustand, wählte die richtigen Portionen spezieller Mixturen und Pulver. […] Sollte die Verweigerung der Nahrungsaufnahme weitergehen, würde aus Senzow womöglich nicht einmal nur Gemüse, sondern gar eine Pflanze. Die Androhung von Zwangsernährung – wie kann man denn bitteschön den Beginn der Behandlung eines Kranken als Bedrohung bezeichnen? In der aktuellen Situation wurde Senzow gesagt, dass man um sein Leben und seine Gesundheit kämpfen und nicht zulassen werde, dass er stirbt. Der Rest blieb ihm freigestellt. […] Für uns ist nicht wichtig, nach welchem Paragraphen und für welches Verbrechen ein Gefangener seine Strafe verbüßt. Wir kümmern uns um eines jeden Leben und Gesundheit. Unsere Aufgabe ist, dass der Mensch nach Ablauf seiner Haftzeit und Besserungsmaßnahmen gesund zu seinen Angehörigen zurückkehren kann. ~~~Окончание голодовки в данном случае — это результат тщательной и кропотливой работы наших сотрудников. Нельзя сказать, что это произошло в один момент, нет. Сотрудники медучреждений ФСИН, у которых наблюдался Сенцов, следили за его здоровьем, подбирали правильный рацион на основании специальных смесей и порошков. […] Eсли бы отказ от еды продолжился, то Сенцов мог стать не просто «овощем», а даже «растением». А угрозы принудительного питания — ну как можно называть угрозой введение в курс лечения больного? В данном случае Сенцову сказали, что за его жизнь и здоровье будут бороться и умереть не дадут. Остальное было на его усмотрение. […] Нам неважно, по какой статье и за какое преступление отбывает наказание заключенный. Мы одинаково заботимся о жизни и здоровье каждого. Наша задача, чтобы после отбывания срока и исправления человек вернулся к своим родным и близким здоровым.[/bilingbox]
erschienen am 8. Oktober 2018
Colta: Grabesschweigen
Auf dem unabhängigen Portal Coltaschreibt Maria Kuwschinowa darüber, warum es so schwierig ist, die richtigen Worte zum Ende des Hungerstreiks zu finden.
[bilingbox]Die Nachricht von dem erzwungenen Ende des Hungerstreiks von Oleg Senzow wurde beinahe mit Grabesschweigen aufgenommen. Es schwiegen nicht nur die, die über die Gesamtdauer von vier Monaten die Freilassung des ukrainischen Regisseurs und der ukrainischen Gefangenen gefordert hatten, sondern auch die, die qua Stellung oder aufgrund ihrer Überzeugung Schadenfreude hätten zeigen müssen. Das liegt offensichtlich nicht an Gleichgültigkeit. Es liegt an der Unmöglichkeit, die Situation mit den zur Verfügung stehenden Sprachschablonen zu beschreiben. Freude, dass „er sich fürs Leben entschieden hat”, will nicht aufkommen, weil Senzow unter Androhung von Zwangsernährung nichts entschieden hat. Ärger, dass „er aufgegeben hat”, ist auch fehl am Platz, weil die Dauer und Intensität des Kampfes, die Menge der daran beteiligten Menschen, der Schaden, der dem Organismus zugefügt wurde, und auch die an die Oberfläche getretenen Fragen bezüglich Krim und Donbass es nicht erlauben, den Hungerstreik schlagartig zu entwerten. ~~~Новость о вынужденном окончании голодовки Олега Сенцова была встречена почти гробовым молчанием. Молчали не только те, кто на протяжении всех четырех месяцев требовал освободить украинского режиссера и отпустить украинских пленников, но и те, кому по должности или по убеждениям в этот момент полагалось бы злорадствовать. Дело, очевидно, не в безразличии. Дело в невозможности описать ситуацию при помощи набора удобных штампов, […]
Радость — «он выбрал жизнь» — не годится, потому что под угрозой принудительного кормления Сенцов ничего не выбирал. Досада — «он сдался» — не годится тоже, потому что продолжительность и интенсивность борьбы, количество вовлеченных в нее людей, урон, нанесенный организму, а также поднятые на поверхность вопросы о Крыме и Донбассе не позволяют одномоментно обесценить голодовку.[/bilingbox]
Pussy Riot-Aktivist Pjotr Wersilow war einem internationalen Publikum unlängst beim Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft aufgefallen. Dort stürmte er das Spielfeld zusammen mit weiteren Aktivistinnen von Pussy Riot – „der Milizionär kommt ins Spiel” nannte sich die Aktion, mit der sie auf Allmacht und Willkür der russischen Polizei hinweisen wollten.
Am 11. September waren bei Wersilow plötzlich Sehstörungen und andere Symptome aufgetreten, nachdem er den ganzen Tag im Gericht in Moskau verbracht hatte, wo ein Urteil über die beiden Pussy Riot-Aktivistinnen Nika Nikulschina und Diana Dedenko gefällt wurde. Als er schließlich in der Berliner Charité behandelt wurde, sprachen auch die Berliner Ärzte von einer „hohen Plausibilität“ dafür, dass Wersilow vergiftet wurde.
Inzwischen ist Wersilow aus dem Krankenhaus entlassen, hält sich aber weiter in Berlin auf. Im Interview mit Iwan Kolpakow, Chefredakteur von Meduza, erklärt er, wen er hinter dem Giftanschlag vermutet. Und weshalb er den Grund dafür nicht in der Aktion beim WM-Endspiel, sondern bei Recherchen in der Zentralafrikanischen Republik sieht. Dort waren Ende Juli drei russische Journalisten unter ungeklärten Umständen ermordet worden. Sie hatten für das Online-Medium ZUR des Oligarchen Michail Chodorkowski an einem Film über die russische Söldner-Einheit Wagner gearbeitet. Diese Privatarmee wird Jewgeni Prigoshin zugeordnet – genauso wie die Nachrichtengentur RIA FAN. Über deren Mitarbeiter hatten die drei Ermordeten den Fixer Martin gefunden, berichtet Wersilow.
Treffen in einer Berliner Kneipe – Iwan Kolpakow, Pjotr Wersilow und Meduza-Herausgeberin Galina Timtschenko / Foto: privat
Meduza: Wie geht es dir? Pjotr Wersilow: Im Vergleich zur letzten Woche fühle ich mich insgesamt sehr gut.
Weißt du, wie und wann man dich vergiftet haben könnte? Die Ärzte haben mich zu diesem Tag, dem 11. September, sehr eingehend befragt. Natürlich ist das kompliziert: Ich habe eine Menge Cafés aufgezählt, wo wir Kaffee getrunken und Sandwichs gekauft haben. Damit kann man schwer arbeiten, weil es eine große Anzahl potentieller Punkte gibt [an denen man Wersilow hätte vergiften können – Meduza].
Und zu welcher Version neigst du? Es ist schwierig, irgendwelche Schlüsse zu ziehen, denn nach dem, was die Ärzte über diese rätselhafte Substanz gesagt haben … Sie sagen: Eine Eigenschaft der Substanz ist, dass die Wirkung sehr plötzlich einsetzt und sich dann weiter entfaltet. Wenn das stimmt, dann ist es irgendwann am 11. September passiert.
Was denkt eigentlich deine Mutter über das, was passiert ist? Meine Mutter kapiert ganz genau, dass das keine normale Lebensmittelvergiftung war, mit allem, was dann passierte. Meine Mutter glaubt nur nicht an Verschwörungstheorien.
Auf welcher Ebene wurde entschieden, dich zu vergiften, was meinst du? Ist für dich völlig klar, dass es die Machtelite war? Außer der russischen Machtelite kommt keiner in Frage. Welche Ebene? Mir scheint, es gibt auf jeden Fall einen gewissen Handlungsrahmen, innerhalb dessen sie tun können, was sie wollen. Und dieser Rahmen ist von höchster Ebene abgesegnet.
Außer der russischen Machtelite kommt keiner in Frage
Hast du jetzt gerade Angst um dein Leben? Nicht so richtig.
Wir sind in diesem Restaurant mit deinem deutschen Begleitschutz. Und du denkst trotzdem nicht: „Huch, vielleicht ist mein Leben tatsächlich in Gefahr?“ Nun, ich nehme das schon an. Aber wenn du dich in Russland bewusst entscheidest, so etwas zu machen, dann hast du keinen Anspruch darauf, zu sehr um diese Dinge besorgt zu sein. Sonst solltest du nicht in Russland leben und nicht solche Dinge tun.
