Der Oppositionelle Alexej Nawalny muss für mehr als zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Ein Gericht in Moskau hat heute entschieden, eine Bewährungsstrafe des Politikers in eine Haftstrafe umzuwandeln – weil er gegen die Bewährungsauflagen verstoßen habe.
2014 waren Alexej Nawalny und sein Bruder Oleg im Fall Yves Rocher zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Während sein Bruder ins Gefängnis kam, erhielt Alexej Nawalny die Strafe zur Bewährung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte das Urteil 2017 für „willkürlich und deutlich rechtswidrig” befunden, Russlands Oberstes Gericht bestätigte es dennoch. Von den dreieinhalb Jahren werden nun zehn Monate Hausarrest abgezogen, die Nawalny bereits abgesessen hatte, so dass er für zwei Jahre und acht Monate in Haft kommt. Nawalnys Anwältin kündigte Berufung an. Zahlreiche westliche PolitikerInnen kritisieren das Urteil. Noch am Dienstagabend, 2. Februar, versammelten sich Demonstrierende und auch zahlreiche Sicherheitskräfte in Moskaus Innenstadt. Im Laufe des Tages sind laut OWD-Info mehr als 900 Menschen festgenommen worden, die aus Solidarität mit Nawalny zum Moskauer Stadtgericht gekommen sind oder nach der Urteilsverkündung im Moskauer Zentrum protestiert haben.
Meduza hat Nawalnys Schlusswort transkribiert – dekoder bringt es in deutscher Übersetzung.
Ich würde gern mit der juristischen Frage beginnen, die mir am wichtigsten erscheint und die bei dieser Anhörung bisher irgendwie übersehen wurde. Denn das alles wirkt ein bisschen merkwürdig, oder? Also da sitzen zwei. Der eine meint: „Ach, lass uns Nawalny dafür einbuchten, dass er nicht montags, sondern donnerstags (zur Bewährungsstelle) gekommen ist.“ Der andere meint: „Ach, lass uns Nawalny dafür einbuchten, dass er, nachdem er aus dem Koma erwacht ist, nicht sofort hergekommen ist und sich gemeldet hat.“ Und dann läuft die Anhörung, alle reden über Montage, Donnerstage, wann und wohin man welche Papiere schicken muss und so weiter. Doch ich möchte ein paar Worte über den kleinen Elefanten hier im Raum sagen.
Man will mich in einem Fall hinter Gitter bringen, in dem ich schon als unschuldig anerkannt bin. Ein Fall, der schon als konstruiert anerkannt wurde. Das ist nicht meine persönliche Meinung: Wir können jedes beliebige Lehrbuch für Strafrecht aufschlagen – ich hoffe, euer Ehren, dass Sie das einige Male in Ihrem Leben gemacht haben – und werden sehen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Teil des russischen Rechtssystems ist, unter anderem, weil Russland Mitglied des Europarats ist. Es gibt bindende Entscheidungen. Und ich habe, nachdem ich den ganzen Prozess durchlaufen habe, den EGMR angerufen. Und der EGMR hat eine Entscheidung gefällt, in der schwarz auf weiß geschrieben steht, dass nicht mal ein Straftatbestand vorliegt.
Man will mich in einem Fall hinter Gitter bringen, in dem ich schon als unschuldig anerkannt bin
Der Fall, aufgrund dessen ich, warum auch immer, in diesem merkwürdigen Käfig sitze, ist vollständig konstruiert. Mehr noch, die Russische Föderation hat diese Entscheidung sogar anerkannt. Denn man hat mir eine Entschädigung gezahlt und damit die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt. Nichtsdestotrotz hat mein Bruder für diese Sache dreieinhalb Jahre im Gefängnis gesessen und ich stand ein Jahr unter Hausarrest.
Ein wenig Mathematik: 2014 wurde ich verurteilt, bekam dreieinhalb Jahre und jetzt haben wir das Jahr 2021, aber ich werde immer noch wegen dieses Falls verurteilt. Dabei wurde ich bereits für unschuldig erklärt, ein Straftatbestand liegt nicht vor, und dennoch: Mit der Verbissenheit eines Besessenen fordert unser Staat, mich in diesem Fall ins Gefängnis zu bringen.
Aber warum ausgerechnet in diesem Fall? Es gibt ja sicherlich keinen Mangel an Strafverfahren gegen mich, oder? Erst kürzlich wurde noch ein weiteres eingeleitet. Nichtsdestotrotz wollte jemand, dass ich bei meiner Rückkehr nicht einen einzigen Schritt als freier Mensch in das Staatsgebiet unseres Landes mache. Von dem Moment an, als ich die Grenze überschritt, war ich ein Gefangener. Und wir wissen, wessen Gefangener. Wir wissen, weshalb das passierte. Der Grund für all das sind der Hass und die Angst eines einzelnen Menschen, der im Bunker lebt. Weil ich ihn zutiefst kränkte, indem ich überlebte, nachdem man versucht hatte, mich auf seinen Befehl hin umzubringen.
Der Grund für all das sind der Hass und die Angst eines einzelnen Menschen
Ich habe ihn zutiefst gekränkt, indem ich überlebte. Dank guter Menschen – Piloten und Ärzte. Und dann habe ich ihn noch mehr gekränkt, weil ich ich mich, nachdem ich überlebt hatte, nicht versteckte, nicht unter Personenschutz in einem etwas kleineren Bunker lebte, den ich mir hätte leisten können. Und danach wurde es ganz schlimm. Nicht nur, dass ich überlebt hatte, nicht nur, dass ich keine Angst hatte und mich nicht versteckte – ich habe auch noch an den Recherchen bezüglich meiner eigenen Vergiftung mitgearbeitet. Und wir haben gezeigt und bewiesen, dass es Putin war, mittels des FSB, der diesen Mordversuch durchgeführt hat. Und ich war nicht der Einzige. Und jetzt wissen es die Menschen und werden noch viel mehr erfahren. Und genau das macht dieses kleine diebische Menschlein in seinem Bunker verrückt. Genau diese Tatsache – dass alles rauskam, verstehen Sie?
Wir haben gezeigt und bewiesen, dass es Putin war, mittels des FSB, der diesen Mordversuch durchgeführt hat
Da ist nichts mit hohen Umfragewerten, oder gewaltiger Unterstützung. Nichts dergleichen. Weil klar wurde: Um mit einem politischen Gegner fertig zu werden, der weder das Fernsehen noch eine politische Partei hinter sich hat, muss man einfach versuchen ihn mit mit einem chemischen Kampfstoff umzubringen. Und natürlich wird Putin da verrückt. Weil sich alle davon überzeugen konnten, dass er einfach ein kleiner Beamter ist. Den man zufälligerweise auf den Posten des Präsidenten gestellt hat. Der weder an Debatten noch an Wahlen teilgenommen hat. Und dessen einzige Kampfmethode der Versuch ist Menschen zu töten. Und wie sehr er sich auch darstellen wollte als großartiger Geopolitiker, großartiger Leader der Welt, so ist in Bezug auf mich seine schlimmste Kränkung nun, dass er in die Geschichte als Giftmörder eingehen wird.
Wisst ihr, es gab Alexander den Befreier. Jaroslaw den Weisen. Und nun kommt Wladimir der Vergifter der Unterhosen. Als der wird er eingehen in die Geschichte.
Nun kommt Wladimir der Vergifter der Unterhosen. Als der wird er eingehen in die Geschichte
Ich stehe hier, schon von der Polizei bewacht, die russische Nationalgarde ist aufmarschiert, halb Moskau ist abgesperrt aus dem einzigen Grund, weil ein kleiner Mann im Bunker durchdreht. Weil wir bewiesen und gezeigt haben, dass er sich nicht mit Geopolitik beschäftigt, sondern Beratungen abhält, auf denen er entscheidet, wer politischen Opponenten die Unterhosen klaut, sie mit chemischen Kampfstoffen einreibt und versucht sie zu töten.
Entscheidend in diesem Prozess ist gar nicht, wie er für mich endet. Mich einzusperren ist keine Kunst, ob nun in diesem oder einem anderen Fall. Entscheidend ist, wozu das passiert – zur Einschüchterung einer riesigen Menge von Menschen. Das funktioniert genau so: Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern.
In Russland leben 20 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Und dutzende Millionen leben ohne die geringste Perspektive. In Moskau lässt es sich noch mehr oder weniger leben. Aber sobald man 100 Kilometer rausfährt, trifft man auf absoluten Stillstand. Unser ganzes Land lebt in diesem absoluten Stillstand, ohne jegliche Perspektive. Von 20.000 Rubel [etwa 200 Euro – dek]. Und alle schweigen sie, man versucht ihre Mäuler zu stopfen mit genau solchen Schauprozessen.
Das funktioniert genau so: Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern
Ich hoffe sehr, dass die Leute diesen Prozess nicht als Signal auffassen dafür, dass sie noch mehr Angst haben sollen. Das ist keine Demonstration von Stärke, das ist eine Demonstration von Schwäche. Millionen und Hunderttausende kann man nicht einsperren. Und ich hoffe sehr, dass die Leute sich dessen mehr und mehr bewusst werden. Und wenn sie sich dessen bewusst geworden sind – und dieser Moment wird kommen – dann wird das alles in sich zusammenfallen. Denn ihr werdet nicht das ganze Land einsperren.
All die Menschen, denen ihr die Perspektiven und die Zukunft genommen habt, leben in einem extrem reichen Land und bekommen Null ab von den nationalen Reichtümern. Bei uns mehrt sich nur die Anzahl der Milliardäre, alles andere schrumpft, verstehen Sie das? Ich sitze in meiner Zelle und höre Reportagen darüber, dass die Butter teurer geworden ist, dass Nudeln teurer geworden sind, dass Eier teurer geworden sind. Im Jahr 2021! Eine Exportnation von Öl und Gas.
Alles, was sich sage, drückt meine Einstellung zu der Theatervorstellung aus, die Sie hier aufführen. Es kommt vor, dass Gesetzlosigkeit und Willkür das Wesen eines politischen Systems ausmachen. Und das ist schlimm.
