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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die unsichtbaren Repressionen gegen Queers

    Die unsichtbaren Repressionen gegen Queers

    Kurz bevor Alexander Lukaschenko 1994 zum ersten Mal Präsident wurde, war im unabhängigen Belarus Homosexualität legalisiert worden. Nicht-heteronormative Lebensstile konnten langsam öffentlich thematisiert werden, Belarus feierte seine erste Queer-Ikone.

    Doch die Hoffnungen auf mehr Sichtbarkeit und Anerkennung grundlegender Rechte von LGBTQ* Personen währten kurz. Stattdessen forderte strukturelle Diskriminierung von ihnen Selbsrverleugnung, bald folgte systematische Verfolgung. Als das Kulturministerium in Lukaschenkos Diktatur 2024, wenige Monate vor Beginn der Wahlkampagne zur überstürzten Präsidentschaftswahl im Januar 2025, dann Queer-Sein juristisch mit „Pornografie“ gleichsetzte, gerieten alle lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Menschen ins Fadenkreuz des belarussischen Sicherheitsapparates.

    Die dekoder-Autorin Xenija Tarassewitsch und der Aktivist Oleg Roshkow erläutern, wie Repressionen die Liberalisierung gegenüber der LGBTQ* Community seit der Unabhängigkeit 1991 ersetzten. Wie die belarussische Gesellschaft, die sich für tolerant hält, darauf reagierte. Und warum belarussische Queers benachteiligt werden, wenn es um die internationale Anerkennung ihrer Verfolgung in Belarus geht, beispielsweise bei Asyl-Verfahren im Ausland.

    Lukaschenkos Repressionsapparat macht sich bereit: Queers mit Regenbogenflagge unterstützen am 20. September 2020 den friedlichen Protest gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen in Minsk. / Foto © Depositphotos/Imago

    Allein im September 2024 wurden in Belarus laut der Menschenrechtsorganisation Legal Initiative 15 bis 20 Menschen aus der LGBTQ* Community festgenommen. Bekannt wurde auch die Inhaftierung von acht trans* Personen. Die Silowiki erstellten gegen sie Anzeigen wegen „Rowdytums“. Gegen zwei von ihnen wurden Strafverfahren wegen „Verbreitung pornografischen Materials“ eingeleitet.

    Ein Jahr zuvor, im September 2023, hatte die belarussische Regierung begonnen, einen Gesetzentwurf – analog dem russischen Gesetz – zum Verbot von „Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ zu erarbeiten. Kurz darauf begannen Razzien auf queeren Partys (ähnlich wie zur gleichen Zeit in Russland und obwohl das Gesetz in Belarus bis heute nicht angenommen ist – dek.), bei denen die Silowiki persönliche Daten der Besucher sammelten.

    Doch das war nicht immer so. Als Belarus in den 1990er Jahren unabhängig wurde und Alexander Lukaschenko erst anfing Richtung Alleinherrschaft zu streben, war die Situation weitaus verheißungsvoller.

    Nur Kultur, keine Menschenrechte

    Homosexuelle Beziehungen wurden in Belarus im Jahr 1994 entkriminalisiert, drei Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit und nur wenige Monate vor Lukaschenkos Machtantritt. Bis dahin hatte das sowjetische Gesetz mit dem Artikel über „Unzucht zwischen Männern“ gegolten.

    Der Machtwechsel, gefolgt vom Wechsel des politischen Regimes, brachte anfangs keine sichtbaren Veränderungen bei einer sich abzeichnenden Liberalisierung. Über Themen wie Sex und Homosexualität wurde nun mehr oder weniger offen gesprochen. In Belarus gab es zu dieser Zeit auch die erste queere Ikone: Edzik Tarlecki alias Madame Zju-Zju.

    „Seit den 1990er Jahren gab es einen Konsens: Man kann sich in der Kultur engagieren, aber nicht in den Menschenrechten, – erst recht nicht über die Rechte und Probleme der Community sprechen“, erklärt Oleg Roshkow, Gründer der Medieninitiative J4T (Journalists For Tolerance).


     

    Madame Zju Zju performt „Ach, kakaja shenschtschina!“ (1995, dt. Ach, was für eine Frau!) der ukrainisch-sowjetischen Gruppe Freestyle  aus Poltawa, begleitet von einem „betrunkenen Chor“. / Quelle: youtube.com/@Norma Pospolita Madame Zju Zju 

    Chronik belarussischer Pride-Märsche

    Das belarussische Online-Magazin Make Out hat vor einigen Jahren, noch vor der jüngsten Verfolgungswelle, eine Chronologie der Pride-Demos veröffentlicht, die halblegal in Minsk stattfanden.

    Im Jahr 1999 fanden dank der Organisatoren der ersten Minsk Pride neben den Wettbewerben Mr. Gay Belarus und Transmission auch ein Bildungsprogramm und eine Konferenz zum Thema Rechte von Schwulen und Lesben statt. In der Nacht stürmte OMON den Club, in dem alles stattfand. Dennoch nahmen an der ersten belarussischen Pride ungefähr 500 Menschen teil.

    Im Jahr 2001 gab es dann den ersten richtig großen Pride-Marsch: Zwischen 500 und 2000 Teilnehmende versammelten sich in der Nähe des Minsker Stadtzentrums unter Regenbogenflaggen. Zwar war die Veranstaltung nicht von den Behörden genehmigt, dennoch verlief alles ohne Zwischenfälle. Indes sah sich aber Tarlecki aka Madame Zju Zju schon Mitte der 2000er Jahre gezwungen, in die Ukraine zu gehen. 

    In den Folgejahren fanden kleinere Aktionen statt, zum Beispiel 2008. 2010 lösten OMON-Einheiten die Pride auf und verprügelten Teilnehmende. Im folgenden Jahr wurde der LGBTQ*-Marsch am Stadtrand von Minsk abgehalten, um Gewalt zu vermeiden. Die letzte öffentliche Aktion fand 2012 statt: Aktivist*innen fuhren mit Plakaten und Regenbogenfahnen in Straßenbahnen durch die Stadt.

    Für die achte Minsk Pride am 2. Oktober 2012 mieteten die Organisator*innen eine eigene Straßenbahn und dekorierten sie mit bunten Ballons und Regenbogenflaggen. Eine Demonstration zu Fuß war zuvor verboten worden. / Foto © Zuma Press/ Imago

    Die „Causa Pi“

    Oleg Roshkow widerspricht einer unter Belarussen verbreiteten Vorstellung von Toleranz und betont, dass queere Menschen in Belarus nur hinter verschlossenen Türen sie selbst sein können. Im öffentlichen Raum seien sie stets gezwungen sich zu verstellen. Roshkow nennt diese Praxis „soziale Kastration“. 

    „Solange man so tut, als sei man heterosexuell, wird man von der Gesellschaft toleriert, obwohl alle alles wissen. Wenn ich mich aber öffentlich zu meiner Homosexualität bekenne, folgen massive negative Reaktionen: ‚Wie kannst du es wagen, deine Homosexualität zur Schau zu stellen‘“, erklärt Roshkow.

    Die vielleicht bekannteste homophobe Straftat in der Geschichte des unabhängigen Belarus war der sogenannte Fall Pi: Am 25. Mai 2014 wurde der Architekt Michail Pischtschewski nach einer privaten Party in Minsk überfallen und verprügelt. Er lag einen Monat lang im Koma, aufgrund großflächiger Hämatome mussten ihm 20 Prozent der Gehirnmasse entfernt werden. 

    Es ist eine Sache, Schwule nicht zu mögen, aber eine andere, einen Menschen zu töten.

    „Michails Geschichte ging mir persönlich sehr nah“, erinnert sich Roshkow. „Ich kannte ihn nicht, aber als ich von seinem Fall erfuhr, half ich seinen Eltern dabei, Geld für die Behandlung zu sammeln. Zunächst waren sie dagegen, die Sache öffentlich zu machen, aber dann arbeiteten sie mit der Presse zusammen, weil es eine Chance gab, ihn zu retten. “

    Auch die Nicht-Queers leisteten in diesem Fall erhebliche Unterstützung, so Roshkow: „Es ist eine Sache, Schwule nicht zu mögen, aber eine ganz andere, einen Menschen zu töten. Viele Belarussen sahen eine Grenze überschritten, als sie diesen Fall sahen.“

    Michail erlangte das Bewusstsein zwar wieder, seine Gehirnfunktionen blieben jedoch eingeschränkt. Am 25. Oktober 2015 starb er an einer Hirnhautentzündung.

    Verstaatlichte Homophobie

    Roshkow bewertet den Angriff auf Pischtschewski als Signal für alle LGBTQ* Menschen, denn jede*r von ihnen hätte an seiner Stelle sein können. Dennoch sei Queerfeindlichkeit lange Zeit nicht institutionalisiert gewesen. So waren in Minsk queere Partys durchaus erlaubt, auch wenn sie oft Razzien erlebten. Doch nach Ansicht des Experten habe es lange keine konkrete politische Entscheidung gegeben, die queere Community systematisch zu verfolgen.  

    Die Trendwende fand Roshkows NGO J4T in zunehmender Hetze gegen LGBTQ* in belarussischen Staatsmedien: in der ersten Hälfte des Jahres 2020 in zehn Prozent der Veröffentlichungen, in der zweiten Hälfte bereits in 20 Prozent. Und im Jahr 2021 enthielt bereits jede vierte Veröffentlichung zum Thema LGBTQ* Hassrede.

    „Es gibt in den staatlichen Medien eine Kampagne gegen die queere Community“, sagt Roshkow. „Nach unseren Maßstäben bedienen sich die Propagandisten der gröbsten Form von Hassrede.“

    Wenn ich ein Foto, auf dem ich meinen Freund auf die Wange küsse, in ein soziales Netzwerk gestellt hätte, könnte ich wegen Pornografie vor Gericht kommen.

    Von indirektem Druck gingen die belarussischen Behörden schließlich zu direkten Maßnahmen über: Im April 2024 verabschiedete das Kulturministerium einen Beschluss, der „nichttraditionelle Beziehungen“ mit Pornografie gleichsetzt. Und nun können die Strafverfolgungsbehörden praktisch jede Darstellung eines homosexuellen Paares oder einer trans* Person nach Artikel 343 des Strafgesetzbuchs verfolgen, der eine Strafe von bis zu vier Jahren Gefängnis vorsieht.

    „Wenn ich vor fünf Jahren ein Foto, auf dem ich meinen Freund auf die Wange küsse, in ein soziales Netzwerk gestellt hätte, könnte das jetzt als Pornografie angesehen werden. Und ich könnte für die Verbreitung des Fotos vor Gericht kommen“, erklärt Roshkow.

    Menschenrechtsaktivisten von Legal Initiative schreiben, dass mittlerweile sämtliche nichtheterosexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen, auch wenn sie in gegenseitigem Einverständnis bestehen, als etwas Illegales interpretiert werden, was die gesellschaftliche Missbilligung und die Rechtfertigung von Gewalt gegen Queers verstärkt. 

    Transition ja, Toleranz nein

    Zwar ist Belarus immer noch eines der wenigen Länder, in denen nach Änderung der entsprechenden Rubrik im Reisepass eine Transition mit kostenloser Hormontherapie und chirurgischer Geschlechtsangleichung möglich ist. Voraussetzung ist allerdings das Einverständnis einer sechs- bis achtköpfigen ärztlichen Kommission. 

    Trans* Personen werden dennoch diskriminiert. Menschenrechtsaktivist*innen berichteten im Jahr 2024 von den Erfahrungen des trans* Mannes Marat. Er machte die Transition und erhielt neue Dokumente. Aber seine Daten in den Geburtsurkunden seiner vier Kinder konnte er nicht ändern lassen – die Standesämter verweigerten ihm das.

    Später gingen bei der Schulverwaltung anonyme Anzeigen wegen angeblicher häuslicher Gewalt ein. Marat bekam Kontrollbesuche. Bald darauf wurde er erneut vor die medizinische Kommission bestellt, wo die Genehmigung zur Transition annulliert und die Rückgabe seiner Dokumente verlangt wurde. Marat floh letztlich mit seinen Kindern nach Frankreich. 

    Europäische Bürokraten sehen „keine Diskriminierung“  

    Abgesehen von all dem gibt es in Belarus noch kein Verbot von „Propaganda [nichttraditioneller Beziehungen – dek.]“ wie in Russland, und die LGBTQ* Gemeinschaft ist auch nicht als „extremistische Bewegung“ eingestuft.

    Aktivist*innen und Expert*innen zufolge verschlechterten sich jedoch die Aussichten für konkrete Personen. Wie Roshkow betont, sind heute alle queeren Menschen in Gefahr, da die Silowiki auch ohne solche Verbote über ein umfangreiches Instrumentarium verfügten, um jede queere Person verhaften zu können. Angesichts der allgemeinen Repression schätzt Roshkow die Situation queerer Menschen in Belarus als noch schwieriger als in Russland ein.

    Dass wir kein Gesetz haben, macht die Situation nur noch schlimmer. Belarussische Queers können international nicht um Hilfe und Schutz bitten.

    Gleichzeitig erregt Belarus weniger Aufmerksamkeit, die dortige LGBTQ* Community erfahre wenig Unterstützung. Auf Hilfe aus dem Ausland könne man nicht zählen.

    Andrej Sawalej, Koordinator der Fall-Pi-Kampagne, sieht das ähnlich: „Die Tatsache, dass wir kein Gesetz haben, das LGBTQ* Menschen (direkt) diskriminiert, macht die Situation nur noch schlimmer. Belarussische Queers können international nicht um Hilfe und Schutz bitten. Aber Russen können das – sie haben das Gesetz über ‚Propaganda für nichttraditionelle Beziehungen‘, sie bekommen Asyl in Europa. Belarussische Queers leben in der gleichen Realität, aber die europäischen Beamten sagen ihnen: ‚Ihr werdet nicht diskriminiert.‘“

    Queere Flüchtlinge bekommen in den meisten Fällen ein humanitäres Visum für Litauen, aber Litauen gibt ihnen nicht immer auch eine Aufenthaltsgenehmigung oder den Flüchtlingsstatus. Dies gilt insbesondere für trans* Personen, da es in Litauen selbst an notwendigen medizinischen Einrichtungen für Geschlechtsangleichung und Hormontherapie fehlt.

    Die meisten queeren Menschen in Belarus haben keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Das ist ein seltenes Privileg.

    Auch in anderen EU-Ländern gibt es Schwierigkeiten, einen legalen Status zu erhalten. Infolgedessen sitzen Belarus*innen in der Falle: ohne Zugang zu lebenswichtigen medizinischen Leistungen und ohne Chancen auf Asyl. „Man muss bedenken, dass die meisten queeren Menschen in Belarus keine Möglichkeit haben, das Land zu verlassen“, erinnert Roshkow. „Das ist ein seltenes Privileg. Darum wollen sie vor allem ein normales Leben führen. Unsere Aufgabe ist es, ihnen in dieser ‚neuen Normalität‘ zu helfen.“

    Trotz aller Schwierigkeiten machen die queeren Aktivist*innen weiter: „Wichtig für die Community sind gemeinsame Erfahrungen, Zusammengehörigkeitsgefühl und Unterstützung. Bis vor Kurzem konnten viele Initiativen noch Offline-Veranstaltungen organisieren, aber jetzt ist das nicht mehr sicher“, sagt Roshkow. „Die Menschen wollen positive Nachrichten, interessieren sich für Lifestyle, Kultur-Events, suchen Beispiele für erfolgreiche belarussische Queers. Und praktische Informationen: Wie man als gleichgeschlechtliches Paar in Belarus eine Wohnung mietet, wie man die Geschlechterrollen in einer Beziehung verteilt, wie man toxische Beziehungen und Fake-Dates vermeidet.“

    Das Schweigen der demokratischen Kräfte

    Roshkow hat keinen Zweifel daran, dass Belarus irgendwann doch auch ein „Propaganda“-Gesetz verabschieden wird. In Anbetracht der bereits bestehenden Gesetze zur „Pornografie“ dürfte es jedoch nicht besonders hart ausfallen, glaubt der Experte.  Was in der Queer-Community auch aufgefallen sei, meint Roshkow, ist, dass die demokratischen Kräfte die LGBTQ* Community während der Diskussion über den „Pornografie“-Gesetzesentwurf, als parallel die mediale Hasskampagne gegen sie gestartet wurde, in keiner Weise unterstützt hätten. Eine der wenigen, die sich negativ dazu äußerten, war Olga Gorbunowa, die – mittlerweile ehemalige – Sprecherin für Sozialpolitik des Vereinigten Übergangskabinetts.