Du sagtest bereits, du hast zwei Erklärungen [weshalb du vergiftet wurdest – dek]. Die eine hängt zusammen mit den Recherchen zur Zentralafrikanischen Republik, bei der anderen geht es um eine Rache für die Aktion Der Milizionär kommt ins Spiel. Zu welcher Version tendierst du eher? Natürlich ist die [erste – dek] Version mit dem GRU deutlich realistischer. Denn die Moskauer Polizei [die die Aktion von Pussy Riot beim WM-Finale nicht verhindern konnte – Meduza], das ist einfach nicht die richtige Organisation dafür. Die haben nicht das professionelle Rüstzeug für solche Sachen, das ist nicht deren Kompetenzbereich. Es ist äußerst zweifelhaft, dass die Moskauer Polizei eine solch heftige Geste wie diese Vergiftung hätte zulassen können.
Es ist äußerst zweifelhaft, dass die Moskauer Polizei eine solche Vergiftung hätte zulassen können
Lass uns über das Afrika-Thema sprechen. Das ist der rätselhafteste Teil der ganzen Geschichte. Frage Nummer eins: Stimmt es, dass du mit Rastorgujew in die Zentralafrikanische Republik fahren wolltest? Ja, das stimmt. Sascha [Rastorgujew] und ich haben in letzter Zeit an vielen unterschiedlichen Projekten gearbeitet, alten wie neuen. Er erzählte, dass sie diese Idee haben – [in die Zentralafrikanische Republik – Meduza] zu fahren. Ich hab quasi von mir aus angeboten mitzukommen. Es ist bekannt, auf wessen Kosten sie gefahren sind [die Reise wurde organisiert vom Kontrollzentrum für Investigatives ZUR, das Michail Chodorkowski gehört – Meduza]. Ich hatte von mir aus angeboten, mit ihnen aufzubrechen …
Warst du mit Rastorgujew befreundet? Ja. Sascha war ein ziemlich enger Freund. Wir kannten uns gut, über viele Jahre. Seit 2012 oder sogar 2011.
Woher kam die Idee mit der Zentralafrikanischen Republik? Von Rastorgujew.
Was hat er dir gesagt? Wir saßen im Café, er erzählte: Ich will ein Projekt machen, die Aktivitäten von Wagner untersuchen in der Zentralafrikanischen Republik, im Sudan und in Syrien.
Was hatte Rastorgujew davon? Ich versteh das nicht. Wagner, die Zentralafrikanische Republik – sowas ist doch überhaupt nicht seins. Sascha hatte viele solcher interessanten Geschichten. Er hat das alles völlig bewusst gemacht … Er hat erzählt, dass er vorhat, in den Sudan zu fahren, nach Syrien und so weiter. Obwohl er sowas nie zuvor gemacht hatte, war er voller Enthusiasmus und Interesse.
Glaubst du, er wollte einfach an einen Ort, wo die Hölle auf Erden ist? Nein, nicht in die Hölle auf Erden. Aber in seinem Kopf formte sich tatsächlich ein schöpferisches Narrativ, dass es interessant wäre, auch solches Material aufzunehmen und damit zu arbeiten. Auf Facebook und sonstwo gab es zahlreiche Kommentare wie: „Der arme Sascha wurde aus Geldnot gezwungen in die Zentralafrikanische Republik zu fahren, von Michail Borissowitsch Chodorkowski persönlich.“ Das ist völliger Käse. Sascha war tatsächlich dazu bereit, er war daran interessiert. Niemand hat ihn gezwungen zu fahren, er hat sich nicht aus irgendeiner schlimmen Geldnot heraus dazu bereit erklärt.
Niemand hat Sascha gezwungen zu fahren, er hat sich nicht aus irgendeiner Geldnot heraus dazu bereit erklärt
Mit den Finanzen war alles in Ordnung bei ihm? Vielleicht war nicht alles völlig in Ordnung, aber es war für ihn nicht der entscheidende Punkt, eindeutig.
Warum hast du entschieden, dass du auch dahin fahren musst? So albern das klingt, aber in erster Linie wollten wir dort über verschiedene zukünftige Projekte sprechen.
Das heißt, du hast dir das vorgestellt wie eine Urlaubsreise? Naja, nicht wie eine Urlaubsreise. Als ich hörte, was er erzählte, hab ich einfach gesagt, dass ich auch interessiert sei, mit ihnen zu fahren.
Was hat er erzählt? Was hat er gesagt? „Wir fahren dahin und machen …“ – machen was? „Wir machen einen Film über Wagner.“
Glaubst du auch, dass die Reise [von Rastorgujew, Dshemal und Radtschenko in die Zentralafrikanische Republik – Meduza] im Prinzip gut vorbereitet war? Nein, ich glaube, dass die Reise absolut greulich vorbereitet war. Das ist vor allem Saschas Schuld, nicht die der anderen. Denn er hat eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die die Leute vom ZUR nicht ausreichend hinterfragt haben. Und diese Entscheidungen haben sie wir alle wissen wohin geführt …
Was für Entscheidungen? Die Entscheidung, sich dieser Gestalt namens Martin anzuvertrauen, der wahrscheinlich auch gar nicht in Afrika war.
Dass sie über den RIA FAN-Mitarbeiter Romanowski einen Fixer gefunden haben, gehört deiner Meinung nach auch zu diesen Entscheidungen? Ja. Das ist absolut irre, denn eigentlich liegt es auch an Romanowski, dass die Jungs tot sind. So stellt sich mir das Bild dar.
Sie hätten sich nie dieser Gestalt namens Martin anvertrauen dürfen, der wahrscheinlich auch gar nicht in Afrika war
Du verknüpfst ihre Ermordung damit, dass sie ihren Fixer über eine Person gefunden haben, die bei RIA FAN arbeitet? Habe ich das richtig so akzentuiert? Ja, genau genau genau. Absolut.
Aber zu dem Zeitpunkt, als sie vorhatten zu fahren, wusstest du nicht, wo sie diesen Fixer aufgetrieben haben? Nein. Als wir begonnen hatten, unsere [WM-Pussy Riot-]Aktion vorzubereiten, habe ich ihre täglichen Angelegenheiten etwas weniger verfolgt. Es fehlte einfach die Zeit. Unsere Aktion hatte von Anfang an Priorität für mich.
Wenn man annimmt, dass ihr Fixer Martin derjenige war, der den Hinterhalt auf sie koordiniert hat, scheint es bedeutungslos, wie die Reise organisiert war. Ich stimme dir völlig zu, dass da auch zehn Jeeps mit Begleitschutz hätten sein können. Ob nun zehn Jeeps oder nur eine Person – das spielt überhaupt keine Rolle.
Gab es einen Moment, in dem du auch nur eine Sekunde in Erwägung gezogen hast, dass es einfach ein Raubüberfall war? In den ersten Tagen war tatsächlich alles unklar und die Version eines Raubüberfalls schien möglich. Aber dann haben mir verschiedene Leute, mit denen ich gesprochen habe, gesagt, dass ein Mord an einem Weißen in der Zentralafrikanischen Republik etwas komplett Ungewöhnliches ist. Das letzte Mal starb dort eine französische Journalistin bei einem zufälligen, aber realen kriegerischen Schusswechsel vor vier Jahren. Es gibt da keine Tradition, weiße Menschen umzubringen.
In allen Beiträgen, die auf den Tod von Sascha, Orchan und Kirill folgten, wurde behauptet, dass sie zunächst nach Syrien fahren wollten und dann irgendwann ihren Plan geändert und entschieden haben, mit der Zentralafrikanischen Republik zu beginnen, weil sich das mit Syrien nicht ergeben hat. Völlig richtig, genau. Sascha hat eine Freundin in Berlin, die Romanowski bei irgendeiner Krankheit geholfen hat. Also waren sie in Kontakt. Diese Freundin hat Sascha gesagt, dass es einen Typen gibt, der viel in Syrien, in der Zentralafrikanischen Republik und anderswo arbeitet: „Sprecht mal mit dem, vielleicht versteht ihr euch.“ Sascha ist mit Romanowski in Kontakt getreten. Und darauf bauen alle weiteren Glieder der Kette auf.
