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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ich erlaube mir, ich zu sein“

    „Ich erlaube mir, ich zu sein“

    „Die Geschichte meiner Held*innen ist nicht die Geschichte des Kampfes einer bestimmten Community, sondern der Kampf für ein grundlegendes Menschenrecht – das Recht zu sein.“

    Zum Tag der Menschenrechte bringt dekoder eine Fotostrecke über Transgendermenschen von Oleg Ponomarev. 
    Der 1988 in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, geborene Fotograf widmet sich in seinen Arbeiten vor allem sozialen und ethnologischen Themen. Auf dekoder erschienen von ihm bisher Sumbur – ein heilsames Durcheinander und Beim Volk der Mari.

    Gender-Dysphorie ist ein furchtbarer Zustand, der einen dummes Zeug machen lässt. Zum Beispiel im Internet nach Hormonen suchen und sie sich spritzen, bevor man mit Ärzten gesprochen hat. Ich bin einer von ihnen, aber es war der einzige Ausweg. – IGNAT / Fotos © Oleg Ponomarev

     

    Meine Eltern haben mir, bis ich zwölf war, keine Geschlechterrollen aufgedrängt, keine Kleidchen angezogen. Ich fühlte mich als geschlechtsloses Tröpfchen. Mit 15 bin ich von zu Hause weg. Mit 16 erfuhr ich dann, dass es Transgender gibt, und mir war sofort klar, was mit mir los ist. Ich begann, mir den Kopf zu rasieren, und sprach von mir in der männlichen Form. Das hat mich irrsinnig erleichtert. Ich kam in dieser Zeit aufs College, wo mich die Jungs völlig unerwartet akzeptierten. „Hier haben wir ja noch einen Kerl.“ – TIM

     

    Die soziale Geschlechterangleichung begann bei mir mit zehn. Als die Probleme mit meiner Mutter losgingen, dachte ich mir eigene Welten aus, Geschichten, in denen ich lebte.
    Meine Adoptivmutter hat mich später vor dem Kinderheim gerettet, wofür ich ihr sehr dankbar bin, doch mit der Familie hat es nicht geklappt. 
    Im Endeffekt bin ich von dort weg und habe mir Arbeit gesucht. Da musste ich mit dem Manager sprechen. Als wir sprachen, hörte ich, dass seine Stimme durch eine Hormontherapie beeinflusst ist. Wir haben dann viel miteinander unternommen und sind jetzt richtige Freunde. Er hat mir bei der ganzen Hormonsache geholfen. – JURA

     

    Die Beziehung zu meinen Eltern wurde nach der Geschlechtsangleichung noch besser, wir haben gelernt, miteinander zu reden, und verstanden uns dann auch besser. Das haben auch alle damit verbundenen Schwierigkeiten möglich gemacht. Ich denke, ich hatte großes Glück. Sowohl von meiner Seite als auch von Seiten meiner Eltern bestand ein riesiges Bedürfnis in Kontakt zu bleiben. – ALEXEJ

     

    Es war dann irgendwann klar, dass ich in Chabarowsk nichts mehr verloren hatte. Ich zog zu meinem Freund nach Petersburg. Ich bin ihm sehr dankbar, möchte mich bedanken, dass er immer für mich da war und mich unterstützt hat. Er ist Künstler. So begann meine Webcam-Laufbahn und Karriere als Porno-Bloggerin. – ALISA

     

    Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit meiner Mutter und sie sagte, sie würde weiter Kontakt zu mir haben wollen, würde aber ihrem zukünftigen Mann oder sonstwem in ihrem privaten Umfeld nicht erklären wollen, warum sie einen Kerl mit Bart ihre Tochter nennt. Das ist zwar traurig, aber ich bin froh, dass sie nicht aufhört mich zu lieben. Ja, ich werde nicht bei ihr wohnen, aber sie hat nicht mit mir gebrochen. Ich kenne Leute, denen die Eltern gesagt haben: „Tschüss, ruf uns bitte nie mehr an.“ – MAXIM (Name geändert)

     

    Mit 19 stieß ich auf das Wort Transgender. Es war eine merkwürdige Situation, denn ich war in dieser Zeit verheiratet. Ich war bei Freunden auf einer Feier, und es stellte sich heraus, dass einer der Gäste ein Transmann war. Ich sah ihn – da zog sich etwas in mir zusammen. Er bemerkte meine Reaktion, wir kamen ins Gespräch, ich stellte Fragen, und er sagte, das sei Transgeschlechtlichkeit. Einige Monate später haben mein Mann und ich uns im Frieden getrennt. – NIKITA 

     

    Seit meiner Kindheit habe ich mich für alle möglichen Protagonisten von Computerspielen, Filmen und Animationsfilmen interessiert und bin in diese Rollen geschlüpft. Ich habe sie vollständig imitiert, alle Details bis hin zu Mimik und Gestik übernommen, aber es waren immer nur männliche Rollen. – OLEG

     

    Sobald ich mir erlaubte, mich so zu entwickeln, wie es mir angenehm war, begann ich mich wie auf einen Fingerschnips hin zu feminisieren. Ich erlaubte mir, ich zu sein, und dann kam der Moment, wo ich merkte, was ich tat, doch da hatte ich schon keine Angst mehr. Das ist nicht gut oder schlecht – es ist einfach so. Wenn das dann Feminisierung oder Geschlechtsangleichung heißt, okay. Ich wollte mir einfach nur gefallen und nicht das Bedürfnis haben, mein Spiegelbild anzuspucken. Und ich will leben, ohne zusammengeschlagen zu werden. Das war’s. – MARINA

     

    Mit 25 wurde mir klar: Transsexualität geht mich an. Ich weiß nicht, was meine Orientierung ist. Obwohl mir zu Beginn der Geschlechtsangleichung meine lesbische Identität sehr wichtig war, wichtiger als die Identität als Transfrau. Lesbische Transfrau, das kam sogar in Transkreisen nicht so richtig gut an. Warum eine Geschlechtsangleichung vornehmen, wenn dir Frauen gefallen? Was soll ich machen, soll ich mich zerreißen? Was bin ich nur für eine Tscheburaschka! Ich verstehe das bis heute nicht und stelle mich auf meinen Seminaren oft vor mit den Worten: „Guten Tag. Ich heiße Katja. Ich bin eine Tscheburaschka.“ – KATHARINA, Aktivistin bei T-Deistwije (dt. T-Action)

     

    Ich bin jetzt freier und fröhlicher. Und muss vor meinen Eltern nichts mehr geheimhalten oder Brustbinder verstecken. An die einzelnen Schritte der Geschlechtsangleichung denke ich voller Freude und kann es kaum erwarten. In sozialer Hinsicht habe ich keine Probleme: Alle, mit denen ich zu tun habe, nehmen mich so, wie ich bin, nur Körper und Stimme müssen noch in Ordnung kommen. Das Finale der Angleichung wird für mich das Ausbleiben von Fragen, die mir gestellt werden. – SASCHA

     

    Meine Gender-Dysphorie begann, als ich eine Brust bekam. Ich schaute in den Spiegel und mir war klar, dass da was nicht stimmt, wenn ich so aussehe. Wie wenn jemand geschwollene Beine kriegt und merkt, dass da was nicht stimmt und zum Arzt geht, damit der was dagegen tut. Durch die Angleichung kann ich ich sein. Es fällt mir jetzt leichter mit Menschen zu kommunizieren, ich werde nicht mehr als Frau angesprochen und bin dadurch glücklicher. Ich fühle mich jetzt sicherer. – DAMIAN

    Fotograf: Oleg Ponomarev
    Bildredaktion: Andy Heller
    Original: Takie Dela
    Veröffentlicht am 10.12.2020

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  • Neues belarussisches Wörterbuch – Teil 2

    Neues belarussisches Wörterbuch – Teil 2

    Beim Marsch der Nachbarn, der am vergangenen Sonntag in zahlreichen belarussischen Städten stattfand, wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 420 Personen inhaftiert. Diesmal fanden Protestzüge und andere Aktionen in vielen unterschiedlichen städtischen Bezirken statt – eine neue Taktik, die verhindern soll, dass die Sicherheitskräfte gegen eine zentral organisierte Demonstration vorgehen können. 

    Belarus kommt weiterhin nicht zur Ruhe. Der langjährige Autokrat Alexander Lukaschenko weigert sich sich seit August, mit der Bürgerbewegung und mit dem Koordinationsrat der Opposition Gespräche aufzunehmen. Auch die Äußerungen Lukaschenkos vom vergangenen Freitag konnten die Lage nicht beruhigen. Der 66-Jährige hatte gesagt, dass er unter einer neuen Verfassung nicht mehr als Präsident zur Verfügung stehen werde. Eine mögliche Verfassungsreform wird seit Wochen diskutiert, von der Opposition allerdings als Täuschungsmanöver kritisiert. Am Vortag war Russlands Außenminister Sergej Lawrow zu einem Kurzbesuch in Minsk gewesen. Auch er hatte Verfassungsreformen eingefordert. 

    Solch tiefgreifende gesellschaftspolitische Prozesse äußern sich nicht nur in Musik, Kunst und Kultur, sondern auch in der Sprache. Anja Perowa hat für das belarussische Medienportal tut.by eine Erkundungstour unternommen – zu den neusten sprachlichen Ausformungen der Protestkultur.

    Typisch für das Partisanieren – an ungewöhnlichen Orten weiß-rot-weiße Flaggen aufhängen / Foto © Wadim Samirowski/tut.by
    Typisch für das Partisanieren – an ungewöhnlichen Orten weiß-rot-weiße Flaggen aufhängen / Foto © Wadim Samirowski/tut.by

    Bänder (russ. lenty). Der Protest der Belarussen äußert sich nicht nur in gemeinsamen Spaziergängen. Es kommen dabei auch rot-weiße Bändchen aus unterschiedlichen Materialien zum Einsatz. Möglicherweise wäre das Volk nie darauf gekommen, hätte es nicht den stillschweigenden Kampf der Autoritäten gegen die Symbolik der Protestierenden gegeben. Als die weiß-rot-weißen Flaggen von den Balkonen entfernt wurden (übrigens noch vor den Wahlen), haben die Belarussen einen neuen Trick entwickelt – indem sie sie eben aus Bändchen bastelten, die schwerer zu entfernen sind.