Aber es geht noch schlimmer, nämlich wenn Gesetzlosigkeit und Willkür sich in die Roben von Staatsanwalt und Richter hüllen. Es ist die Pflicht eines jeden Menschen, sich weder Ihnen noch solchen Gesetzen zu unterwerfen.
Ich kämpfe, wie ich nur kann
Ich kämpfe, wie ich nur kann. Und ich werde das fortsetzen, auch wenn ich völlig unter der Kontrolle derer stehe, die leidenschaftlich alles mit chemischen Kampfstoffen einreiben wollen. Mein Leben ist wohl keine drei Kopeken mehr wert. Und trotzdem rufe ich alle dazu auf, keine Angst zu haben und alles zu tun, damit das Gesetz siegt.
Ich grüße und danke allen Mitarbeitern des Fonds für Korruptionsbekämpfung, die derzeit unter Arrest stehen. Und allen im ganzen Land, die keine Angst haben und auf die Straße gehen, denn sie haben die gleichen Rechte wie Sie. Denn unser Land gehört denen genauso wie Ihnen und allen anderen. Wir sind ebensolche Bürger. Und wir fordern eine normale Rechtsprechung, dass man uns anständig behandelt, an Wahlen teilnehmen lässt und an der Verteilung der nationalen Reichtümer.
In Russland gibt es derzeit viele gute Dinge. Aber das beste sind jene Menschen, die keine Angst haben, die nicht den Blick senken und den Tisch anstarren. Die niemals unser Land abgeben werden an das Häuflein käuflicher Beamter, das unsere Heimat gegen Paläste, Weingüter und Aqua-Discos eintauscht.
Ich fordere sofortige Freiheit für mich und alle anderen Inhaftierten. Ich erkenne Ihre Vorstellung nicht an – sie ist illegal und voller Lüge.
Die Generalstaatsanwaltschaft in Belarus plant, die weiß-rot-weiße Flagge als Symbol des Extremismus einzustufen, was de facto ein Verbot bedeuten würde. Das wurde vergangenen Freitag bekannt. Die Flagge ist vor allem seit Beginn der Proteste gegen Machthaber Alexander Lukaschenko am 9. August 2020 zum Symbol für die demokratische Bürgerbewegung geworden. Das Bekanntwerden der Verbotspläne entfachte empörte Debatten und neuerliche Protestaktionen, bei denen Belarussen weiß-rot-weiße Flaggen zeigten oder Gebäude damit dekorierten. Der Koordinationsrat der Opposition initiierte eine Petition gegen das Verbot und wandte sich mit einem Statement an die Öffentlichkeit: „Wir glauben, dass das Verbot der Verwendung von weiß-rot-weißen Symbolen unbegründet ist. Es wird nur dadurch motiviert, dass politischer Druck auf Bürger ausgeübt wird, die weit von der Linie der Regierung entfernt sind.“
In einem Kommentar, den Artyom Shraibman in seinem Telegram-Kanal veröffentlichte und der schließlich vom belarussischen Medium Nasha Niva übernommen wurde, prognostiziert der politische Analyst: Ein Verbot der weiß-rot-weißen Flagge könnte einen Bumerangeffekt für die Machthaber haben.
Das Verbot der weiß-rot-weißen Flagge und ihre Einstufung als Extremismus ist ein wichtiger Schritt zur weiteren Sakralisierung der Flagge. Die war zu Beginn des Jahres 2020 ein Symbol der national-demokratischen Gesellschaftsschicht – die etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Zum Jahresende hin war sie bereits – ohne Bezug zur historischen Bedeutung – ein Symbol des breiten bürgerlichen Protests.
Jetzt wird sie zu einem heiligen Symbol, zur verbotenen Frucht, zu etwas, das man nachts an Wände malt, das in verborgenen Winkeln versteckt und wodurch die emotionale Bindung an dieses Symbol immer mehr gefördert wird.
Die Machthaber unterschätzen ihre Beliebtheit und verbauen sich so einen weiteren Weg für eine Kompromissfindung, indem sie Millionen ihrer Gegner zu Kriminellen machen, nicht nur für ihre Taten, sondern auch für ihre Zeichen.
Die rot-grüne Flagge hatte immer mehr Unterstützung als die belarussische Staatsmacht und sie hätte diese ganz bestimmt überleben können. Jetzt wird der Gesellschaft angetragen sich aufzuteilen. Sich neben einer rot-grünen Flagge zu zeigen ist mittlerweile Ausdruck einer politischen Position.
Solch eine Politisierung eines Symbols und seine Bindung an eine konkrete Position ebnet den Weg dahin, dass das Verschwinden der Machthaber auch das Verschwinden seiner Attribute bedeuten wird. Die rot-grüne Flagge hatte Chancen, kein solches Attribut zu werden, aber nun wird sie es ganz bestimmt.
Mit dem Verbot der weiß-rot-weißen Flagge gewährleisten die Machthaber, dass sie zum Staatssymbol werden wird, weil sie nun keine Subkultur mehr darstellt. Ein bedeutender Tag.
Noch bevor Zehntausende landesweit am vergangenen Sonntag auf die Straße gingen, um ihre Solidarität mit Oppositionspolitiker Alexej Nawalny zu bekunden, hatten Sicherheitskräfte hart durchgegriffen: Es gab zahlreiche Festnahmen, Strafverfahren wurden eingeleitet, Nawalny-Vertraute kamen unter Hausarrest – etwa sein Bruder Oleg Nawalny und die Oppositionelle Ljubow Sobol. Am Sonntag schließlich riegelten Sicherheitskräfte nicht nur den Platz rund um die Lubjanka ab – den ursprünglichen Versammlungsort der Protestierenden, sondern ließen auch Geschäfte und Cafés in Moskaus Innenstadt schließen sowie mehrere Metrostationen. Die Demonstrierenden verlegten schließlich den Treffpunkt, der Protest zersplitterte teilweise in viele kleine Gruppen, die durch die gesamte Stadt zogen, zeitweise war das Untersuchungsgefängnis Matrosenruhe, in dem Nawalny derzeit in U-Haft ist, das Ziel. Landesweit wurden laut OWD-Info über 5000 Menschen festgenommen, darunter mindestens 82 Journalisten. Polizisten setzten neben Schlagstöcken auch Elektroschocker gegen Protestierende ein; Szenen wie die von Festnahmen durch maskierte Sicherheitskräfte in Zivil oder von im Schnee liegenden Demonstranten erinnerten viele Beobachter an die Proteste in Belarus.
„Warum muss man so hart vorgehen?“, das fragen sich angesichts dieser Maßnahmen derzeit viele – Irina Tumakowa von der Novaya Gazeta hat die Frage dem Politologen und einstigen Putin-Berater Gleb Pawlowski gestellt. Im Interview spricht er darüber, welche Botschaft den Bürgern vermittelt werden soll – und warum Nawalnys Team die Situation aktuell mehr kontrolliert als die Staatsmacht.
Irina Tumakowa: Gleb Pawlowski, warum musste beim Auflösen der Protestaktionen so hart vorgegangen werden? Warum will die Staatsmacht diese Protestaktionen überhaupt auflösen, wovor hat sie Angst?
Gleb Pawlowski: Es ist gar nicht die Frage, warum die Aktionen aufgelöst werden, sondern warum sie so erfolgreich sind. In meinen Augen sind diese Aktionen verblüffend erfolgreich, die da im Namen der Befreiung Nawalnys geschehen. Und dieser Erfolg hängt damit zusammen, dass es der Opposition im bedeutenden Ausmaß gelungen ist, strategische Kontrolle über das Handeln der Staatsmacht zu bekommen. Denn dieses Handeln war vorhersehbar und dumm.
Das ist ja genau die Frage: Warum muss man so hart vorgehen – und so dumm?
Die Dummheit der Staatsmacht ist ein wichtiger Faktor in der revolutionären Mobilisierung der Massen. Darüber, wie außerordentlich wichtig diese Protestaktionen sind, wurde zunächst erst einmal Moskau und dann ganz Russland informiert – und zwar durch die Absperrung des gesamten Moskauer Stadtzentrums. Wohlgemerkt, der Hauptstadt unseres Heimatlandes.
Der Opposition ist im bedeutenden Ausmaß gelungen, strategische Kontrolle über das Handeln der Staatsmacht zu bekommen
Ich kann mich nicht mal entsinnen, wann das zum letzten Mal passiert ist. Die haben sehr früh damit angefangen, haben erklärt, dass das mit einer möglichen Protestaktion zusammenhänge. Damit haben sie mindestens 30 Prozent zusätzliche Teilnehmer mobilisiert. Schon vorher. Zweitens ist das ein ganz beliebter Fehler derer, die solche Straßeneinsätze durchführen. Es wurde eine ungeheure Menge an OMON-Spezialeinheiten und Polizei aufgefahren, was gar nicht nötig gewesen wäre. Was sollen die machen? Das Zentrum war abgesperrt, daher hat man dann die Demonstranten durch die Stadtteile, durch kleine und große Straßen gejagt. Daraufhin mussten sie sogar noch weitere Metrostationen schließen.
Übrigens ist es die härteste, direkteste und schnellste Methode, die Stadt über einen Ausnahmezustand in Kenntnis zu setzen, indem man ein paar Metro-Linien sperrt.
Dass das ein Fehler ist, weiß man spätestens seit dem Maidan in Kiew, als die zentralen Metrostationen geschlossen und die Stadtbewohner deswegen wütend wurden. Ganz normale Menschen, die nicht vorhatten, an irgendetwas teilzunehmen. Es dauerte genau einen Tag, dann wurde die Metro wieder geöffnet, denn das ist ein sehr starkes Signal seitens der Staatsmacht.
Dafür, dass sie, also die Staatsmacht, die Sache nicht im Griff hat.
Im Endeffekt haben OMON und Polizei angefangen, die Menschen durch die Straßen zu jagen – und haben damit faktisch die Protestaktion über die ganze Stadt ausgebreitet.