    Wir machen uns keine Illusionen. Uns ist klar, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können.

    Roshkow vermutet, dass in der breiten Wählerschaft von Swetlana Tichanowskaja nicht alle tolerant gegenüber der queeren Community sind. Seit die Unterstützung für Tichanowskaja schwinde, versuche sie, diese zu erhalten, indem sie „sichere Positionen“ vertritt. Es gebe keinen politischen Willen, eine kleine Gruppe zu unterstützen, wenn man riskiert, die breite Zustimmung zu verlieren. 

    „Wir sollten versuchen, uns durchzusetzen und Belarus in den Medien und der Kunst wieder auf die Tagesordnung zu bringen“, sagt Roshkow. Außerdem könne man über diplomatische Kanäle arbeiten, müsse mehr an nicht öffentlichen Treffen und Verhandlungen teilnehmen. „Wir machen uns keine Illusionen, dass uns jemand unterstützen wird. Uns ist klar, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen.“

     

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  • Gegen Putin, aber für wen?

    Der Täter lauerte seinem Opfer vor dessen Haus in Litauens Hauptstadt Vilnius auf: Mit einem Hammer durchschlug er die Scheibe seines Wagens und sprühte ihm Tränengas ins Gesicht. Dann drosch er mit dem Hammer auf Leonid Wolkow ein. Wolkow war lange einer der engsten Mitstreiter von Alexej Nawalny und Vorsitzender von dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK). Deshalb schien nach dem Attentat im März 2024 klar: Die Hintermänner sitzen im Kreml. Doch im September 2024 veröffentlichte der FBK eine Recherche, wonach der ehemalige Yukos-Manager Leonid Newslin den Überfall in Auftrag gegeben habe. Newslin bestreitet das und behauptet, der russische Geheimdienst versuche, Zwietracht in der russischen Opposition zu stiften, indem er falsche Spuren lege.

    Der nächste Akt begann im Februar 2025, als der Blogger und Nawalny-Rivale Maxim Katz in einem zweistündigen Video dem FBK unterstellte, er habe sich von kriminellen Bankern sponsern lassen und ihnen im Gegenzug geholfen, sich als Opfer des Regimes darzustellen und ihre Reputation im Westen aufzupolieren. Der FBK reagierte seinerseits mit einem anderthalbstündigen Video, in dem er die Vorwürfe abstreitet und Katz der Lüge bezichtigt.

    Alle Akteure in diesem Oppositions-Drama verbindet, dass sie eigentlich einen gemeinsamen Gegner haben: Wladimir Putin. Aber statt ihre Kräfte zu bündeln, bekriegen sie sich gegenseitig. Enttäuscht wenden sich viele ehemalige Anhänger von diesem Spektakel ab. Gleichzeitig bleiben die Aktionen der Opposition im Exil schwach und sie tut sich zunehmend schwer damit, ihre Landsleute in der Heimat zu erreichen.

     

    Wladimir Kara-Mursa, Jewgeni Tschitschwarkin, Ilja Jaschin und Julia Nawalnaya marschieren am 1. März 2025 unter der Losung „Nein zu Putin. Nein zum Krieg“ durch Berlin / Foto © Snapshot/ Imago

    Am 6. Dezember 2023 kam Maxim in Sankt Petersburg von der Arbeit nach Hause, aß zu Abend und wartete dann auf Mitternacht. Er hatte gar nicht vor, ins Bett zu gehen: Er wollte unbedingt mit eigenen Augen sehen, wie auf zwei Plakatwänden, die kürzlich von einer neuen, auf dem Markt unbekannten Firma angemietet worden waren, Banner installiert werden.

    Maxim musste ein paar Stunden in der Nähe der Plakatwand auf dem 2. Murinski Prospekt warten. Um nicht direkt im Auto einzuschlafen, trank er Kaffee und schaute eine Sendung mit Ekaterina Schulman.

    Als die Straßenwerbungsarbeiter schließlich kamen, um ein blaues Banner mit einem unauffälligen QR-Code und der Aufschrift „Frohes Neues Jahr, Russland!“ aufzuziehen, grinste Maxim.

    So wurden am Morgen des 7. Dezember – genau 100 Tage vor den russischen Präsidentschaftswahlen (Nawalny war noch am Leben) – in den Nachrichten Banner einer neuen Kampagne des Fonds für Korruptionsbekämpfung gezeigt: Die QR-Codes, die noch in der Nacht zu einer Silvesterlotterie geführt hatten, leiteten die Nutzer nun zu einer Website mit dem Aufruf, wen auch immer zu wählen, nur nicht Putin. Sogar Maxim, der damalige Koordinator der Sankt Petersburger Zentrale für Untergrundaktionen des FBK, empfand damals kaum Genugtuung.

    „Die Banner werden nicht dazu beitragen, Putin zu besiegen und den Krieg zu beenden“, erklärt der Aktivist gegenüber Meduza. Maxim ist immer noch in Russland und hilft dem FBK, aber nicht mehr in der Petersburger Zentrale. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir wenig Einfluss haben. Ok, wenn das System noch wackeln würde, aber der sonnenstrahlende Wladimir Wladimirowitsch hat da was Ultra-Stabiles gebaut. Und es gibt keinerlei Anzeichen, „dass irgendetwas zusammenzubrechen droht.“

    Einige Stunden später am 7. Dezember, rissen Arbeiter unter Aufsicht der Polizei die Banner herunter. Über das Jahr, das seit dieser Aktion vergangen ist, sind Maxims Zweifel am Widerstand gegen Putin gewachsen, auch aufgrund einiger Skandale innerhalb der russischen Opposition im Ausland:

    „Ich weiß nicht, warum Maxim Katz den FBK angegriffen hat. Warum Leonid Newslin den Auftrag gab, Leonid Wolkow mit einem Hammer zusammenzuschlagen – das ist quasi die Pest aus den 1990er Jahren, nur innerhalb der Opposition von heute.“

    „Besser wäre, es gäbe sie gar nicht. Die wissen nicht mal mehr, gegen wen man wirklich kämpfen muss. Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu diskutieren, wer mit wem zusammengearbeitet hat, wer zu wessen Verteidigung Briefe unterschrieben hat. Doch es ist, als hätten Chodorkowski, Katz und der FBK schon vorher beschlossen, wer von ihnen das Recht hat, sich Opposition zu nennen.“

    „Nawalny hat uns allein gelassen wie Katzenbabys. Jetzt schreibt nicht mal mehr jemand aus dem Gefängnis Briefe wie: ‚Leute, keine Sorge, ich bin bei euch!‘ Er hat nur ein Vermächtnis hinterlassen: Wenn ich mal nicht mehr da bin, dann ist es eure Aufgabe, selbst starke Katzen zu werden. Man könnte denken, genau das hat die Opposition nicht geschafft.“

     

    „Entführen. Verprügeln. Anzünden“: In diesem Video verdächtigt der FBK Leonid Newslin, den Überfall auf Leonid Wolkow in Auftrag gegeben zu haben / Quelle: youtube.com/@NavalnyRu

     

    „Die Menschen wollen damit nicht in Verbindung gebracht werden“

    Interne Konflikte haben die russische Opposition in einen Sumpf aus Trübsal, Verzagen und Ekel gestürzt, so berichten unabhängige Politiker und Aktivisten auf Anfrage von Meduza ihre Sicht auf die Ereignisse von 2024.

    Der Leiter einer Organisation, die russischen Kriegsgegnern bei der Ausreise unterstützt, „schaffte es eine Woche lang nicht aus dem Bett“, da sich vor dem Hintergrund all der Skandale seine depressiven Symptome heftig verschlimmerten.

    Viele politische Gefangene seien schlicht sauer über die Darstellung der Ereignisse auf Twitter, erzählen Freiwillige des Projekts Peredatschi Siso, das politische Häftlinge unterstützt. „Viele russische Aktivisten wollen sich lieber ganz raushalten, um nicht ihre letzten Kräfte zu verschwenden“, meint etwa Darja Serenko, eine Koordinatorin der Feministischen Antikriegsbewegung FAS. Sie lebt heute in Spanien.

    Shanna Nemzowa, die Leiterin der Boris-Nemzow-Stiftung, ist sich sicher, dass in letzter Zeit ausnahmslos alle russischen Oppositionellen „toxischer geworden sind“ und „die Menschen damit nicht in Verbindung gebracht werden wollen“.

    Im Jahr 2023 war Shanna Nemzowa selbst in den Fokus einer aufsehenerregenden Geschichte geraten, als bekannt wurde, dass ein Agent des Militärgeheimdienstes GRU in ihren engsten Kreis vorgedrungen war. Es handelte sich dabei um den spanisch-russischen Staatsbürger Pablo Gonzalez (alias Pawel Rubzow), der mehrere Jahre unter falscher Identität in Kreisen der Opposition verbracht und als Journalist und Kriegsreporter gearbeitet hatte (Gonzalez war 2022 von polnischen Behörden wegen Spionage-Verdachts festgenommen worden und wurde im August 2024 bei einem internationalen Gefangenenaustausch nach Russland überführt – dek).

    Im Herbst 2024 äußerte sich der Unternehmer und Philanthrop Boris Simin, der viele Jahre den Fonds für Korruptionsbekämpfung FBK unterstützt hatte, tief enttäuscht über die Anführer der Opposition. Simin kritisierte öffentlich die Leitung des Fonds und verurteilte die Strategie, die die Organisation in den letzten Jahren verfolgt hatte – auch die letzten Projekte des FBK, unter anderem die Newslin-Recherche und die YouTube-Serie Predateli [dt. Verräter], die die Geschichte der 1990er Jahre neu interpretiert.

    „Ich finde es bedauerlich, dass dermaßen große Anstrengungen darauf verwendet werden, um Bedeutung auf einer Plattform zu erlangen, die im Grunde sehr wenig Einfluss hat“, sagte Simin Meduza über den Konflikt des FBK mit Michail Chodorkowski und anderen „Oligarchen der 1990er Jahre“. „Zu gern würde ich die Opposition lieben, doch ihre Bedeutung heute – im Krieg, für die Stabilität des Putin-Regimes und was die Frage der Widerstandskraft der Ukraine angeht – ist sehr, sehr gering.“

    Jewgeni Tschitschwarkin, ebenfalls eine bekannte Persönlichkeit, Unternehmer und Mitglied des Antikriegskomitees Russlands, hat Ende 2024 erklärt, dass er sich ganz aus der Opposition zurückziehen wolle, bis sich deren Anführer wieder „auf den äußeren Feind konzentrieren“.  Gegenüber Meduza wollte er sich dazu nicht genauer äußern.

     

    „Wie man Milliarden stiehlt und sich dann als Oppositioneller ausgibt“: Maxim Katz greift Nawalnys FBK in einem Video an / Quelle: youtube.com/@Max_Katz

    Nur wenige, die von diesen Skandalen direkt betroffen waren, tun so, als würde sie das nicht weiter bekümmern. Michail Chodorkowski, ein enger Freund und Geschäftspartner Newslins – sagte Meduza, die Konflikte würden ihn „kein bisschen deprimieren“. Der Politiker Maxim Katz ist sich sicher, dass seine aufsehenerregende Recherche über die Bänker und den FBK „das Publikum, ganz im Gegenteil, begeistern würde: Menschen möchten lieber, dass Politiker nicht reich, dafür aber ehrlich sind.“ (Vertreter des FBK lehnten es ab, für diese Recherche mit Meduza zu sprechen.)

    Der Hauptgrund für die anhaltenden Konflikte scheint für die meisten Gesprächspartner von Meduza auf der Hand zu liegen, und sie formulieren ihn alle ähnlich: Die russische Opposition befindet sich in einer Krise und fast niemand glaubt, dass ihre Anführer in nächster Zeit in Russland an die Macht kommen können.

    „Niemand hat eine Idee, wie man Putin aus dem Kreml vertreiben oder den Krieg beenden kann“, sagt Sergej Davidis, Mitarbeiter von Memorial und Leiter des Programms Podderzhka Politsakljutschennych (dt. Unterstützung politischer Häftlinge). „Deswegen beginnen die Leute, Schuldige zu suchen.“

    Die Journalistin Alexandra Garmashapowa formuliert das so: „Es ist leichter, sich untereinander zu bekämpfen, als Putin. Die Menschen agieren einfach ihre Hilflosigkeit aus.“

     

    Du schaust dir jemanden auf YouTube an und denkst: „Alter, du bist ja mächtig weit weg von der Realität.“

    Für Politiker im Exil und ihre Anhänger, die in Russland geblieben sind, wird es immer schwieriger, einander zu verstehen. Sie leben in zwei unterschiedlichen Realitäten, jede hat ihre eigenen Probleme. Deswegen wirken Konflikte zwischen oppositionellen Gruppen im Ausland besonders unangebracht, berichten die von Meduza befragten Politiker und Aktivisten.

    Die Kluft zwischen russischen Bürgern und politischen Emigranten „ist riesig – und wird immer weiter wachsen“, ist Shanna Nemzowa überzeugt. Zwei Gesprächspartner aus der russischen Zivilgesellschaft erinnern sich in einem Gespräch mit Meduza an einen der wichtigsten Protestslogans Ende 2011: „Ihr vertretet uns gar nicht.“ Das war damals nach den Wahlen gegen die Duma-Abgeordneten gerichtet, nachdem Wahlbeobachter und Journalisten schockierende Wahlfälschungen festgestellt hatten. „Das Schlimme ist, dass dieser Slogan jetzt nicht mehr nur auf die Herrschenden zutrifft, sondern auch auf die Opposition“, sagt Grigori Swerdlin vom Kriegsdienstverweigerer-Projekt Idite Lessom [dt. Geht durch den Wald bzw. Haut ab!].

    „Diejenigen, die in Russland geblieben sind, haben darauf gehofft, dass diejenigen, die ausreisen konnten, sich treu bleiben“, sagt die Journalistin und ehemalige Duma-Abgeordnete Jekaterina Dunzowa, die bei den Präsidentschaftswahlen 2024 versucht hatte, als Anti-Kriegs-Kandidatin anzutreten und immer noch in Russland lebt. „Stattdessen gab es endlose Querelen. Klar, dass die Menschen schwer enttäuscht sind“, folgert Dunzowa.