    Bussik (russ. busik). Dasselbe wie Kleinbus. Konkret bezeichnet dieser Begriff die Fortbewegungsmittel der Silowiki. In der Regel sind es die Modelle Volkswagen Transporter T5, Ford Transit (auch Custom), Mercedes-Benz Sprinter und spezielle Volkswagen Crafter. Die Fahrzeuge sind farblich meist dunkel, gelegentlich auch weiß oder silber. Solche Fahrzeuge wurden natürlich auch früher von Spezialeinheiten verwendet, doch vermutlich nicht in solchen Mengen. In diesem Zusammenhang ist noch ein weiteres Wort entstanden: „Bussophobie“. Sie tritt auf, wenn man einen Bussik sieht und befürchtet, in diesen hineingezerrt zu werden.

    Drahtzieher (russ. kuklowody). Da gibt es tschechische, amerikanische, litauische, ukrainische. Kurz – alle möglichen. In gewisser Hinsicht sind Drahtzieher die, die sich den Kosmonauten entgegenstellen. Doch wurden sie nie gesehen. Obwohl Alexander Lukaschenko der festen Überzeugung ist: Sie existieren. Das hat er bereits am 10. August verkündet: „Ein Gespräch zeigte uns, dass Drahtzieher am Werke sind. Eine der Linien von Drahtziehern führt nach Tschechien. Schon heute wird unser vereintes Hauptquartier aus Tschechien verwaltet, wo – verzeihen Sie mir – diese Schafe sitzen, die nichts verstehen, was man von ihnen will […] Sie hören nicht auf zu drücken und zu fordern: Bringt die Leute auf die Straße und führt Verhandlungen mit den Machthabern über eine freiwillige Machtübergabe.“ Die Belarussen zeigten sich nicht ratlos und druckten schnell „Geld von den Drahtziehern“ – das sind Dollarnoten mit den Bildern von Nina Baginskaja, Swetlana Tichanowskaja, Alexander Lukaschenko, mit Ratten und Kartoffeln, was sich auf unterschiedliche Ereignisse und Witze bezieht.

    Hündchen (russ. sobatschka). In den August fiel die Zeit der Pro-Lukaschenko-Kundgebungen. Die Teilnehmer riefen eine ganze Reihe von Losungen. Vom einfachen „Be-la-rus!“ bis zum Mem „Batka voran, das Volk geht mit dran“. Doch am liebsten schrien die Belarussen „Sa Batku“ (dt. Für Batka), die in Massenchören in die Forderung „So-batsch-ku!” (dt. Ein Hündchen!) mutiert. Selbstverständlich erschien sofort nach dieser Entdeckung ein Video, auf dem vor die Antwort der Demonstranten Fragen montiert wurden wie: „Wen werden wir füttern?“ Das Hündchen natürlich.

    Jabating. Ironische Bezeichnungen für Pro-Lukaschenko-Kundgebungen. Geht zurück auf den Slogan „Ja/My Batka“ (dt. Ich/Wir sind Batka). Manche denken, dass russische Polittechnologen und Propagandisten ihn sich ausgedacht haben, da die Belarussen Lukaschenko fast nie so nennen (außer freilich Natalja Eismont). Sehr schnell verkürzten Internet-Scherzkekse die Losung der Demonstranten zu einem donnernden „Ja Batka“. Dann gab es bald darauf die bekannten Jabatki (als Bezeichnung für die Teilnehmer der regierungsfreundlichen Kundgebungen) und Jabating (eine eben solche Kundgebung).

    Kette (russ. zep). Wir sprechen von Solidaritätsketten, die häufig aus dem Nichts in unterschiedlichen Stadtteilen nicht nur von Minsk, sondern in ganz Belarus entstehen. Wer weiß: Vielleicht wurde der gängige Satz „Mehr als drei dürfen sich nicht versammeln“ erdacht, weil man so etwas vorausgeahnt hat? Denn: Zwei Menschen sind noch keine Kette, aber drei – durchaus. Die größte Kette dieser Art war wohl die Menschenkette am 22. August. Sie verlief von der Okrestina bis Kuropaty.

    Kosmonauten (russ. kosmonawty). Wer das ist, das seht ihr auf dem Foto. Meistens bezeichnet dieses Wort OMON-Kräfte in Uniform und mit Helm. Die volle Ausrüstung umfasst außerdem Schulterprotektoren, Handschuhe, Ellbogenschützer und ähnliches Gedöns, wie Gamer es nennen würden. Der Grund für ihren Spitznamen ist offensichtlich – ihre Uniform erinnert wirklich an einen Raumanzug.

    Oliven (russ. oliwki). So nennt man im Volksmund die OMON-Mitarbeiter in ihrer olivgrünen Kleidung. Die Existenz einer Uniform in solch einem Farbton ist kein Geheimnis, man hat sie früher sogar im Fernsehen gezeigt. Jetzt haben wir hier dargelegt, warum man die OMON-Leute frank und frei „Oliven“ nennen darf und keine Angst haben muss sich zu vertun. Übrigens nennen die Leute die Silowiki in ihren schwarzen Standardklamotten auch Ölbäume und Johannisbeeren – ein komplettes Feinkostgeschäft findet sich hier.

    Partisanieren (russ. partisanit). Das Wort hat seine Bedeutung nicht wesentlich verändert, eher erlebt es eine Renaissance. Die, die „partisanieren“, gehen nicht etwa zu Protesten, sondern beteiligen sich an Untergrundaktivitäten. Zum Beispiel drucken sie Wandzeitungen, verteilen Flugblätter, kleben Sticker und helfen Freiwilligen. Oder sie hängen an sehr ungewöhnlichen Orten weiß-rot-weiße Flaggen auf.

    Prostituierte und Drogensüchtige (russ. prostitutki i narkomany). Sprich: Protestierende und Demonstranten. So nannten sich irgendwann die Belarussen selbst auf Anregung von Lukaschenko. Die „Drogensüchtigen“ tauchten am 10. August auf, als auch die Geschichte mit den Drahtziehern geschah. Daher kamen dann auch die „Schafe“. Mit den Prostituierten ist es ein bisschen komplizierter. Über sie hatte Lukaschenko schon vor der Wahl gesprochen, am 4. August, hatte aber niemanden wirklich so genannt: „Wir, der Staat – werden den Kampf im Internet nie gewinnen, da das gelbe Schmuddel-Presse ist. Wir können uns nicht auf ein derart vergilbtes Niveau hinunterbegeben und alle, die uns nicht gefallen, – entschuldigen Sie den Ausdruck – Schlampen und Nutten nennen.“ Offensichtlich passten die Prostituierten dermaßen gut zu den Drogensüchtigen und Schafen, dass man entschied, sie doch einzureihen.

    Shodino. Wenn jemand in der zweiten Hälfte 2020 gesagt hat, dass er nach Shodino fährt, war das höchstwahrscheinlich nicht einfach eine Vergnügungsfahrt in die Stadt in der Nähe von Minsk. Was hinter den Worten „in die Okrestina kommen“ stand, wussten die Belarussen auch früher, aber in das Gefängnis Nr. 8 in Shodino wurden nicht so viele festgenommene und inhaftierte Minsker gebracht. Doch jetzt ist die Adresse Sowjetskaja 22A wohlbekannt bei denen, die Briefe dorthin schreiben. Und wohlbekannt ist auch, was Maria Kolesnikowa eben dort für die unglaublichen Belarussen durchmacht.

    Spazierengehen (russ. guljat). Dank der legendären Nina Baginskaja, die zum Symbol des Prostestes wurde, haben die Belarussen einen neuen Satz gelernt: „Ich gehe grad spazieren.“ Genau das sagte die Rentnerin im August, als Vertreter der Sicherheitskräfte plötzlich Fragen hatten, an sie und ihre Flagge. Heute sagen viele Belarussen, wenn sie auf Protestaktionen sind, nicht, dass sie demonstrieren. Sie gehen grad spazieren. Und die Hauptsache dabei ist, dass allen völlig klar ist, was das heißt. In den Chats der einzelnen Bezirke lautet daher die Frage oft: „Wollen wir heute spazierengehen?“

    Teestündchen (russ. tschajepitije). Die Zusammengehörigkeit der Belarussen vor dem Hintergrund der diesjährigen Ereignisse ist in ein neues Gesprächsformat mit den Nachbarn eingeflossen: das Teestündchen. Erst gab es Stadtteil-Chats auf Telegram (noch so eine Erscheinung aus 2020), wo sich Leute miteinander unterhielten. Doch sehr schnell wurde das alles entvirtualisiert und man traf sich: trank Tee, brachte Torten und andere süße Sachen mit, lud Musiker ein und tanzte zu Livemusik. Kurz, es war herzig. Besonders berühmt für seine Teestunden im Hof wurden der Stadtteil Nowaja Borowaja, der Hof beim Platz des Wandels, Grushville und die Feste in der Osmolowka.

    23.34. Ist keineswegs eine Uhrzeit, sondern die Nummer des Paragraphen für Ordnungswidrigkeiten. Den Inhalt kennt mittlerweile fast jeder Belarusse, deswegen werden wir hier nichts erklären. Wenn ein Freund erzählt, dass man ihn „nach 23.34“ verurteilt hat, muss man ihn nichts weiter fragen. Er war spazieren, denn: Es gab bisher noch keinen Präzedenzfall, wo ein Jabating mit diesem Paragraphen geahndet wurde

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    „Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“

    „Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden“

  • „Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“

    „Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“

    Allein am vergangenen Sonntag, beim Marsch der Volksmacht, hat der Machtapparat von Alexander Lukaschenko über 1000 Menschen festgenommen, wie Menschenrechtsorganisationen berichten. Insgesamt wurden mehr als 18.000 Menschen seit dem Tag der Präsidentschaftswahl am 9. August und der nachfolgenden Proteste in Gewahrsam genommen oder inhaftiert. Die Belarussen demonstrieren seit über drei Monaten gegen die exzessive Gewalt, für ihre Grundrechte und für Neuwahlen.

    Auch Jelena Lewtschenko verbrachte 15 Tage im Okrestina Gefängnis von Minsk. Sie wurde für die „Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung“ verurteilt. Die 37-Jährige gehört als Basketballerin zu den berühmtesten Sportlerinnen des Landes. Am 30. September war sie am internationalen Flughafen von Minsk festgenommen worden. Wie sie kritisieren mittlerweile auch zahlreiche andere bekannte Sportler und Sportlerinnen die Gewalt gegen die Demonstranten und Demonstrantinnen und fordern Neuwahlen. Das Regime reagiert darauf nicht nur mit Haft- und Geldstrafen, sondern auch mit Kündigung der staatlichen Unterstützungsleistungen. Viele verlieren ihren Platz in den Nationalteams.

    Über die alltäglichen Formen der Erniedrigung und der Manipulation in der Haft, darüber, wie sich die Insassen versuchen zu widersetzen, warum Jelena Lewtschenko selbst infolge der Proteste derart politisiert wurde – darüber sprach sie mit dem russischen Nachrichtenportal Meduza

    Alexandra Siwzowa: Wo sind Sie zur Zeit?