Aber auch bei den Festnahmen wurde sehr hart durchgegriffen.
Was bedeuten diese Festnahmen denn? Sie sind das einzige, was der Staatsmacht bleibt. Was anderes können sie gar nicht tun. Sie können ja nicht die Einwohner aus der Stadt vertreiben. Sie können die Zahl der Verhafteten und Inhaftierten verringern und vermehren. Von ihnen wird ja Rechenschaft gefordert, Erfolgsstatistiken, jeder soll zeigen, dass er was tut. Also steigt die Zahl der Festnahmen. Doch damit wächst der Maßstab der Aktion: Wenn die Zahl der Festgenommenen gen Mittag schon bei über 2000 liegt, dann kriegen Menschen den Eindruck, dass die Zahl der Teilnehmer mindestens das Hundertfache betragen muss.
Jeder soll zeigen, dass er was tut. Also steigt die Zahl der Festnahmen
Sehen Sie darin einen Erfolg für die Bewegung zur Befreiung Nawalnys?
Ich denke, die Bewegung hat schon mehr erreicht, als sie wollte. Stellen Sie sich vor, man hätte ihnen einfach gestattet, eine solche Demonstration abzuhalten. Da wären vielleicht 30.000 oder 40.000 gekommen, hätten gefroren und wären dann wieder nach Hause gegangen. Doch im Endeffekt wurde es so zu einem politischen Großereignis allrussischen Ausmaßes. Besonders anschaulich war das in den Hauptstädten Moskau und Piter.
Deswegen frage ich ja – wozu der ganze Aufwand? Alles, was Sie sagen, war ja vorher abzusehen, lange vor den Protestaktionen, sogar die Verantwortlichen der ganzen Festnahmen hätten sich das denken können.
Sie haben es ja hier nicht mit einem denkenden Wesen zu tun. Sie haben es mit … Das ist so ein amorphes Etwas. Oder gar eine ganze Kolonie von Organismen, die aber alle ihre eigenen Ideen im Kopf haben. Wenn davon gesprochen wird, dass all das einem Plan folge und gesteuert würde, dann ist das falsch. Natürlich wurde ein Einsatzkommando eingerichtet, das die Demonstration verhindern sollte. Und genau dieses Kommando verstärkt das Chaos enorm.
Festnahmen gab es auch früher, aber nicht so einen Irrsinn.
Putin hat den Prozess nicht mehr in der Hand, er ist nicht mehr das mäßigende Glied zwischen den zivilen Staatsdienern und den Silowiki in Uniform, deswegen haben die Silowiki jetzt freien Lauf. Diesen freien Lauf der Silowiki sehen wir auf der politischen Bühne.
Putin hat den Prozess nicht mehr in der Hand
Aktuell werden sie von Nawalnys Team kontrolliert, das die Strategie vorgibt: Nachdem das Team [zur Demonstration] vor der Lubjanka aufgerufen hatte, wurde das Stadtzentrum abgeriegelt. Offenbar hat das Wort „Lubjanka“ einen mächtigen Eindruck auf die Silowiki gemacht. Nawalnys Team hat sie zur Sucharewskaja Metrostation geschickt. Sie haben sich mit aller Kraft dahin gestürzt – weiter haben sie praktisch selbst die Arbeit gemacht und die Demonstranten immer weiter getrieben in Richtung Matrosenruhe [Untersuchungsgefängnis, in dem Nawalny sitzt – dek]. Das war sehr amüsant, das zu verfolgen …
Nawalnys Palast-Film ist mehr beleidigend als enthüllend. Und Sie glauben, dass Putin sich darauf einlassen wird, Nawalny freizulassen?
Das ist ja ein innerer Interessenkonflikt: Will Putin sich seinen Emotionen ergeben oder will er sich politisch retten? Falls er sich politisch retten will, dann sollte er anfangen, zumindest ein wenig rational zu handeln.
Falls er Rache üben will, dann kann er die Landesleitung an [die FSB-Männer – dek] Bortnikow und Patruschew übergeben, die die Sache ganz schnell in die Luft gehen lassen. Schneller als es Putin könnte.
Sie haben Putin persönlich gut gekannt. Zeugen seine jüngsten Taten für Sie davon, dass er seine Gefühle voll im Griff hat?
Jener Putin hatte seine Gefühle im Griff. Beim heutigen sieht es nicht danach aus.
Es scheint, als würden die russischen Silowiki die belarussischen nachmachen: brutale Massenfestnahmen, abgeriegelte Stadzentren, Aussetzer beim Handynetz.
Nein, ich glaube nicht, dass sie das nachmachen. Die verfügen über genug eigene Dummheit. Aber belarussische Techniken und Technologien dringen über zwei Kanäle nach Russland. Zum einen über die Opposition: Nawalnys Bewegung hat die belarussischen Erfahrungen klar im Auge. Sonst hätte man einfach fragen können: Warum zum Teufel sollen wir eine Demo veranstalten, Menschen werden durch die Straßen und Höfe ziehen, sie werden gejagt, was werden sie auf der Demo schon Beeindruckendes hören, und von wem überhaupt, wo doch die Anführer fast alle eingesperrt sind. Zum anderen wird polizeiliches Repressions-Know-How aus Belarus übernommen. Noch recht zaghaft. Aber das wird zunehmen.
Belarussische Techniken und Technologien dringen über zwei Kanäle nach Russland
Und so kommt es zu einer Patt-Situation: Wenn wir euch nicht fürchten, was könnt ihr dann mit uns machen? Ihr könnt uns jagen – dann ziehen wir durch die Höfe auf die nächste Straße.
Es gibt eine andere Möglichkeit des „Was tun?“: Wir werden euren Nawalny für zehn, wenn nicht gar fünfzehn Jahre einbuchten.
Nawalny wird auch so plattgemacht. Wenn Nawalny eingebuchtet wird, dann wird er so lange sitzen, wie sich die gegenwärtige Situation des Regimes halten kann. Aber die kann sich ändern, darum ist Verhandeln sinnlos. Hier geht es nicht um einen Kompromiss. Sie bieten nichts an zum Verhandeln.
Sie sehen, wie mir scheint, eine positive Entwicklung für Nawalnys Team.
Für Nawalnys Team – weiß ich nicht. Die Leute gehen auf Angriff, eine positive Entwicklung wäre für sie, wenn sie zumindest ein Zwischenziel erreichen. Aber generell handeln sie derzeit erfolgreich, zweifellos. Doch das sagt nichts darüber aus, ob sie immer erfolgreich bleiben können. Aber bislang ist es ein Erfolg.
Welche Taktik wäre jetzt erfolgversprechend für die Regierung, persönlich für Putin?
Vermutlich ein Kompromiss. Putin könnte die Idioten mit den Schulterklappen beiseite schieben und das Steuer dem politischen Block seiner eigenen – seiner eigenen! – Präsidialadministration übergeben. Die wird mit der Situation vermutlich ein wenig besser klarkommen.
„Freiheit für Nawalny!“ – unter diesem Motto standen die Protestaktionen, die am 23. Januar in über 120 Städten Russlands stattfanden – von Wladiwostok im fernen Osten über Moskau bis Kaliningrad. Die Demonstrationen zählen zu den größten der letzten Jahre. Auslöser war die 30-tägige U-Haft, die dem Oppositionspolitiker unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Deutschland in einem Eilverfahren in einer Moskauer Polizeistation verordnet wurde.
Befeuert wurde der Protest zudem von einem Recherchevideo, das Nawalny und sein Team vergangene Woche veröffentlichten: Darin wird Präsident Putin unter anderem vorgeworfen, sich mit Schmiergeldern in Milliardenhöhe einen riesigen Palast am Schwarzen Meer erbaut zu haben.
Die Protestaktionen am Samstag waren von den lokalen Behörden nicht genehmigt. In staatlichen und staatsnahen Medien waren die Polizeikräfte als friedlich und freundlich, die Demonstrierenden als aggressiv dargestellt worden. Nach Angaben von OWD-Info wurden landesweit 3711 Personen festgenommen – so viel wie nie zuvor in der postsowjetischen Geschichte Russlands, wie Meduzaberichtet. Zudem wurden bereits mehr als zehn strafrechtliche Verfahren gegen Demonstrationsteilnehmer eingeleitet. Kritiker befürchten eine neue Prozesswelle ähnlich dem Moskowskoje delo und dem Bolotnoje delo.
In Sankt Petersburg war der Dokumentarfilmer Konstantin Selin vor Ort und hat seine Eindrücke für das Nachrichtenportal Fontanka in einem Video festgehalten. Er bezog außerdem auch Aufnahmen von Fontanka-Journalisten und LeserInnen des Portals mit ein.
„Wenn es ein Blockbuster wäre und nicht das echte Leben, würde man nach dem Film sagen: ‚Nein, das Sujet ist total überzeichnet, im echten Leben ist es nie so‘“, so beschreibt Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak auf Instagram Nawalnys Rückkehr nach Russland. Das umgeleitete Flugzeug, Festnahme am Flughafen, Polizeistation, spontanes Gerichtsverfahren, Nawalnys Gegenangriff auf Putin, der viral geht und millionenfach angeschaut wird, gefolgt von Diffamierungen in der Staatsduma und Aufrufen zu landesweiten Protesten – die Ereignisse überschlagen sich, Hunderttausende verfolgen den Politthriller quasi in Echtzeit, in Livestreams der unabhängigen Fernsehsender und Online-Medien. dekoder bringt eine Chronologie der Ereignisse, bietet Hintergründe und Ausblicke.
13. Januar: Nawalny kündigt seine Rückkehr nach Russland an
Seit Monaten war es ein heiß diskutiertes Thema in den russischen Medien: Kehrt Nawalny nach Russland zurück, oder wird er seine politische Tätigkeit und Korruptions-Recherchen aus der Emigration weiterführen?