    Maxim aus Sankt Peterburg, der den FBK bei der Banner-Aktion unterstützt hat, sieht die Verantwortung für diese Kluft auch bei den Redaktionen unabhängiger Medien, die außerhalb Russlands arbeiten: „Sowohl die Opposition, als auch sie, die Medien, verlieren die Verbindung zu den Geschehnissen in Russland – das Ausmaß, die Narrative … Ich würde mir wünschen, dass die Meinungsführer, die ausgereist sind, mehr Feedback bekämen. Denn manchmal schaust du was auf YouTube und denkst nur: Alter, du bist ja mächtig weit weg von der Realität – vielleicht sitzt du da selbst in ‘nem Bunker?“

     

     

    In einem anderthalbstündigen Video verteidigt sich der FBK gegen die Vorwürfe des Bloggers Maxim Katz / Quelle: youtube.com/@NavalnyLiveChannel

    Lew Schlossberg, einer der wenigen Oppositionspolitiker, die weiterhin in Russland leben und öffentlich tätig sind (trotz des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens) erklärt, dass er nicht ein Beispiel kenne, „wo ein Politiker, der gezwungen war, Russland zu verlassen, seine lebendigen und unbefangenen Verbindungen zur Gesellschaft aufrechterhalten hätte: Keine elektronische Kommunikation kann das ersetzen, was ich ‚Gespür für das Land‘ nennen möchte. Die Temperatur eines Krankenhauses kann man nur messen, wenn man in diesem Krankenhaus ist. Alles andere sind Ersatz-Impressionen.“

    Schlossberg hat wiederholt erklärt, dass seiner Meinung nach die Aktivitäten politischer Emigranten „absolut keine Verbindung zu der Zukunft unseres Landes haben“. Im August 2024 löste ein Post von Schlossberg, in dem er Überlegungen über eine „Partei aus fremdem Blut“ anstellte, die hoffe „hinter dem Schutzschild fremder Panzer“ nach Russland zurückzukehren, eine der heftigsten Diskussionen der letzten Zeit aus.

    Es war zu erwarten, dass Schlossberg von denen angegriffen werden würde, die aus dem Land fliehen mussten. Der Wirtschaftswissenschafter Konstantin Sonin (der in Abwesenheit zu achteinhalb Jahren Freiheitsstrafe wegen Falschinformationen über die Armee verurteilt wurde) nannte die Äußerungen des Politikers „Ausbrüche von zweifelhaftem Patriotismus“. Der Journalist und Koordinator zivilgesellschaftlicher Projekte, Sergej Parchomenko (in der Russischen Föderation zum „ausländischen Agenten“ erklärt), sagte, „Schlossbergs Jammertirade“ strotze nur so vor „Heuchelei, Demagogie und Geschmacklosigkeit“.

    Auch unter den politischen Emigranten sind viele der Meinung, dass sie von niemandem vertreten werden. Und das, obwohl Anführer der Opposition sich bei europäischen und amerikanischen Politikern für ihre Belange einsetzen (etwa indem sie Vorschläge für Sanktionslisten machen, im EU-Parlament über eine Vision für das Russland der Zukunft sprechen oder für die Rechte russischer Geflüchteter in den USA eintreten). Unter den Putin-Gegnern konnte sich bislang keine Struktur etablieren, die von allen anerkannt wird, als Vertretung der russischen Diaspora fungiert und deren Rechte verteidigt.

    „Es wäre wünschenswert, wenn es eine feste Gruppe geben würde, die sich regelmäßig mit konkreten Anliegen an die europäischen Politiker wendet“, sagt ein Vertreter der Initiative InTransit, die von Berlin aus politisch Verfolgte in Russland unterstützt und ihnen hilft, das Land zu verlassen. „Das sagen wir unseren Politikern immer wieder, denn das hören wir selbst immer wieder von EU-Diplomaten und Mitarbeitern des Europäischen Parlaments. Einzelinitiativen schaden nur. Die Außenministerien beschweren sich bei uns: Mal kommt der Eine, mal ein Anderer; was sollen wir dann machen? Das, was die Einen sagen oder das, was die Anderen vorschlagen?“

    Dasselbe beobachtet auch Ilja Schumanow, Antikorruptionsexperte und ehemaliger Leiter von Transparency international Russland im Exil: „Ich höre von westlichen Diplomaten, dass es großartig wäre, eine russische Tichanowskaja zu haben, also einen Anführer oder eine Koalition, die die Russen vertritt, so wie Tichanowskaja die Belarussen.

     

    „Als Bürger der Russischen Föderation kränkt es mich, dass die Interessen der Ukrainer und unserer ausgereisten Mitbürger in den Mittelpunkt gestellt werden.“   

    In den drei Jahren seit dem 24. Februar 2022 rufen praktisch alle Fragen, die im Zusammenhang mit der Ukraine stehen, in der russischen Opposition schmerzhafte Diskussionen hervor. Doch ein Thema wird besonders kontrovers diskutiert – die Unterstützung der Ukrainischen Armee. Viele ukrainische Aktivisten fordern, dass russische Kriegsgegner Geld an die Ukrainische Armee spenden. Und viele Kriegsgegner aus Russland erwidern, dass sie nicht bereit seien, die Tötung ihrer Landsleute zu finanzieren.

    Rund um diese Frage entspann sich – was absehbar war – eine enorme Anzahl verschiedener Skandale. Im Frühling 2023 postete Anna Weduta – die ehemalige Pressesprecherin Nawalnys und heute Direktorin für strategische Partnerschaften der Free Russia Foundation im Zuge dieser Auseinandersetzung auf X ein Foto, auf dem Granaten zu sehen waren. Auf einer stand geschrieben: „Euer Feind sitzt im Kreml, nicht in der Ukraine!“ Weduta kommentierte: „Bitte sehr, hier ein Screenshot von einer Granate, gekauft mit meinem Geld, mit einem schönen Gruß von mir an unsere Jungs‘.“

    Russische Propagandisten nutzten den Post für Angriffe auf den FBK. Bis heute wird er in Diskussionen in den Sozialen Medien benutzt, um zu veranschaulichen, wie Oppositionelle angeblich den Beschuss des eigenen Landes finanzieren.

    Die Russen wollten aber „eine gesunde patriotische Haltung“, und keine „Loyalität gegenüber dem Westen oder der Ukraine“, sagt Maxim, der ehemalige Aktivist beim FBK: „Man liebäugelt wohl in diese Richtung, auch wenn die Anhänger und potenziellen Wähler hier in Russland leben. Als Bürger der Russischen Föderation kränkt es mich, dass die Interessen der Ukrainer und unserer ausgereisten Mitbürger in den Mittelpunkt gestellt werden. Und wir hier in Russland werden irgendwie ausgeschlossen. Veränderungen werden nicht vom Ausland aus losgetreten – sie beginnen hier, innerhalb des Landes.“   

    Einer der von Meduza befragten Politikwissenschaftler, der sich im Exil befindet, formuliert es so: Ein Teil der russischen Opposition hat begonnen, die Lage mit „ukrainisch-westlichen Augen“ zu sehen. Mit der Darstellung, dass alle Russen für den Krieg verantwortlich sind, „lässt es sich im Westen gut und bequem leben – aber sie bietet keinerlei Chancen auf größere Sympathie in Russland“, meint der Experte.

    Anhand folgender Geschichte lässt sich gut nachvollziehen, wie sich die politische Rhetorik verändert, sobald ein Politiker Russland verlässt. Ilja Jaschin, der 2022 für seine Antikriegsaktivität eingesperrt wurde, kam 2024 infolge eines großen Gefangenenaustauschs zwischen dem Westen und Russland frei. Er landete in Europa (obwohl er es kategorisch abgelehnt hatte, seine Heimat zu verlassen). Gleich darauf bezeichnete er die Beendigung des Krieges als Priorität seiner politischen Arbeit. Der Krieg, so erklärte er, sei in eine „blutige Sackgasse“ geraten, beide Seiten sollten sich an den Verhandlungstisch setzen. Diese Worte lösten auf ukrainischer Seite und bei den Befürwortern einer Fortsetzung des Krieges bis zu einem Sieg der Ukrainischen Armee und der Wiederherstellung der Grenzen von 1991 heftigen Unmut aus.

    Bereits am dritten Tag nach dem Austausch pflichtete der Politiker seinen Kritikern bei. In einem Video-Stream erklärte er, dass seine Schlussfolgerung letztlich „aus dem Zusammenhang gerissen“ worden sei und dass nicht ein einziges Stück der Ukraine „Putin überlassen“ werden dürfe (weil der sonst nur „aggressiver“ werde). Jaschin gab auch zu, dass ihm klar geworden worden sei, dass er „seine Worte besser hätte wählen“ sollen, wenn man berücksichtigt, wie viele Ukrainer ihre Liebsten aufgrund der Handlungen Russlands verloren hätten. Die neuen Aussagen riefen wiederum Kritik in einem anderen Teil der Öffentlichkeit hervor – bei denen, die meinen, dass Politiker im Exil in erster Linie die Interessen der Russen vertreten sollen, die sich gegen den Krieg positionieren. (Jaschin lehnte es ab, für diesen Text mit Meduza zu sprechen.)

    Die Berliner Kundgebung am 17. November, zu der Julia Nawalnaja, Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa aufgerufen hatten, war im Jahr 2024 eine der wenigen Einheit stiftenden Ereignisse für die russische Opposition – ungeachtet dessen, dass sie für veraltete Losungen kritisiert wurde. Doch auch im Zusammenhang mit dieser Veranstaltung gab es Ärger: Im Anschluss an die Demonstration kam es zu einem riesigen Skandal wegen einer russischen Flagge, die ein Teilnehmer zu dem Berliner Protestmarsch mitgebracht hatte.

     

    „Die Opposition hat sich in eine Ansammlung von Bloggern mit Starallüren und Millionen Followern verwandelt“

    Da sie keine Möglichkeit haben, real um politische Macht zu kämpfen oder zumindest innerhalb des Landes Aktionen durchzuführen (Proteste sind in Russland verboten und werden brutal unterdrückt), haben sich Oppositionelle auf mediale Instrumente fokussiert. In Bezug auf Nachrichten-Produktion konkurrieren sie mit den unabhängigen Medien und versuchen, staatliche Propaganda zu bekämpfen.

    „Die Opposition hat sich in eine Ansammlung von Bloggern mit Starallüren und Millionen von Followern verwandelt“, meint Alexandra Garmashapowa. „Man hat das Gefühl, dass sie in ihrer eigenen Welt leben. Ich erinnere mich, wie sie auf einer Versammlung des Antikriegskomitees im Frühling des Jahres 2023 anfingen, die Zahl ihrer Abonnenten auf YouTube zu vergleichen. Das wirkte wirklich jämmerlich. Wir alle sitzen in einem sinkenden Schiff, das sich in einem sehr schlechten Zustand befindet. Und jetzt sollen wir ernsthaft klären, wer wie viele Abonnenten hat?“

    „Ja, Politiker verwandeln sich in Medien“, räumt Maxim Katz ein, der immer noch häufiger als „Blogger“ denn als „Politiker“ bezeichnet wird. „Ich versuche, nicht abzuheben. Wir müssen den Russen zu verstehen geben, dass man auf Russisch immer noch Dinge sagen kann, die sich von Propaganda unterscheiden. Damit man im richtigen Moment, wenn sich eine Möglichkeit ergibt, legal in die russische Politik eingreifen kann, sollte man schnell eine politische Partei gründen.“

    Wobei politische Blogger und Medien praktisch keine eigene Agenda setzen würden, so beklagen einige Gesprächspartner von Meduza aus der Szene: „Sie sind völlig reaktiv: In Russland passiert etwas und hier wird reagiert“, sagt der Politologe Iwan Preobrashenski. Eine Ausnahme ist der FBK, der sowohl Serien wie Verräter als auch investigative Filme veröffentlich, wie sie der FBK früher produzierte. Zum Beispiel über das Gehalt von Rosneft-Chef Igor Setschin.


    „Einige Leute sind bereit, ihre Reputation zu Markte zu tragen“

    Einige Aktivisten, mit denen Meduza gesprochen hat, räumen ein, dass sie sich erst nach den Konflikten innerhalb der Opposition im Jahr 2024 zu fragen begannen, wie sich die politischen Organisationen, Menschenrechts-Projekte und Medien in der Emigration eigentlich finanzieren.

    So erfuhr die Öffentlichkeit zum Beispiel erst durch die Recherchen des FBK zum Überfall auf Leonid Wolkow davon, dass Leonid Newslin eine ganze Reihe von Medien-Projekten finanziert hatte (etwa den oppositionellen Kanal Sota, der seine Nachrichten vor allem auf Telegram und in anderen Sozialen Netzwerken veröffentlicht oder sogar den YouTube-Kanal Nawalny Live). Der Film von Maxim Katz über die Bankiers führte zu einer Diskussion darüber, ob es für politische Organisationen wie den FBK überhaupt zulässig ist, Geld von Unternehmern mit zweifelhaftem Ruf anzunehmen.

    Politische Bewegungen und Projekte zum Schutz der Menschenrechtsorganisationen existieren nicht alleine dank privater Spender. Sie bekommen auch Unterstützung aus der EU und den USA. Finanzierung aus dem Ausland ist für die meisten Empfänger in doppelter Hinsicht heikel: zum einen was ihre Sicherheit, aber auch was ihre Reputation betrifft. Deshalb dringt wenig darüber an die Öffentlichkeit, welche Organisationen über welche Strukturen finanziert werden.

    Nach Einschätzung von Personen, mit denen Meduza sprechen konnte, spielte in den vergangenen Jahren die Free Russia Foundation (FRF) eine zentrale Rolle dabei, die amerikanischen Gelder zu verteilen. Diese Nichtregierungsorganisation wurde 2014 von russischen Emigranten in den USA gegründet. Sie unterstützt politische Häftlinge und Menschen, die das Land aus politischen Gründen verlassen haben. Und sie „kämpft gegen Propaganda“. 2019 wurde die FRF vom russischen Staat zur „unerwünschten Organisation“ erklärt. 2024 stufte das Justizministerium die Stiftung als „extremistisch“ ein). „Sie haben große Summen von Stiftungen bekommen, vor allem aus Amerika. In der Folge wurden sie zu einer einflussreichen Institution, einfach nur, weil sie Geld hatten“, erklärt einer, der sich mit dem System der Verteilung dieser Gelder auskennt im Gespräch mit Meduza.

    Gleichzeitig wird die Free Russia Foundation ständig von Medien und Bloggern in die Mangel genommen, die mit Leonid Newslin in Verbindung stehen. Das Portal Agenstwo zählte in Medien, die Newslin nahestehen, mehrere Dutzende Artikel, die die FRF kritisieren.

    Im Dezember gab Natalia Arno, die Chefin der FRF, bekannt, sie sei in London Opfer eines Überfalls geworden: Ein Unbekannter sei mit einem Scooter auf sie zugefahren, habe ihr das Handy aus der Hand gerissen und gerufen: „Viele Grüße von Newslin!“ Der Zwischenfall ereignete sich wenige Minuten nach einem Treffen zwischen Arno und Michail Chodorkowski. Newslin lehnte einen Kommentar zu diesen Vorwürfen ab.

    Der Stopp der Unterstützung durch die Agentur USAID Anfang 2025 war ein schwerer Schlag für alle Organisationen, die auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen sind – offenbar auch für die Free Russia Foundation. Wie groß die Mittel genau waren, die USAID für Projekte im Zusammenhang mit Russland ausgegeben hat, ist nicht bekannt. Ebenso ungewiss ist, ob es gelingt, die nun entstandenen Lücken mit europäischer Hilfe zu schließen.

    Allerdings begannen die finanziellen Probleme der russischen Opposition im Ausland bereits vor Trumps Rückkehr ins Weiße Haus. Und einer der Gründe für den sogenannten „Zweiten Krieg um die Fördertöpfe“, wie der Kampf um die Ressourcen bisweilen sarkastisch genannt wird, waren wiederum interne Konflikte.

    „Wir dachten, ihr seid Kämpfer für die Menschenrechte und grundsätzlich anders als Putin. Aber wenn ihr mit Hämmern aufeinander einschlagt, dann stellt das alle in ein schlechtes Licht“, gibt Davidis von Memorial die Reaktion eines westlichen Politikers auf die Vorwürfe gegen Newslin wieder.

    Einige Stiftungen hätten daraus den Schluss gezogen, dass sie die russischen Empfänger künftig noch sorgfältiger überprüfen sollten. So berichtete es der ehemalige Vorsitzende von Transparency International – Russland im Exil, Ilja Schumanow.