Sascha ist mit Romanowski von RIA FAN in Kontakt getreten. Darauf bauen alle weiteren Glieder der Kette auf
Glaubst du nicht, dass das trotz allem eine ziemlich merkwürdige Sache ist? Jemand möchte an einen schrecklichen Ort fahren und ihm ist es gleich, ob nach Syrien oder in die Zentralafrikanische Republik. Das erklärt sich durch gewisse psychologische Besonderheiten von Sascha. Er hat die Verantwortung übernommen für eine Reise genau in diesem Stil. Außerdem war da Orchan, dessen Vorstellungen darüber, wie man sich an Brennpunkten zu verhalten hat, bekannt sind. Diese explosive Mischung von Rastorgujew und Orchan hatte zweifellos ihren Einfluss auf alles.
Was dachtest du, als du erfahren hast, dass sie umgebracht wurden? Ich habe natürlich Schmerz über Sascha empfunden. Das ist ein ganzes Spektrum von persönlichen Gefühlen, denn Sascha war schließlich nicht einfach nur ein Freund. Wir hatten so viele unmittelbar gemeinsame kreative Pläne … Darum war das ein Schlag für mich.
Hattest du nicht das Gefühl, dass du dort hättest sein müssen? Dass du dich gedrückt hast? Doch, das Gefühl hatte ich.
Und Schuldgefühle? Dass du das hättest verhindern können? Ende Juni, als ich etwas hätte machen können, hatten sie noch überhaupt nichts fertig. Da konnte man noch nichts verbessern und herausfinden.
Was passierte nach den Morden in der Zentralafrikanischen Republik? Wir wurden entlassen, und ich habe dann genauestens recherchiert, was da passiert war – und wer welche Untersuchungen durchführen kann. Um zu verstehen, was da vor sich geht. Als klar wurde, dass nicht besonders viel unternommen wird, haben wir ein kleines Team zusammengestellt …
Hast du Mediazona [dessen Herausgeber Wersilow ist – dek] vorgeschlagen, es zu machen? Nein. Journalisten sind dort komplett schutzlos. Wir brauchten Leute, die die Region sehr gut kennen, dort viele Jahre waren und eine Vorstellung haben, wie man in solchen Angelegenheiten recherchiert.
Und du hast ein solches Team zusammengestellt? Ja. Rund vier Tage nach den Morden.
Hast du die Arbeit geleitet? Eher koordiniert. Die Aufgaben haben die Jungs [das von Wersilow koordinierte Rechercheteam – dek] selbst festgelegt. Wir hatten ein gemeinsames Ziel: alles zu sammeln, was auch nur die geringste Bedeutung für das Geschehene haben könnte. Jetzt haben wir in gewissem Sinne die erste Etappe der Recherchen hinter uns. Sie überlegen, in welche Richtung man gehen kann, um die zweite Etappe zu starten.
Stimmt es, dass du am Tag deiner Vergiftung den ersten Bericht erhalten hast, den dein Team zusammengestellt hat? Das war schon ein paar Tage vorher.
Hattet ihr beschlossen, ihn zu veröffentlichen? Das hängt mit der zweiten Etappe der Recherchen zusammen. Uns ist wichtig sicherzustellen, dass die Veröffentlichung unserer Ergebnisse der zweiten Etappe nicht schadet.
Was kannst du erzählen von dem, was im ersten Bericht steht? Der Bericht zieht einen völlig sicheren, in Beton gegossenen Schluss: Das war eine professionelle, auf sehr hohem Niveau organisierte Operation.
Als die Jungs angefangen haben, die Figur Martin eingehender zu untersuchen, kam heraus, dass sein Anrufregister aus dem inneren System des Zentralafrikanischen Mobilfunkbetreibers gelöscht worden war. Es gibt keine Spuren von ihm in der Stadt, wohin die Jungs auch fuhren.
Das war eine professionelle, auf sehr hohem Niveau organisierte Operation
Unsere Jungs wurden, wahrscheinlich, in der Nacht vom 30. auf den 31. Juli ermordet. Genau 20 Minuten, nachdem der Fall öffentlich erwähnt worden war, hat Martin aufgehört zu antworten. Darüber hinaus hat er alle Apps, alle Chats, in denen Nachrichten mit ihm ausgetauscht worden waren, gelöscht und ist komplett verschwunden. Seine digitale Spur wurde sehr sorgfältig gesäubert.
Sind neben Martin irgendwelche neuen Beteiligten aufgetaucht? Ja, es gibt einen Protagonisten, über den ich nicht sprechen kann. Er war wahrscheinlich der Koordinator zwischen Martin, dem Fahrer und allen anderen. Ein Afrikaner.
Glaubst du, dass das [die Ermordung der russischen Journalisten – dek] von der Zentralafrikanischen Regierung organisiert wurde? Die Regierung Zentralafrikas, das sind dankbare Welpen, die ganz glücklich darüber sind, dass Wladimir Wladimirowitsch zugestimmt hat, sich ein wenig mit ihrer Region zu beschäftigen. Es wäre verrückt anzunehmen, dass diese Regierung entscheiden könnte, wie mit russischen Journalisten zu verfahren ist, die irgendwas recherchieren. Das ist eine komplett unwahrscheinliche Version.
Es wäre verrückt anzunehmen, dass die Zentralafrikanische Regierung entscheiden könnte, wie mit russischen Journalisten zu verfahren ist
Das heißt, deiner Meinung nach wurde die Entscheidung in Russland getroffen? Ja.
Und wer hier könnte dies entschieden haben? Ich halte nichts davon, immer die höchste Ebene zu beschuldigen, aber so wie ich die Psychologie des Geschehens hierzulande verstehe, sind solche Dinge ohne die Zustimmung der ersten Person nicht wirklich zulässig. Oder zumindest unter Beachtung einer allgemeinen Linie.
Eine Stammtisch-Reaktion darauf ist: Weshalb sollten Journalisten in Zentralafrika ermordet werden, wenn das sofort die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was die Russen dort machen? Viele ähnliche Fälle – wie etwa der der Skripals – haben einen ziemlich demonstrativen Charakter. Wenn ihr das tut, tun wir jenes. Stellt euch darauf ein, dass ihr alle ermordet werdet.
Viele Fälle haben einen ziemlich demonstrativen Charakter: Wenn ihr das tut, tun wir jenes. Stellt euch darauf ein, dass ihr alle ermordet werdet
Das, was mit dir passiert ist, gehört für dich in diese Logik? Bei mir ist überhaupt nicht klar, was sie damit wollten. Aber, anscheinend, ja.
Und du glaubst, dass man dich umbringen wollte? Darüber würde ich am liebsten nicht sprechen. Glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass man mich umbringen wollte. Am ehesten, wenn man so darüber fantasiert, war das wohl ein Akt der Einschüchterung, oder so.
Hast du nach dem, was passiert ist, vor, in die Zentralafrikanische Republik zu reisen? Nach dem Vorfall haben wir sofort überlegt, ob eine [mögliche] Reise unsererseits, unsere Anwesenheit irgendeinen Nutzen haben könnte. Und haben dann entschieden, dass das nur zu einer höllischen Aufregung und einem seltsamem Hin und Her führen würde. Es würde nichts Konstruktives bei rauskommen. Die Aufgabe besteht darin, dass die Leute, die sowas professionell machen können, die Möglichkeit bekommen zu arbeiten.
Und wann wird euer Bericht über die Zentralafrikanische Republik veröffentlicht? Schwer zu sagen, wann der Moment gekommen sein wird, das seriös und öffentlichkeitswirksam zu tun. Wir müssen weiter graben.
Afrika ist einerseits ein Faß ohne Boden, andererseits nehmen die Leute dort die Ereignisse ganz anders auf; das könnte uns in die Hände spielen. Ich denke nicht, dass die Gruppe, die die Jungs ermordet hat, einfach so aus dem Tschad eingefallen und auf Kriegskamelen wieder in den Tschad zurückgaloppiert ist. Das sind wahrscheinliche Einheimische, die eine Verbindung zu irgendwelchen einheimischen Silowiki haben. Vielleicht sogar unter Kontrolle von Leuten von hier. Es gibt immer die Hoffnung, das mittels Recherchen noch Erkenntnisse darüber auftauchen, dass irgendwer ein Held Russlands ist.