    Jelena Lewtschenko: Vor ein paar Tagen bin ich in Athen angekommen. Ich wollte schon im September hierher fliegen, bin aber am Flughafen verhaftet worden. Ich mache hier eine Reha, und es gibt die Möglichkeit, mit einem Team zu trainieren.

    Wie wurden Sie verhaftet?

    Ich hatte es noch nicht mal bis zum Check-in geschafft. Ich war gerade dabei, meine Taschen in Folie zu packen – da bemerke ich, wie mir jemand auf die Schulter klopft. Ich sehe zwei Milizionäre. Sie grüßen und sagen, dass sie mich wegen der Teilnahme an nicht genehmigten Kundgebungen verhaften müssen. Ich hatte das erwartet – aktuell ist es das Gängigste, wofür man in Belarus festgenommen wird.

    Haben Sie geahnt, dass man Sie verhaften könnte?

    Wenn sie gewollt hätten, hätten sie mich schon frühmorgens festnehmen können, oder auch am Vorabend. Ich habe es also nicht direkt erwartet. Ich war unter Schock, aber ich habe sie angelächelt. Ich habe sofort gebeten, meinen Anwalt und meine Mutter anrufen zu können. Schon als ich auf das Flughafengelände fuhr, war mir ein Auto der Miliz aufgefallen. Es stand entgegen der Fahrtrichtung, so konnten sie beobachten, wer in den Flughafen fuhr. Wie mir später klar wurde, wurde dann weitergegeben, wer das Gelände betrat. Ich fragte mich: „Warum haben die das nicht schon früher gemacht? Damit wenigstens das Gepäck nicht vollends eingewickelt würde.“ Offensichtlich haben sie den letzten Moment abgewartet – die Verhaftung war demonstrativ: Immerhin mussten sie 45 Kilometer zum Flughafen fahren, und dann dieselbe Strecke wieder zurück.

    Ich war ja noch nie im Gefängnis –

    Gott bewahre, dass das noch mal geschieht

    Sie wurden dann sofort in das Gefängnis in der Uliza Okrestina gebracht? 

    Nein, zuerst zum RUWD, dem Revier der Miliz im Leninski Rajon. Dort sprach ein Mann namens Iwan Alexandrowitsch Skorochodow mit mir – seine Position ist mir nicht bekannt; aber später stellte sich heraus, dass er Zeuge war in meinem Fall, obwohl er nicht vor Gericht erschien.
    Ich bat ihn, meinen Anwalt zu kontaktieren. Er sagte, dass er das noch nicht machen könne. Als ich dann ins Okrestina Gefängnis kam, bot er mir an, den Anwalt anzurufen, wenn ich denn die Tastensperre aufheben, die Nummer wählen und es ihm sofort reichen würde. Ich lehnte ab, weil ich wusste, dass er das Telefon hätte einstecken können – und ich es nicht mehr wiedergesehen hätte. 

    Beschreiben Sie Ihren ersten Tag in der Haft.

    Am ersten Tag [im Revier] kam ich in eine Zelle für zwei Personen. Es war bereits eine Frau dort. In der Zelle stand ein Etagenbett, Matratzen gab es nicht, dafür bekam ich Bettwäsche. Man sagte, dass ich wahrscheinlich einen Tag hierbleiben würde, ich würde eine Geldstrafe zahlen müssen und würde dann entlassen. Erst später habe ich herausgefunden, dass sie das allen sagen. Der Prozess fand am selben Tag statt. Als ich so dalag und auf den Beginn der Verhandlung wartete, hörte ich plötzlich, wie Frauen in anderen Zellen begannen, Grai und Kupalinka zu singen. Ich stimmte ein und weinte natürlich augenblicklich los. Es war so berührend, ich hatte das Gefühl, dass wir – sogar im Gefängnis – alle zusammen sind. 
    Als wir zu Ende gesungen hatten, klatschten alle los. Das werde ich nie vergessen. Dann kam der Prozess, ich bekam 15 Tage, und am nächsten Tag wurde ich in die Haftanstalt [in der Okrestina Straße] verlegt – in eine Vierer-Zelle, wo ich zwei Wochen verbrachte.

    Wie haben die 15 Tage Sie geprägt?

    Ich konnte mich nochmals vergewissern, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ich sehe, wie grausam diese Menschen sind. Demütigung ist ihre Spezialität. Das Okrestina ist ein schwarzer Fleck, viele Tränen, viel Schmerz. Alles, was dort in den Tagen nach der Wahl passiert ist, ist irrsinnig. Jetzt gibt es dort nicht mehr so viel physische Misshandlung, nicht so viele Schläge, aber alles, was dort jetzt geschieht, bezeichne ich als psychische Gewalt und moralischen Druck. Die grundlegenden Menschenrechte werden verletzt.

    Wie waren die Haftbedingungen?

    Wir waren zu dritt in einer Zelle. In der ersten Nacht hatten wir Matratzen, Wasser, die Klospülung funktionierte. Doch am 2. Oktober ging es los. Nach dem Frühstück kam ein Mann herein und befahl uns, die Matratzen zusammenzurollen. Wir rollten sie ein; wir dachten, wir hätten vielleicht etwas falsch gemacht. Über die Regeln in der Haft hatte man uns nicht aufgeklärt. Ich war ja noch nie im Gefängnis – Gott bewahre, dass das noch mal geschieht. Doch wenn es Regeln gibt, muss man auch sagen, welche – aber nichts da. Es gab lediglich ein Papier, auf dem stand, dass man täglich 13,50 Rubel [etwa 4,50 Euro – dek] für die Verpflegung zahlen muss.

    Wann haben Sie die Matratzen zurückbekommen?

    Zunächst dachten wir, man habe sie eingesammelt, um sie zu säubern, um Läuse und Bettwanzen zu entfernen. Aber wir haben sie gar nicht zurückbekommen.

    Haben Sie denn versucht, sie zurückzubekommen?

    Ja, noch am selben Tag. In der Zelle gab es einen Knopf für Notfälle – den drückten und drückten wir. Lange hat niemand reagiert; dann kam ein wütender Wächter. Er öffnete die Zelle, packte die Frau, die ihm am nächsten stand, und führte sie heraus. Fünf Minuten später kam sie zurück. Er hatte ihr gesagt: „Sag den alten Schachteln, dass sie sich beruhigen sollen, Matratzen gibts nicht.“ 
    Am selben Tag wurde uns das warme Wasser abgestellt und auch die Spülung, dann wurden zwei weitere Personen zu uns in die Zelle gesteckt – in einer Vierer-Zelle waren wir dann zu fünft. 
    Wir wussten nicht, wie man so schlafen soll. Also haben wir Zeitungen und Kleidung ausgebreitet. Als Größte habe ich mich auf eine Bank gelegt, eine andere Frau auf den Tisch. Zwei lagen zusammen im Bett, denn es war sehr kalt, die Heizung wurde nicht warm.

    Innerhalb von 15 Tagen durften wir

    nur fünfmal an die frische Luft

    Was bekamen Sie als Antwort, als Sie darum baten, das Warmwasser und die Heizung einzuschalten? 

    Die Antworten waren immer dieselben: „Wir wissen nichts, wir entscheiden nichts, ihr müsst die Leitung fragen, das hängt nicht von uns ab.“ Oder wir wurden einfach ignoriert.

    Wie lange ging das im Endeffekt so?

    Die ganze Zeit, die ich dort war. Keine Matratzen, warmes Wasser gab es erst am vorletzten Tag. Wir baten um eine Waschmöglichkeit, aber in den 15 Tagen konnten wir nicht ein einziges Mal duschen. Innerhalb von 15 Tagen durften wir nur fünfmal an die frische Luft.

    Wer saß zusammen mit Ihnen ein?

    Die meisten im Okrestina Gefängnis hatten an den friedlichen Protesten teilgenommen. Ein Mädchen war aus dem Wahlkampfteam von Viktor Babariko. Es gab eine Belarussin, die in der Schweiz lebt – sie war nach Belarus gekommen, weil sie nicht gleichgültig zusehen konnte, was hier vor sich geht. 
    Mittlerweile ist mir klar, dass die Bedingungen, unter denen wir inhaftiert waren, dass das alles Absicht war.

    In den Zellen herrschten also unterschiedliche Bedingungen?

    Gegenüber von uns gab es eine Zelle mit jungen Männern. Wenn das Essen gebracht wurde, ließen die [Wachen] manchmal die Klappe auf und wir konnten einander zuwinken. Ich dachte, dies sei eine gute Gelegenheit, sie nach dem Wasser zu fragen. Mit großen Buchstaben schrieb ich diese Frage auf: „Habt ihr warmes Wasser?“, dann schob ich den Zettel rüber. Die Jungs haben es zuerst nicht gesehen; und als ich es noch einmal versuchte, sahen sie es schließlich und nickten. Da wussten wir Frauen, dass irgendetwas nicht stimmt.

    Haben Sie am Ende herausgefunden, warum es in Ihrer Zelle diese Bedingungen gab?

    Ja. Einen Abend durften wir rauf in einen tollen Raum mit Stühlen, Tischen und einem Fernseher. Irgendwann sahen wir einen Mann in Uniform – es war der Leiter der Haftanstalt, Jewgeni Schapetiko. Er stellte sich vor und sagte, dass wir die Polizei vielleicht nicht mögen, dass es für die Polizisten aber auch schwer sei. Dann wurde ein Film eingeschaltet. Später haben mir die Mädels erzählt, dass ihnen ein Kerl in Sturmhaube aufgefallen sei. Der hatte mit dem Telefon gefilmt, wie wir den Film anschauen.

    Was war das für ein Film?

    Ein regierungsfreundlicher Film aus dem belarussischen Fernsehen. Darin wurden verschiedene Bilder gezeigt – von Leuten, die Telefonnummern von Milizbeamten an Telegramkanäle schickten. Davon, wie jemand einen alten Mann angriff. Dann gab es Filmmaterial aus dem [Zweiten] Weltkrieg und wie die Großväter gekämpft haben. Dann noch von Kundgebungen und wie wir faschistische Flaggen tragen. Die Zielrichtung der Propaganda: Wir [Demonstranten] würden uns nur für unsere Handys interessieren, aber nicht fürs Kinderkriegen.
    Dann war der Film vorbei. Der Chef der Haftanstalt sagte, er werde so etwas in seiner Stadt nicht zulassen. Dann fing er an, über Gesetze zu reden. 

    Was hat er gesagt?