    Am stärksten würden darunter kleine Initiativen leiden, glaubt der Politikwissenschaftler Preobrashenski: „Die Bürokraten im Westen werden weiter mit denen zusammenarbeiten, die sie bereits kennen. Aber alle Graswurzel-Bewegungen stehen jetzt unter Verdacht, sie hätten solch ‚dubiose Sponsoren wie der FBK‘, und alle bisherigen Unterstützer werden ganz genau unter die Lupe genommen.“

    Private Gelder, die in die Zivilgesellschaft fließen, werden häufig nach dem Prinzip „Vitamin B“ verteilt, sagt Shanna Nemzowa. „Das führt dazu, dass die Spender häufig versuchen, sich Loyalität zu erkaufen.“ Grigori Swerdlin pflichtet ihr bei: „Es gibt Leute, die bereit sind, ihre Reputation geradezu zu Geld zu machen.“ Die russische Diaspora und viele ihrer intellektuellen Projekte seien „schlichtweg ein Netzwerk von Dienstleistern, die alle Interessen von irgendjemandem bedienen“, sagt Preobrashenski über die privaten Spender russischer Abstammung. „Es gibt sehr wenige unabhängige Leute.“

     

    „Ich kann keine Kraft mehr aufbringen. Und ich weiß auch nicht, wozu“

    Seit dem 24. Februar leben Aktivisten innerhalb und außerhalb von Russland in verschiedenen Welten. Diese Diskrepanz vertieft die große Spaltung in der russischen Zivilgesellschaft.

    Ein Mittel, um diesen Graben zu überwinden, wäre „damit auzuhören, den Menschen ständig mit Prügelstrafe zu drohen“, glaubt Sergej Dawidis von Memorial. Seiner Meinung nach könnte das auch dazu beitragen, die soziale Basis des Widerstands gegen Putin zu verbreitern und auch Russen anzuziehen, die noch unentschieden sind. Alexandra Garmashapowa stimmt dieser Ansicht zu: „Die Opposition macht einen Fehler, wenn sie diese Unentschiedenen und sogar die Kriegsbefürworter von vornherein für dumm erklärt“, sagt die Journalistin. „Wenn du die Leute, die dir nicht gefallen, einfach ignorierst, verschwinden sie deshalb nicht.“

    Die Politikwissenschaftlerin Margarita Sawadskaja weist im Gespräch mit Meduza darauf hin, dass sich die Oppositionellen, die ins Ausland geflohen sind, schwer damit tun, Themen aufzugreifen, die für die Menschen in Russland relevant sind, und gleichzeitig eine gute Zusammenarbeit mit dem Westen aufzubauen. Dies sei ein „schwieriges Unterfangen“, findet Sawadskaja: „Die Hauptaufgabe besteht gar nicht so sehr darin, die Beziehungen zueinander am Leben zu halten, sondern das Ansehen im Westen zu wahren. Man muss sehr darauf achten, eine Linie zu finden, die von den Partnern im Westen mitgetragen werden kann.“

    Derweil sind die Erwartungen der westlichen Staaten, die nach wie vor die russische Opposition unterstützen, allem Anschein nach bescheiden: Trotz aller Konflikte setzen sie nach wie vor darauf, dass die unterschiedlichen politischen Gruppierungen lernen, miteinander zu kooperieren und gemeinsame Aktionen durchzuführen, erzählt ein Gesprächspartner von Meduza.

    Iwan Preobrashenski glaubt, der Westen sähe es nicht gerne, wenn die Opposition ihre Agenda radikalisieren würde: „Zum Beispiel will niemand Geld für echte Anti-Kriegs-Aktionen geben, auch nicht für subversive. 2023 war ich auf einer Veranstaltung, an der auch europäische Politiker teilgenommen haben. Die haben von den russischen Veranstaltern verlangt, dass noch nicht einmal das Wort ‚Kampf‘ benutzt werden darf: ‚Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass wir direkte Aktionen in Russland unterstützen.‘“ 

    Nachdem Chodorkowski [im Juni 2023] seine Unterstützung für den Prigoshin-Aufstand bekundet hatte, hätten die US-Stiftungen ihren Geldempfängern, die mit Chodorkowski zusammenarbeiteten, klargemacht, dass sie „keine Anträge mehr zu stellen bräuchten“, so erzählt es Preobrashenski. Chodorkowski selbst bestätigte diese Aussage im Gespräch mit Meduza, ging aber nicht darauf ein, um welche Stiftungen es sich genau handelte:

    „Zum Umsturzversuch von Prigoshin hatte ich einen sehr konfrontativen Auftritt vor Russland-Experten im US-Außenministerium“, erinnert sich Chodorkowski. „Die verstehen alle sehr gut, dass erst eine Spaltung in der Elite zu einem Regimewechsel in Russland führen kann. Aber ein ausgewachsenes totalitäres Regime spaltet sich nicht in die Guten und die Bösen. Es spaltet sich in Böse und Böse. Das ist allen klar! Aber der Begriff ‚Regime Change‘ ist in Washington tabu.“

    Aktivisten und junge Politiker, die ihre Aktivitäten in den Untergrund verlegt haben, blicken skeptisch auf ihre eigenen Erfolgschancen. „Viele von uns werden die Ergebnisse ihrer Arbeit zu Lebzeiten nicht mehr erleben“, ist [die feministische Künstlerin] Darja Serenko überzeugt. „Sich damit abzufinden, ist sehr schwer. Du hast das Gefühl, du arbeitest ins Leere, im Nebel, ins Nichts.“

    Etwa jeder Dritte der Aktivisten und Politiker, mit denen Meduza für diese Recherche gesprochen hat, war der Ansicht, dass der Opposition nichts anderes übrigbleibe als abzuwarten, bis Putins autokratisches Regime von selbst zusammenbricht. Letztlich sei kein Aktivismus in der Lage, diesen Prozess zu beschleunigen. Derweil sei es fraglich, ob überhaupt irgendjemand aus den Reihen der heutigen Oppositionsführer dann einen wichtigen Posten im neuen System einnehmen könne, glaubt Shanna Nemzowa.

    Sowohl politische Beobachter als auch einige Aktivisten gehen davon aus, dass eine neue Generation politischer Anführer in Russland heranwachsen wird. „Das werden ganz neue Leute sein. Junge, die noch keine Enttäuschungen erlebt haben, die wissen, was sie wollen und in was für einem Land sie leben wollen“, ist Alexandra Garmashapowa überzeugt.

    „Alles, was die russische Opposition je getan hat, wurde am 24. Februar zunichte gemacht – das Gute wie das Schlechte“, glaubt der Politologe Iwan Preobrashenski. „Aber sie selbst beginnen erst jetzt langsam, das zu begreifen. Der heftige Aktivismus, den wir derzeit beobachten, ist nichts anderes als der Versuch, sich dem unaufhaltsamen Lauf der Geschichte entgegenzustemmen. Wenn sie nicht ihnen nicht klar wird, dass ihre Rolle jetzt ist, neue Organisationen und neue Anführer zu unterstützen und zu finanzieren, die ein besseres Gespür dafür haben, was gerade passiert, dann schreiben sie sich selbst ab.“

    Sergej Dawidis von Memorial hingegen ist angesichts der jüngsten hitzigen Auseinandersetzungen unterschiedlicher oppositioneller Gruppen „nur von einzelnen Personen enttäuscht“, aber nicht von der oppositionellen Bewegung im Ganzen. „Das ist kein Weltuntergang, es kommen neue Leute. Die Jungen, die keinen formellen Führungsstrukturen angehören, fühlen sich nicht vertreten. Aber nur vorläufig.“

    Die 21-jährige Olessja Kriwzowa ist zum Beispiel eine von denen, die sich buchstäblich „nicht vertreten“ fühlen. Sie wurde in der Oblast Belgorod geboren, noch als Teenager begann sie, die Videos von Alexej Nawalny zu schauen. Am 23. Januar 2021 nahm Kriwzowa zum ersten Mal an einer Demonstration teil, um den Gründer des Fonds für Korruptionsbekämpfung zu unterstützen [Nawalny war wenige Tage zuvor nach seiner Behandlung aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt und noch im Flughafen festgenommen worden war – dek]. Im März 2022 nahm sie zum ersten Mal an einer Demonstration gegen den Krieg teil. Sie verteilte auch Flugblätter des Feministischen Widerstands (FAS). Am Morgen des 26. Dezember 2022 brach die Polizei die Tür zu ihrer Wohnung auf.

    Gegen Kriwzowa wurden zwei Strafverfahren wegen Anti-Kriegs-Postings eingeleitet, die Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring trug sie ins Register der Terroristen und Extremisten ein. Im März 2023 gelang Kriwzowa mit Hilfe des Projekts Wywoshuk die Flucht aus dem Hausarrest. Sie verließ ihre Wohnung und schnitt die elektronische Fußfessel ab.

    Heute lebt Kriwzowa in Kirkenes im Norden Norwegens. Neben ihrem Fernstudium an der Universität Vilnius schreibt sie für die Zeitung The Barents Observer Artikel über Russland und den Krieg. Ihren eigenen Worten nach hat sie sich von den Kreisen der russischen Opposition „stark abgegrenzt“: „Ich habe keine Kraft dafür – und ich wüsste auch nicht, welchen Zweck das haben könnte.“

    Kaum war sie mit der Vorgänger-Generation Oppositioneller in Kontakt gekommen, war ihr auch schon die Lust vergangen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, waren für Olessja gar nicht die Konflikte, sondern dass „eine einflussreiche Person aus der russischen Opposition“ begann, sie zu bedrängen: „Bei einem Treffen begann er plötzlich sehr viel über Sex zu reden, wobei ich darum keineswegs gebeten hatte. Ich bin einfach weggerannt. Später habe ich gehört, dass ich nicht die einzige war, der so etwas passiert ist.“

    „Ich kann gut für mich selbst sprechen“, sagt Olessja Kriwzowa. „Solange wir nicht anständig und sauber werden, kann nichts Gutes dabei herauskommen.“

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    TikToks Moskau-Fanklub

    Während das deutsche Außenministerium dringend von Reisen nach Russland abrät, hat Moskau eine Charme-Offensive gestartet, um insbesondere Reisende aus westlichen Staaten anzulocken. Im August 2024 führte Wladimir Putin per Erlass eine neue Visa-Kategorie ein: das „Privatvisum für Personen, die traditionelle russische geistige und moralische Werte teilen“. Damit solle Personen „humanitäre Unterstützung“ geleistet werden, „deren Staaten eine destruktive neoliberale ideologische Politik durchsetzen, die den traditionellen russischen spirituellen und moralischen Werten zuwiderläuft“, heißt es im Ukas

    Medial wird die Kampagne von einer Schar von Influencerinnen und Influencern begleitet, die auf TikTok, Instagram und YouTube die Vorzüge eines Lebens in Russland preisen. Diese decken sich oft mit dem, was Vertreter der politischen Ränder hierzulande kritisieren: keine Rundfunk-Gebühren, billiges Benzin, Frauen dürfen noch Frauen sein und Männer echte Männer. 

    Das Programm wird von der Ex-Spionin Maria Butina koordiniert (T-Online hat darüber im Dezember 2024 berichtet). Butina war im April 2019 in den USA wegen Spionage im Auftrag Moskaus zu 18 Monaten Haft verurteilt und nach Abbüßen eines Teils ihrer Strafe im Oktober 2019 nach Russland abgeschoben worden. Als Abgeordnete der Kreml-Partei Einiges Russland ist es seitdem ihre Rolle, die Menschenrechtslage im Westen zu kritisieren und Russland als das wahre Land der Freiheit zu präsentieren. Eine der prominentesten Bloggerinnen in Butinas TikTok-Team ist die „russische Amerikanerin“ Alexandra Jost mit insgesamt 500.000 Followern auf unterschiedlichen Plattformen. Laut Recherchen der Novaya Gazeta Europe bekam Jost zumindest im Jahr 2023 regelmäßig Geld von RT, dem wichtigsten Sprachrohr russischer Propaganda im Ausland. 

    Ballett, Birken und bunte Zwiebeltürme: Bloggerinnen im staatlichen Auftrag zeichnen Russland als Sammelsurium süßlicher Klischees / Illustration: Novaya Gazeta Europe 

    Zu TikTok-Liedern nimmt die 27-jährige Alexandra alias Sasha Jost coole viral gehende Videos an den heißesten Touristenspots Russlands auf: die Städte am Goldenen Ring, das Ballett Nussknacker, die Stadtzentren von Moskau und Sankt Petersburg. In ihrem Blog gibt es auch Videos von Fernreisen: zum Beispiel aus dem Petschoro-Ilitsch-Nationalpark in der Republik Komi, von der Krym und aus Sibirien. Die junge Frau besucht dort Restaurants und macht professionelle Fotoshootings, ohne Werbung in ihrem Blog zu bringen. 

    Jost bezeichnet sich selbst als „russische Amerikanerin“, da sie als Tochter einer Russin und eines Amerikaners geboren wurde. Die Familie lebte zunächst in Hongkong, dann zog sie in die Vereinigten Staaten, Jost machte einen Universitätsabschluss in Belgien. Doch, wie sie in einem Interview mit dem russischen Staatsfernsehen sagt, hat sie „ihr Leben lang Russophobie erlebt, während sie im Ausland lebte.“ Mit 19 verbrachte Jost probehalber ein Jahr in Sankt Petersburg, und es gefiel ihr so gut, dass sie beschloss, für immer nach Russland zu ziehen. 

    Im Sommer 2023 startete sie einen YouTube-Kanal über ihre Leben und ihre Reisen in Russland. Ein Jahr später wurde er gesperrt, angeblich „ohne Begründung“, und sie wechselte zu anderen Sozialen Netzwerken. Inzwischen hat sie fast 160.000 Abonnenten auf TikTok, mehr als 200.000 auf Instagram und ihre Videos und Reels werden millionenfach aufgerufen. 

     

    „Jedes positive Video über Russland wird als Propaganda gebrandmarkt“ 

    In den Videos vergleicht die junge Frau oft westliche Länder mit Russland – und stets schneidet Russland besser ab. So vertritt sie zum Beispiel die Meinung, dass Frauen in Russland unglaublich viel weiblicher seien und Männer sich immer um sie kümmern und Verantwortung für sie übernehmen würden. Gleichzeitig sagt die junge Frau nichts über das Problem der häuslichen Gewalt in Russland, wo im Zeitraum 2020–2021 mehr als 70 Prozent aller Morde an Frauen von ihren Partnern und Verwandten begangen wurden. Oder sie zeigt, dass es trotz der Sanktionen selbst in kleinen Lädchen in der russischen Provinz alle notwendigen Produkte gibt – von den Preisen ist dabei keine Rede. 

    Im Juni 2024, nachdem YouTube ihren Kanal gelöscht hatte, startete sie einen neuen, und änderte den Namen; jetzt hat sie dort schon 22.000 Abonnenten. „Offenbar wird jedes positive Video über Russland als Propaganda gebrandmarkt. Aber wie wir alle wissen: Russen geben nicht auf! Und auch ich werde nicht schweigen“, beteuerte Jost in ihrem ersten Video. 

     
    Den Kanal Sasha Meets Russia hat Youtube gesperrt. Die Bloggerin setzt ihr Programm jetzt unter dem Namen @SashaandRussia fort  

    Novaya Europe liegt die Steuererklärung von Sasha Jost vor: Demnach erhielt sie zumindest im Jahr 2023 regelmäßig Geld von TV Novosti – das ist die juristische Person hinter RT, dem Fernsehsender Russia Today. Sasha Jost hat nie öffentlich erwähnt, dass sie für diesen staatlichen russischen Fernsehsender arbeitet, der in vielen Ländern wegen Propaganda verboten ist. Stattdessen machte sie sich lustig über die Ansicht, dass jeder, der in Russland lebt, zwangsläufig für den Staat arbeitet. 