Am 13. Januar veröffentlicht er ein Video auf Instagram:
[bilingbox]Die Frage: Zurückkehren oder nicht? hat sich mir nie gestellt. Einfach deswegen, weil ich ja nie weggegangen bin. Ich bin nur aus einem einzigen Grund nach Deutschland geraten, per Intensivtransport: Weil man mich ermorden wollte.~~~Вопрос „возвращаться или нет“ передо мной не стоял никогда. Просто потому, что я не уезжал. Я оказался в Германии, приехав в неё в реанимационной коробке, по одной причине: меня пытались убить.[/bilingbox]
Das Video endet mit den Worten:
[bilingbox]Russland ist mein Land, Moskau ist meine Stadt, ich habe Heimweh. Deswegen bin ich heute Früh auf die Website von Pobeda gegangen und habe Tickets gekauft. Am 17. Januar, am Sonntag, werde ich mit einem Pobeda-Flug nach Hause kommen. Kommt doch vorbei.~~~Россия – моя страна, Москва – мой город, я по ним скучаю. Поэтому сегодня утром я зашел на сайт компании „Победа“ и купил билеты. 17 января, в воскресенье, я вернусь домой рейсом „Победы“. Встречайте[/bilingbox]
Nawalnys Entscheidung kam für viele überraschend. Denn zwei Wochen zuvor war er von der Föderalen Strafvollzugsbehörde zur Fahndung ausgeschrieben worden.
Kirill Martynow: Freier Mensch und Bürger eines großen Landes
Vielen ist von Anfang an klar, dass Nawalny festgenommen wird. Der Politikredakteur der Novaya Gazeta, Kirill Martynow, vermutet, dass Nawalny nicht nur von seinen Anhängern und Journalisten, sondern auch von Silowiki mit einem Haftbefehl empfangen wird. Er sieht in Nawalnys Entscheidung zur Rückkehr aber einen „fundamentalen politischen Sinn“:
[bilingbox]Viele Jahre lang hat der Kreml uns den Gedanken nahegebracht, dass er das einzige politische Subjekt im Land ist: Die Mächtigen handeln, der Rest erträgt. […] Die Rückkehr Nawalnys unter drohender Haft bedeutet, dass er sich dem fremden Willen nicht beugen will. Als freier Mensch und Bürger eines großen Landes demonstriert er, dass er sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann. […]
Genau so wird in modernen Theorien des Republikanismus politische Freiheit beschrieben: Frei ist der, der nicht der Willkür eines anderen ausgesetzt ist. Wenn ein Diktator schon über dein Schicksal entschieden hat, besteht die einzige Möglichkeit deine Freiheit zu verteidigen darin, alles aufs Spiel zu setzen und deinen eigenen Willen dieser Willkür entgegenzustellen.~~~Долгие годы Кремль приучал нас к мысли, что единственным политическим субъектом в стране является он сам: власти действуют, остальные претерпевают. <…> Возвращение Навального в Россию под угрозой тюрьмы означает, что он не хочет быть в этой чужой воле. Как свободный человек и гражданин великой страны он демонстрирует, что сам способен определять свою судьбу […]. Теоретики современного республиканизма именно так понимают политическую свободу: свободен тот, кто не находится в произвольной воле другого. Когда некий диктатор уже решил твою судьбу, единственный способ защитить свою свободу, заключается в том, чтобы поставить на кон все и противопоставить свою собственную волю этому произволу.[/bilingbox]
17. Januar, 15:18 Uhr: Nawalny fliegt aus Berlin in Richtung Moskau ab
Trotz Warnungen von Flughafen und Polizei kommen nach Angaben der Organisation Bely Stschjottschik (dt. etwa Weißer Zähler) rund 2000 Menschen zum Flughafen Wnukowo, um Nawalny zu begrüßen. Mehrere hunderttausend Menschen verfolgen das Ereignis live auf Doshd oder in einem der vielen anderen Livestreams. Silowiki drängen Nawalnys Anhänger aus dem Gebäude, 59 Menschen werden festgenommen. Nawalny landet endlich um 18:12 Uhr. Der Flug wurde jedoch umgeleitet – zum Flughafen Scheremetjewo.
Die Aufregung ist nicht zuletzt damit zu erklären, dass Nawalny nach seiner Vergiftung und Rückkehr nach Russland einen neuen Status hat. Im Livestream des Radiosenders Echo Moskwyspricht dessen Chefredakteur Alexej Wenediktow über die neue Rolle Nawalnys, mit der er nach Moskau zurückkommt:
[bilingbox]Zwischen August und Januar hat sich Nawalnys Rolle verändert. War er vor August noch innenpolitischer Korruptionsermittler, FBK, ein ausländischer Agent oder wer auch immer – so ist er jetzt der persönliche Gegner Putins. […] Ständig attackiert er Putin persönlich. Wer ist mittlerweile Medwedew für ihn? Oder Rogosin? Niemand. Kleinvieh. Er und Putin. […] Mit aller Wucht versucht er, ihn zu beleidigen und zu kränken, was selbstredend eine Reaktion hervorrufen wird. Putin ist ein dünnhäutiger Mensch, der schnell beleidigt ist. […] Nach diesen fünf Monaten von August bis Januar betrachtet Putin, denke ich, Nawalny als Gefahr. ~~~С августа по январь изменилась роль Навального. Если до августа он был […] внутриполитический расследователь, ФБК, иностранный агент, неважно, кто — то сейчас он личный противник Путина. […] Он постоянно атакует лично Путина. Кто такой Медведев для него теперь? Кто такой Рогозин? Никто. Мелко. Он и Путин. […] И он всячески его пытается обижать и оскорблять, что, безусловно, будет вызывать реакцию. Путин человек тонкокожий и обидчивый. […] После августа — января, после этих 5 месяцев, я думаю, что он рассматривает Навального как угрозу.[/bilingbox]
17. Januar, 21:00 Uhr (Moskauer Zeit): Nawalny wird am Flughafen Scheremetjewo festgenommen
Nach der Landung übertragen zahlreiche mitgereiste Journalisten live praktisch jeden Schritt Nawalnys bis zur Grenzkontrolle. Nawalny und seine Frau Julia geben keine Interviews – nur ein kurzes Statement vor den Kameras:
[bilingbox]Das ist für mich der schönste Tag, auch wenn Deutschland ein wunderbares Land ist […] Ich habe keine Angst, ich werde rausgehen und nach Hause fahren, denn ich weiß, dass ich im Recht bin, denn ich weiß, dass alle Strafverfahren fingiert sind. ~~~Это мой лучший день, несмотря на то, что Германия прекрасная страна. […] Я не боюсь, я выйду и поеду домой, потому что я знаю, что прав, потому что я знаю, что все уголовные дела сфабрикованные.[/bilingbox]
Auch wenn die Festnahme zu erwarten war, reagieren viele Analytiker empört, dass Nawalny etwa die Begleitung durch seinen Anwalt verweigert wird. Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew zieht in einem Facebook-Post historische Vergleiche:
[bilingbox]Gandhi, Mandela, Sacharow, Havel, Aung San Suu Kyi … Infolge der eigenen Panik, Feigheit und Stümperhaftigkeit hat der Kreml nun einen politischen Häftling von Weltrang. Früher konnten sie sich im Problemfall Nawalny noch unbemerkt mit regionalen FBK-Aktivisten rumschlagen, heute sind es Weltpolitiker, internationale Institutionen und Sanktionen. Ist das nicht ein wahnsinns strategischer Geniestreich?~~~Ганди, Мандела, Сахаров, Гавел, Аун Сан Су Чжи… В результате собственной паники, трусости и бездарности Кремль получил политзаключенного мирового калибра. Раньше можно было по проблеме Навального втихую разбираться с активистами ФБК по регионам, а теперь придется разбираться с мировыми лидерами, международными институтами и с санкциями. Молодцы, чо. Стратеги![/bilingbox]
Der Kreml weiß nichts von der Festnahme, Putin-Sprecher Dimitri Peskowantwortet auf die Frage des Mediums Podjom:
[bilingbox]Entschuldigung – wurde er in Deutschland festgenommen? Ich bin nicht auf dem Laufenden.~~~Прошу прощения. Его в Германии задержали? Я не в курсе.[/bilingbox]
18. Januar, 14:30 Uhr: Im Fall Nawalny wird eine 30-tägige Untersuchungshaft angeordnet
Bereits am nächsten Tag um 12:30 Uhr beginnt direkt in der Polizeistation von Chimki ein Gerichtsverfahren. Sowohl Nawalnys Anwälte als auch er selbst erfahren erst wenige Minuten vor Beginn von der kurzfristig angesetzten Verhandlung. Nawalny reagiert empört: „Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft!“ Nach zweistündiger Verhandlung ordnet die Richterin eine 30-tägige Untersuchungshaft an.
Der Journalist und YouTube-Star Juri Dudvergleicht auf Instagram das Gerichtverfahren mit den „wilden 1990er Jahren“ und warnt davor, Willkür als Normalität zu akzeptieren:
[bilingbox]Eine Sache, die die heutige Regierung nicht müde wird zu wiederholen, ist der Sieg über die 1990er Jahre. Nach dem Motto, man sei die Banditen losgeworden, die Armut und anderes Unrecht und Willkür. ‚Nirgendwohin sind die 1990er Jahre verschwunden‘, sagt man gerne über die entfernte Provinz; doch die Ereignisse der vergangenen Tage rufen uns ins Bewusstsein, dass die 1990er Jahre auch im einige-Dutzend-Kilometer-Umkreis des Kreml immer wieder anzutreffen sind. Für alle, die das nicht wussten oder daran gezweifelt haben: Früher waren Unrecht und Willkür die Sache von Gangstern, heute macht das locker auch der Staat. Das Gericht über Alexej Nawalny hinter einem Tischchen in der Polizeiwache von Chimki – genau das ist Unrecht und Willkür. Das größte Risiko ist hier: Wenn die Willkür zur Norm wird, dann werden sehr oft alle zu Opfern, auch die, die diese Norm irgendwann geschaffen oder ausgeführt haben (googelt mal Genrich Jagoda, dessen trauriges Bild [während der Verhandlung – dek] direkt hinter Nawalny [an der Wand – dek] hing).~~~Одна из вещей, про которую сегодняшняя власть не устает повторять, – это победа над 90-ми. Типа избавились от бандюганов, нищеты и прочего беспредела. <…> «90-е никуда не уходили», – принято говорить про далекую провинцию, но события последних суток напоминают нам о том, что они регулярно случаются и в паре десятков километров от Кремля. Для всех, кто этого не знал или просто сомневался: раньше беспредел творили гангстеры, сейчас – это легко делает и государство. Суд, проведенный над Алексеем Навальным за партой в химкинском отделении полиции, это именно беспредел. Самый большой риск тут в том, что когда беспредел становится нормой, его жертвами очень часто становятся вообще все, в том числе те, кто эту норму когда-то устанавливал и исполнял (погуглите о Генрихе Ягоде, грустная фотография которого была прямо за спиной Навального).[/bilingbox]
19. Januar: Die Staatsduma tagt
Nach den Neujahrsferien beginnt am 19. Januar die neue Sitzungsperiode der Staatsduma. Vorsitzende aller Fraktionen greifen das Thema Nawalny auf: Er sei Verräter, Agent der USA und Anstifter eines möglichen Maidans in Russland.