Hast du vor nach Moskau zurückzukehren? Klar, auf jeden Fall.
Wann? Ich denke, in etwas mehr als einer Woche, irgendwie so. Vielleicht auch etwas später. Ist noch nicht klar.
Was machst du hauptsächlich? Das gleiche wie immer.
Allerlei Schandtaten? Tatsächlich würde ich wirklich sehr gerne irgendeinen Durchbruch bei den Recherchen zum Geschehen in Zentralafrika erreichen.
Am 5. Mai gingen russlandweit tausende Menschen auf die Straße, um gegen die bevorstehende vierte Amtszeit von Präsident Putin zu demonstrieren. Zu dem Protest aufgerufen hatte der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny unter dem Motto „Er ist nicht unser Zar!“. Konstantin Selin hat für Fontanka.ru die Demonstration in Sankt Petersburg mit seiner Kamera begleitet.
Der bekannte Street Art-Künstler Slawa PTRK hat ein Video seines Tanz-Flashmobs ins Netz gestellt. Die Aktion Fuck it! Let’s dance! ([im Original – dek] unter russische Zensur fallendes Synonym für „scheiß drauf“) fand auf dem zugefrorenen Wеrch-Issetski-Teich in Jekaterinburg statt. Der Film tauchte am 19. März [sic!] im Netz auf – dem Tag nach der Präsidentschaftswahl.
Wie der Künstler gegenüber Znak sagte, nahmen 100 Menschen an der Straßen-Aktion teil: 50 Paare, die Walzer tanzten. Als die Musik stoppte, bildeten sie aus der Vogelperspektive den Schriftzug ПОХУЙ ПЛЯШЕМ (Fuck it! Let’s dance!). Danach tanzten die Paare weiter.
Nach Angaben des Künstlers besteht der Sinn der Aktion darin, Optimismus in jeder Situation zu bewahren, was auch immer drumherum passiert. „Optimismus mit einer gesunden Portion Scheiß drauf-Haltung. Man muss sein Leben leben und sein Ding machen, es echt hammermäßig machen, und sich nicht den Kopf mit Politik und äußeren Problemen vollhauen. Sich nicht täglich an den Kopf fassen wegen der Meldungen im Newsfeed, sondern vorwärtsgehen und an sich selbst glauben. Wenn du etwas beeinflussen kannst – beeinflusse es. Wenn du die Ereignisse nicht beeinflussen kannst – sei’s drum. Kümmer dich nicht und walzere weiter“, erklärt der Autor.
Der Dreh des Projekts hat insgesamt drei Stunden gedauert. Am schwersten sei es gewesen, so der Künstler, eine derartige Masse von Menschen zu koordinieren. „Ich hatte die Punkte gekennzeichnet, wohin man sich stellen muss bei der Bildung des Schriftzugs, darum hat es geklappt. Obwohl einige Buchstaben leicht schief geworden sind. Darum haben der Regisseur und ich schließlich einen Untertitel in das Video eingefügt, damit auch wirklich klar ist, was da steht“, berichtet Slawa PTRK gegenüber Znak.
Slawa PTRK ist ein Street Art-Künstler aus Jekaterinburg, der schon mehr als sechs Jahre im öffentlichen Raum tätig ist. Seine Arbeit mit verschiedenen Techniken wie Stencil, Installation, Poster, Free Spray gibt ihm die Möglichkeit sich künstlerisch immer weiterzuentwickeln. Slawa PTRK ist vor einiger Zeit von Jekaterinburg nach Moskau gezogen, wo er als Künstler arbeitet. Vor Kurzem hat der bekannte Fernsehmoderator Andrej Malachow eines seiner Werke aus der Serie Die Einsamkeit erworben: ein Bügeleisen mit aufgemaltem Pionier.
Kaum bekleidet und teilweise in Latex mit SM-Anmutung, drangen im vergangenen Jahr selbsternannte „Sex-Jägerinnen“ ins Moskauer Wahlkampfbüro des Oppositionellen Alexej Nawalny ein. Eine lächerliche Geschichte, begleitet vom Sender Life, die man normalerweise gar nicht erwähnen würde. Doch über sie wurde Nawalnys Team vom Fond für Korruptionsbekämpfung (FBK) auf Nastya Rybka aufmerksam, die an der Aktion beteiligt war. Auf Rybkas öffentlich einsehbaren Instagram-Kanal erregten einige öffentlich einsehbare Fotos und Videos die Aufmerksamkeit der FBK-Mitarbeiter: Diese zeigen das Escort-Girl zusammen mit dem OligarchenOleg Deripaska auf dessen Yacht – in einem Video ist neben Deripaska auch der russische Vize-Premier Sergej Prichodko zu sehen, der laut Nawalny „wenig bekannt, aber sehr einflussreich ist”.
Am 8. Februar 2018 veröffentlichte Nawalny schließlich ein Enthüllungs-Video, das inzwischen mehr als 4 Millionen Aufrufe verzeichnet. Darin stellt Nawalny das auf dem Instagram-Kanal dokumentierte Treffen als ein fehlendes Puzzlestück im Rätselraten um russische Einflussnahme auf den US-amerikanischen Wahlkampf dar: Trumps Ex-Berater Paul Manafort und Deripaska waren geschäftlich verbunden. Im Instagram-Video von Nastya Rybka, die ursprünglich aus Belarus stammt, ist dabei auch eine Audiopassage, in der man jemanden sagen hört: „Wir haben schlechte Beziehungen zu Amerika. Warum? Dafür ist die Freundin von Sergej Eduardowitsch verantwortlich, Nuland heißt sie.” Nawalny ordnet die Stimme Deripaska zu, Sergej Eduardowitsch sind Vor- und Vatersname von Vize-Premier Prichodko, Victoria Nuland war unter Obama im US-Außenministerin zuständig für Europa und Eurasien.
Laut FBK-Recherchen fand das Treffen von Prichodko und Deripaska im August 2016 statt. Wie Nawalny ausführt, ist dies auch deswegen bemerkenswert, weil laut US-amerikanischen Medienberichten Trumps Ex-Berater Paul Manafort dem Oligarchen im Vormonat private Briefings zum Wahlkampf angeboten hatte. Prichodko ist demnach der missing link von Deripaska zu Putin.
Nicht mal zwei Tage nach der Veröffentlichung verbot ein Gericht in Ust-Labinsk, der Geburtsstadt Deripaskas im Süden Russlands, Nawalnys Film. Kurz darauf nahm die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor das Video und den Blogeintrag ins Register verbotener Internetseiten auf.
Bei so viel Aufsehen und Lärm um einen Film hat sich Oleg Kaschin auf Republic Gedanken über unterschiedliche Wahrnehmungsmuster gemacht – und stellt viele beunruhigende Fragen.
Nawalnys Recherchen über Sergej Prichodko auf der Yacht von Oleg Deripaska – das ist ein absolut westlicher Plot, europäisch oder amerikanisch. Da braucht es ein Happy-End: Der Staatsbeamte muss zurücktreten, der Milliardär meldet Konkurs an, der Oppositionelle kommt an die Macht. Das Russland von heute unterscheidet sich allerdings sehr vom Westen, wie man ihn aus dem Kino kennt.
Will man den Plot vom Staatsbeamten und dem Milliardär für unsere Lebenswirklichkeit adaptieren, dann müsste er ganz anders ablaufen. Bestechung heißt in unserer Tradition, dass man einem Amtsträger Geld bar in die Hand drückt; dann tauchen von irgendwoher Fahnder auf und durchleuchten das Geld und die Hand mit UV-Lampen. Das ist Bestechung, aber wenn jemand jemanden auf eine Yacht einlädt – für sowas wird man bei uns nicht verklagt.
Wessen Ruf kratzt das an?
Die Amoral im vorliegenden Plot ist auch keine wirkliche Amoral. Nun ja, ein Escort-Girl. Aber wessen Ruf kratzt das an? Die russische Vorstellung von Reichtum beinhaltet, dass ein reicher Mensch von allem viel hat, auch Frauen, er kann’s sich halt leisten. Bei staatlichen Amtsträgern ist das formal schwieriger, aber nur formal. Über praktisch jeden mehr oder weniger bekannten Staatsdiener weiß man, dass für sein Privatleben gilt, was in den sozialen Netzwerken als „es ist kompliziert“ bezeichnet wird: Es gibt eine vor langer Zeit verlassene Ehefrau, außerdem irgendein Mädchen, mit dem er überall hingeht, ohne es auch nur ein bisschen peinlich zu finden, und dann ist da noch, bildlich gesprochen, die Komitee-eigene Banja, die sie alle von Zeit zu Zeit besuchen, ebenfalls ohne es peinlich zu finden.