    Er sei hier für die Haftbedingungen verantwortlich: „Es läuft alles so, dass ihr nie wieder herwollt.“ 
    Er fragte: „Wie habt ihr euch das denn vorgestellt?“ Die jungen Männer entgegneten geschickt, dass sie sich das so vorgestellt haben, wie es in unserem belarussischen Fernsehen gezeigt wird. Kurz zuvor hatte der Sender CTV einen Beitrag gebracht, wie schön und gut doch alles in der Okrestina sei.

    Waren denn bei denen, die den Mund aufgemacht haben, die Bedingungen ähnlich schlecht?

    Eine Frau aus meiner Zelle hat den anderen nach dem Film diese Frage gestellt. Die Jungs verneinten. Dann hielten wir Schapetiko vor, dass man in der Okrestina offensichtlich Menschenrechte verletzen würde. Der Leiter der Haftanstalt entgegnete nur, dass er über diese Sache nachdenken werde, dann ging er zum Ausgang, und es änderte sich nichts.

    Die Grausamkeit, die sie meiner Familie angetan haben,

    kann ich nicht verzeihen

    Hat Sie im Gefängnis jemand erkannt?

    Die Milizionäre haben mich erkannt. Einmal kamen wir von einem Spaziergang zurück, und der Wächter fragte: „Lewtschenko, rauchst Du etwa? Hast ja sehr um den Spaziergang gebettelt.“ Und ich fragte zurück: „Darf man nicht spazierengehen wollen?“ 
    Meinen Nachnamen kannten sie. Wenn eine neue Frau in die Zelle kam, war es immer amüsant: „Und Sie sind wirklich Jelena Lewtschenko? Sind Sie Jelena Lewtschenko? Du bist tatsächlich Jelena? Ich hätte nie gedacht, dass ich dich in der Okrestina treffe.“ Nun, was soll ich darauf antworten? So was passiert eben. Machen wir uns also bekannt!

    Was haben Sie in der Zelle so gemacht?

    Jemand, der vor uns gesessen hatte, hatte ein Damespiel auf ein Blatt gezeichnet. Wir haben uns aus Weiß- und Schwarzbrot Figuren gebastelt und gespielt. Wir haben uns bemüht, Witze zu machen, haben Lieder gesungen und uns unterhalten. Und jetzt, wo ich durch die Sozialen Netzwerke surfe, sehe ich tatsächlich Nachrichten von den Jungs, die in der Zelle nebenan waren. Die schreiben da: „Wir haben gehört, wie ihr gesungen habt, wir haben euch applaudiert.“ Irgendwo in einer anderen Zelle gab es eine Frau, die jeden Abend sehr schön sang. Richtige Konzerte gibt es in der Okrestina.

    Nach 15 Tagen Haft wurden Sie erneut festgenommen – wiederum wegen der Teilnahme an Protesten. Aber dann bekamen Sie eine Geldstrafe und wurden entlassen. Warum?

    Ich denke, dass das alles eine große zusammenhängende Geschichte ist, „ein demonstrativer Vorgang“ sozusagen. Anderen Sportlern und Menschen sollte Angst gemacht werden, man wollte so demonstrieren, dass es jeden erwischen kann. Aber ich habe gar nicht erwartet, dass man mich gehen lässt, ich habe keine Gnade von denen erwartet. Eine Geldstrafe – bedeutet das in deren Verständnis nicht sogar Gnade? Doch die Grausamkeit, die sie meiner Familie angetan haben, kann ich nicht verzeihen.

    Was für eine Grausamkeit?

    Ich habe erst am Vorabend erfahren, dass ich am nächsten Morgen einen weiteren Prozess haben würde. Was bedeutete, dass man mich nicht entlassen würde. Aber darüber wurden meine Familie und Freunde nicht informiert. Sie brachten meine Mama und meinen Vater dazu, um sechs in der Früh zur Okrestina zu kommen und auf mich zu warten. Das Foto, das durch alle Medien ging, werde ich nie vergessen: wie Mama an Papas Schulter weint.

    Haben Sie keine Angst davor, sich zu äußern?

    Wenn die mir an den Kragen wollen, werden sie das sowieso tun. Wir sind in keiner Weise geschützt. Seien wir ehrlich: Ich habe keine Gesetze gebrochen oder Verbrechen begangen. Aber das spielt heute in Belarus keine Rolle, denn menschliches Leben hat keinen Wert. Das ist der rechtliche Normalzustand, und der ist das Einzige, was aktuell in Belarus zählt. Deshalb ist alles, was wir tun können, die Wahrheit zu sagen und davon zu berichten, was wir erleben.

    Unterhalten Sie sich mit Sportlern aus Belarus?

    Jeden Tag.

    Wie reagieren die auf die Proteste?

    Weltklasse-Athleten schweigen leider und kommentieren die Situation überhaupt nicht. Manchmal posten sie etwas, was sich gegen Gewalt richtet, aber Gewalt ist ja nur die Folge. Über den eigentlichen Grund sprechen sie nicht.

    Was halten Sie von Menschen, die in der aktuellen Situation nicht den Mund aufmachen?

    Es scheint, als säßen die im Gefängnis, und wir sind – im Gegenteil dazu – frei. Anfänglich war ich schon empört: Ich wollte, dass die Athleten reden – vor allem die berühmten. Doch darauf darf man sich nicht versteifen. Das soll jeder machen, wie er will. Hauptsache, es geht weiter. Wir sind viele. Bis heute haben bereits 998 Athleten einen offenen Brief mit Forderungen an die Machthaber unterschrieben.

    Sie waren bis 2020 ein unpolitischer Mensch, richtig?

    Ja, ich war unpolitisch – im Jahr 2020 habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gewählt. Die Belarussen sind wirklich aufgewacht! Früher waren wir überzeugt, dass sich nichts ändern würde, wenn wir [gegen Lukaschenko] stimmen. Es war Teil der Mentalität. Man wird vergiftet – man tut so, als sei alles in Ordnung. Alles, was man tun kann, ist, alles runterzuschlucken. Das ist nicht nur mit der Politik so. Das betrifft alles.

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  • „Großmächte brauchen einen Großfeind“

    „Großmächte brauchen einen Großfeind“

    Joe Biden ist designierter US-Präsident – was ändert sich für Russland? Als US-Präsident Trump vor vier Jahren ins Amt kam, fürchteten viele, er könne eine Marionette Russlands werden. US-Sicherheitsdienste berichteten über russische Einmischung im Wahlkampf. Joe Biden dagegen gilt als sehr kritisch gegenüber dem Kreml, bezeichnete Trump im Wahlkampf als „Putin's puppy“, „Putins Schoßhündchen“.
    Putin versicherte kürzlich, Russland werde mit jedem US-Präsidenten zusammenarbeiten, kritisierte aber Bidens „antirussische Rhetorik“.

    Was ist aus der erwarteten Annäherung zwischen den USA und Russland unter Trump tatsächlich geworden? Und was bedeutet ein US-Präsident Joe Biden für Russland? Diese Fragen stellt Meduza drei russischen Experten für die russisch-amerikanischen Beziehungen: Andrej Kortunow, Ivan Kurilla und Dimitri Trenin.
    dekoder stellt eine weitere Analyse der Politologin Nina Chruschtschowa dazu, die Projekt veröffentlichte.

    „In Russland selbst hat sich nichts zum Guten geändert“

    Ivan Kurilla, Historiker, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg

    Die Regierungszeit Trumps wurde zu einer Enttäuschung, da die russische Seite etwas anderes erwartet hatte. Man hatte auf warmherzige Beziehungen zwischen den USA und Russland gesetzt – oder zumindest auf eine Verbesserung im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren unter Präsident Obama.

    Doch besser wurde es nicht, aus zwei Gründen: In Russland selbst hat sich in dieser Zeit nichts zum Guten geändert, es blieb alles beim Alten. In den USA war das „russische Thema“ während der Präsidenschaft Trumps äußerst heiß. Die ersten zwei Jahre beschuldigte man ihn, ein russischer Agent zu sein. In den Beziehungen zu Russland etwas in Bewegung zu bringen, wurde für ihn unmöglich. Bestraft wurde so im Endeffekt nicht Russland, sondern Trump.

    Die Sanktionen gegen Russland liefen über den Kongress. Das ist viel schlimmer, als wenn sie über die Regierung laufen – die kann Sanktionen schnell erlassen, aber auch aufheben. Damit der Kongress auch nur zur Prüfung der Aufhebung von Sanktionen schreitet, braucht es großen Druck, was äußerst unwahrscheinlich ist.    

    Auch der Druck der USA auf Europa bedeutete großen Druck auf Russland. Der Baustopp von Nord Stream 2, weil die USA Sanktionen gegen die Firmen androhten, die daran beteiligt sind, war ein noch größerer Hieb als die direkten Sanktionen. Dieser indirekte Einfluss über Europa versetzte der russischen Wirtschaft einen herben Schlag. 

    Der Druck der USA auf Europa bedeutete auch großen Druck auf Russland

    Die künftigen Beziehungen zwischen den USA und Russland werden von den Beratern abhängen, die der neue Präsident auswählt. Biden wird im Unterschied zu Trump bei wichtigen Fragen auf kollektive Entscheidungen setzen. Mit Sicherheit wird es eine aktivere Außenpolitik geben als bei Trump. Trump hatte im Gegensatz dazu Amerika aus verschiedenen Regionen der Welt abgezogen und war aus internationalen Abkommen ausgetreten. Die Demokraten werden wiederkommen. 
    Der Präsidentenwechsel bedeutet ein kleines Fenster neuer Möglichkeiten. Vielleicht wird Russland innerhalb der USA nicht mehr als Schreckgespenst benutzt. Die Sackgassen, in die unsere Beziehungen geraten sind, könnten durchbrochen werden. Aber große Hoffnungen habe ich da nicht, weil sich auf russischer Seite nichts geändert hat, und das würde jeder US-Präsident zur Voraussetzung machen.


    „Es wird auch neue Möglichkeiten geben“

    Andrej Kortunow, Leiter des Russischen Rats für internationale Angelegenheiten

    Russlands Hoffnungen in Bezug auf die USA, die vor vier Jahren aufkamen, wurden nicht erfüllt. Unsere Beziehungen mit den USA haben sich in dieser Zeit vielmehr verschlechtert, quantitativ wie qualitativ. Unter Trump wurden die russisch-amerikanischen Summits quasi abgeschafft. Wenn früher ein neuer US-Präsident gewählt wurde, gelang es schnell, ein Treffen auf höchster Ebene zu organisieren. Das war nötig, damit die Räder der schwerfälligen Staatsmaschinen in Gang kamen. In Trumps Fall gab es gerade mal ein Treffen in Helsinki 2018, das die Beziehungen nur verschlechtert hat. Gleich darauf folgten Sanktionen und Kritik an Trump dafür, dass er sich angeblich Putin ergeben habe.