[bilingbox]Es müssen in allen Strafrechtsfällen Urteile gesprochen werden: keine Scherze machen, sie weit weit weg von Moskau schicken, in den Norden, in die Tundra, wo die Vögel im Flug erfrieren und vom Himmel fallen. Das sind Menschen, die mit ihrem Handeln die Grundfesten unseres Staates unterminieren.~~~Надо по всем уголовным делам вынести приговоры, не шутить и отправить далеко-далеко от Москвы, на Север, туда, где тундра, где птицы на лету замерзают и падают на землю. Это люди, которые своими действиями подрывают устои нашего государства.[/bilingbox]
19. Januar, 14:00 Uhr: Auf Nawalnys YouTube-Kanal erscheint das Video Ein Palast für Putin
Während Nawalny in einem Untersuchungsgefängnis mit dem inoffiziellen Namen Matrosskaja tischina (dt. Matrosenruhe) einsitzt, wird es draußen unruhig. Auf seinem YouTube-Kanal erscheint ein fast zweistündiges Video, in dem Nawalny dem russischen Präsidenten Korruption in Milliardenhöhe vorwirft: Die Aufnahmen zeigen „Putins Palast“ in Gelenshik am Schwarzen Meer. Das Video bricht alle Rekorde. Es wird innerhalb eines Tages 25 Millionen Mal aufgerufen (am 21. Januar sind es bereits über 43 Millionen Aufrufe).
(englische Untertitel)
Alexander Kynew: Nawalny spielt Schach und va banque
[bilingbox]Da Nawalny ein mutiger Mann ist, ein Mann des Risikos, blieb ihm nichts anderes übrig. Und wenn man genau hinschaut, hat er ja eine gewisse symbolische Grenze überschritten. Seit Jahren recherchiert Nawalny gegen verschiedene Personen: Tschaika, Medwedew, Mischustin, Russia Today und so weiter. Nie aber betrafen diese Ermittlungen Putin persönlich. Putin war sozusagen jenseits dieser Riege von Personen, über deren Geschäfte und Reichtum Nawalny berichtete. Nun ist Nawalny zu den Recherchen bezüglich seiner eigenen Vergiftung übergegangen. Nun hat er die Hauptperson einbezogen. […] Das ist mittlerweile ein persönlicher Kampf. In gewissem Sinne hat der Kreml ihm aber auch keine andere Möglichkeit gelassen, denn es ist der Befehl zum offensichtlichen politischen Mord … Nun, jeder Hund, der in die Enge getrieben wird, zeigt Zähne. In diesem Fall spielt Nawalny also va banque.~~~Поскольку мы знаем, что Навальный — человек смелый, человек рисковый, у него ничего другого не осталось. И если внимательно посмотреть, он ведь перешел некую символическую грань. Много лет Навальный проводил расследования в отношении разных фигур — Чайка, Медведев, Мишустин, Russia Today и так далее, но никогда персонально Путина эти расследования не касались. Путин как бы находился вне этого перечня фигур, о бизнесе, богатстве которых Навальный рассказывал. Теперь он перешел на расследование про отравление. Теперь он перешел на главную фигуру. […] Это уже персональная, личная борьба. Но в каком-то смысле власть сама не оставила вариантов, поскольку команда на очевидное политическое уничтожение… в общем, любая собака, загнанная в угол, огрызается. Поэтому в данном случае Навальный пошел ва-банк.[/bilingbox]
Auf VTimes fügt der Politologe hinzu, dass der Oppositionspolitiker sich mit dem Enthüllungsvideo auch Sicherheit verschafft:
[bilingbox]Dass Nawalny – nun verhaftet – zum Gegenangriff übergeht, deutet darauf hin, dass er diese Entwicklung vorausgesehen hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass nun die Züge zwei, drei oder vier folgen werden. Ihn physisch aus dem Weg zu schaffen, ist nun unmöglich, denn das wäre faktisch eine Selbstanzeige. Mit diesen Enthüllungen hat er für seine Sicherheit gesorgt, und dass obwohl der Hass gegen ihn alle Grenzen der Vernunft überschreitet.~~~То, что Навальный контратакует, будучи арестованным, говорит о том, что он заранее предполагал такое развитие событий. С высокой долей вероятности можно говорить о том, что будут ходы два, три, четыре. Теперь его физическое устранение невозможно, это будет фактически явка с повинной. Этими разоблачениями он обеспечил себе безопасность, хотя степень ненависти к нему переходит все разумные пределы.[/bilingbox]
19. Januar: Nawalny ruft zu landesweiten Protesten auf
Nawalnys Video beginnt mit einem Aufruf zu Protesten am 23. Januar. Seitdem trommelt das Team des Politikers für landesweite Aktionen: Um 14 Uhr sollen Demonstranten Hauptstraßen und Plätze in mindestens 65 Städten besetzen, um „gegen Putins Willkür zu protestieren“.
Andrej Mowtschan: Mann der Mitte?
Wie viele Menschen kann Nawalny zu den Protesten am Samstag mobilisieren? Dieser brennenden Frage geht auf Facebook auch der Journalist Andrej Mowtschan nach:
[bilingbox]In den Augen der meisten Russen ist Nawalny ein Mensch mit einer seltsamen Vergangenheit (da war doch was mit Russischen Märschen, irgendein Greenmailing, irgendein Job in Kirow, irgendwelche nebulösen Geschichten von der Art ‚entweder er hat geklaut oder er wurde beklaut‘). Und der macht vor allem zwei Dinge: Er will an die Macht und deckt Korruption auf. Die Vergangenheit interessiert in Russland natürlich kaum jemanden (man blicke nur mal auf die Vergangenheit russischer Stars und Führer), die Gegenwart aber wird beim ‚tiefen Volk‘ wohl kaum Mitleid auslösen oder den Wunsch, sich hinter eine Fahne zu versammeln. […]
Russland lebt damals wie heute von zwei Ideen: von der gemeinschaftlichen Verteilungsidee des ‚ehrlichen Diebes‘, die hier fälschlich ‚kommunistisch‘ genannt wird, und natürlich von der Idee der sakralen Autorität. Genau diese konkurrieren miteinander, ihre Symbiose garantiert die Unabsetzbarkeit der Staatsmacht. Und Dissidenten – ach, die können von Deutschland aus auf Sendung gehen oder im Gefängnis sitzen (oder auch nichts senden und nicht einsitzen) – das wird Unsereins beunruhigen, aber Russland sicher nicht.~~~В глазах большинства населения России Навальный – человек со странным прошлым (что-то там такое от русских маршей, какой-то гринмейл, какая-то работа в Кирове и какие-то туманные истории по типу «то ли он украл, то ли у него украли»), занимающийся в основном двумя делами: он пытается попасть во власть и разоблачает коррупцию. Прошлое в России конечно мало кого волнует (посмотрите на прошлое российских кумиров и вождей), а вот настоящее у «глубинного народа» вряд ли вызовет сочувствие или желание встать под знамена. <…> Россия жила и живет двумя идеями – общинно-распределительной идеей „честного вора“, ошибочно называемой здесь „коммунистической“, и конечно сакрально-автократической. Именно они конкурируют между собой, их симбиоз обеспечивает несменяемость власти. А диссиденты – диссиденты могут вещать из Германии или сидеть в тюрьме (впрочем – могут и не сидеть, и не вещать) – это будет волновать нас с вами, но не Россию.[/bilingbox]
Alexander Baunow: Der Kreml muss sich entscheiden
Journalist Alexander Baunow argumentiert auf Carnegie, dass Nawalnys Rückkehr den Kreml in ein schwieriges Dilemma bringt:
[bilingbox]Nawalny ist nicht mehr länger nur eine Figur der Innenpolitik […]. Nach der Vergiftung und der wundersamen Heilung im Land der Frau Merkel wurde er in den Augen der restlichen Welt zum berühmtesten, bekanntesten und gefährlichsten Kritiker Putins: Er wurde zum Anti-Putin, zum Politiker Nummer zwei, oder besser gesagt, sogar zum Politiker Nummer eins mit umgekehrten Vorzeichen. […] Der Kreml wird entscheiden müssen, was bedrohlicher ist: Nawalny als ein echter politischer Störfaktor bei den nächsten Wahlen oder eine mythologisierte Legende vom verfolgten Nawalny, der wahrscheinlich die ganze Unzufriedenheit bündeln wird und den ganzen Wunsch nach Veränderung zum Besseren.~~~Навальный перестал быть персонажем внутренней политики […]. После отравления и чудесного исцеления в стране госпожи Меркель он в глазах внешнего мира превратился в самого известного, именитого и опасного критика Путина, стал анти-Путиным, политиком номер два, вернее, даже политиком номер один с противоположным знаком. […]
Власти придется определиться, что ей страшнее – реальный политический овод Навальный на ближайших и последующих выборах или мифологизированный, гонимый Навальный-легенда, который с большой вероятностью будет собирать все недовольство, все обиды и все желание перемен к лучшему.[/bilingbox]
Nawalnys Verhaftung führt zu einer beispiellosen Solidaritätswelle. Für den Stab des Oppositionspolitikers nehmen auch bekannte Menschen Unterstützungsvideos auf. Unter ihnen: Musiker Noize MC, Andrej Makarewitsch, Krowostok und Gretschka, Schriftsteller Dimitri Gluchowski, Fotograf Dmitry Markov. Die Liste der Unterstützer wächst stündlich.