    RT wird seit vielen Jahren vom russischen Staat finanziert: Im Jahr 2023 erhielt der Sender 26,7 Milliarden Rubel [278 Millionen Euro] aus dem Haushalt, im Jahr 2024 waren es fast zwei Milliarden Rubel [20 Millionen Euro – dek] mehr. Seit März 2022 ist die Ausstrahlung von RT in der EU und den USA blockiert. In den Vereinigten Staaten gilt der Kanal als ausländischer Agent, und gegen Simonjan und ein paar weitere Top Manager sind Sanktionen verhängt worden. Im Jahr 2024 beschuldigte der US-Außenminister den Sender gar der Beteiligung an russischen Geheimdienstoperationen. 

    Die Novaya Europe bat Sasha Jost um eine Stellungnahme zu den Informationen über ihre Arbeit für RT. Die Bloggerin verlas die Fragen der Journalisten auf ihrem Telegram-Kanal, aber beantwortete sie nicht. 

    Ihren eigenen Aussagen zufolge unterrichtet Sasha Jost neben dem Bloggen Englisch und arbeitet als Designerin. 

     

    Eine internationale Blogger-Familie 

    Einige Reisen macht Jost gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Mexikaner Domingo Garcia. Er ist seinen Worten zufolge ebenfalls aus weltanschaulichen Gründen nach Russland gezogen. Bis 2024 hat er in Russland im Masterprogramm Internationales Management an der der Higher School of Economics studiert und danach die Lateinamerikanische Handelskammer gegründet, eine Organisation, die vorgeblich den bilateralen Handel und Investitionen zwischen lateinamerikanischen Ländern und der Russischen Föderation fördern soll. 

    Novaya Europe konnte keine Spur von Aktivitäten dieser Organisation finden – vor allem ist keine juristische Person unter dem Namen Garcia Domingo in Russland registriert. Als Blogger jedoch ist er bei der Agentur Besgranitschnyje (dt. die Grenzenlosen) gelistet. Im Firmenkatalog der Agentur ist auch Sasha Jost zu finden. 

    Das Profil von Garcia Domingo auf dem Portal von Besgranitschnyje. Auch seine Frau Sasha Jost ist dort vertreten. Rechts neben ihr der deutschsprachige Blogger Sven Svenson / Screenshots: dekoder 

    Die Agentur bietet ihren Kunden an, durch die Zusammenarbeit mit ausländischen Bloggern den „Wiedererkennungswert der Marke“ zu erhöhen und die „Reichweite bei den Kunden“ zu steigern. Gegründet wurde sie im April 2024 von der Assistentin der Duma-Abgeordneten Olga Timofejewna, der Polittechnologin und PR-Frau Maria Dudko. 

    Auch die Bloggerin Karina Kipp wird von der Agentur Besgranitschnyje vertreten. In Deutschland sehen ihr mehr als eine Millionen Menschen zu, wenn sie Küchen-Hacks ausprobiert / Screenshot dekoder
    Auch die Bloggerin Karina Kipp wird von der Agentur Besgranitschnyje vertreten. In Deutschland sehen ihr mehr als eine Millionen Menschen zu, wenn sie Küchen-Hacks ausprobiert / Screenshot dekoder

    Domingos Social-Media-Konten sind nicht kommerziell ausgerichtet. Doch reist er regelmäßig mit seiner Frau durch Russland und gibt auch häufig in den Staatsmedien Interviews darüber, wie schön es sei, in Russland zu leben. „Ich habe eine russische Seele“ sagt Domingo und schimpft auf „die westlichen Länder“, in denen, wie er es nennt, „die traditionellen Werte ihre Bedeutung in der Gesellschaft verlieren“. 

     

    Maria Butinas TikTok-Team 

    Seit 2024 erscheinen in den Sozialen Netzwerken immer häufiger Videos von ausländischen Bloggern: Sie reisen alle immer an dieselben Orte und äußern sich zu Russland mit denselben Worten – das erweckt den Eindruck einer koordinierten PR-Kampagne. 

    So besuchten am 18. Januar beispielsweise Blogger aus mehreren Ländern das Kloster Neu-Jerusalem in der Region Moskau und nahmen an einem traditionellen Eisbad am Tag der Taufe Jesu teil. Die Reise wurde offenbar vom orthodoxen Fernsehsender Spas TV [dt. Erlöser TV] organisiert und bald erschien dort eine Reportage über dieses Fest. In dem von Jost veröffentlichten Video waren beispielsweise ihr Ehemann Domingo Garcia und die Bloggerin Gabrielle Duvoisin aus Frankreich zu sehen. Ebenfalls anwesend waren Pietro Stramezzi aus Italien und Lisa Graf aus Deutschland, die anschließend ein Video darüber auf ihre Seite stellten. 

    Zusammen mit der Bloggerin Lisa Graf veröffentlichte Jost fast zeitgleich ähnliche Inhalte: Beide posteten im Februar im Abstand von vier Tagen Videos über die Moskauer Metro; die jungen Frauen sprachen auch über das chinesische Neujahrsfest in Moskau am 29. Januar und über den Neujahrsmarkt auf dem Roten Platz mit ähnlichen Aufnahmen am 16. Und 20. Dezember. 

    Die Geschichte von Gabrielle ist der von Sasha auffallend ähnlich: Demnach war Gabrielle Umweltingenieurin und beschloss, aus Paris wegzuziehen, nachdem sie einmal in Sankt Petersburg war. Seit 2022 lebt die junge Frau in Russland und bloggt auf Französisch und Russisch. Einmal verriet Duvoisin sogar, dass sie im russischen Fernsehen das sagt, was ihre Mitarbeiter ihr vorsagen. „Als ich vor ein paar Wochen auf Rossija 1 war, bestand das Team darauf, dass ich sage, der Lieblingsfilm meiner Großmutter sei Der Profi. Tatsächlich habe ich keine Ahnung, ob meine Großmutter den Film überhaupt je gesehen hat.“ 

    Im Dezember 2024 interviewte die Französin Gabrielle Duvoisin Maria Butina, die ehemalige russische Spionin und heutige Duma-Abgeordnete, die auch für RT arbeitet. Ausländische Blogger gehen regelmäßig mit ihr auf Reisen und berichten darüber in ihren sozialen Netzwerken. Graf, Jost und der österreichischer Blogger Martin Held, der Butina nahesteht, fuhren nach Schuja in der Region Iwanowo zu einem Treffen mit ausländischen Familien, die nach Russland ziehen wollen. 

    2019 war Butina in den Vereinigten Staaten wegen illegaler Arbeit als Spionin zu 18 Monaten Haft verurteilt worden, kehrte aber nach Absitzen eines Teils der Strafe nach Russland zurück und begann, für RT zu arbeiten. Zunächst moderierte sie die Sendung Prekrasnaja Rossija bu-bu-bu [dt. Wundervolles Russland bu bu bu], dann begann sie, Russen im Ausland zu helfen – auch mit Unterstützung von Margarita Simonjan. Im Jahr 2020 wurde Butina Leiterin der RT-Stiftung Wir lassen unsere Leute nicht im Stich, deren Ziel es ist, im Ausland verurteilte Russen in ihr Heimatland zurückzubringen. Butina drehte weiterhin Beiträge für RT, zum Beispiel besuchte sie die Strafkolonie von Alexej Nawalny, der damals in Pokrow in den Hungerstreik getreten war, weil ihm ärztliche Hilfe verweigert wurde. 

    Vor laufender Kamera versuchte Butina, sich mit dem Gefangenen herumzustreiten und sagte, die Bedingungen, unter denen Nawalny festgehalten werde, seien viel besser als die, die sie in einem amerikanischen Gefängnis gesehen habe.

     
    April 2021: Alexej Nawalny ist in den Hungerstreik getreten, weil ihm ärztliche Versorgung verweigert wird. Die Abgeordnete und RT-Mitarbeiterin Maria Butina sucht den Häftling auf und putzt ihn vor laufender Kamera herunter. Die Haftbedingungen seien besser als in den USA 

    Im Jahr 2021 wurde Butina auf der Liste der Partei Einiges Russland für die Region Kirow in die Staatsduma gewählt. Damals führte sie in der Erklärung über ihre Einkünfte die Fernsehsender NTW und RT als Einnahmequellen an. Als Abgeordnete setzte Butina dann ihre Zusammenarbeit mit RT fort. 2022 nahm sie beispielsweise ein Interview mit Viktor But auf, einem russischen Waffenhändler, der viele Jahre in den USA inhaftiert war und im Dezember 2022 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zwischen den beiden Ländern freigelassen wurde. Im Jahr 2024 startete Butina eine neue Sendung auf RT, FamilieRussland, in der sie über Ausländer spricht, die sich aus Gründen der Weltanschauung für einen Umzug nach Russland entschieden haben.  

    Auch in TikToks der Blogger tauchen Menschen auf, die nach Russland umgesiedelt sind. Zum Beispiel postete kürzlich Sasha Jost ein Video mit Interviews von Menschen, die nach Nishni Nowgorod gezogen sind.  

     

    RT benutzt nicht zum ersten Mal Blogger, um verdeckt für seine Agenda zu werben 

    Ende 2024 eröffnete das US-Justizministerium ein Verfahren gegen die RT-Mitarbeiter Konstantin Kalaschnikow und Elena Afanasjewa. Sie wurden beschuldigt, pro-russische Propaganda zu verbreiten, und Journalisten fanden heraus, dass das amerikanische Medienunternehmen Tenet Media daran beteiligt war, für das mehrere amerikanische Blogger arbeiteten: Tim Poole (1,37 Millionen Abonnenten auf YouTube), Dave Rubin (2,45 Millionen Abonnenten auf YouTube), Matt Christiansen, Taylor Hansen, Benny Johnson und Laura Suthern.  

    RT überwies insgesamt 10 Millionen Dollar an Tenet Media, die möglicherweise für Publikationen auf YouTube, TikTok, Instagram und X verwendet wurden. Nach Überzeugung des US-Justizministeriums gaben RT-Mitarbeiter Anweisungen zum Inhalt der Materialien an die Influencer: So wurden sie beispielsweise nach dem Terroranschlag auf die Crokus City Hall bei Moskau aufgefordert, sich „auf die Version über die Beteiligung der Ukraine und der Vereinigten Staaten an dem Anschlag zu konzentrieren“ und das IS-Bekennerschreiben über die Organisation des Terroranschlags als Fälschung zu bezeichnen. 

    Nach der Enthüllung der Aktivitäten des Unternehmens behaupteten die Blogger, die mit dem Unternehmen zusammenarbeiteten, sie hätten von den Verbindungen zu RT nichts gewusst. Matt Christiansen sagte, er habe bei seiner Arbeit mit Tenet Media keine Anweisungen erhalten, sondern lediglich seine eigenen Gedanken geäußert. 

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  • Im Land der Mütter

    Im Land der Mütter

    „Meine Heimat ist das Haus, in dem meine Mutter wohnt“, sagt Tatsiana Tkachova. In ihrem Fotoprojekt Motherland erkundet die belarussische Fotografin die Bindung zu dem Ort, an dem sie aufgewachsen ist und den vor allem ihre Mutter und ihre Verwandten zu ihrem Zuhause gemacht haben. 

    Tkachova wurde unter anderem mit dem World Press Photo ausgezeichnet. Aktuell lebt sie in Hamburg. Wir haben mit ihr gesprochen und zeigen eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.

    Mama ruht sich im Garten aus, Malostowka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama ruht sich im Garten aus, Malostowka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova

    dekoder: Wie ist das Projekt Motherland entstanden?

    Tatsiana Tkachova: Das erste Foto entstand 2018 während meines Besuchs zu Neujahr. Ich weiß nicht mehr, was dazu beitrug, jedenfalls wollte ich das Leben meiner Mutter auf Kamera festhalten. An den Feiertagen zum Jahreswechsel besuche ich sie immer. Wir schmücken einen Tannenbaum, kochen Weihnachtsessen, reden viel und tauschen Nachrichten aus. Ich glaube, viele können sich sowas auch hier in Deutschland vorstellen. Ich mache immer Fotos, wenn ich bei meiner Mutter bin. Und dann hatte ich die Idee, meine Mama und ihre Schwestern in dem Haus zu fotografieren, in dem sie aufgewachsen sind. Aber dann kam die Corona-Pandemie, und die Schwestern konnten nicht zu Mama kommen, sie leben woanders in Belarus. Dann ging ich nach Deutschland. Ich hatte aber noch ein Archiv mit Fotos aus den letzten vier Jahren. Für mich war es wichtig, das, was jetzt vorhanden ist, zu einer runden Geschichte zusammenzufügen, soweit das möglich ist. Inspirierend waren für mich dabei Nadia Sablins Geschichte Tjotjuschki (dt. Tantchen) und Tarkowskis Film Zerkalo (dt. Der Spiegel).

    Erzählt das Projekt auch eine besonders belarussische Geschichte?

    Das weiß ich nicht, darüber habe ich nie nachgedacht. Wäre ich in einem anderen Land geboren, hätte ich wohl eine genauso enge Beziehung zu meiner Mutter und dem Ort, wo ich mein erstes halbes Lebensjahr verbracht habe. Ich liebe Belarus, ich bin hier geboren. Um genau zu sein, ist meine Heimat das Haus, in dem meine Mutter wohnt und ihre Schwestern und ihre Eltern gewohnt haben, meine Großeltern. Dieses Haus ist die Hauptfigur meiner Geschichte. Im Garten wachsen Blumen und Bäume, die mein Opa gepflanzt hat. Er und Oma sind längst tot, aber den Garten gibt es noch. Das kann man nicht erklären, das muss man fühlen. Deswegen finde ich es gut, dass Fotos visuelle Bilder erzeugen, die man schwer in Worte fassen kann, weil jeder eigene hat.

    Geht es also in gewisser Weise auch um Verlust?

    Ich würde nicht von Verlust sprechen. Ich glaube nicht, dass dieses Wort in diesen Kontext passt. Meine Mama lebt noch, und es geht ihr gut. Wir sprechen doch nicht von Verlust, wenn die Kinder zum Studieren in eine andere Stadt gehen oder in ein anderes Land. Das ist ein natürlicher Vorgang. Die Geschichte, die ich erzähle, ist zeitlos. Eine Verbindung zu dem Ort, an dem man seine Kindheit verbracht hat, und zu seiner Familie hat jeder. Das bleibt für immer in unserem Bewusstsein. Wenn wir Fotos ansehen, spüren wir die Nähe, die Intimität bestimmter Momente, die nur zwischen einander sehr nahestehenden Menschen passieren. Aber wenn man anfängt zu erklären, scheitert man immer, weil jeder seine einzigartige Erfahrung hat. Es ist das, was Umberto Eco in den Bekenntnissen eines jungen Schriftstellers beschrieb. Motherland ist ein Porträt meiner Familie und gewissermaßen ein Selbstporträt, das aus Erinnerungen an einen Ort besteht, den es nicht mehr gibt, weil man nicht in die Vergangenheit zurück kann. 

    Ein anderer Aspekt des Projekts scheint auch die Rolle der Mutter zu sein?

    Mich fasziniert das Phänomen des Mutterseins und wie Frauen imstande sind, das Gerüst einer Familie aufrechtzuerhalten. In meiner Familie war das so. Ich weiß noch, wie jeden Sommer Mutters Schwestern mit ihren Männern und Kindern in unser Elternhaus kamen und wir alle beisammen waren. Irgendwann blieben die Frauen allein, weil die Männer sich mit Opa in die Garage verzogen, um an einem Motorrad herumzuschrauben. Wir saßen im Wohnzimmer, und Oma zeigte uns Stoffe, Kleider, Tücher. Das nannten wir: Schätze bewundern. Ich fragte mich immer: Wozu sollen wir das alles anschauen, wir haben es ja letztes Jahr schon gesehen. Aber die Großmutter fand immer etwas Neues. Sie lachten viel, erinnerten sich an ihre Kindheit, lasen Gedichte. Jetzt besuchen die Verwandten in diesem Haus meine Mutter.

    Wie halten Sie Kontakt zu Ihrer Mutter?