Das heißt: Wenn man den Plot für die russische Lebenswirklichkeit adaptiert, dann müsste man ihn dahingehend ändern, dass der Milliardär den Staatsbeamten nicht mit einem Ausflug auf einer Yacht besticht (wie das überhaupt klingt! Mit einem Ausflug bestochen! Mit frischer Luft bestochen!), sondern mit Bargeld, außerdem muss der Moment der Übergabe per Video gefilmt und das Geld mit Spezialfarbe behandelt worden sein.
Auch der Sex-Strang des Plots muss außerhalb etablierter Normen angesiedelt sein. Ideal wäre, wenn der Staatsbeamte gleich mit dem Milliardär schläft – Homosexualität ist bei uns zwar nicht ausgerottet, aber dennoch nicht gern gesehen – und wenn es schon nicht miteinander geht, dann muss man auf die Yacht irgendwelche Jünglinge einladen, am besten minderjährige. Dann kann man von einem Skandal sprechen.
Alle möglichen Zufälle
Nawalny zu verdächtigen, für den Kreml, den FSB oder für Putin persönlich zu arbeiten – das ist mies. Wenn eine statistisch signifikante Zahl von Bürgern an Zufall und Unvoreingenommenheit der Ermittlungen glaubt, wird es ganz von selbst eine Tatsache, und Verschwörungstheorie bleibt Verschwörungstheorie. Im russischen Plot gibt es keine Verschwörungstheorien, hier kann es generell alle möglichen Zufälle geben, denn der Glaube an den Zufall ist eine konstituierende Eigenschaft der Gesellschaft, die man keinesfalls ignorieren darf.
Sollen sich doch die paranoiden Zeitgenossen den Kopf zerbrechen, wer hier wen beauftragt hat. Prichodko Deripaska, Deripaska Prichodko oder Setschin alle beide. Wenn die Menschen glauben, dass niemand niemanden beauftragt hat, dann ist das auch so – in solchen Fällen ist der Glaube wichtiger als der Verdacht.
Eine echte Weltsensation
Wichtig ist auch, dass für einen Teil des Publikums ein westlicher Plot gar nicht adaptiert werden muss, weil es ein westliches Publikum ist und ihm all die Plot-Linien mit Staatsbeamten, Milliardären und Oppositionellen durchaus vertraut sind. Für dieses Publikum ist die Verbindung von Deripaska mit Prichodko das fehlende Glied in der Kette zwischen Donald Trump und Wladimir Putin (Paul Manafort, der Chef von Trumps Wahlkampfteam, hat für Deripaska gearbeitet, und ohne die Yacht war die Kette genau bei Deripaska abgerissen) – und das ist eine echte Weltsensation, die übrigens auch Moskau neue Möglichkeiten eröffnet, die Einmischung in den amerikanischen Wahlkampf zu rechtfertigen. Bei Bedarf kann man alles auf Prichodko abwälzen und ihn in Rente schicken und so zur Entspannung der internationalen Missstimmungen beitragen. Obwohl letzteres eher in der Phantastik anzusiedeln ist.
Das Verhalten des Escort-Girls, die auf der Yacht ein Video für Instagram gedreht hat, ist das unverständlichste an allem. Ihre öffentlichen Aktivitäten begannen ein halbes Jahr, bevor Nawalny sich für sie zu interessieren begann. Wer hat dem Mädchen ihre Sicherheit garantiert? Warum wurde ihr nicht gleich am Anfang ihrer Medienaktivität Einhalt geboten? Warum ist sie ins Wahlkampfbüro von Nawalny eingedrungen? Wenn sie die Situation in ihren Videobotschaften ins Absurde treibt, möchte sie Nawalny dann in die Hände spielen oder sein Drehbuch kaputtmachen?
Der Plot gerät aus den Fugen
Antworten darauf gibt es nicht, und dass sie fehlen, das ist eine entscheidende Tatsache, durch die der ganze Plot fast aus den Fugen gerät, völlig unabhängig davon, ob er für die russische Lebenswirklichkeit adaptiert ist oder nicht.
In ihrem Video lädt das Mädchen alle Protagonisten der Geschichte zu Pust goworjat (dt. „Lasst sie reden“) ein – einer apolitischen Show, die sich sämtlichen Boulevardthemen widmet. Das klingt unheilvoll, denn weder aktive Oligarchen und erst recht keine amtierenden Vize-Premiers nehmen an solchen Sendungen teil.
Um sie dahin zu bringen, müsste man sie ihrer derzeitigen Macht und ihres derzeitigen Status entledigen. Eine derartige Einladung klingt wie eine Drohung für die beiden, aber wer droht ihnen da? Das Mädchen wohl kaum und auch nicht Nawalny. Wieder diese verfluchte Unsicherheit.
Die besten russischen Interpreten des Jahres 2017 – von HipHop über Indie bis Experimental. Eine Auswahl der Colta-Redaktion: subjektiv, überraschend, genial. Эщкере!
WUNDER DES JAHRES
AIGEL: 1190
Die wunderbarste Erfolgsgeschichte einer Musikgruppe 2017: AIGEL ist das gemeinsame Projekt der Kasaner Dichterin und Sängerin Aigel Gaisina und des Petersburger Elektromusikers Ilja Baramija. Obwohl das Debutalbum 1190 eine Belastungsprobe ist – die Texte von Aigel Gaisina entstanden aus der Sorge um ihren Liebsten im Gefängnis, und Ilja Baramija legte einen harten Industrial Beat darunter – begann die Band augenblicklich, die größten Konzerthallen des Landes zu stürmen. Und Ende des Jahres geschah ein wahres Weihnachtswunder: Der Liebste von Aigel Gaisina kam auf Bewährung frei.
Das Vorgänger-Album Gusi-Lebedy (dt. „Gänse – Schwäne“) dieses Klassikers des Moskauer Experimental-Rocks kam vor sieben Jahren heraus – man musste also ziemlich lange warten. Dieses Mal dekonstruiert die Band unter der Führung von Roman Suslow das Genre der sowjetischen Kriegslieder und führt es über in gewohnt raffinierten, kunstvollen, ehrlichen Rock. Weshliwy Otkas ist fern jeden Verdachts, irgendeine Konjunktur bedienen zu wollen – was sie machen, ist reine Kunst; offenbar deswegen steckt in ihren klingenden Schlachtengemälden mehr russisches Leben und mehr Wahrheit als in dem, was man den Leuten derzeit im Kino oder Fernsehen zeigt.
Nächtliches Rendezvous des Jahres
Luna: Ostrow Swobody (dt. „Insel der Freiheit“)
Hypnotisierender, atmosphärischer dance einer jungen ukrainischen Sängerin. Während die User in den Sozialen Medien noch die Single Tajet led (dt. „Das Eis schmilzt“) der Band ihres Mannes hörten, zog Kristina Bardasch leise ihre Kreise und nahm ein Album faszinierender Pop-Schlager auf, die in einen Klub genauso passen wie in eine Kunstgalerie, so eine schnelle Unterwasser-Diskothek ist das.
Teamwork des Jahres
Kubikmaggi: Things
Kubikmaggi geht auf die Pianistin und Sängerin Xenia Fjodorowa zurück, Tochter des bekannten Leonid Fjodorow. In ihrem dritten Album hat sich die Petersburger Band in ein reifes, selbstsicheres und erfinderisches Team verwandelt, das instrumentale Stücke aufnimmt, die irgendwo zwischen Experimentaljazz, akademischem Minimalismus, blumigem Prog-Rock und romantischer Kinomusik liegen. Großzügige Musik, die von der Freude talentierter Musiker am gemeinsamen Spiel zeugt.
Letzten Endes ist dies ein Album, das junge Papis geschrieben haben. Es ist das erste Album seit fast zehn Jahren der Rap-Autoritäten aus Rostow, und es stellt ein ganzes Bündel heikler Lebensfragen, beantwortet sie, und zwar so, wie es es Väter tun: ehrlich, genau, mit Humor und ausgiebig.