Am 15. Januar 2021 veröffentlichte die belarussische Initiative Bypol einen brisanten Audiomitschnitt: Eine männliche Stimme spricht dort vom Schusswaffengebrauch gegen Demonstranten, über die Einrichtung eines Lagers mit Stacheldrahtzaun „für besonders Aufsässige“, und darüber, dass man Angreifern eine Lektion erteilen müsse: „Entweder verkrüppeln, verstümmeln oder umbringen.“
Die Stimme wird dem stellvertretenden Innenminister Nikolaj Karpenkow zugeschrieben. Karpenkow gilt als ausgesprochener Hardliner; als damaliger Leiter der Spezialeinheit GUBOPiK trat er bei Protesten im Herbst des öfteren selbst mit Gummiknüppel in Erscheinung. Im September machten Bilder die Runde, auf denen Karpenkow die Tür eines Minsker Cafés zertrümmert – dort hatten Protestierende zuvor Zuflucht vor den Sicherheitskräften gesucht.
In der nun aufgetauchten Aufnahme spricht die besagte Stimme auch über Alexander Taraikowski, der am 10. August 2020 in Minsk bei den Protesten von der Miliz erschossen worden war. „Ja, Taraikowski, dieser Trunkenbold und Schwachkopf. Er starb natürlich durch ein Gummigeschoss, das seine Brust erwischt hatte.“ Über die Demonstranten sagt der Mann: „Denn eigentlich sind alle, die heute auf die Straße gehen, um bei diesem Schienenkrieg mitzumachen, diejenigen, die Straßen blockieren, die Polizei angreifen, Molotow-Cocktails werfen, auch Terroristen. Das sind überflüssige Menschen in unserem Land.“ Auch Aussagen von Lukaschenko werden in der Aufnahme wiedergegeben. Unter anderem soll der Autokrat von den Sicherheitskräften gefordert haben, dass sie mit den Unruhen fertig werden sollen, „und zwar mit aller Härte“. In Bezug auf den Schusswaffengebrauch, so wird Lukaschenko zitiert, seien OMON und Miliz abgesichert.
Laut Bypol soll der Mitschnitt, den es auch in einer vollständigen deutschen Übersetzung gibt, im Oktober 2020 bei einem Abschiedstreffen von Karpenkow und Mitgliedern seiner GUBOPiK-Einheit entstanden sein. Das belarussische Innenministerium bezeichnete die Aufnahme nach der Veröffentlichung als Fake. In den Staatsmedien wurde der Mitschnitt indes überhaupt nicht thematisiert. Unter belarussischen Politikern, Journalisten und in der belarussischen Gesellschaft sorgte er für Wut und Entrüstung und entfachte eine Diskussion über die moralische Verkommenheit des Machtapparats Lukaschenko. dekoder bringt eine Auswahl von Stimmen aus dieser Debatte.
Facebook/Dimitri Nawoscha: Alles soll vernichtet werden
Der Belarusse Dimitri Nawoscha ist Mitgründer des einflussreichen russischen Sportportals Sports.ru, das unter anderem auch das Portal Tribuna in Belarus betreibt. Seiner Meinung nach zeigt die Aufnahme schonungslos die Geisteshaltung von Lukaschenkos Helfern.
[bilingbox]Lukaschenko ist es gelungen, eine Bande erstaunlichen Abschaums um sich zu versammeln, die bereit ist, Unbewaffnete zu verstümmeln und zu töten, die bereit ist, nicht nur moralische Grenzen zu überschreiten (hier gab es eh keine Illusionen), sondern auch jedwede Gesetze – sogar die eigenen diktatorischen. Bereit, in dem von den Lukaschisten ausgedachten ‚hybriden Krieg‘ alles Lebendige zu vernichten.~~~Лукашенко удалось собрать под себя банду удивительных выродков, готовых калечить и убивать безоружных, преступать не только через мораль (тут иллюзий особо не было), но и через любые законы – даже свои, диктаторские. Уничтожать всё живое в придуманной лукашистами «гибридной войне.[/bilingbox]
tut.by/Swetlana Tichanowskaja: Leben oder Konzentrationslager?
Für Swetlana Tichanowskaja, die führende Figur der belarussischen Oppositionsbewegung, sind die Aussagen in der Aufnahme ein Zeichen dafür, dass Lukaschenkos Abgang bevorsteht.
[bilingbox]Lukaschenko bereitet sich auf seinen Abgang vor. Er weiß, dass sich Belarus mit ihm in einen geächteten Staat verwandeln wird. Er weiß, dass er verloren hat. Die Frage ist nur, was er zurücklassen wird. Und jetzt möchte ich allen am Bildschirm eine Frage stellen, allen, die dieses Video sehen. Es spielt keine Rolle, für wen Sie gestimmt haben oder welche Ansichten Sie vertreten. Es spielt keine Rolle, welche Flagge oder welches Wappen Ihnen gefällt. Ich möchte jedem Belarussen eine Frage stellen: Was haben wir verdient – ein Land zum Leben oder ein Konzentrationslager?~~~Лукашенко готовится к уходу. Он знает, что с ним Беларусь превратится в страну-изгоя. Он знает, что проиграл. Вопрос лишь в том, что он оставит после себя. И сейчас я хочу задать вопрос каждому человеку у экрана, всем, кто смотрит это видео. Неважно за кого вы голосовали и каких взглядов придерживаетесь. Неважно, какой флаг и герб вам нравится. Я хочу задать вопрос каждому беларусу. Что мы заслужили: страну для жизни или концлагерь?[/bilingbox]
Facebook/Pjotr Kusnjazou: Blick in die dunkle Vergangenheit
Pjotr Kusnjazou, Direktor der regionalen Informationsplattform Gomel – Silnyje Nowosti, fühlt sich durch die Aufnahme an die schlimmsten Zeiten seines Landes erinnert.
[bilingbox]Hier sind nun also die Pläne, im Land ein politisches Konzentrationslager zu errichten – das hat selbst vor dem Hintergrund der bestehenden Realität für enorme Verwunderung gesorgt. So deutlich weht damit der Wind von den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts herüber, dass einen eine Gänsehaut überzieht. Wir ziehen hier Parallelen zum Stalinismus, erfassen Gemeinsamkeiten, während die da diese Gemeinsamkeiten gezielt planen und organisieren. Was heißt hier Stalinismus. Unter Stalin waren die Menschen nicht „überflüssig“ – alle waren gut dafür, den Weißmeer-Ostsee-Kanal zu bauen. „Überflüssige Menschen“ – das stammt aus dem Repertoire einer völlig anderen Figur, der all der Lebensraum nicht reichte; „die Überflüssigen“ konnten buchstäblich verwertet werden, was auch gemacht wurde: Goldkronen – auf den einen Haufen, Haare zum Polstern von Möbeln auf einen anderen, Organe und Blut für Medizin wieder irgendwo anders hin und so weiter. ~~~Но вот планы создать в стране политический концлагерь – это удивило сильно даже на фоне имеющейся реальности. Так чётко повеяло 30-ми годами прошлого столетия, что аж мурашки по коже. Мы тут проводим параллели со сталинизмом, улавливая общие черты, а они в это время эти общие черты целенаправленно планируют и организовывают. Да ладно, сталинизм. При Сталине „лишними“ люди не были – все годились Беломорканал строить. „Лишние люди“ – это из репертуара совершенно другого персонажа, которому все жизненного пространства не хватало, а „лишних“ можно было утилизировать в буквальном смысле, что и делалось: золотые коронки – отдельно, волосы для набивки мебели – отдельно, органы и кровь для медицины – отдельно и т.д.[/bilingbox]
In seinem Statement betont Pawel Latuschko, ein zur Opposition übergelaufener Funktionär und Politiker, die umfassende Macht Lukaschenkos.
[bilingbox]Nach Karpenkows Aussagen wird niemand mehr die geringsten Zweifel haben: Alle Gräueltaten in Belarus geschehen auf Befehl Lukaschenkos und mit seinem Wissen. Er benennt direkt die wesentliche Aufgabe der Miliz – nein, das ist nicht der Schutz des Volkes, sondern der Schutz des Nichtlegitimierten und seiner Familie.~~~После заявлений Карпенкова ни у кого не останется ни малейших сомнений: все злодеяния в Беларуси творятся по приказу Лукашенко и с его ведома. Он прямо называет основную задачу милиции – нет, это не защита народа, а защита нелегитимного и его семьи.[/bilingbox]
Radio Svaboda: Lenin als absurde Argumentationshilfe
In der Aufnahme bezieht sich die Stimme, die Karpenkow zugeordnet wird, auch auf Lenin. Jury Drakachrust, politischer Kommentator beim Sender Radio Svaboda, weist auf die bittere Ironie dieser Argumentation hin.
[bilingbox]Laut Karpenkow hat „Großväterchen Lenin“ gesagt, dass nur der Staat das Recht hat, Waffen zu benutzen, und dass alle anderen, die sie benutzen, Banditen und Terroristen sind. Die Ironie der Situation besteht darin, dass Karpenkow sich auf eine Person bezieht, die selbst ein prominenter, patentierter Bandit und Terrorist war. Es ist schwierig, in der Geschichte eine andere Figur zu finden, die ähnlich radikal wie Lenin die Tradition, die Sitten, die alte Hierarchie ablehnt – alles, was Herrn Karpenkow angeblich so am Herzen liegt. Herr Karpenkow hat in dieser Hinsicht einfach nichts zu bieten. Absolute, ideale Leere als Ideologie, mit Lenin als Prophet des Bestehenden und der Unveränderlichkeit – eine absurdere und widersprüchlichere Rechtfertigung kann man sich nicht vorstellen.~~~
По словам Карпенкова „дедушка Ленин“ говорил, что право на применение оружия имеет только государство, а все другие, кто его применяет – бандиты и террористы.