    Ja, meine Mutter hat mich zweimal hier besucht. Ich setze meine Arbeit an Motherland fort. Wir halten genauso Kontakt wie vorher, unterhalten uns oft per Videocall. Natürlich gibt es wegen der Visabeschränkungen ein paar Dinge zu beachten, aber ich hoffe, dass wir uns auch in Zukunft treffen können.

    Haben Sie schon neue Projekte?

    Ich arbeite an mehreren Projekten, aber es ist noch zu früh, davon zu erzählen. Ich hoffe, bald Ergebnisse vorzeigen zu können. Was Motherland betrifft, möchte ich unter anderem die ursprüngliche Idee umsetzen und Fotos von Mamas Schwestern hinzufügen, wenn sie sie besuchen. Und auch ein Buch zu Motherland entsteht gerade.

    Verschneiter Himmel, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Verschneiter Himmel, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Huhn mit Äpfeln – ein traditionelles Gericht zu Neujahr, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Huhn mit Äpfeln – ein traditionelles Gericht zu Neujahr, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Kinderbadewanne, die gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jetzt wachsen in ihr im Sommer Blumen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Kinderbadewanne, die gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jetzt wachsen in ihr im Sommer Blumen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama bringt nach der Reinigung im Schnee den Teppich herein, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama bringt nach der Reinigung im Schnee den Teppich herein, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Der Weihnachtsbaum, der gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jedes Jahr zu Neujahr schmückt meine Mama ihn zu meinem Besuch, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Der Weihnachtsbaum, der gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jedes Jahr zu Neujahr schmückt meine Mama ihn zu meinem Besuch, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama holt Äpfel für einen Apfelkuchen, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama holt Äpfel für einen Apfelkuchen, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Gästezimmer. Mama hat vor, den Boden zu wischen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Gästezimmer. Mama hat vor, den Boden zu wischen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Sommer nimmt Mama nach getaner Arbeit eine Dusche zwischen den Blumen im Garten, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Sommer nimmt Mama nach getaner Arbeit eine Dusche zwischen den Blumen im Garten, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Sommerterrasse. Auf dem Bett schläft die Nachbarskatze Kusma, Malostwoka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Sommerterrasse. Auf dem Bett schläft die Nachbarskatze Kusma, Malostwoka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Schlafzimmer, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Schlafzimmer, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama steht in der Küche, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama steht in der Küche, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Inneren des Hauses, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Inneren des Hauses, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Meine Cousine Natascha raucht im Hof des Hauses, in dem meine Mama lebt, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Meine Cousine Natascha raucht im Hof des Hauses, in dem meine Mama lebt, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Ich überbrühe Brennesseln, um mir mit dem Sud nach einem Rezept meiner Großmutter die Haare zu spülen, Malostwoka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Ich überbrühe Brennesseln, um mir mit dem Sud nach einem Rezept meiner Großmutter die Haare zu spülen, Malostwoka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Blick aus dem Hofe des Hauses, in dem meine Mama wohnt, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Blick aus dem Hofe des Hauses, in dem meine Mama wohnt, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich sind draußen, um nach starkem Schneefall Schnee zu schippen, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich sind draußen, um nach starkem Schneefall Schnee zu schippen, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und meine Cousine bringen eine Gardinenstange an, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und meine Cousine bringen eine Gardinenstange an, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Phlox – Blumen, die meine Großmutter gepflanzt hat. Nun kümmert sich meine Mama um sie, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Phlox – Blumen, die meine Großmutter gepflanzt hat. Nun kümmert sich meine Mama um sie, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich bei einem Spaziergang, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich bei einem Spaziergang, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova


    Aus dem Video-Archiv von Motherland, Belarus, 2018-2021
    Screenshots aus Videotelefonaten mit meiner Mutter und anderen Verwandten in Belarus / Foto © Tatsiana Tkachova
    Screenshots aus Videotelefonaten mit meiner Mutter und anderen Verwandten in Belarus / Foto © Tatsiana Tkachova

    Fotografie: Tatsiana Tkachova
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: dekoder-Team
    Veröffentlicht am: 30.11.2023

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    „Als wäre es ein Horrorfilm“

  • Europas Energiewende – Russlands Systemkrise?

    Europas Energiewende – Russlands Systemkrise?

    Bei Gazprom rollt derzeit der Rubel: Die Ostseepipeline Nord Stream 2 ist fertig, der Gaspreis in Europa bricht historische Terminbörsen-Rekorde, die europäischen Gasspeicher sind nach dem kalten Winter noch nicht aufgefüllt, und schon steht der nächste Winter vor der Tür. Obwohl Gazprom mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat, sind die Aussichten des Unternehmens in den nächsten Jahren offenbar glänzend. 
    Unkenrufe dagegen ertönen in jüngster Zeit zunehmend zum Thema Kohle und Erdöl(produkte): Sberbank-Chef German Gref etwa warnte kürzlich, dass durch die weltweit zunehmende Abkehr von fossilen Energieträgern Russlands Exporte einbrechen könnten, bis 2035 könnte sich dadurch ein riesiges Haushaltsloch auftun. Dann würden auch die Einkünfte der Menschen in Russland, so Gref, um fast 15 Prozent zurückgehen. 

    „25 Prozent“, korrigiert Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew nun im Interview auf Znak. Die in vielen Ländern angestrebte Energiewende, meint Inosemzew, werde Russland schon bald stark zusetzen. dekoder bringt einzelne seiner Thesen.

    „Das aktuelle politische System Russlands ist eine Rakete, die von der Erde losgeschossen in den offenen Kosmos geflogen ist, und nun fliegt sie und fliegt, weiter und weiter. Bis sie mit einem Asteroiden zusammenstößt.

    […]

    Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern könnte sich als ein solcher Asteroid erweisen. Und zwar weitaus früher als 2035. Seinerzeit sprach man von der Schiefergasrevolution und Flüssiggas in einem Zeithorizont von 15 bis 20 Jahren, doch der Übergang zu Fracking und Flüssiggas vollzog sich sehr viel schneller, innerhalb von nur rund sechs Jahren. So gesehen wird uns die Energiewende schon in acht bis neun Jahren merklich treffen.

    […]

    Noch sind die Preise für Energieträger hoch und steigen möglicherweise noch weiter an. Zwei oder drei Jahre mit beeindruckenden Exporterlösen sind uns wahrscheinlich noch sicher. Der Staatshaushalt und der Nationale Wohlstandsfonds werden vor lauter Geld bersten. Doch es wird der letzte Atemzug sein, wie an einem Beatmungsgerät. Von 2024 oder 2025 an werden die Preise und die Exporerträge schnell schrumpfen. Angesparte Reserven und Staatsanleihen werden wohl noch weitere fünf Jahre für Linderung sorgen. Aber Anfang der 2030er Jahre wird es dann brenzlig.

    Selbst wenn man sich vorstellt, der Kreml und das Weiße Haus würden morgen früh anfangen, Russland zu modernisieren, wird es immer noch anderen Ländern hinterherhinken. Man hätte damit schon vor 13 Jahren beginnen sollen, als die Ölpreise bei bis zu 140 Dollar pro Barrel lagen, der US-Dollar 23 Rubel wert war und die Bedingungen für Import und die Inbetriebnahme moderner Technik noch bestens waren. Doch stattdessen entspannte sich das russische Establishment und war glücklich und zufrieden. Und damit ist es nicht allein: Man geht keine Reformen an, wenn es einem gut geht. Das war bei den Japanern so, bei den Koreanern, in Taiwan, eigentlich überall.

    Der Unterschied besteht darin, dass unsere Ganoven, so scheint mir, keine Reformen in Angriff nehmen werden. Denn trotz der Warnungen von Sberbank-Chef German Gref […] sind sie zu sehr damit beschäftigt, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen – und merken kaum, wie die Krise näher und näher rückt.“

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  • „So funktioniert weder das kluge noch das dumme Wählen“

    Schon lange vor seiner Verhaftung im Januar 2021 warben Nawalny und sein Team für ein „kluges Wählen“: Diese Taktik sieht vor, dass jeweils dem aussichtsreichsten Kandidaten der Opposition die Stimme gegeben wird – egal, welcher Partei der Systemopposition er angehört. Ziel ist, so die verfassungsgebende Mehrheit der Regierungspartei Einiges Russland zu brechen.
    Dann wurde Nawalny nach seiner Rückkehr aus Deutschland verhaftet, seine Organisationen – auch die russlandweiten Wahlkampfteams – für „extremistisch“ erklärt, zudem flohen zahlreiche führende Köpfe wie der Wahlkampfchef Leonid Wolkow oder die FBK-Juristin Ljubow Sobol ins Exil. Das „kluge Wählen“ jedoch ist theoretisch dennoch möglich – aus dem Exil versucht Nawalnys Team weiter dafür zu werben. Die Frage ist, wie gut dies gelingt, zumal Beobachter vor Ort aufgeben mussten und zahlreiche Websites der Nawalny-Organisationen blockiert sind – auch die App und die Website zum „klugen Wählen“.

    Eine gewisse Nervosität seitens der russischen Behörden ist kurz vor der Wahl jedenfalls spürbar: In Umfragen liegt die Beliebtheit der Regierungspartei Einiges Russland unter 30 Prozent. Putin ordnete ein einmaliges Geldgeschenke an russische Rentner an – rund 115 Euro, die Durchschnittsrente liegt bei umgerechnet etwa 180 Euro. Zudem gilt die Rentenreform von 2018 als einer der Gründe für die Unzufriedenheit vieler Wählerinnen und Wähler. Videobeobachtung bei der Wahl wird es wegen potentieller „Cyberangriffe” aus dem Ausland nicht geben, die unabhängigen Wahlbeobachter von Golos sind als „ausländische Agenten“ diffamiert.

    Seit Januar gehen die Behörden massiv gegen die Nicht-System-Opposition vor. Der Begriff umnoje golossowanije (kluges Wählen) darf auf Anordnung eines Moskauer Gerichts nicht in Suchergebnissen von Google und der in Russland populären Suchmaschine Yandex angezeigt werden. Und in Rostow-am-Don bekam die Aktivistin Bella Nassibjan zunächst eine fünftägige Haftstrafe (die später in eine Geldstrafe umgewandelt wurde) wegen „Propaganda extremistischer Symbolik”, weil sie in ihrer Instagram-Story ein Plakat geteilt hatte, das zum „klugen Wählen” aufruft.

    Die Novaya Gazeta veröffentlichte nun den Audiomitschnitt einer Schulung für Wahlhelfer in Koroljow bei Moskau: Darin gibt mutmaßlich Shanna Prokofjewa, Beraterin des Bürgermeisters der Stadt, Instruktionen zur Wahlfälschung, damit „weder ein kluges noch ein dummes Wählen funktioniert”. Meduza hat den Mitschnitt – nicht immer streng wortwörtlich – zusammengefasst.

    Von der Stadtregierung kam eine große Bitte: Alles so zu machen, dass es keine Beanstandungen und Beschwerden gebe. Wir selbst wollen uns nicht rechtfertigen oder Aussagen machen oder mit der Staatsanwaltschaft sprechen müssen. Uns interessiert nur eine konkrete Zahl und eine konkrete Partei [die Regierungspartei Einiges Russland – dek] – und 42 bis 45 Prozent für ihre Liste. Ich hoffe, [die unabhängigen Wahlbeobachter – dek] haben nicht genug Kraft, um uns zu überführen. Mit den Beobachtern von der LDPR sind wir auf einer Linie; was die Partija Rosta [Wachstumspartei – dek] angeht, machen wir uns keine Sorgen; mit den Kommunisten sollte auch alles klargehen: Wie auch immer die sind – sie gehören zu uns, zu uns aus Koroljow, und nicht zu denen aus Amiland. Man muss es so machen, dass im Wahllokal nur unsere Leute sind, keine anderen.

    Ein Aufkleber wirbt in Moskau vor den Dumawahlen für „kluges Wählen" © Alexander Miridonow/Kommersant
    Ein Aufkleber wirbt in Moskau vor den Dumawahlen für „kluges Wählen“ © Alexander Miridonow/Kommersant

    Wenn Sie alles es richtig machen, dann wird weder kluges noch dummes noch sonst irgendein Wählen funktionieren. Wir machen zwei Listen, wer gewählt hat: eine für Wähler und eine für Beobachter. Ich empfehle, die Liste, die Sie abgeben werden, schon im Vorfeld anzulegen – schließlich gibt es bei 45 Prozent ja eine ganze Menge auszufüllen. Wenn der letzte Wähler gegangen ist, bleiben alle mit den Wahllisten sitzen. So lange bis der Moment kommt, um sie auszutauschen, wenn nötig bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. 

  • Surrealismus à la Lukaschenko

    Surrealismus à la Lukaschenko

    Die Lage in Belarus spitzt sich stetig weiter zu: Mehr als 35.000 Menschen wurden seit Beginn der Proteste im August 2020 festgenommen, rund 400 politische Gefangene sitzen derzeit in belarussischen Gefängnissen ein. Erst am Dienstag wurden sieben weitere Aktivisten der belarussischen Opposition zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Darunter auch Pawel Sewerinez, Co-Vorsitzender der oppositionellen und nichtregistrierten Christdemokratischen Partei, der für sieben Jahre ins Gefängnis muss.
    Für internationales Aufsehen und harsche Kritik sorgte jedoch vor allem die erzwungene Flugzeuglandung einer Ryanair-Maschine in Minsk und die dabei erfolgte Festnahme des ehemaligen Nexta-Chefredakteurs Roman Protassewitsch. Die EU beschloss umgehend Sanktionen, unter anderem ein Landeverbot für belarussische Linien auf EU-Flughäfen. Am Mittwoch hat sich Belarus’ Machthaber Alexander Lukaschenko nun erstmals zu den Vorwürfen geäußert. 
    In seiner Rede sprach Lukaschenko von einem erneuten Kalten Krieg und warnte, Russland könne das nächste Land sein, gegen das der Westen vorgehe. So diskutieren Experten auch, an wen das Vorgehen Lukaschenkos gerichtet ist: Dient der Fall nur als abschreckendes Beispiel nach innen oder auch als Signal an Russland, dass er, Lukaschenko, Moskau loyalster Verbündeter gegenüber dem Westen sei? Damit würde womöglich auch dem Kreml nichts anderes übrig bleiben, als Lukaschenko gewähren zu lassen. 
    Gerade angesichts von früheren Spekulationen, Moskau könne Lukaschenko mittelfristig austauschen oder gar die Integration von Belarus weiter vorantreiben, sagte die Politologin Ekaterina Schulmann auf Echo Moskwy, Lukaschenko sei Erstaunliches gelungen: „Einerseits ist er der Henker seines Heimatlandes, andererseits der letzte Garant dessen Unabhängigkeit.“ Ein Treffen von Lukaschenko und Putin ist für den heutigen Freitag in Sotschi anberaumt.
    Die Novaya Gazeta bringt Ausschnitte aus der Rede Lukaschenkos – aus der nur Auszüge an die Öffentlichkeit gelangten – und überprüft einzelne seiner Aussagen kritisch.

    Eine Besonderheit von Alexander Lukaschenko ist: Wenn er von einer Bühne spricht, dann fängt er selber an zu glauben, was er da sagt. Sonst glaubt es keiner, auch nicht die, die in diesem Moment im Zuschauerraum sitzen. Doch er schert sich nicht um die Reaktionen des Publikums, die Meinung der Leute oder die Reputation des Landes. Lukaschenkos Phantasie prescht seinen Worten voraus und malt so bunte Bilder, dass jeder Surrealist vor Neid erblasst. 

    Am Mittwoch betrat Lukaschenko den Ovalen Saal des Hauses der Regierung  anlässlich eines Treffens mit Abgeordneten, Mitgliedern der Verfassungskonvents und Vertretern von Regierungsorganen. Schon am Vorabend war klar, dass er nicht über die Aussaat und nicht einmal über den Slawjanski Basar, sondern über das am Sonntag gekaperte Flugzeug sprechen würde. Dass er lügen würde und selbst dran glauben. Und so ist es geschehen.