    Der Hauptpfeiler in den Beziehungen zwischen den USA und Russland war immer die Rüstungskontrolle. Auch wenn sich beide Seiten über alles Mögliche stritten, auch wenn sich die Beziehungen verschlechterten, die USA und Russland waren stets der Meinung, dass die Kontrolle strategischer Waffen das ist, was ihre Beziehung so einzigartig macht auf der ganzen Welt und dass man das bewahren müsse. Unter Trump wurde all das zerstört. Die US-Administration ist aus dem INF-Vertrag ausgestiegen und hat praktisch jegliche Versuche abgelehnt, den New-Start-Vertrag zu verlängern. Das heißt: Der Grundpfeiler unserer Beziehungen ist zerstört.

    Die Rhetorik gegenüber Russland wird sich erheblich verändern

    Biden wird nun Präsident, und dies wird die Rhetorik gegenüber Russland erheblich verändern. Sie wird hart und kritisch sein, im Gegensatz zu Trump wird Biden Putin keine Komplimente machen. In einigen Bereichen wird Biden ein schwierigerer Partner sein als Trump. Er wird einen Akzent auf Menschenrechte in Russland setzen, vielleicht wird die Magnitski-Liste erweitert oder Neues beschlossen, wie zum Beispiel eine Nawalny-Liste. Intensiviert wird die Unterstützung für die Ukraine, Georgien – Staaten, die mit Russland in Konflikt stehen. Biden wird sich bereit zeigen, die Opposition in Belarus zu unterstützen und die Mittel für oppositionelle Menschenrechtsbewegungen im postsowjetischen Raum aufzustocken. Bidens Politik wird darauf abzielen, das transatlantische Bündnis wiederherzustellen und den Spielraum für russische Manöver einzuschränken. Er wird versuchen, die ruinierten Beziehungen zu den europäischen Partnern wiederherzustellen. 

    Es wird aber auch neue Möglichkeiten geben: Biden wird mehr Interesse an Rüstungskontrolle zeigen, da er die Entscheidung von Trump, sich aus dem INF-Vertrag zurückzuziehen, nicht unterstützt hat. Die wichtige Frage ist: Inwieweit ist Biden bereit, die Sanktionen gegen Russland auf ein qualitativ anderes Niveau zu heben? 


    „Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören“

    Dimitri Trenin, Politikwissenschaftler, Leiter des Moskauer Carnegie-Zentrums

    Unter Trump haben die Beziehungen zwischen den USA und Russland einen neuen Negativ-Rekord erreicht. Seit der ersten Hälfte der 1980er Jahre war das Niveau nie so schlecht wie heute. Doch die Grenze oder der Tiefpunkt sind noch nicht erreicht, wir bewegen uns weiter in diese Richtung. Präsident Putin bezeichnet den Handel als ein Plus, doch der findet in beiden Richtungen nur noch minimal statt. Außerdem haben die US-amerikanischen Sanktionen den Handel russischer Firmen mit ihren wichtigsten Partnern behindert.

    Dafür sind wir in keine direkte Auseinandersetzung mit amerikanischen Streitkräften geraten, obwohl das nicht unwahrscheinlich war. 
    Sehr unerfreulich war für Russland, dass es während der vergangenen vier Jahre zum Objekt der amerikanischen Innenpolitik wurde. Wer Verbindungen zu Russland unterhielt, wurde zum Prügelknaben – vor allem die Republikaner mussten dafür einstecken. Aber auch sie verhielten sich hart gegenüber Russland, um mit den Kollegen mitzuhalten.

    Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören und noch heftiger werden.

    Das Unangenehmste für Russland, was unter Biden geschehen könnte: Durch ihren Ausstieg aus dem INF-Vertrag könnten die USA in Europa riesige Raketen aufstellen, die auf die Zerstörung strategischer Zentren und Objekte in Russland zielen. Wichtige Stützpunkte und das russische Atomwaffenarsenal selbst wären dann drei bis fünf Flugminuten von Polen entfernt. Auf US-amerikanische Raketen zu reagieren wäre praktisch unmöglich. Das kann gefährlich sein und könnte dazu führen, dass Russland zur Ausarbeitung eines Präventivschlags übergeht. Im Ernstfall wird Russland nicht warten, bis eine Rakete fliegt, sondern wird als erstes zuschlagen, was die Situation auf der ganzen Welt angespannt macht. Das ist die größte militärische Gefahr. 

    Das Gute ist, dass die Rhetorik von der russischen Einmischung verstummen könnte. Sie wird nicht ganz verschwinden, aber sie wird nicht mehr so im Vordergrund stehen. 


    „Beide Länder verstehen sich als Imperien – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung“

    Nina Chruschtschowa, Politikwissenschaftlerin, New School, New York, Original

    Die Probleme in den russisch-amerikanischen Beziehungen sind deutlich gravierender als die Beziehungskrise zwischen den Länderchefs, unabhängig von ihrer persönlichen Politik. Beide Länder verstehen sich als Imperien, die im Zentrum des Weltgeschehens stehen – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung.

    Amerika – die strahlende „City upon a Hill“, die „große Demokratie“ und so weiter (Trumps Verkünden der amerikanischen Überlegenheit war keineswegs etwas Neues) – braucht es, dass alle die USA als überlegen anerkennen und so werden wollen wie sie. Russland besteht seit Jahrhunderten darauf, dass es eine Weltmacht und keine Regionalmacht ist (Obama hat Putin mit dieser Bezeichnung nach der Krim-Annexion schwer verletzt), und wird hinter niemandem herlaufen. Kopieren ja, wenn es um politische Formeln, Kino, Food Courts und so weiter geht. Aber die amerikanische Überlegenheit anerkennen – auf keinen Fall.

    Alle „Großmächte“ brauchen einen „Großfeind“. Für Russland ist das Amerika – und umgekehrt genau so.

    Ich habe viele Jahre als wissenschaftliche Assistentin für George Kennan gearbeitet, den berühmten amerikanischen Diplomaten, der US-Botschafter in der UdSSR und Philosoph des Kalten Kriegs war. Der hat gesagt, dass Russland und die USA Spiegelbilder seien. Beide Länder leiden unter einem Größen- und Heilsbringer-Komplex.

    In seiner Siegesansprache hat Biden gesagt, dass er die „Seele Amerikas heilen“ will. Diese Seele war unter jeder Administration die eines Messias. Der mit fast 78 Jahren gewählte Präsident Biden wird wohl kaum seine außenpolitischen Ansichten ändern, die sich in Zeiten der Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA geformt haben. Und Putin ist selbst genug Messias, mit ebensolchen internationalen Ambitionen.

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  • Wer treibt hier wen vor sich her?

    Wer treibt hier wen vor sich her?

    Lukaschenko muss zurücktreten, die Gewalt muss enden und die politischen Gefangenen müssen freigelassen werden: Diese drei Forderungen hatte Swetlana Tichanowskaja Mitte des Monats aufgestellt und dem Regime in Belarus eine Frist bis zum 25. Oktober gesetzt, andernfalls werde es einen landesweiten Generalstreik geben. 

    Verschiedene Kommentatoren bewerteten diesen Schritt als gewagt. Denn sollten die Streiks, die heute begonnen haben, nicht so umfangreich und dauerhaft wie erwartet ausfallen, könnte das dem Ruf von Tichanowskaja und ihrem Team erheblich schaden.

    Artyom Shraibman, unabhängiger Analyst und regelmäßiger Autor bei tut.by und Carnegie.ru, hatte sich zuvor ähnlich skeptisch geäußert. Nach den Massenprotesten vom Wochenende jedoch schreibt er auf seinem Telegram-Kanal, dass das Ultimatum schon jetzt erste Erfolge gezeigt habe. 

    Im politischen Kampf ist kaum etwas so bedeutend wie die Frage, wer gerade den Ton angibt. Der September war ein Monat, in dem die Staatsmacht scheinbar dauerhaft den Ton angab. 

    Nun passiert das Gegenteil, die Staatsmacht handelt inkonsistent: Mal wurde eine Demo [zur Unterstützung Lukaschenkos – dek] angesetzt, dann wieder abgesagt, mal gibt es politische Festnahmen, dann werden die Gefangenen wieder freigelassen, mal wird brutal auf der Straße eingegriffen, dann wieder nicht. 

    Man kann es kaum anders beschreiben denn als nervöses Schwanken. Die Gründe für dieses Schwanken sind klar – es ist ist teuflisch schwer zu beurteilen, was nun mit dem Kredit von Russland ist, angesichts der Drohungen im [russischen staatsnahen Sender – dek] NTW und dem Druck wegen der Verfassungsreform. Flaut der Protest nun ab oder nicht? Und die Opposition lässt sich nicht spalten, wie sehr man auch draufhaut.

    Vor diesem Hintergrund ist der erste Akt von Tichanowskajas Ultimatum gelungen. Der Protest ist zurück – zumindest in der Größenordnung des frühen September (über 100.000, vielleicht sogar 150.000 Teilnehmer). Morgen [Montag] ist natürlich der Tag X, aber selbst ohne landesweiten Generalstreik wäre das schon nicht mehr das völlige Versagen, das Skeptiker dem Ultimatum vorhergesagt haben.

    Alles geschieht nach dem Muster, mit dem ich euch wohl schon auf die Nerven gehe: Wer den Ton angibt und ungewöhnliche Züge macht, der bringt seinen Gegner aus dem Gleichgewicht und bringt ihn dazu, Fehler zu machen.

    Aus Angst vor wieder größeren Straßenprotesten ist die Staatsmacht gezwungen, ihre Taktik zu ändern. Das heißt: Entweder folgt eine neue Stufe an Repressionen oder ein noch deutlicheres Zurückweichen (die Freilassung von noch mehr politischen Gefangenen, ein schnellers Voranbringen der Verfassungsreform).

    In beiden Fällen begibt man sich auf dünnes Eis, denn es könnte dem Protest ein Gefühl des Sieges vermitteln: das heißt, neuen Enthusiasmus, oder neuen Antrieb aus Wut über die Brutalität. Es wird eine wichtige Woche. 
     

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  • Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

    Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

    Alexander Lukaschenko sucht den Dialog – so will der belarussische Machthaber zumindest sein Treffen mit oppositionellen Gefangenen am vergangenen Wochenende verstanden wissen. Im Untersuchungsgefängnis des KGB hat er sich laut staatsnahem Telegram-Kanal Pul Perwogo viereinhalb Stunden lang mit inhaftierten Oppositionellen – darunter Viktor Babariko, der ebenfalls zur Wahl antreten wollte und verhaftet worden war – und inhaftierten Vertretern des Koordinationsrats unterhalten. Unter anderem diskutierte er eine Verfassungsänderung und betonte: „Unser Land lebt unter der Losung der Dialogbereitschaft.“ Zahlreiche Oppositionelle, wie etwa Pawel Latuschko, jedoch kritisierten einen Dialog und Runden Tisch im KGB-Untersuchungsgefängnis als „absurd“.