Russische Marke des Jahres
Utro: Treti Albom(dt.„Drittes Album“)
Utro besteht aus Mitgliedern der Rostower Band Motorama, die als eine der berühmtesten russischen Indie-Rock-Bands im Ausland bekannt dafür ist, dass sie ihre Lieder auf Russisch singt. Und auf dem Treti Albom tun sie das ganz ausgezeichnet. Motorama und Utro gaben den Standard vor für existenziellen, repetitiven Post-Punk mit pulsierenden Rhythmen und dem Beigeschmack provinzieller Ausweglosigkeit, der in unseren Breiten (warum auch immer) sehr etabliert ist. Es gibt eine ganze Phalanx einander ähnlicher Bands, und ein Festival, wo sie voreinander auftreten. Utro und seine traurigen, schneebedeckten Lieder halten diese russische Marke auf Niveau.
Ein wesentlicher Teil des diesjährigen russischen Raps schien einem polierten Hochglanzmagazin entnommen zu sein, auf dessen Seiten junge Männer sich gegenseitig mit den Marken ihrer Autos, der Dicke ihres Geldbeutels und der Menge an persönlich beschlafenen Models salbungsvoll zu überbieten versuchen. Doch auf dem Album des in Ulan-Ude geborenen Dimitri Kusnezow ertönt in gereimten Versen die Stimme der Straße und Gassen, der neunstöckigen Plattenbauten und der dreckigen Hinterhöfe.
Schwung des Jahres
Noggano: Lakscheri (russ. Umschrift für engl. „luxury“)
Eine extrem umfangreiche, fast dreistündige Album-Playlist von Bastas pöbelndem Alter-Ego, die von allem etwas hat: Von Verbrechergeschichten, die Naggano stets am besten gelingen, über Kosaken-Trap und noblen Restaurant-Sound bis hin zu absurdistischer Tanzfolklore, Bruder-Romantik der 1990er und phantasmagorischen Geschichten im Geiste Hunter S. Thompsons. Witzig und unglaublich lebendig.
EIGENHEIT DES JAHRES
Lena Tschernjak: Fbromance
Die trübe Melange aus elektronischer Musik und Gesang der Petersburger und Pariser Sängerin ist der ideale Soundtrack für ein unvermitteltes Herausfallen aus der Wirklichkeit — weiß der Teufel wohin. Aufgenommen wurde das Ganze mit der Unterstützung zweier prominenter Vertreter der Petersburger Elektro-Szene: Alexander Saizew und Ilja Belorukow.
MORAL DES JAHRES
LSP: Tragic City
Lifestyle-Rap als Moralität, als finsteres Arthouse-Drama über die furchteinflößende Leere, die sich in Wirklichkeit verbirgt hinter den meisten Rap-Songs über das schöne Leben und die Besteigung des Olymp.
TRIP DES JAHRES
PTU: A Broken Clock Is Right Twice a Day
Wichtigste Meinungsmacherin und Propagandistin russischer Musik im Westen war auch im Jahr 2017 Nina Krawiz. Die sibirische DJane begann ihre Karriere in Berlin und veröffentlicht auf ihrem eigenen Label Trip klugen Techno und experimentelle elektronische Musik. Das größte Lob aus der Gruppe ihrer Protegés gab es für das Kasaner Duett PTU, das bei Nina Krawiz sein Album A Broken Clock Is Right Twice a Day herausbrachte. Ein leicht irrer elektronischer Sound, dessen Spektrum von Ambient bis Acid Techno reicht und zu dem man, erwiesenermaßen, hervorragend tanzen kann.
ÜBERBLEIBSEL DES JAHRES
Leonid Desjatnikow: Incidental
Das russische Label Fancy Music, das für seine Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten ernster Musik bekannt ist, beendet ein intensives Jahr mit dem heutzutage nur noch sehr selten zu hörenden und spezifischen Sound von Leonid Desjatnikow: Das Album enthält den Foxtrott aus Mischen [dt. „Zielscheibe“; ein Fantasy-Drama von 2011, zu dem Leonid Desjatnikow die Fimmusik schrieb – dek] das musikalische Thema aus einem der ersten postsowjetischen Thriller Prikosnowenije [dt. „Berührung“; ein Thriller aus dem Jahr 1992, vom Regisseur Albert Mkrtschjan – dek], Fragmente aus der Begleitmusik zum Theaterstück Shiwoi Trup [dt. „Der lebende Leichnam“, ein Stück von Lew Tolstoi – dek], einen Klezmer-Tango aus Sakat [dt. „Sonnenuntergang“, Film von Alexander Seldowitsch aus dem Jahr 1990, basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Isaak Babel – dek], das frühe, auf französischen Märchentexten aus der Maghreb-Region basierende Tri Istorii Schakala (dt. „Drei Geschichten des Schakals“), eine Romanze nach einem Brief, den Gidon Kremer als Kind schrieb, und vieles mehr. Das Album wurde drei Jahre lang aufgezeichnet, während derer man die Noten zusammensuchte, die Musiker versammelte und so weiter. Der Künstler selbst beschreibt es – gewohnt ironisch – als „Reste und Überbleibsel“, doch sind Reste dieser Art mit Gold nicht aufzuwiegen.
Übersetzung (gekürzt): dekoder-Redaktion Veröffentlicht am 03.01.2018
Das Foto ist vom 11. Dezember 2010, aufgenommen auf dem Manegenplatz in Moskau, im Hintergrund sieht man den Kreml. Der Platz wird auch liebevoll Maneshka genannt. Seit dem 11. Dezember 2010 allerdings steht der Begriff Maneshka auch für nationalistische Ausschreitungen.
An dem Tag sind tausende Menschen auf dem Manegenplatz aufmarschiert. Wenige Tage zuvor war Jegor Swiridow, Fan der Fußballmannschaft Spartak, bei einer Schlägerei mit aus dem Kaukasus stammenden Männern ums Leben gekommen. Nationalisten vermuteten, dass das Verbrechen von der Polizei verheimlicht würde.
Der Blogger Ilya Varlamov war Augenzeuge am 11. Dezember 2010 auf der Maneshka, von ihm stammt das Foto. Auf Batenka.ru erinnert er sich:
„Dass sich die Fans auf der Maneshka versammeln wollten, wussten viele, obwohl es zu dieser Zeit solche Zusammenrottungen – speziell im Zentrum von Moskau – noch nicht oft gab. Ich erinnere mich ehrlich gesagt überhaupt nicht, dass es früher unerlaubte Massenaktionen gab. Seinerzeit waren das, was die Opposition, die Nationalisten veranstalteten, eher unvorhersehbare Kleinstereignisse.
Niemand hatte die Pläne für die Maneshka richtig ernst genommen: Morgens gab es einen Protestmarsch [zum Gedenken an den ermordeten Spartak-Fan Jegor Swiridow – dek], Blumen wurden niedergelegt, alles lief recht friedlich und ruhig. Ich erinnere mich, dass ich noch mit Kollegen darüber gesprochen habe, ob es sich überhaupt lohnt, zur Maneshka zu fahren, denn vielleicht würde dort gar nichts passieren. Die Fans hatten morgens ziemlich ruhig und still gewirkt, es schien fast, als würde es keine Bilder geben, keine Geschichten. Aber ich hatte an dem Wochenende nichts vor und bin deshalb mit ein paar Kollegen hingefahren.
Als wir bei der Maneshka ankamen, sahen wir, dass überhaupt keine Polizei da war, sich aber immer mehr Nationalisten versammelten. Völlig ungezwungen fühlten sie sich: Skandierten wie gewohnt ihre Sprüche „Russland den Russen“ und ähnliches.
Dieses Bild konkret ist dem Zufall zu verdanken: Dass die Arme, die dort zum Hitlergruß erhoben sind, eine Linie bilden, die auf den Kreml zeigt, ist eine unumgängliche Folge der Architektur des Manegenplatzes. Es gibt dort eine Treppe, die eine Art Amphitheater bildet, auf der die Menschen standen. Als ich das sah, habe ich mich einfach zum höchsten Punkt begeben, den ich finden konnte, und dieses Bild im Weitwinkel aufgenommen.