Ирония ситуации заключается в том, что Карпенков сослался на личность, которая как раз и была выдающимся, патентованным бандитом и террористом. Поискать в истории другого персонажа, который бы столь радикально, как Ленин, отвергал традицию, обычаи, прежнюю иерархию – все то, что якобы такое дорогое сердцу господина Карпенкова.
У господина Карпенкова нет в этом смысле просто ничего. Абсолютная, идеальная пустота как идеология, Ленин как пророк охранительства и неизменности – нарочно не придумаешь более абсурдного и противоречивого обоснования.[/bilingbox]
Lew Margolin, Ökonom und stellvertretender Vorsitzender der Vereinigten Bürgerpartei, spekuliert in einem Interview, wer die Aufnahme Bypol zur Veröffentlichung übermittelt haben könnte.
[bilingbox]Das machen natürlich deren Kollegen. Dafür könnte es zwei Gründe geben. Der erste Grund ist möglicherweise der Wunsch, Geld zu verdienen. Es ist die Information durchgedrungen, dass bestimmte Leute Geld für solche Aufnahmen verlangen. Der zweite Grund ist der Wunsch, in der Zukunft eine Art Ablass zu erhalten. Später wird man sagen: Obwohl dieser Mann dort gedient hat, war er in nichts verwickelt, mehr noch: Er hat uns als Kämpfer im Untergrund geholfen.~~~Делают, конечно, их коллеги. А причины могут быть две. Первая причина – возможно, желание заработать. Проходила информация, что кое-кто хочет денег за какие-то записи. Вторая причина – желание получить индульгенцию в будущем. Потом будет сказано: хоть этот человек и служил там, но он ни в чем не замешан и более того, он как подпольщик помогал нам.[/bilingbox]
Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ist am 18. Januar 2021 zu 30 Tagen U-Haft verurteilt worden. Der Prozess gegen den Kreml-Kritiker fand in einer Moskauer Polizeistation statt. Seine Anwältin hatte erst wenige Minuten vor Beginn erfahren, dass überhaupt eine Verhandlung stattfindet. Beobachter und Anhänger Nawalnys sprechen von einem beispiellosen Vorgang. Zudem könnte Nawalnys Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher demnächst in eine Gefängnisstrafe umgewandelt werden. Ihm drohen dreieinhalb Jahre Haft, abzüglich bereits verbüßter zehn Monate Hausarrest. Darüber soll am 2. Februar entschieden werden.
2014 waren Nawalny und sein Bruder Oleg wegen Betrugs des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Oleg Nawalny musste die Strafe absitzen, Alexej bekam Bewährung. Schon den Prozess damals hielten viele Beobachter für politisch motiviert, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) befand das Urteil 2017 für „willkürlich und deutlich rechtswidrig“. Das Präsidium des Obersten Gerichts in Russland bestätigte es im April 2018 trotzdem.
Beim Prozess in der Moskauer Polizeistation wurde Nawalny gestern nun vorgeworfen, gegen die Bewährungsauflagen verstoßen und sich nicht bei den Behörden gemeldet zu haben: und zwar „mindestens sechs Mal“ noch vor seiner Ausreise nach Deutschland. Außerdem sei der „Angeklagte Nawalny auch in der Zeit vom 17.08.2020 bis zum 29.12.2020“ nicht zur Registrierung bei den russischen Behörden erschienen. Nach dem Nowitschok-Anschlag auf ihn am 20. August 2020 war Nawalny eine Zeit lang in der Berliner Charité in Behandlung gewesen. Erst am Sonntag war er aus Deutschland nach Moskau zurückgekehrt. Noch am Flughafen wurde er festgenommen.
Die Umstände des Prozesses in der Polizeistation gestern sorgten für großen Unmut in liberalen Kreisen. Nawalnys Stab rief zu landesweiten Demonstrationen am kommenden Samstag auf. Den bislang ausbleibenden Massenprotest in der russischen Gesellschaft erklärten Kommentatoren in unabhängigen Medien unter anderem damit, dass viele der offiziellen Propaganda Glauben schenkten, wonach Nawalny wahlweise ein Niemand beziehungsweise Agent des Westen sei. Zudem hat die Duma erst Ende 2020 eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet, die auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit weiter einschränken.
Die unabhängige Plattform Mediazona, mitbegründet von den Pussy Riot-Mitgliedern Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina, begleitet und dokumentiert viele Gerichtsprozesse in Russland. Sie hat eine Tonbandaufzeichnung der Verhandlung erhalten. Das gekürzte Transkript, das sie schließlich veröffentlichte, überträgt dekoder ins Deutsche:
Die Richterin Jelena Morosowa betritt den Saal und bittet Nawalny, sich vorzustellen; der macht mit müder Stimme seine persönlichen Angaben. Morosowa verliest seine Rechte und fragt, ob er Fragen dazu hat.
Nawalny (beginnt mit müder Stimme, echauffiert sich dann aber mehr und mehr):Ich … Verstehen Sie, ich weiß, dass Sie da irgendwelche Worte gesagt haben – ja, die habe ich wohl verstanden. Aber, verstehen Sie, bewerten Sie doch mal bitte selber die Situation. Ich habe nicht ohne Grund den Prozess mit den Worten begonnen, dass Sie wohl verrückt geworden sind. Sie sagen, dass ich bestimmte Rechte hätte. Sie haben erklärt, dies sei ein öffentlicher Prozess, doch Sie lassen nicht einen einzigen Journalisten herein, der …
Morosowa: Das Gericht hat gefragt, ob Sie Ihre Rechte verstanden haben, die Ihnen vom Gericht erklärt wurden.
Nawalny (lauter): Ne-i-n! Gestatten Sie mir zu antworten. Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft! Nur weil Sie eine Robe tragen, ist das hier noch lange kein Gericht! Das Gericht sollte 100 Meter von hier entfernt im Gericht von Chimki tagen.
Sie haben mich hierher gezerrt, Sie haben niemanden darüber informiert, Sie haben hier niemanden hereingelassen! Sie nennen das hier eine öffentliche Verhandlung, doch Sie lassen keine Journalisten herein. Sie sagen, Publikum habe freien Zutritt, lassen aber niemanden rein; das Gebäude ist bewacht. Das ist kein Gericht!
Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft!
Vorhin haben Sie mir gesagt, vor einer halben Stunde: „Ich gebe Ihnen Zeit für ein vertrauliches Gespräch mit Ihrem Anwalt.“ Die ganze Zeit über war ich in Begleitung von zwei Polizeibeamten mit Scheiß-Bodycams! Verstehen Sie?! Das ist absurd! Sie sagen das eine, und sofort geschieht das Gegenteil!
Morosowa: Ich bitte Sie, während der Verhandlung nicht zu schreien. Ich bitte Sie, die Prozessordnung einzuhalten.
Nawalny: Was soll ich denn sonst tun?! So, wie Sie diese Ordnung verletzen, verletzt sie sonst niemand! (Senkt die Stimme.) Gut. Nur unterbrechen Sie mich bitte nicht, hören Sie mich bitte an.
Morosowa: Sie verstoßen gerade gegen die Prozessordnung.
Nawalny: Sie tun das. Euer Ehren, so wie Sie dagegen verstoßen … (Fängt wieder an zu schreien.) Entlassen Sie mich bitte aus dem Verhandlungssaal!
Morosowa (teilnahmslos, leicht genervt): Ins Verhandlungsprotokoll wird aufgenommen, dass im Verhandlungssaal gegen die Prozessordnung verstoßen wird … durch Nawalny.
Die Richterin bittet die Zuhörer, Mobiltelefone mit Videokameras auszuschalten. Sie wiederholt nochmals die einzuhaltende Prozessordnung: Dem Gericht ist im Stehen zu antworten, die Ansprache ist „Hohes Gericht“ oder „Euer Ehren“, Zwischenrufe sind nicht gestattet.
Nawalny: Lassen Sie uns bitte die Prozessordnung einhalten. Eine Gerichtsverhandlung ist nicht möglich ohne Ladung der Anwälte – in den Unterlagen fehlt eine solche. Eine Verhandlung ist unmöglich ohne Kenntnis der Unterlagen und ohne vertrauliches Gespräch mit einem Anwalt – Sie sagten mir, Sie würden mir 30 Minuten gewähren. Was ist das bitte für ein vertrauliches Gespräch, wenn ich mit den Anwälten und zwei Polizeibeamten mit Bodycams zusammensitze? Erscheint Ihnen das nicht merkwürdig? Mir schon. Welche Achtung vor dem Gericht möchten Sie von mir? Das ist doch kein Gericht. Sie begehen gerade eine Straftat, und Sie werden hundertprozentig sitzen. Sie sind doch eine junge Frau. Ihr Putin stirbt schneller, als …
Morosowa (lauter): Das Gericht ruft Sie zur Ordnung …
Das ist doch kein Gericht. Sie begehen gerade eine Straftat, und Sie werden hundertprozentig sitzen
Nawalny: Deswegen werden Sie sitzen, aber in einem normalen Gericht, und man wird Sie verurteilen.
Morosowa: Ein weiterer Ordnungsruf mit Eintrag in das Verhandlungsprotokoll.
Nawalny: Tragen Sie ein, was Sie wollen, mir ist Ihr Protokoll vollkommen schnurz.
Morosowa: Setzen Sie sich, bitte. Sie haben die Gelegenheit zur Stellungnahme und zum Stellen von Anträgen.
Nawalny: Ich stelle einen Antrag auf Einlass von Journalisten, die sich zum jetzigen Zeitpunkt hier befinden, mindestens zwei. Wenn Sie aus dem Fenster schauen, sehen sie: Dort stehen Journalisten, viele. Doch unsere werte Staatsanwaltschaft hat gesagt, dass wir nicht alle hier hereinlassen können. Ich stelle den Antrag, ich fordere, dass Sie die Journalisten der Medien Doshd und Mediazonazulassen. Sie stehen dort und können Ihnen nicht persönlich ihre Anträge übergeben, denn es wird ihnen nicht erlaubt. Aber wenn wir einen transparenten öffentlichen Prozess haben, dann fordere ich eine dreiminütige Pause, in der wir mindesten zwei Vertreter der Medien hereinrufen.