    Wenn Lukaschenko von einer Bühne spricht, dann fängt er selber an zu glauben, was er da sagt

    Das Flugzeug, so heißt es, wurde über dem Atomkraftwerk Belarus umgeleitet, um eine große Katastrophe zu verhindern: „Im Flugraum befindet sich das Kernkraftwerk Belarus. Und in dessen Nähe kam es zur Umleitung des Flugzeugs. Was wäre gewesen, wenn es plötzlich … Reicht uns nicht ein Tschernobyl? Und wie hätten wohl in einer solchen Situation die USA reagiert, angesichts ihrer eigenen traurigen Erfahrung [am 11. September 2001]? Es liegt nicht nur, besser gesagt, es liegt überhaupt nicht an dem Düsenjäger, der absolut regelkonform losgeschickt worden ist. Fakt ist auch, worüber wir nicht reden: Dass auf meinen Befehl hin alle Schutzsysteme des Atomkraftwerks, einschließlich der Flugabwehr, alarmiert und umgehend in höchste Einsatzbereitschaft versetzt wurden.“
    Nur ließ man das Flugzeug über Lida umkehren, das Atomkraftwerk befindet sich allerdings in der Nähe von Ostrowez. Von dem Punkt aus, an dem das Linienflugzeug kehrtmachte, sind es 104 Kilometer bis zum Kernkraftwerk, 11 Kilometer bis zur litauischen Grenze und 70 Kilometer bis Vilnius.
    Später sagte Lukaschenko, dass der Flugkapitän sich 15 Minuten lang mit „den Gastgebern“ und mit Mitarbeitern des Flughafens in Vilnius beraten habe. Offenbar hat das Flugzeug in diesen 15 Minuten einfach so in der Luft gestanden und sich nirgendwo hin bewegt – und wartete geduldig auf den Düsenjäger, von dem es dann höflich zum Ort der Landung begleitet wurde.

    Von dem Punkt aus, an dem das Linienflugzeug kehrtmachte, sind es 104 Kilometer bis zum Kernkraftwerk, 11 Kilometer bis zur litauischen Grenze und 70 Kilometer bis Vilnius

    Natürlich war ein Terrorist an Bord. Natürlich kam die [Info über die] Bombendrohung aus der Schweiz. Natürlich ist das alles eine Hinterhältigkeit des Westens, der sich an Belarus für die Pandemie rächt. Dort bei denen im Westen haben Menschen am Lockdown gelitten, nun sind sie neidisch auf die Belarussen und hassen die eigenen Regierungen. Und das ist ein Motiv, sich an dem stabilen und wohlhabenden Staat zu rächen: „Offensichtlich ist die westliche Gesellschaft nicht zufrieden damit damit, wie sich der Ausgang aus der Pandemie vollzieht, wie sie vor Corona geschützt wurde, wie die Impfstoffe im Westen verteilt wurden und wie die Impfungen laufen. Kurz gesagt, wie die Menschen aus der Gefahr befreit und in Krankenhäusern behandelt werden. Deshalb ist es für den Westen so wichtig zu zeigen, dass es keine besseren Beispiele gibt – wo man sich um die Menschen, ihre Rechte und ihre Gesundheit besser kümmert als bei ihnen. Und deshalb ist es ihnen so wichtig, davon abzulenken, was in ihren Ländern vor sich geht. Unsere Haltung zu Pandemie – diese Erfahrung ist unbequem für sie. Schließlich müssen sie sich vor ihren Bürgern verantworten, für die Lockdowns und das Einsperren. Belarus, insbesondere wenn es wirtschaftlich voller Leben ist, schmeckt ihnen nicht. Also greifen sie an.“ 

    Eiskalter statt Kalter Krieg

    Der Angriff, so Lukaschenko, ist brutal. Der Krieg ist nicht mehr kalt, sondern eiskalt. Er könne wohl aber jederzeit zu einem „heißen“ und sogar zu einem Weltkrieg auswachsen: „Wir befinden uns nicht an vorderster Front eines neuen Kalten sondern eines eiskalten Krieges. Und nur ein Staat, der sich dem hybriden Druck nicht beugt, kann dem standhalten. Ich wende mich an die gesamte internationale Gemeinschaft: Belarus zuzusetzen – das macht keinen Sinn! Und bevor Sie irgendwelche überstürzten Schritte machen, denken Sie daran, dass Belarus das Zentrum von Europa ist. Und wenn hier etwas ausbricht, dann wird das ein weiterer Weltkrieg.“ Diesen Krieg werde Belarus laut Lukaschenko nicht gewinnen, sicher sei aber, dass es dem Feind einen „unzumutbaren Schaden“ zufügen werde.

    Und genau diese Art von Schaden hat Lukaschenko derweil der einzigen Fluggesellschaft von Belarus zugefügt.
    Während er vor den Funktionären sprach, verbrannte ein Belavia-Flugzeug, das auf dem Weg nach Barcelona war, über Kobrin kreisend seinen Treibstoff. Es durfte den polnischen Luftraum nicht passieren und kehrte später nach Minsk zurück. Flugverbindungen nach Großbritannien, Litauen, Tschechien, Finnland, Lettland, der Ukraine und Frankreich sind ausgesetzt. Zypern, Österreich, Polen, Spanien, Lettland, Deutschland, die Niederlande, Schweden, Ungarn, die Ukraine, Litauen, Großbritannien und Frankreich wollen den belarussischen Luftraum nicht mehr nutzen. Und das ist offenbar erst der Anfang. 

    Auf den Krieg bereitet sich Lukaschenko gemeinsam mit seinen engsten Gefährten vor: Premierminister Roman Golowtschenko sagte bei seiner Rede im Ovalen Saal, dass Belarus im Falle neuer Sanktionen als Gegenmaßnahmen ein Importembargo und Transitbeschränkungen einführen wird. Und KGB-Chef Iwan Tertel verkündete, dass die „Hysterie des Westens“ im Zusammenhang stehe mit den Aussagen von Roman Protassewitsch, der natürlich die Namen westlicher Protest-Sponsoren und Auftraggeber von Terroranschlägen preisgegeben habe. Nach diesen Erklärungen – zu Krieg, Embargo, Terroranschlägen und einem Flugzeug mit Sprengstoff über einem Atomkraftwerk – erscheint doch eigentlich nur noch ein Bunker oder ein sofortiger Rausschmiss der gesamten Regierung logisch.  

    Doch Lukaschenko schmiedet ernsthaft Pläne. Nicht nur, dass er am 26. Mai mit einem „Weltkrieg“ drohte, ein Treffen mit Putin ankündigte, und Putin und Biden zu einem Treffen in Minsk anstelle von Genf einlud. Er sprach auch vom Verfassungsreferendum, das auf jeden Fall 2022 kommen wird. Lukaschenko glaubt, dass er eine Zukunft hat. Oder genau genommen: Er glaubt daran, sobald er beginnt, darüber zu sprechen.

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  • Vergangenes, ganz nah

    Vergangenes, ganz nah

    Ein Mann schaut aus einem Zugfenster. Er blickt den Betrachter direkt an, ganz präsent, ernst sieht er aus. Erst auf den zweiten Blick merkt man: Er trägt eine Uniform, eine historische Uniform. Und der Zug … ist auch ein historischer. Und da wird klar: Das ist nicht irgendein Zeitgenosse, das ist Zar Nikolaus II.
     
    Olga Schirnina, eine studierte Germanistin, koloriert alte Schwarzweiß-Fotos. Nicht nur Abbildungen von bekannten Persönlichkeiten, auch Alltagsszenen, Bilder aus Akademien oder auch Kriegsfotos. In Farbe wirkt das Vergangene irritierend nah, das Historische plötzlich ganz aktuell. 

    Streng dokumentarisch ist das nicht. Aber: Wie viel Wahrheit und wie viel Realität transportiert Fotografie? Es sind eben viele Wahrheiten und viele Realitäten. Auch auf den kolorierten, bunten Bildern von Olga Schirnina.

    Russisches Bauernmädchen, 1925 / Alexander Belikow
    Eine Bäuerin und ein junges Mädchen stehen auf hölzernem Flusssteg. Die Bäuerin schultert ein Tragjoch mit zwei Eimern Wasser, Russland 1900er Jahre / Samuel Hopwood
    Prinz Jussupow, Graf Sumarokow-Elston posiert dem Künstler Walentin Serow für ein Porträt mit einem Araber, 1909
    Großherzoginnen Maria und Olga Romanowa, 1912
    Kavallerie, Kosaken, Russische Armee, 1912
    Bildungsinstitut für adlige Mädchen, Irkutsk, 1912
    Iwan Pawlow (1849–1936), russischer Physiologe. Pawlow (Mitte, mit Bart) mit Assistenten und Studenten an der Kaiserlichen Militärmedizinischen Akademie in Sankt Petersburg, vor einer Demonstration seines Experiments an einem Hund, 1912–14
    11. September 1913: Beim 3. Militärflugzeugwettbewerb fiel der Motor der fliegenden Meller-II aus etwa 50 Meter Höhe auf den unten geparkten Doppeldecker Russki Witjas (dt. Russischer Ritter). Es war das einzige Exemplar dieses historischen Flugzeugs. Flugzeugbauer Igor Sikorski hat es nach dem Unfall nie wieder aufgebaut (damals befand sich schon das Flugzeug Ilja Muromez im Bau). Bei der Meller-II wurde die Tragflächenkosntruktion nicht zerstört, dem Piloten gelang eine sichere Landung.
    Der Mann auf der linken Seite ist Adam Gaber-Wlynski – Pilot der Meller-II; in der Mitte Igor Sikorski – Konstrukteur des Russki Witjaz
    Professor Wladimir Makowski im Malerei-Atelier der russischen Akademie der Künste, Sankt Petersburg, 1913
    Flugzeugbeschuss während des Ersten Weltkriegs, 14. Juli 1916
    Zar Nikolaus II., 28./29. Juli 1916
    Ankunft des Zaren Nikolaus II. am Standort der 1. Armee, geführt von Oberbefehlshaber General Alexander Litwinow, 30. Januar 1916, Bezirk Dwinsk
    Wladimir Iljitsch Lenin während des Russischen Bürgerkriegs bei der Parade der Wsewobutsch-Truppen in Moskau am 25. Mai 1919
    Priester Solodkow, der Schiffsarzt und die Katze an Deck der Kagul in Bizerta (Tunesien), 1921
    Anatoli Lunatscharski mit seiner Frau
    Moskau, Sucharew Turm, 1931
    Die ersten Fahrgäste der Moskauer Metro, 1935
    Marine-Aufklärer der Nordflotte 1942 unter dem Kommando des Unterleutnants Petrow / Jewgeni Chaldei
    Leningrad im Zweiten Weltkrieg 1944, Zuschauer des Leningrader Gorki-Theaters
    Sewastopol im Zweiten Weltkrieg, Panzer der Roten Armee, 1944 / Jewgeni Chaldei
    9. Mai 1945 in Moskau: Der Tag des Sieges

    Bildredaktion: Andy Heller
    Kolorationen: Olga Schirnina
    Veröffentlicht am 05.05.2020

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    Oktoberrevolution 1917

    Juli: Gefundene Fotos

    Großer Vaterländischer Krieg

    Dezember: Prokudin-Gorski

    Die Brüder Henkin

  • Moskowskoje Delo – Große Solidaritätswelle

    Moskowskoje Delo – Große Solidaritätswelle

    Nach den Massenprotesten im Sommer 2019 hatte die russische Staatsanwaltschaft gegen 14 Teilnehmer Anklagen erhoben. Im Eilverfahren wurden mitlerweile sieben davon verurteilt.

    Vorgeworfen werden ihnen vor allem „Teilnahme an Massenunruhen“ (Artikel 212) und „Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter“ (Artikel 318). Gemessen an den Vorwürfen erscheinen ihre Strafen vielen drakonisch: So hatte einer der Verurteilten beispielsweise einen Mitarbeiter der Nationalgarde am Arm gepackt und gezogen. Das Gericht entschied auf zwei Jahre Haft, was viele Menschen in Russland als unverhältnismäßig bewerten: An den Angeklagten im Moskowskoje delo (dt. Moskauer Prozess) werde ein Exempel statuiert, so die Überzeugung.

    Aus Protest solidarisieren sich derzeit Zehntausende mit den Verurteilten. So haben über 160.000 Menschen auf change.org gefordert, den Schauspieler Pawel Ustinow freizulassen. Der öffentliche Druck zeigte Wirkung: Der zu dreieinhalb Jahren Haft Verurteilte kam am 20. September frei, sein Fall soll nun neu geprüft werden.

    Neben Online-Petitionen unterschreiben außerdem tausende Menschen unterschiedlicher Berufsgruppen seit dem 16. September offene Briefe zur Unterstützung von Angeklagten und Verurteilten. Lehrer, Geistliche, Ärzte – die Liste solcher offenen Briefe ist inzwischen lang. dekoder bringt Auszüge daraus und stellt einige der Verurteilten im Moskauer Prozess vor.

    Juristen: 
    Für Rechtsstaatlichkeit

    In der Novaya Gazeta wenden sich über 20 Juristen an den Präsidenten des Verfassungsgerichts Waleri Sorkin. Sie machen ihn auf die Verfahrensfehler im Moskauer Prozess aufmerksam sowie auf den allgemeinen Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Russland:  

    [bilingbox]Wir melden uns selten zu Wort, was die Rechtsstaatlichkeit in unserem Land betrifft. Zumeist äußern wir uns in wissenschaftlichen Artikeln und Monografien. Doch die Strafsache K. Kotow, der nach § 212,1 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, stellt unserer Meinung nach einen neuen traurigen Meilenstein dar. Hier wurde offen eine ganze Reihe von Rechtspositionen des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation verletzt.~~~Мы редко выступаем по поводу состояния законности в нашей стране. В основном высказываемся в научных статьях и монографиях. Но уголовное дело К. Котова, приговоренного по ст. 212.1 Уголовного кодекса РФ к четырем годам лишения свободы, по нашему мнению, обозначило новый печальный рубеж. В нем открыто нарушен ряд правовых позиций Конституционного суда РФ.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2019, Original

    Ärzte: 
    Für Meinungspluralismus

    Mehr als 1000 Ärzte kritisieren in ihrer Petition die Unrechtmäßigkeit und die Härte der Gerichtsurteile:

    [bilingbox]Wir, das sind Ärzte und andere Vertreter des medizinische Bereichs, verfolgen mit Sorge und Verärgerung die Entwicklung des Moskauer Prozesses, bei dem immer weiter ungerechte Entscheidungen gefällt werden. Leute werden geschlagen, administrativ und strafrechtlich verfolgt und dann selektiv und äußerst hart verurteilt für ihr verfassungsrechtlich garantiertes Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit.~~~Мы, врачи и другие представители медицинского сообщества, с тревогой и возмущением следим за развитием «Московского дела», по которому продолжают выносить несправедливые решения. Людей бьют, административно и уголовно преследуют, а потом – избирательно и заведомо жестоко судят за их гарантированное Конституцией право свободно высказывачть свое мнение и свободно собираться для его выражения.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2019, Original

    Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche: 
    Für die Liebe, gegen die Furcht

    Über 180 Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche haben den offenen Brief unterschrieben, der auf dem Online-Portal Pravoslavie i Mir erschienen ist: 