    Dialog oder Repression – welchen Weg wählt Lukaschenko? Diese Frage wirft der renommierte russische politische Kommentator Alexander Morosow im unabhängigen Meinungsmedium Republic auf: 

    [bilingbox]Es wäre falsch, darauf zu spekulieren, dass sich der Protest auf natürlichem Wege durch Müdigkeit und Routine irgendwann wieder verläuft. Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt und gekränkt hat.

    […]

    Das beste Szenario für Lukaschenko wäre ein echter (kein fiktiver) Runder Tisch, freie Neuwahlen, bei denen er kandidieren kann, mit einer neu besetzten Zentralen Wahlkommission und internationalen Beobachtern. Natürlich würde er verlieren. Aber er könnte im Wahlkampf seine Wähler mobilisieren, eine eigene Partei gründen und mit dieser anschließend ins Parlament einziehen. Das wäre der beste aller möglichen Fortgänge seines Lebenswegs.

    Die beiden anderen Varianten sind deutlich schlechter. Die erste ist: Das Land über Monate mit Gewalt zu überziehen und so den Konflikt von Volk gegen Polizei, Armee und Geheimdienste anzuheizen und das Land langfristig in die wirtschaftliche Stagnation zu stürzen. Die zweite: Alles de-facto mit Hilfe des Kreml zu unterdrücken, das heißt die Souveränität von Belarus zu opfern.~~~Расчет на естественный спад протеста за счет усталости, рутинизации – ошибочный. Лукашенко не понимает, насколько глубоко он задел и оскорбил белорусов.

    […] Лучший сценарий для Лукашенко – это не фиктивный, а реальный круглый стол, повторные свободные выборы, в которых он сможет участвовать, с новым составом ЦИКа, с международными наблюдателями. Очевидно, что он проиграет. Но он получит возможность в ходе кампании мобилизовать своих избирателей, создать себе партию и с ней затем войти в парламент. Это – лучшее из возможных продолжений его жизненного пути.

    Оба других варианта гораздо хуже. Первый: залить страну многомесячным насилием, стимулируя конфликт между населением, с одной стороны, и полицией, войсками, спецслужбами, с другой, и погрузить ее надолго в экономическую стагнацию. Второй: подавить все это де-факто руками Кремля, т. е. пожертвовав суверенитетом Беларуси.[/bilingbox]

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  • Oktoberumsturz in Kirgistan

    Oktoberumsturz in Kirgistan

    Schall- und Blendgranaten flogen, die Polizei setzte auch Tränengas ein: Nach der Parlamentswahl in Kirgistan ist es in der Nacht von Montag auf Dienstag zu heftigen Protesten in der Hauptstadt Bischkek gekommen. Demonstranten, die der Regierung Wahlbetrug vorwerfen, waren sogar in den Amtssitz des Präsidenten eingedrungen. Das 6-Millionen-Einwohner-Land galt lange als demokratisches Vorbild in Zentralasien. OSZE-Beobachter sprachen von einem fairen Wahlkampf, aber auch von glaubwürdigen Berichten über Stimmenkauf bei der Wahl. 
    So scheint Kirgistan nach 2005 und 2010 nun den dritten Umsturz zu erleben: Aber wie viel Neues wird er bringen? 
    Auf Carnegie.ru analysieren Alexander Gabujew und Temur Umarow die politische Situation und die Auslöser für die Proteste im Land.

    Karte © TUBS/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0
    Karte © TUBS/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    In Kirgistan gab es die größten Proteste seit 10 Jahren – sie könnten das Vorspiel für eine dritte Revolution innerhalb der letzten 15 Jahren werden. Binnen einer Nacht hat Präsident Sooronbai Dscheenbekow einen Großteil seiner Macht eingebüßt, wobei er seinen Posten formal bislang nicht verloren hat. Und sein ärgster Gegner, Expräsident Almasbek Atambajew, ist mittlerweile in Freiheit – und wieder mit von der Partie.

    Hinter dem Chaos der aktuellen Ereignisse, wo sich die Situation alle paar Stunden ändert und ganz unterschiedliche Menschen der Reihe nach versuchen, Chefsessel einzunehmen, zeichnet sich ab, wo der Hauptnerv des politischen Lebens in Kirgistan liegt: Im Machtkampf zwischen regionalen Gruppierungen, die sich als politische Parteien ausgeben. 

    Wie auch in vielen anderen Ecken des Planeten, wurde die Krise in Kirgistan von der Covid-19-Pandemie und der daraus entstandenen Rezession hervorgerufen. 

    Die Nacht, die alles veränderte

    Tausende Menschen, die am 5. Oktober in Bischkek auf die Straße gegangen sind, waren unzufrieden mit den Ergebnissen der Parlamentswahl am Vortag.

    Sie hatten sich auf dem Ala-Too Platz versammelt, der Wiege der Revolutionen von 2005 und 2010, und forderten die Annullierung der Wahlergebnisse und Neuwahlen.

    Bis zum Abend blieb die Demonstration friedlich, die Miliz rief die Menschen nur dazu auf auseinanderzugehen. Bei Einbruch der Dunkelheit bekamen die Demonstranten Verstärkung durch kräftige junge Männer vom Stadtrand und aus nahegelegenen Dörfern. Nachts überwand die neu formierte Menge die Absperrungen und gelangte ins Machtzentrum des Landes: Im Weißen Haus in Bischkek sitzt sowohl das kirgisische Parlament als auch die Präsidialadministration.

    Dann drang die Menge ins Untersuchungsgefängnis des Staatlichen Komitees für nationale Sicherheit vor, aus dem kurz darauf Expräsident Almasbek Atambajew und weitere prominente Gefangene befreit wurden. Die Wachleute leisteten nicht nur keinen Widerstand – einige von ihnen erklärten, dass auch sie jetzt auf Seiten des Volkes sind.

    Selfies aus dem Präsidentensessel

    Das Büro des amtierenden Präsidenten Sooronbai Dscheenbekow, der Kirgistan seit 2017 regiert, wurde von Menschen besetzt, die Gesichtsmasken trugen und Selfies schossen, während sie im Sessel des Staatsoberhauptes saßen und sich Einrichtungsgegenstände als Souvenirs mitnahmen. Der Präsident war unterdessen verschwunden. Den einen Angaben zufolge ist er in der Hauptstadt geblieben und steht unter dem Schutz loyaler Einheiten. Andere Quellen sprechen davon, dass er noch in der Nacht in seine Heimatstadt Osch, der größten Stadt im Süden des Landes, geflogen war.

    Dscheenbekow hat offiziell den obersten Posten weiter inne, doch tatsächlich befinden sich derzeit weder die Hauptstadt noch die Sicherheitsbehörden unter seiner Kontrolle, die jeder auf seine Seite bringen will.

    Beispielsweise kam sofort um 8 Uhr, am Morgen nach dem Umsturz, Almambet Schykmamatow, Kandidat der Partei Bir Bol, mit Anhängern zum Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft und erklärte sich zum kommissarischen Generalstaatsanwalt. Vier Stunden später kam eine weitere 500 Menschen starke Menge dorthin und bestimmte jemand anderen für diesen Posten. 

    Infolgedessen hat die Zentrale Wahlkommission der Republik am Tag nach dem Umsturz die Ergebnisse der Wahl annulliert, auf den Plätzen vieler Städte finden spontane Kundgebungen statt zu unterschiedlichsten Problemen – von gestohlenen Wahlen bis hin zu Korruption auf lokaler Ebene.
    Politiker, derzeitige und ehemalige Beamte, Sicherheitskräfte, Geschäftsleute und Anführer krimineller Strukturen sammeln in der Zwischenzeit Unterstützer und verhandeln kreuz und quer über zukünftige Allianzen. Man kann nicht einmal von einer doppelten Regierung sprechen – die Staatsmacht in Kirgistan ist vorerst in tausend Scherben zersprungen.

    Norden gegen Süden

    Auf die Wahl, die die Situation hat hochgehen lassen, hatte man in Kirgistan gewartet. Das Vertrauen der Gesellschaft in das vorherige, das sechste Parlament war sehr gering. Seine Mitglieder, so die Meinung, standen unter Kontrolle von Präsident Dscheenbekow und seinen Mitstreitern. In Bezug auf das Abstimmungsverhalten gab es zwischen der Regierungsmehrheit und der nominalen Opposition fast keine Unterschiede.

    An der Wahl nahmen 16 Parteien teil, von denen laut dem Zentralen Wahlkomitee jedoch nur vier ins Parlament kamen. Alle diese Parteien kann man als Einflussgruppen aus dem Süden des Landes bezeichnen. In Verbindung mit vielen Berichten über Betrug und Einsatz von administrativen Ressourcen hatte der Sieg der Südler den Norden des Landes heftig aufgebracht – und zwar nicht nur eine gesichtslose Masse, sondern sehr konkrete und gut organisierte Gruppen aus den nördlichen Regionen. So kam es auch zu der schnellen Mobilisierung der Demonstranten in Bischkek, das im Norden des Landes liegt.

    Sind die Proteste nach der Parlamentswahl in Kirgistan das Vorspiel für die dritte Revolution innerhalb von 15 Jahren? / Foto © sputnikimages/Tabyldy Kadyrbekov
    Sind die Proteste nach der Parlamentswahl in Kirgistan das Vorspiel für die dritte Revolution innerhalb von 15 Jahren? / Foto © sputnikimages/Tabyldy Kadyrbekov

    Der Oktoberumsturz hat zum wiederholten mal gezeigt, wie Kirgistan im Kern strukturiert ist. Von außen sieht es politisch so aus, als gäbe es im Land eine Regierung und eine Opposition, politische Parteien mit unterschiedlichen Programmen und eine echte Konkurrenz bei den Wahlen. In Wirklichkeit ist aber jede Partei nur Fassade einer bestimmten Gruppe, die sich um autoritäre Führer bildet und lokal, verwandtschaftlich und anders informell verbunden ist. Grob lassen sich diese Gruppen in Menschen aus dem Norden und Menschen aus dem Süden Kirgistans unterteilen. Bei aller Bedingtheit dieser Aufteilung wird auch in Kirgistan sehr häufig genau auf dieses Schema zurückgegriffen, um die Prozesse im Land zu erklären.