Viele der Versammelten trugen schwarze Masken, die die Gesichter vollständig verdeckten – sowas kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Sie zündeten Handfackeln und Rauchkörper. […]
Irgendwann hatten die versammelten Nationalisten genug vom Rumstehen und Brüllen. Es begann das, was in diesen Kreisen zum Standard gehört: „Kommt, los, wir schlagen jemanden zusammen.“
Zu allem Unglück kamen gerade in dem Moment diese jungen, dunkelhäutigen Jugendlichen vorbei. Die Menge prügelte sofort auf sie ein, ein paar Journalisten schafften es, die Jungs zu retten. Sie wurden zu einem Rettungswagen geschleppt. Dann kam auch der OMON.
Und bald hatte die Menschenmenge einen neuen Feind, so wie manchmal nach Fußballspielen. Da wurde dann der Weihnachtsbaum zerlegt, und man kloppte sich mit der Polizei.“
Schon länger wurde darüber gemunkelt, Mitte der Woche machte es Xenia Sobtschak nun offiziell: In einem bei Vedomosti veröffentlichten Brief gab sie ihre Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2018 bekannt. Gleichzeitig gingen ihr YouTube-Video mit der Ankündigung und ihre neue Seite online: Sobtschak gegen alle heißt sie.
Ein ehemaliges It-Girl als Präsidentschaftskandidatin? Xenia Sobtschak hat sich in den letzten Jahren von der „Schoko-Blondine“ zu einer durchaus veritablen Journalistin gemausert. Bei den Bolotnaja-Protesten war sie Mitglied im Koordinationsrat der Opposition, trat gerne öffentlichkeitswirksam gegen das Schienbein des Kreml und kokettierte zuweilen mit der häufigen Zuschreibung, dass sie ja immer zwischen den Stühlen sitzen würde.
Xenia ist die Tochter von Anatoli Sobtschak – ein St. Petersburger Demokrat der ersten Stunde, der nach dem Zerfall der Sowjetunion tiefgreifende liberale Reformen anstieß und zugleich einen Grundstein für den späteren Aufstieg Putins legte. Dieser soll Xenia angeblich nahestehen – eine Spekulation, die in den jüngsten Debatten eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Denn schon vor der offiziellen Bekanntgabe ihrer Kandidatur, hagelte es Kritik von oppositionellen Stimmen des Landes: Das Spiel sei abgekartet, Sobtschak habe ihre Kandidatur mit Putin abgesprochen, sei nur von seiner Gnaden zugelassen worden, um die Kandidaturen ernstzunehmender Oppositioneller zu neutralisieren, so der Tenor.
Dabei betont Sobtschak, dass sie ihre Kandidatur zurückziehen werde, wenn der Oppositonspolitiker Nawalny, der derzeit unter Arrest steht, zugelassen würde. Wieviel Protestpotential steckt in der Kandidatur Sobtschaks? Meint sie es ernst, wenn sie gegen den Kreml poltert? Kirill Martynow geht in der Novaya Gazeta solchen Fragen nach.
Xenia Sobtschaks Kandidatur für das Präsidentschaftsamt ist ein Symptom für das Verwelken des russischen Wahl-Autoritarismus. Es ist ein Symptom für dessen endgültige Verwandlung in ein System, dessen Instrumente darauf abzielen, den Status Quo zu erhalten.
Dass in der Kandidatenliste eine Figur wie Sobtschak auftauchen wird, wurde schon mehrere Monate vor Beginn der Wahlkampagne vorhergesagt. Neben der traditionellen Entourage [der Systemopposition – dek] in Person von Sjuganow und Shirinowski braucht der Kreml bei diesen Wahlen zwei Spoiler: Einerseits einen ultrakonservativen Kandidaten, neben dem Putin für die entsprechenden Zielgruppen wie ein vernünftiger Kompromiss aussieht, wie ein Zentrist. Auf der anderen Seite muss diese Konstruktion gestützt werden von einem verhältnismäßig liberalen und protestlerischen Spoiler. Unmittelbare Aufgabe dieses Kandidaten ist es, der Welt freie und demokratische Wahlen zu demonstrieren und dem liberalen Wähler anzubieten, [bis zu den Wahlen – dek] darüber zu streiten, ob man für den Spoiler stimmen sollte oder nicht. Anderen Bevölkerungsgruppen soll der Spoiler gelegentlich die Schreckensgeschichte verdeutlichen, dass die liberalen Westleran die Macht drängten und es nun an der Zeit sei, sie aufzuhalten, indem man zur Wahl geht.
Harmlos und keine echte Konkurrenz
Das Casting für die rechte Flanke ist noch nicht abgeschlossen – vielleicht wird im konservativen Szenario derselbe Shirinowski diese Rolle für sich reklamieren. Eine Liberale wurde dagegen nun gefunden – mit eigener Seite, einem Programm und Werbevideos. Offensichtlich hat man für die Rolle des Liberalen verschiedene Kandidaten in Betracht gezogen, doch letztendlich setzte man auf Sobtschak – für sie sprechen eindeutige Argumente: eine Frau, Westlerin, weitläufig bekannt sowohl bei Dom 2-Zuschauern und Glamour-Magazin-Lesern, als auch beim Publikum von TV Doshd, dazu absolut harmlos und keine echte Konkurrentin für den Kandidaten Nummer Eins.
Es ist erstaunlich, wie offen Sobtschak über die Ziele ihrer Kampagne sprach, als sie meinte, dass sie an die Stelle der Option „gegen alle“ trete. Aus der polittechnologischen Sprache ins Russische übersetzt heißt das, dass sie die Protest-Stimmen auf sich ziehen wird, gleichzeitig die Wahlbeteiligung erhöht und Teile der Kreml-loyalen Wählerschaft mobilisiert, die ausdrücklich gegen Sobtschak stimmen wollen. Vermutlich ist das eines der wenigen Beispiele, wo ein Kandidat zu Beginn der Wahlkampagne offen seinen Status als Spoiler ankündigt.
Vorsicht, Spoiler
Witzig, dass das alles so dargeboten wird, als wäre Putin verärgert über diese Dreistigkeit Sobtschaks, was Xenia jedoch nicht daran hindere, zu kandidieren. Auch diese gekünstelte Message richtet sich wieder an drei Gruppen und soll von ihnen unterschiedlich gelesen werden: Die westliche Presse kann über freie Wahlen in Russland diskutieren, schließlich sei doch „Xenia Sobtschak bekannt für ihre Kritik an der Kreml-Politik“. Die liberale Wählerschaft wird sich spalten an der Frage über ihre Sympathien für Xenia, dem Otto-Normal-Wähler aber gibt die These über den verärgerten Putin Raum für Kompromat und für mediale Attacken gegen Sobtschak, inklusive Aufrufe sich gegen sie zusammenzuschließen.
Kurz gesagt, man hat die Fassade des Wahl-Autoritarismus mit einer grellen Neonreklame behangen. Die Wahlen erscheinen nicht mehr so todlangweilig wie noch vor einigen Wochen, auch wenn sich im Grunde nichts verändert hat.
Grelle Neonreklame für langweilige Wahlen
Leute, die persönliche Sympathie für Sobtschak empfinden (und von solchen gibt es unter russischen Facebook-Usern nicht wenige), argumentierten bereits, dass es keinen Anlass gäbe, Sobtschak für ihre Kandidatur zu kritisieren. Ganz nach dem Motto, dass alle ein Recht hätten, sich nach eigenem Ermessen zur Wahl zu stellen, und ob nicht gerade wir immer dazu aufgerufen hätten, alle zur Wahl zuzulassen. Mit diesem Argument fiel, wie es scheint, der Startschuss für die Diskussion über „unsere Kandidaten“. Eine Diskussion, in die uns der Kreml gastfreundlich einlädt, bis März zu versinken. Danach ist die Sache getan, und Sobtschak kann das Interesse an einer politischen Karriere wieder verlieren, wie einst schon Prochorow. Die Opposition hat in der Tat dazu aufgerufen, alle zur Wahl zuzulassen – aber gerade diese Forderung wird aktuell nicht erfüllt. Sobtschak nimmt an der Wahl nicht als eine Kandidatin unter Gleichen teil, sondern als eine, die im handgesteuerten Modus zugelassen wurde. Nichts Persönliches, bloß Arbeit an der Festigung des Autoritarismus.