    [bilingbox]Wir möchten unserer Sorge Ausdruck verleihen, dass es eher so wirkt, als sollten die verkündeten Urteile die Bürger Russlands einschüchtern, als dass sie eine gerechte Entscheidung gegenüber den Angeklagten sind. Apostel Paulus bringt Angst mit Sklaverei in Verbindung: „Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, sodass ihr euch immer noch fürchten müsstet“ (Römer 8,15), und Johannes schreibt: „Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn die Furcht rechnet mit Strafe, wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe“ (1. Johannes 4,18).~~~Мы выражаем обеспокоенность тем, что вынесенные приговоры в большей степени похожи на запугивание граждан России, чем на справедливое решение в отношении подсудимых. Апостол Павел связывает страх с рабским состоянием человека: «Вы не приняли духа рабства, чтобы опять жить в страхе» (Рим. 8.15), а апостол Иоанн писал: «В любви нет страха, но совершенная любовь изгоняет страх, потому что в страхе есть мучение; боящийся не совершенен в любви» (1 Ин. 4.18). На запугивании нельзя построить общество свободных, любящих друг друга людей.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2019, Original

    Bekannte Persönlichkeiten aus dem Ausland: 
    Für Grundrechte

    Das Team um Michail Chodorkowski hat in der englischsprachigen Zeitung The Moscow Times eine Petition veröffentlicht, die rund 80 namhafte Personen des öffentlichen Lebens aus dem Ausland unterzeichneten. Dazu gehören unter anderem die deutsche Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller sowie die Macher von Game of Thrones David Benioff und Dan Weiss:

    [bilingbox]Als Bewohner der freien Welt, denen die Zukunft der globalen Demokratie am Herzen liegt, haben wir über die letzten Monate die sich beunruhigend entwickelnden Ereignisse in Moskau und anderen russischen Städten beobachtet. Die Bürger Russlands verlangen von ihrer Regierung lediglich Rechte, die wir in der freien Welt als gegeben erachten.~~~As residents of the free world concerned about the future of global democracy, we have been observing the disturbing unfolding events in Moscow and other Russian cities over the past month. The citizens of Russia are merely demanding from their government rights that we in the free world take for granted.[/bilingbox]

    erschienen am 17.09.2019, Original

    Lehrer:
    Für das Lernen aus der Geschichte

    Über 3400 Lehrer wenden sich in ihrer Petition gegen die als ungerecht empfundenen Verhaftungen und Verurteilungen:

    [bilingbox]Wir hoffen, dass die Gesellschaft und ihre Regierung fähig sind, ihre Lektionen aus Geschichte, Gesellschaftskunde und Literatur zu lernen. Wir fordern die Freilassung der zu Unrecht Verurteilten, die Einstellung fingierter Straftaten und eine vom Standpunkt des Gesetzes her gerechte Bewertung der Handlungen derer, die Menschen auf der Straße geprügelt und schuldlos verhaftet haben, vorformulierte, erlogene Angaben gemacht und zu Protokoll gegeben haben und offenkundig ungerechte Urteile gesprochen haben. Denn ansonsten ist unser Land dazu verdammt, wieder und wieder sitzenzubleiben, da es sich nichts von diesem Lehrstoff aneignen konnte.~~~Мы надеемся, что общество и его власть в состоянии усвоить уроки истории, обществознания и литературы. Мы требуем освободить несправедливо осужденных, прекратить сфабрикованные дела и дать справедливую с точки зрения закона оценку действий тех, кто избивал людей на улицах, арестовывал без вины, давал ложные показания, писал под копирку лживые протоколы, выносил заведомо несправедливые приговоры. Иначе наша страна обречена снова и снова оставаться на второй год, ничего не усвоив из школьной программы.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2019, Original

    Journalistenverband:
    Für Meinungsfreiheit

    Hunderte Journalisten haben sich im Juni 2019 im Fall Golunow solidarisiert. Nun fordern wieder über 500 Medienschaffende in ihrer Petition auf der Website des russischen Journalistenverbands das Ende von Moskowskoje Delo:

    [bilingbox]Der Journalistenverband ist dazu aufgerufen, die Rechte und Interessen des Berufsstandes sowie die Meinungsfreiheit zu schützen. Doch diese Mission zu erfüllen ist nicht möglich ohne grundlegende demokratische Rechte der Bürger, einschließlich dem Recht auf friedlichen Protest und auf ein faires Verfahren.~~~Профсоюз журналистов призван защищать права и интересы профессионального сообщества и свободу слова, но эта миссия невыполнима без соблюдения базовых демократических прав граждан, включая право на мирный протест и справедливый суд.[/bilingbox]

    erschienen September 2019, Original 

    KPRF der Moskauer Stadtduma: 
    Für das Ende von Repressionen

    Die Fraktion der kommunistischen Partei in der Moskauer Stadtduma fordert im Namen aller Abgeordneten die Freilassung von Festgenommenen: 

    [bilingbox]Wir fordern […] die Freilassung aller Bürger, die in diesen Fällen gesetzeswidrig festgenommen wurden. Wir werden für ihre Freilassung kämpfen. Die Regierung muss mit den politischen Repressionen aufhören.~~~Мы требуем […] Освободить всех граждан, незаконно арестованных по этим делам. Мы будем бороться за их освобождение. Власти пора прекратить политические репрессии.[/bilingbox]

    erschienen am 11.09.2019, Original

    Buchbranche:
    Für das Leben jedes Einzelnen

    700 Vertreter der Buchbranche wenden sich gegen die Urteile und fordern eine Revision der Moskauer Prozesse: 

    [bilingbox]Wir sind die Vertreter der geisteswissenschaftlichen Welt, in der das Leben jedes einzelnen Menschen der höchste Wert ist. Zu sehen, wie heute das Schicksal junger Menschen kaputtgemacht wird, tut weh und ist unerträglich.
    Wir fordern die unverzügliche Überprüfung aller Urteile des Moskauer Prozesses, deren himmelschreiende Ungerechtigkeit für jeden denkenden Bürger des Landes offensichtlich ist.~~~Мы представляем гуманитарный мир. В котором высшая ценность — жизнь отдельно взятого человека. Наблюдать за тем, как сегодня ломают судьбы молодых ребят — больно, и терпеть это невозможно.
    Мы требуем незамедлительного пересмотра всех приговоров по "московскому делу", вопиющая несправедливость которых очевидна всем думающим гражданам страны.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2019, Original

     


    Verurteilte in Moskowskoje Delo

    Viele Unterzeichner dieser Petitionen argumentieren, dass die unverhältnismäßige Härte der Haftstrafen nur der Einschüchterung diene: Diese Strafen sollen abschrecken und Wiederholungstaten verhindern, so die Logik. Daneben kritisieren die Teilnehmer der Solidaritäts-Kampagne auch, dass Beweisstücke gerichtlich nicht zugelassen wurden. 

    Im Fall von Pawel Ustinow hat sich die Staatsanwaltschaft nun dem öffentlichen Druck gebeugt: Der zu dreieinhalb Jahren Haft Verurteilte kam am 20. September frei. 

    Gegen weitere Teilnehmer der Massenproteste wird noch ermittelt. Fünf der Teilnehmer sitzen bereits ihre Haftstrafen ab. Vedomosti hat ihre Gerichtsverfahren zusammengefasst:

    Danil Beglez
    Darstellung der Anklage: Der Angeklagte hat einen Polizisten am Handgelenk gepackt und dabei stark zugedrückt und die Hand zur Seite gedreht, so dass dieser physischen Schmerz erlitt.
    Darstellung der Verteidigung: Der Angeklagte war auf dem Weg zur Metro, sah, wie ein Demonstrant festgenommen wurde, hob die von ihm fallen gelassenen Kopfhörer auf und versuchte sie ihm zurückzugeben. Er hat gestanden, der Fall wurde vorgerichtlich behandelt.
    Beurteilung: Anwendung von für Leben und Gesundheit nicht gefährlicher Gewalt gegen einen Staatsvertreter (Strafgesetzbuch Teil 1, Art. 318)
    Urteil: 2 Jahre

    Kirill Shukow
    Darstellung der Anklage: Der Angeklagte hat versucht, das Visier des Helms eines Mitarbeiters der Nationalgarde anzuheben, und hat ihm dabei physischen Schmerz zugefügt.
    Darstellung der Verteidigung: Der Angeklagte hat dem Mitarbeiter an den Helm gegriffen, um dessen Aufmerksamkeit auf eine Frau mit einer Kopfverletzung zu lenken.
    Beurteilung: Anwendung von für Leben und Gesundheit nicht gefährlicher Gewalt gegen einen Staatsvertreter (Strafgesetzbuch Teil 1, Art. 318).
    Urteil: 3 Jahre

    Iwan Podkopajew
    Darstellung der Anklage: Der Angeklagte hat Pfefferspray in das Gesicht von Mitarbeitern der Polizei und der Nationalgarde gesprüht.
    Darstellung der Verteidigung: Der Angeklagte hat gestanden, der Fall wurde vorgerichtlich behandelt. 
    Beurteilung: Anwendung von für Leben und Gesundheit nicht gefährlicher Gewalt gegen einen Staatsvertreter (Strafgesetzbuch Teil 1, Art. 318).
    Urteil: 3 Jahre 

    Jewgeni Kowalenko
    Darstellung der Anklage: Der Angeklagte hat eine Mülltonne auf einen Mitarbeiter der Nationalgarde geworfen und ihm dadurch physischen Schmerz und moralischen Schaden zugefügt.
    Darstellung der Verteidigung: Das Werfen der Tonne war die Reaktion eines schockbedingten emotionalen Ausbruchs darauf, dass die Rechtsschützer ungerechtfertigt hart gegen die Protestierenden vorgingen.
    Beurteilung: Anwendung von für Leben und Gesundheit nicht gefährlicher Gewalt gegen einen Staatsvertreter (Strafgesetzbuch Teil 1, Art. 318).
    Urteil: 3 Jahre 6 Monate 

    Konstantin Kotow
    Darstellung der Anklage: Der Angeklagte hat am 10. August nach der genehmigten Kundgebung auf dem Sacharow Prospekt an einer nicht genehmigten Aktion im Stadtzentrum teilgenommen, wo er Losungen skandierte und den Fußgänger- und Autoverkehr behinderte.
    Darstellung der Verteidigung: Am 10. August verließ der Angeklagte an der Station Kitai-Gorod die Metro, ging schweigend einige Meter auf dem Fußgängerweg, woraufhin er von Polizisten festgenommen wurde.
    Beurteilung: Wiederholter Ordnungsverstoß bei der Organisation oder Durchführung einer öffentlichen Veranstaltung (Strafgesetzbuch Art. 212.1)
    Urteil: 4 Jahre

     

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  • Wir wollen es so wie in der Ukraine!

    Wir wollen es so wie in der Ukraine!

    Zwei Wochen vor der Stichwahl um die Präsidentschaft in der Ukraine geht der Wahlkampf in die heiße Phase. Nach seinem Erfolg in der ersten Runde hat Wolodymyr Selensky den Amtsinhaber Petro Poroschenko zu einem Fernsehduell im Kiewer Olympiastadion aufgefordert. Wenn der Herausforderer ins Stadion wolle, „dann lass es halt ein Stadion sein“, erwiderte Poroschenko in einer Videobotschaft. Im Vorfeld des Duells liefern sich die Kontrahenten einen heftigen Schlagabtausch in ukrainischen Medien.

    Auch viele Menschen in Russland schauen gebannt auf den Wahlkampf. Die letzte Stichwahl bei einer Präsidentschaftswahl gab es hier 1996. Damals, so einige Beobachter, habe es in Russland auch den letzten wirklichen Wahlkampf um die Staatsspitze gegeben. Denn spätestens seit dem Aufbau der sogenannten Machtvertikale werde im Land auch die politische Konkurrenz systematisch unterdrückt.

    Viele unabhängige Stimmen in Russland schauen derzeit mit gewissem Neid auf die Konkurrenz im ukrainischen Wahlkampf. Auch der Journalist Wladimir Ruwinski fragt auf Vedomosti, ob die Ukraine Beispiel für Russland sein könne.

    Der amtierende Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, ist dem Schauspieler Wolodymyr Selensky im ersten Wahlgang unterlegen. Nun hat er sich zum TV-Duell im 70.000 Personen fassenden Olimpijskyj-Stadion in Kiew bereit erklärt – eine effektvolle Wende im ohnehin grellen ukrainischen Wahlkampf. Der ist umso beeindruckender für das russische Publikum: Eine TV-Debatte des amtierenden Staatschefs mit einem Konkurrenten ist in Russland – egal in welchem Format – einfach undenkbar.

     

    Kandidat Selensky gibt seine Zusage zur TV-Debatte – wenn die im Stadion stattfindet.

    Die Stichwahl in der Ukraine ist für den 21. April angesetzt. Die TV-Debatte ist für den 19. April geplant [inzwischen hat Poroschenko noch den 14. April als möglichen Termin ins Spiel gebracht – dek], als Schlussakkord im Wahlkampf. Es ist nicht das erste TV-Duell eines amtierenden ukrainischen Präsidenten mit einem realen Konkurrenten: Allerdings waren die bisherigen im klassischen Fernsehformat (zuletzt 2004 zwischen Viktor Juschtschenko und Viktor Janukowytsch, damals schaute fast das halbe Land zu). Die Herausforderung erinnerte diesmal an einen Video-Battle: Auf Poroschenkos formelles Angebot reagierte Selensky mit einer Video-Botschaft, in der er das Stadion zur Bedingung machte – „vor dem Volk der Ukraine“ – sowie ein medizinisches Gutachten, um zu beweisen, dass der künftige Staatschef „kein Alkoholiker und kein Drogenabhängiger ist“. Der Präsident antwortete ebenfalls mit einem Video, indem er sich einverstanden erklärte mit dem ungewöhnlichen Ort und dem medizinischen Gutachten.

    Wie die Debatte ausgeht, steht noch nicht fest: Poroschenko ist gewiss erfahrener in öffentlichen Diskussionen zu ernsthaften politischen, wirtschaftlichen und sozialen  Themen. Aber Selensky ist ein erfahrener Showmaster, der sein Publikum in Bann zieht. Wie die Diskussion solch unähnlicher Kontrahenten aussehen wird, lässt sich kaum vorhersagen – umso größer wird das Interesse an dem Duell sein.

    Und nicht nur in der Ukraine. In Russland wird laut einer WZIOM-Umfrage im April der Wahlkampf von 39 Prozent der Befragten voller Interesse verfolgt, 2014 waren es 28 Prozent. Die Russen geben hierbei Selensky den Vorzug (laut WZIOM 31 Prozent) und nicht Poroschenko (1 Prozent). Die Sympathien mit dem Polit-Neuling erklären sie mit Hoffnung auf eine Wende zum Besseren, auf einen Machtwechsel, oder schlicht mit dem Auftauchen eines neuen Gesichts. Es sieht danach aus, dass hier eher eigene Empfindungen hinsichtlich der Stagnation in Russland projiziert werden und das eher eine Rolle spielt als ein tiefes Verständnis der Situation in der Ukraine.

    Umfrage in Russland: Welcher der beiden Stichwahl-Kandidaten bei der ukrainischen Präsidentenwahl ist Ihnen sympathischer?

     

    Quelle: WZIOM (2019)

    Der 2018 zum vierten Mal zum Präsidenten gewählte Wladimir Putin hat sich nie zu einer persönlichen Teilnahme an Wahlkampfdebatten herabgelassen. Die Weigerung wurde formal immer damit begründet, dass der amtierende Präsident beschäftigt sei, aber es war klar, dass das Staatsoberhaupt es schlicht für sinnlos und sogar schädlich erachtet hatte, öffentliche Diskussionen mit seinen aktuellen Sparring-Partnern zu führen. Die Ergebnisse hätten keinerlei Bedeutung für den Wahlkampf haben können: Der Wahlsieger stand im Moment der Nominierung bereits fest. Im Fall der Ukraine liegt die Sache anders: Die reale und nicht simulierte Konkurrenz macht sowohl den Ausgang der Debatten als auch das Ergebnis des zweiten Wahlgangs unvorhersagbar. Ob wir denn möchten, dass es in Russland sei wie in der Ukraine, hat Putin 2017 gefragt. Im Jahr 2019 gibt es immer mehr Anlass dies zu bejahen.

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