    Jede Partei ist nur Fassade einer bestimmten Gruppe, die sich um autoritäre Führer bildet und lokal, verwandtschaftlich und anders informell verbunden ist

    Der Kampf zwischen den Eliten aus dem Norden wie aus dem Süden dauert schon Jahrzehnte, doch ist er in den letzten 15 Jahren zum Hauptkonflikt in der kirgisischen Politik geworden.

    Unter Kurmanbek Bakijew waren die wichtigsten Posten und Geldströme bei seinen Leuten akkumuliert, die vornehmlich aus dem Süden waren. Nachdem dann 2011 der aus der nördlichen Oblast Tschui stammende Almasbek Atambajew an die Macht kam, schwang das Pendel in die andere Richtung.

    Dabei hatte sich Atambajew bemüht – sofern das in der kirgisischen politischen Kultur überhaupt möglich ist –, eine Balance zwischen den regionalen Machtgruppen zu schaffen und die Südler nicht gegen sich zu stimmen, indem er sie ganz aus einflussreichen und lukrativen Posten verdrängt. Zu seinem Nachfolger machte er den Südler Dscheenbekow.

    Doch die beiden zerstritten sich später: Atambajew dachte, dass Dscheenbekow gefügig sein wird, doch der Streit resultierte in der filmreifen Festnahme des Expräsidenten in dessen Heimatdorf im August 2019 – mit Schießerei und einer elfjährigen Gefängnisstrafe. Neben Atambajew wanderten auch seine wichtigsten Mitstreiter hinter Gitter.

    Die derart brutale und demonstrative Zerschlagung von Atambajews Gruppe hat viele empört. Dazu kamen dann die Wahlergebnisse, bei denen über die Hälfte der Mandate an die Parteien Birimdik (die der Bruder des Präsidenten leitet) und Mekenim Kyrgyzstan gingen. Das weckte den Eindruck, dass Sooronbai Dscheenbekow dabei ist, alle Steuerhebel der Macht und Finanzströme in den Händen seines Clans und befreundeter Südler zu konzentrieren.

    Pandemie und Wirtschaftskrise

    Einen ungünstigeren Moment für die Wahlfälschung zugunsten genehmer Parteien hätte man sich nicht ausdenken können. Die Gesellschaft ist schon seit Monaten aufgebracht – wegen der Pandemie und der von ihr hervorgerufenen Wirtschaftskrise.

    Die Menschen hat es stark verärgert, wie Dscheenbekow sich im Kampf gegen das Virus verhalten hat. Wie auch in anderen Ländern Zentralasiens war Kirgistans Regierung nicht auf eine Pandemie vorbereitet und hat sie nur schlecht in den Griff bekommen. Doch im Unterschied zu anderen Ländern in der Region gibt es in Kirgistan Medienfreiheit. Meldungen über lange Schlangen, verschlossene Türen in Krankenhäusern und erstickende Infizierte auf den Straßen gab es überall, sowohl in den von den älteren Wählern gelesenen und geschauten Medien als auch in den Sozialen Netzwerken. Als aufgedeckt wurde, dass internationale Hilfsgelder zum Kampf gegen Covid-19 gestohlen wurden und Regierungsangehörige in einen außerplanmäßigen Urlaub verschwanden, da war die Gesellschaft bereits kurz vorm Explodieren.

    Eine nicht unbeachtliche Rolle spielte auch die scharfe Wirtschaftskrise, die Kirgistan durchlebt. Die Weltbank prognostiziert für Kirgistan ein Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts um vier Prozent. Die Rezession trifft auch die Länder, die kirgisische Arbeitskraft benötigen, vor allem Russland und Kasachstan.

    Infolgedessen sind rund 200.000 junge Männer, die im Ausland ihre Arbeit verloren haben, heimgekehrt. Das hat die Situation im Inland verschärft. Auch die Unternehmen haben gelitten, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern hat Kirgistan keine vorübergehenden Steuerbefreiungen oder andere substantielle Hilfsmaßnahmen verkündet.

    Das Ausland hält sich raus

    Der nahezu blutfreie Umsturz und die Annullierung der Wahl werden allerdings kaum die Probleme Kirgistans lösen können. Wie auch nach den vergangenen beiden Revolutionen sind die Hüter der öffentlichen Ordnung demoralisiert und lehnen sich nicht sonderlich aus dem Fenster, während Politiker umringt von bewaffneten Anhängern Koalitionen schmieden und Ämter ergreifen. In einer solchen Situation wird das organisierte Verbrechen zu einer echten Macht und kriminelle Autoritäten verwandeln sich vorübergehend in nächtliche Gouverneure ganzer Städte und Dörfer. 

    Die heutige Situation ähnelt in Vielem den vorherigen beiden Revolutionen, doch es gibt auch Unterschiede. Einer der wichtigsten ist der Unwille globaler und regionaler Staaten sich in die kirgisischen Ereignisse einzumischen. Russlands Regierung, die über die effektivsten Mittel der Einflussnahme auf die Situation verfügt, wurde allem Anschein nach überrumpelt vom Umsturz bei ihrem zentralasiatischen Verbündeten.

    Vor dem Hintergrund einer neuen Corona-Infektionswelle, der Krise in Belarus, des Krieges in Bergkarabach, dem Streit mit führenden EU-Politikern und der quälenden Erwartung des Wahlausgangs in den USA wird der Kreml Kirgistan wohl kaum viel Zeit widmen. Moskau wird bei einer beliebigen Entwicklung bereit sein, mit dem zu arbeiten, der den inneren Machtkampf gewinnt. 

    Nicht weniger bezeichnend und demonstrativ ist die Zurückhaltung Chinas. Trotz der wachsenden wirtschaftlichen Präsenz in der Region und besonders in Kirgistan vemag es Peking bislang nicht, diese in politische Hebel zu wandeln. 

    Mit Blick auf das Vorwahldrama in den USA ist Washington unter Trump derzeit definitiv nicht nach einem fernen Kirgistan – wie im Übrigen auch Europa. Kasachstan und Usbekistan, die eine regionale Führungsrolle in Zentralasien anstreben, halten sich ebenfalls raus. 

    Selbst wenn sich die Seiten im kirgisischen Konflikt auf einen friedlichen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise einigen können sollten (etwa auf Neuwahlen), so bedeutet das keineswegs ein Ende der Konfrontation. Mit Blick auf die schrumpfende Wirtschaft und die vermutlich weiterhin bestehenden Probleme im Zusammenhang mit dem Virus könnte der Zorn in der Bevölkerung und zwischen den verfeindeten Gruppen der regionalen Elite weiter zunehmen. Und das ist höchst gefährlich. 

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    Zitat #9: „Nawalny kämpft nicht für Meinungsfreiheit, sondern um die Macht“

    Zwei erste große Interviews mit Alexej Nawalny nach seiner Nowitschok-Vergiftung sind in der vergangenen Woche erschienen: Das erste ist auf Deutsch, in Der Spiegel. Christian Esch und Benjamin Bidder, der derzeitige und der ehemalige Moskau-Korrespondent des Blattes, hatten Nawalny in Berlin getroffen. „Ich behaupte, dass hinter der Tat Putin steht, und andere Versionen des Tathergangs habe ich nicht“, wird er im Spiegel zitiert. Allein die Tatsache, dass er mit Nowitschok vergiftet worden sei, verweise auf Geheimdienste wie den FSB oder den Auslandsgeheimdienst SWR, die in der Lage seien, den Nervenkampfstoff herzustellen und einzusetzen. 
    Kreml-Sprecher Peskow erklärte daraufhin, hinter Nawalny stünde der US-Geheimdienst CIA. Ungeachtet dessen wiederholte Nawalny seine Version der Dinge auch in seinem zweiten großen Interview – diesmal gab er es zusammen mit seiner Frau Julia in einem russischen Medium, dem YouTube-Kanal von Juri Dud. Im reichweitenstarken Staatsfernsehen ist Nawalny ein Tabu, aber die Videos von Dud finden ebenfalls ein (wenn auch kleineres) Millionenpublikum – auf YouTube, quasi als Samisdat des Online-Zeitalters.

    Im Spiegel-Interview wird Nawalny auch dazu gefragt, weshalb er 2011 den „Russischen Marsch“, eine Kundgebung von Nationalisten, mitorganisiert habe. Er distanzierte sich nicht von seinem damaligen Tun: „Ich sehe kein Problem in der Zusammenarbeit mit allen, die im Grundsatz antiautoritäre Positionen vertreten“, sagte er. Und weiter: „Ihr in Deutschland habt schon die Demokratie. Wir müssen erst einmal eine Koalition aller Kräfte schaffen, die für die Abwählbarkeit der Machthaber eintreten, für die Unabhängigkeit der Gerichte. Deshalb habe ich eine Zeit lang versucht, das liberalnationalistische Lager der Opposition zu einen.“
    Gerade im liberalen russischen Lager machte sich Nawalny mit solchen Positionen aber auch viele Feinde. 
    Alexander Baunow hat auf Carnegie.ru die „Wiederauferstehung“ des Alexej Nawalny analysiert – und inwiefern der Oppositionspolitiker dadurch dem Kreml sogar noch gefährlicher werden könnte.

    [bilingbox]Nawalny hat noch nie so ganz zum Liberalen gereicht und war noch nie ein Dogmatiker. Sprich, er ist ein Mensch mit einer Unterstützerschaft, die in ihrer Breite bewusst nicht festgelegt ist und die enorm zulegt, wenn die Umstände für ihn günstig sind. Jetzt nach der Vergiftung sind beispielsweise sowohl seine positiven als auch seine negativen Umfragewerte gestiegen, und mit ihnen ist sein Bekanntheitsgrad in die Höhe geschnellt. Außerdem kämpft Nawalny im Gegensatz zu vielen ehemaligen Oppositionellen nicht um das Recht, Putin zu kritisieren, nicht für Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sondern um die Macht als solche.~~~Навальный всегда был недостаточно либерал и совсем не догматик, то есть человек с заведомо неопределенно широкой базой, которую могло увеличить в разы любое благоприятное для него стечение обстоятельств. Например, сейчас после отравления заметно выросли его и положительный, и отрицательный рейтинги, а вместе с обоими подскочила узнаваемость. Кроме того, в отличие от многих старых оппозиционеров Навальный борется не за право критиковать Путина, не за свободу слова и собраний, а именно за власть. [/bilingbox]

    In ganzer Länge erschien der Artikel am 02.10.2020 auf carnegie.ru unter dem Titel Woskresschi politik. Stary Kreml i nowy Nawalny (dt. „Der auferstandene Politiker. Alter Kreml und neuer Nawalny“). Das russische Original lesen Sie hier. Die englische Version finden Sie hier.