Im Jahr 2014 hat die Fotografin Elena Anosova, Preisträgerin des World Press Photo Award 2017, mehrere Monate in Frauenlagern in Sibirien fotografiert. Während die Porträts entstanden, bat sie ihre Modelle, einen ihnen wichtigen Gegenstand zu finden: Eine nahm eine Blume, eine andere eine Bibel. Bei manchen fand sich im Lager gar kein solcher Gegenstand.
„Ich beobachte Leben, das in Isolation und unter ständiger Beobachtung stattfindet. Und bemühe mich, die Beziehungen und Beschränkungen in geschlossenen Gemeinschaften darzustellen“, so die Fotografin Elena Anosova.
„Wenn man im Lager ist, ist es unmöglich, ganz bei sich zu bleiben. Der Verlust eines intimen Raumes deformiert den Menschen, das Gefühl von Sicherheit verschwindet. Trakt (im russ. Original Otdelenie) zeigt die Veränderungen, die sich mit den Frauen in Haft schrittweise vollziehen.
Ich beginne mit den Bildern junger und schöner Mädchen, die so fotografiert sind, dass nicht gleich klar wird, dass sie an Orten des Freiheitsentzugs entstanden sind. Dann zeige ich erwachsene Frauen – wir sehen die Spuren des Lebens auf Gesichtern und Körpern. Am Ende kommen Porträts von Frauen, die schon deformiert sind, niedergeschlagen, manchmal sind Spuren von versuchtem Suizid und Gewalt erkennbar.
All das führt zu Fragen danach, wie Häftlinge in unserer Gesellschaft aufgenommen werden, Fragen nach Wiedereingliederungsprogrammen und Organisationen, die fähig sind, sie zu unterstützen.“
Stanislaw Petrow starb bereits im Mai 2017 nahe Moskau. Erst im September wurde sein Tod zufällig bekannt. Stanislaw Wer?
Als eines der ersten Medien überhaupt berichtete die deutsche WAZ über seinen Tod, nachdem der Oberhausener Karl Schumacher, der Petrow persönlich kannte, auf seinem Blog darüber geschrieben hatte. Petrows Geschichte ist bis heute kaum bekannt, dabei hatte er während des Kalten Krieges eine folgenschwere Entscheidung getroffen.
Meduzaüber den Mann, „der den Atomkrieg verhinderte“.
Die Nacht zum 26. September 1983, Geheim-Einheit Serpuchow-15, unweit von Moskau. Stanislaw Petrow ist verantwortlicher Diensthabender auf dem Befehlsstand des Raketen-Frühwarnsystems. Um 0:15 Uhr gibt der Computer das von den sowjetischen Militärs am meisten gefürchtete Signal: Von US-amerikanischem Gebiet ist eine ballistische Rakete abgeschossen worden, Ziel ist die UdSSR. Laut Anweisung hätte Petrow der Führung umgehend Meldung davon machen müssen, um den Befehl für einen Gegenschuss zu erhalten – doch das tat er nicht.
„Das System zeigte an, dass die Information höchst zuverlässig ist“, erinnert sich Petrow in einem seiner Interviews. „An der Wand leuchteten große rote Buchstaben: START. Also war die Rakete ganz sicher losgeflogen. Ich schaute auf meinen Aktionsplan. Einige waren von ihren Plätzen aufgesprungen. Ich erhob die Stimme, befahl allen, umgehend ihre Plätze einzunehmen. Das musste alles nachgeprüft werden. Es war unmöglich, dass tatsächlich eine Rakete mit Sprengköpfen …“
Das System meldet einen US-Raketenangriff
Vom Moment des feindlichen Raktenabschusses an bis zur Entscheidung über einen Gegenschlag hatte die sowjetische Führung nicht mehr als 28 Minuten Zeit. Petrow selbst hatte 15 Minuten, um die richtige Entscheidung zu treffen. Er bezweifelte, dass die USA sich zu einem Atomschlag gegen die Sowjetunion entschieden hatten. Er wie auch die anderen Offiziere waren instruiert, dass, im Falle eines echten Angriffs, Raketen von mehreren Basen gestartet werden müssten. Petrow meldete über die Hochsicherheitsleitung, dass der Computer eine Störung hätte. Untersuchungen ergaben später, dass die sowjetischen Sensoren von Wolken reflektierte Sonnenstrahlen als amerikanischen Raketenabschuss gewertet hatten.
Petrow, so erinnerte er sich später, sollte befördert werden, gar einen Orden bekommen, doch stattdessen bekam er einen Verweis – sein Dienstprotokoll war nicht vollständig. 1984 trat Petrow außer Dienst und ließ sich mit seiner Familie in Frjasino bei Moskau nieder. Bis 1993 war der Vorfall von Serpuchow-15 ein Staatsgeheimnis; von dem Dienst an diesem Tag wusste nicht einmal seine Frau.
Im September 1998 las Karl Schumacher aus Oberhausen, von Beruf Bestatter und ein politisch aktiver Mensch, eine kleine Zeitungsnotiz in der Bild, in der Petrows Name erwähnt wurde. „Da hieß es: Der Mensch, der einst den Atomkrieg verhindert hat, lebe in einer ärmlichen Wohnung in der Stadt Frjasino, seine Pension reiche nicht zum Leben, und seine Frau sei an Krebs gestorben“, erzählt Schumacher Meduza.
Schumacher lud Stanislaw Petrow zu sich ein. Er wollte, dass Petrow den Ortsansässigen von jener Episode aus dem Kalten Krieg erzähle. Stanislaw Petrow folgte der Einladung und, dort angekommen, gab er ein Interview in einem lokalen Fernsehsender. Einige Regionalzeitungen berichteten über seinen Besuch.
„Dem Menschen, der den Atomkrieg verhinderte“
So erfuhr nach und nach die Welt von Stanislaw Petrows Geschichte. Nach dem Besuch in Oberhausen schrieben Medien weltweit über ihn, darunter Der Spiegel, Die Welt, Die Zeit, CBS, Radio1, die Washington Post und Daily Mail. Am 19. Januar 2006 bekam er im UNO-Hauptquartier eine kleine Kristallskulptur überreicht: eine Hand, die die Weltkugel hält. Darin war der folgende Schriftzug eingraviert: „Dem Menschen, der den Atomkrieg verhinderte.“
Am 17. Februar 2013 wurde ihm der Dresdner Friedenspreis verliehen, für die Abwendung bewaffneter Konflikte. Der einzige weitere russische Preisträger dieser internationalen Auszeichnung war Michail Gorbatschow im Jahr 2010.
Im Jahr 2014 erschien der dokumentarische Spielfilm Der Mann, der die Welt rettete. Petrow sagte in einem Interview mit der Komsomolskaja Prawda, Kevin Costner, der darin mitgespielt hat, habe ihm, Petrow, 500 Dollar überwiesen und sich bei ihm bedankt, dass er die Raketen mit Atomsprengköpfen nicht gestartet hatte.
500 Dollar und ein Dank von Kevin Costner
In Interviews mit russischen Medien erklärte Petrow, er habe die Welt nicht gerettet. Das sei einfach ein schwieriger Arbeitsmoment gewesen. So lebte er weiter dort in Frjasino. Ende der 1990er Jahre habe er angefangen auf dem Bau zu arbeiten – als einfacher Wachmann.
Am 19. Mai 2017 ist Stanislaw Petrow gestorben. Weder russische noch ausländische Medien haben darüber berichtet. Warum – das ist schwer zu sagen. Petrows deutscher Bekannter Karl Schumacher hat zufällig von seinem Tod erfahren. Er rief Petrow jedes Jahr am 7. September an, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Doch diesmal teilte ihm Petrows Sohn mit, dass sein Vater gestorben sei, bereits im Mai.
„Mich hat seine Geschichte bis tief in die Seele berührt“, sagte Schumacher Meduza. „Ich habe in Westdeutschland gelebt, 35 Jahre lang habe ich die reale Bedrohung des Kalten Krieges gespürt. Ich war sicher, wenn die UdSSR Raketen abfeuert, dann landen die auf meinem Haus. Ich finde, dass Stanislaw den Friedensnobelpreis mehr als jeder andere verdient hat. Ehrlich gesagt habe ich einst ein [Nominierungsverfahren] organisieren wollen. Aber Stanislaw sagte zu mir, wenn er den Nobelpreis bekomme, dann werde er keine einzige Minute mehr Ruhe haben.“