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  • Zettel-in-die-Urne-Werfen statt Wählen

    Zettel-in-die-Urne-Werfen statt Wählen

    Trotz einiger weniger Achtungserfolge der Opposition verlief der Einheitliche Wahltag am 13. September in den meisten Regionen Russlands ohne Überraschungen: Die Regierungspartei Einiges Russland gewann die Mehrheit in den regionalen Parlamenten, die Gouverneurssitze wurden von den Kreml-Kandidaten besetzt. 

    Schon seit geraumer Zeit gilt der Gang an die Wahlurne in liberal-demokratischen Kreisen Russlands nicht wirklich als Wählen. In einem Autoritarismus, so heißt es in der Politikwissenschaft, dienen Wahlen ja ohnehin nicht zur Legitimierung eines politischen Systems, sondern vielmehr zur Herstellung von Akzeptanz und Akklamation. Akklamation gilt als emotionale Zustimmung zur autoritären Herrschaft: Sie fußt nicht auf rationalen politischen Entscheidungen, sondern eher auf Stimmungen und Symbolen.

    Vor diesem Hintergrund hatten Wahlen in Russland bislang zumindest eine symbolische Bedeutung. Unabhängige Medien berichteten darüber, es gab stets ein gewisses öffentliches Interesse. Das blieb am Einheitlichen Wahltag 2020 jedoch gänzlich aus, meint Dimitri Trawin. Für den Wirtschaftswissenschaftler keine Überraschung – „denn niemand braucht wirklich diese Wahl“. Was vom „Zettel-in-die-Urne-Werfen“ zu halten ist, kommentiert er in der Novaya Gazeta.

    Wahlen kann man dieses Zettel-in-die-Urne-Werfen nicht mehr nennen. Es gab mal eine Zeit, da weckten selbst derartige „Unwahlen“ Interesse in der Gesellschaft. Diesmal war jedoch kein Interesse festzustellen. Und das ist kein Wunder. Das Schlimme ist, dass im Grunde niemand diese heutige Art und Weise der Abstimmung braucht. 

    Erstens: Die Abstimmung kann nicht genutzt werden, um das Putin-Regime zu legitimieren, deshalb ist sie für die Machthaber nicht besonders interessant. Die Manipulation der Wähler hat ein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie nicht mehr als Manipulation durchgeht, sondern als offene Fälschung, als Imitation von Wahlen. Ungefähr so wie in dem beliebten Witz, der derzeit bei den belarussischen Protesten kursiert: „Ein Mann geht die Straße entlang, die Miliz greift ihn sich und prügelt auf ihn ein. Er schreit: ,Bitte nicht schlagen, ich habe Lukaschenko gewählt!‘. Darauf die Antwort: ,Lüg doch nicht. Keiner hat ihn gewählt.‘“

    Unterm Strich hält sich Lukaschenko schon heute nur an die nackte Gewalt, und Putin wird morgen dasselbe tun. Die Meinung des Volkes ist nicht mehr so wichtig, die Zettelchen, die es braucht, um die Formalitäten einzuhalten, landen auch so in der Urne.

    Zweitens eröffnet diese Art der Abstimmung, anders als echte Wahlen, der Opposition keine Möglichkeit für einen Machtwechsel, und deshalb verlieren auch diejenigen das Interesse am Wahlgang, die gegen Putin eintreten. Wie hieß es doch so schön in der Sowjetzeit: Wählen oder Nicht-Wählen – du kriegst sowieso Einiges Russland oder im äußersten Fall die Kommunistische Partei oder die LDPR. Sogar die, die sich kürzlich noch für [Nawalnys – dek] Smart-Voting-Konzept starkmachten, verlieren jetzt das Interesse daran. Denn die Idee des Smart-Votings basiert darauf, dass der stete Tropfen den Stein höhlt. Doch diese Art, das Regime langsam auszuhöhlen, gefällt nur einigen wenigen. Nämlich nur denen, die der Meinung sind, dass man am Wahltag nicht auf dem Sofa sitzen kann, sondern irgendwas tun muss, und sei es noch so aussichtslos. Der Großteil aber will Ergebnisse, und zwar hier und jetzt. Das Smart-Voting ergibt hier und jetzt viel zu wenig, um das Interesse einer auch nur halbwegs breiten Masse wachzuhalten.

    Drittens ist diese Abstimmung nicht mehr interessant für die, die die Dynamik des politischen Wettkampfs lockt. Es ist schwer heute etwas Langweiligeres zu finden als den Gang zum Wahllokal. Niemand kämpft mit niemandem, niemand verspricht irgendetwas Neues, niemand spinnt Intrigen, niemand behauptet, dass sich das Schicksal des Landes just an diesem Tag entscheidet. Die Leute zu überzeugen, an einer solchen Abstimmung teilzunehmen ist so, als wolle man die Fans der englischen Premier League zu einem Fußballspiel zwischen Bolzplatzmannschaften schleppen, am besten noch mit einem gekauften Schiri.

    Es ist besser, die Aufzeichnungen der Wahlen vor 30 Jahren anzuschauen als live dieser heutigen Ödnis beizuwohnen.

    Klar, wenn es an die Putinwahl 2024 geht, wird es unterhaltsamer. Nicht, dass Konkurrenz auftauchen würde, aber immerhin werden die Fernsehleute halbherzig irgendwelche Shows zusammenschustern mit Titeln wie Heimat in Gefahr! oder CIA gegen Putin!. Doch auch ein solcher Rummel wird den Wähler kaum motivieren, persönlich am Zettel-in-die-Urne-Werfen teilzunehmen.

    Viertens ist die Abstimmung auch für ältere Leute unglücklich organisiert – für Leute, denen total langweilig ist und für die der Urnengang mitunter das wichtigste Ereignis im Jahr ist, ein Ritual, das sie an die eigene Jugend erinnert. 
    Für große Teile jener Wählerschaft ist die Datschensaison noch nicht abgeschlossen. Die Ernte vom Feld zu holen ist wichtiger, als Urnen mit Wahlzetteln zu bepflanzen. Außerdem zählt genau diese ältere Wählerschaft zur Corona-Risikogruppe. Da die Infektionszahlen wieder steigen, versuchen die Menschen, unnötige Gefahren zu vermeiden. Der Gang zum Wahllokal oder gar die vorzeitige Rückkehr von der abgelegenen Datscha in die von Menschen überfüllten Städte – das ist definitiv ein überflüssiges Risiko. 

    Abgesehen von den Wählern, braucht diese Abstimmung eigentlich auch niemand von denen, die sich beruflich mit politischen Ereignissen befassen: 

    Journalisten brauchen diese Abstimmung nicht, da sie Nachrichten bringen sollen, aber das Zetteleinwerfen mit vorher feststehendem Ergebnis ist keine Nachricht. 
    Soziologen brauchen diese Abstimmung nicht, weil sie nichts darüber aussagt, wer wählt, sondern nur darüber, wer zählt.
    Politologen brauchen diese Abstimmung nicht, denn sie finden zwar interessant, wer da zählt, doch das erfährst du nur, wenn du den Kampf der Bulldoggen unter dem Teppich im Kreml analysiert und nicht den Gang der angeleinten Schoßhündchen zur Wahlurne 
    Wirtschaftsexperten brauchen diese Abstimmung nicht, denn allein die Annahme, die Ergebnisse könnten irgendeinen Einfluss haben auf die Wirtschaftspolitik, ruft einzig einen Lacher hervor.

    Doch die Abstimmung darf nicht abgeschafft werden. Die amtierenden Autokraten tun so etwas nicht. So wird sie uns so lange begleiten, bis das System zusammenbricht. Und danach werden wir auf seinen Ruinen die gesamte Institution der Wahlen neu errichten müssten. 

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  • Was war da los? #2

    Was war da los? #2

    Am 8. September haben in Minsk erneut zehntausende Menschen friedlich für die Freilassung von politischen Gefangenen demonstriert. Diesmal protestierten vor allem Frauen, einige von ihnen kamen mit Kindern.

    Der von dem Minsker Fotografen Yauhen Yerchak festgehaltene Moment wurde zur Ikone, tausendfach im Netz geteilt: Eine umzingelte Gruppe von Frauen, die sich aneinander an den Händen halten, eine Abwehrkette bilden und unerschrocken auf die Männer blicken. Meduza hat mit dem Fotografen Yauhen Yerchak gesprochen und ihn gefragt, unter welchen Umständen er dieses Foto aufgenommen hat.

    Foto: Yauhen Yerchak / Shutterstock

    Am 8. September gab es in Minsk eine Kundgebung zur Unterstützung all derer, die während der Proteste verhaftet wurden, insbesondere für Maria Kolesnikowa. Diese sollte über die Grenze in die Ukraine gebracht werden, was jedoch nicht gelang – weil sie ihren Pass zerriss, wie der Koordinationsrat sagt.

    Die Menschen hatten sich zunächst auf dem Platz beim Komarowski Markt versammelt – genau dort hatte am 12. August die erste Frauendemonstration stattgefunden. Gleich zu Beginn wurden ungefähr zehn Menschen verhaftet. Dann lief die Menge ins Stadtzentrum, zum Prospekt Nesawisimosti. Sie lief durch enge Straßen, weswegen sich die rund tausend Menschen starke Kolonne zu einer 500 Meter langen, schmalen Kette zog. Plötzlich kamen Busse ohne Nummernschilder mit Silowiki, die anfingen Menschen festzunehmen. Ein paar versuchten wegzurennen, den Rest drängte man am Zaun der ehemaligen Fabrik Horizont zu engstehenden Gruppen zusammen. Eine dieser Gruppen habe ich fotografiert.

    Die meisten Verhaftungen gab es im Zentrum der Kolonne, dort standen überall Soldaten. Besser gesagt, weiß ich nicht, wer das war: Menschen in Militäruniform mit Sturmhauben ohne Erkennungsmarken. Die haben versucht, einzelne Frauen aus der Kette zu reißen. Ich habe diese Aufnahme gemacht und bin dann weitergegangen.

    In den letzten paar Tagen haben sie angefangen, Frauen festzunehmen. Vorher hatten sie sich nur Männer vorgenommen, Frauen mussten sich schon viel Mühe geben, um verhaftet zu werden. Soweit ich weiß, gab es eine Anweisung, Frauen nicht anzurühren. Doch seit gut anderthalb Wochen wächst die Polizeigewalt. Gestern wurde wahllos festgenommen, weil auf diesem Frauenmarsch nur wenige Männer dabei waren.

    Autor: Yauhen Yerchak
    Übersetzung: dekoder-Team, 10.09.2020
    Original: Meduza, 09.09.2020

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