Die Verteidiger Olga Michailowa und Wadim Kobsew unterstützen den Antrag Nawalnys. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft Koloskowa sagt, dass der Antrag auf Anwesenheit von Vertretern der Medien schon gestellt und geprüft wurde. Die Richterin lehnt das sofort ab, da sich „im Gerichtssaal akkreditierte Medien befinden, die für eine Videoaufzeichnung sorgen“.
Der Anwalt Kobsew nimmt auf den Antrag Nawalnys Bezug und sagt, dass er gezwungen war, sich mit seinem Mandanten in Anwesenheit von Polizisten mit Bodycams zu besprechen. Er bittet um Zeit, um mit Nawalny unter vier Augen zu reden. [Staatsanwältin] Koloskowa insistiert, dass „genug Zeit gegeben worden sei“. Die Richterin lehnt den Antrag der Verteidigung ab.
Kobsew: Wir haben die Unterlagen nicht in vollem Umfang erhalten. Wir haben weder einen Beschluss noch irgendein anderes gerichtliches Schreiben gesehen, demzufolge heute um 12:30 Uhr ein Prozess angesetzt war, in diesem Format einer Sitzung außerhalb des Gerichts.
Michailowa: Ich möchte das unterstreichen und darauf hinweisen, dass die Unterlagen überhaupt keine Angaben darüber enthalten, dass eine Verhandlung anberaumt worden ist.
Wir haben weder einen Beschluss noch irgendein anderes gerichtliches Schreiben gesehen, demzufolge heute um 12:30 Uhr ein Prozess angesetzt war
Die Vertreter der Staatsanwaltschaft und der Behörden des Inneren weisen das zurück und die Richterin weist den Einwand der Verteidigung zurück.
Kobsew: Gestern wurde im Lauf der Festnahme bei einer Durchsuchung Nawalnys der Auslandsreisepass beschlagnahmt. Eine Kopie des Passes findet sich in der Akte. Im Festnahmeprotokoll ist der Pass unter den Gegenständen, die beschlagnahmt wurden, nicht aufgeführt. Wir bitten darum, den Pass ausfindig zu machen und ihn Nawalny oder uns, seinen Verteidigern, auszuhändigen.
Nawalny: Das ist eine komische Situation. Gestern wurde mir mein Pass an der Grenze abgenommen. Man hat mich hierher gebracht und alle Sachen protokolliert: Schnürsenkel, Gürtel und so weiter. Aber der Pass wird im Festnahmeprotokoll nicht unter den beschlagnahmten Gegenständen aufgelistet. Das heißt, sie haben ihn gestohlen, verloren oder was auch immer mit ihm gemacht. Er sollte entweder Teil der Prozessunterlagen oder im Festnahmeprotokoll aufgeführt sein. Ich möchte, dass das festgehalten wird. Vielleicht wurde er aus Versehen nicht aufgenommen, einfach vergessen in dem Getümmel. Das ist ein wichtiges Dokument, in der Tat mein einziges Dokument, das mich ausweist in diesem Gericht.
Die Vertreter der Staatsanwaltschaft und des Inneren sind dagegen, die Richterin weist den Antrag unverzüglich ab, „da diese Frage den Rahmen der Prüfung der vorliegenden Unterlagen sprengt“.
Anwältin Michailowa bittet darum, Nawalnys Pressesprecherin Kira Jarmysch in den Saal zu lassen, doch laut Vertreterin der Behörden des Inneren ist „die Höchstzahl der für diesen Saal zugelassenen Personen bereits erreicht“. Die Richterin lehnt unverzüglich ab unter Berufung auf „Maßnahmen zur Sicherstellung der Hygieneregeln“. Nawalny bittet, Ilja Pachomow und Ruslan Schaweddinow vom FBK ins Gericht zu lassen. Die Richterin lehnt unverzüglich ab.
Nawalny: Da das Gericht offensichtlich die Seite der Anklage eingenommen hat, da mir mein Grundrecht auf Verteidigung verweigert wurde, da Medien und Publikum nicht zum Prozess zugelassen wurden und sich hier nur Personen befinden, die auf unklare Weise hierher geraten sind und von der Staatsanwältin, der Richterin oder von Polizeibeamten hierher gebracht wurden, da es kein Dokument gibt, in dem ein Gerichtsprozess festgelegt wurde – das kann nicht einfach aus dem Nichts auftauchen, man kann nicht einfach loslegen und jemanden in der Küche verurteilen, irgendwer hätte dieses Gericht einberufen müssen und dann hätte es irgendwer hierher verlegen müssen – in Folge dessen lege ich Einspruch gegen die Anberaumung dieser Sitzung ein.
Man kann nicht einfach loslegen und jemanden in der Küche verurteilen, irgendwer hätte dieses Gericht einberufen müssen
Anwalt Kobsew meint, dass Richterin Morosowa befangen sei und eine Sitzung außerhalb des Gerichts in einer Polizeistation eine „beispiellose Maßnahme, wie ich sie noch nie in Russland gesehen habe“. Die Anwältin Michailowa ergänzt, dass Morosowa über keine gesetzlichen Vollmachten zur Verhaftung eines auf Bewährung Verurteilten verfüge, und „diese Gerichtsverhandlung gar nicht stattfinden dürfte“. Die Vertreter von Staatsanwaltschaft und der Behörden des Inneren weisen das zurück. Die Richterin zieht sich für zehn Minuten ins Beratungszimmer zurück. Danach lehnt sie Nawalnys Einspruch ab. Die Verhandlung wird fortgesetzt.
Das Wort ergreift Naumowa, Vertreterin der Polizeiverwaltung von Chimki.
Naumowa: Sehr geehrtes Gericht, am 03.03.2015 wurde der Verurteilte Nawalny in die Zweigstelle №11 der Strafvollzugsverwaltung (FSIN) der Stadt Moskau bestellt. Am 10.03.2015 fand mit Nawalny ein Aufklärungsgespräch statt, es wurden die Bedingungen der Bewährungsstrafe erklärt und die ihm auferlegten Pflichten. Die Verpflichtungserklärung wurde unterzeichnet …
Naumowa erzählt mehrere Minuten die gesamte komplizierte Geschichte der Beziehungen zwischen Nawalny und dem FSIN. Nach dem Urteil im Fall Yves Rocher wurde der Politiker dazu verpflichtet, sich zweimal im Monat – je am ersten und dritten Montag – in einer Zweigstelle des FSIN zu melden.
Im Jahr 2020 sei Nawalny „systematisch“ nicht zur Meldung erschienen, erzählt Naumowa: Zweimal im Januar 2020, einmal im Februar, zweimal im März, dann im Juli und im August.
Nach der Vergiftung am 20. August 2020 wurde Nawalny zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen, worüber man beim FSIN „aus den Medien“ erfahren habe. Die Behörde habe Angaben über Nawalny beim Omsker Krankenhaus erfragt und am 16. Oktober „per Einschreiben an die Meldeadresse“ über seine Meldepflicht bei der Strafvollzugsbehörde (FSIN) informiert.
Dann legt Naumowa eine Auskunft der Berliner Charité vom 11. November vor, wonach Nawalny dort vom 22. August bis zum 23. September behandelt wurde. Nach seiner Entlassung befand sich Nawalny in ambulanter und physiotherapeutischer Behandlung. Nach der schweren Vergiftung brauchte er eine lange Rehabilitation, doch, so merkt Naumowa an, sei in den Dokumenten der Charité keine genaue Angabe über die benötigte Zeit bis zur Genesung gemacht worden.
Der Auftritt der Vertreterin der Polizei von Chimki wird übertönt durch die „Lasst ihn frei!“-Rufe vor den Fenstern der Polizeistation.
Naumowa: … zur Feststellung des faktischen Aufenthaltsorts des Verurteilten Nawalny hat die Strafvollzugsbehörde unter der Meldeadresse des Verurteilten nachgeforscht. Am 16.09.2020 und am 16.12.2020 haben Mitarbeiter im Rahmen der Besuche bei der Meldeadresse festgestellt, dass der Verurteilte zum Zeitpunkt der Überprüfungen nicht an der Meldeadresse anwesend war. Daher ist der Strafvollzugsbehörde der faktische Aufenthaltsort des Verurteilten Nawalny seit dem 24.09.2020 unbekannt. Mit der Anordnung der regionalen Strafvollzugsbehörde Moskaus vom 29.12.2020 wurde der Verurteilte Nawalny zur Fahndung ausgeschrieben.
Am 17.01.2021 [bei der Landung Nawalnys in Moskau – dek] wurde der Aufenthaltsort des Verurteilten festgestellt. Mitarbeiter der Moskauer FSIN-Behörde und Mitarbeiter der Polizei des Stadtkreises Chimki haben Nawalny für eine Frist von bis zu 48 Stunden festgenommen.
Naumowa beantragt beim Gericht, Nawalny für eine Frist von 30 Tagen zu inhaftieren. Die Richterin Morosowa zählt die im aktuellen Fall vorliegenden Unterlagen auf, während von draußen Rufe hereindringen.
Nawalny: Ich hab nicht verstanden, was die Polizeidirektorin von Chimiki mit all dem zu tun hat? Kann die Polizeidirektorin von Chimiki Sie in einer Anordnung darum bitten zu heiraten? Oder ein Gericht dazu verpflichten, dass dieses entscheiden möge, dass sie verheiratet werden? Was hat die Polizeidirektorin von Chimki damit zu tun?
Ich hab nicht verstanden, was die Polizeidirektorin von Chimiki mit all dem zu tun hat? Kann die Polizeidirektorin von Chimiki Sie in einer Anordnung darum bitten zu heiraten?
Es wurde ein Prozess angesetzt, es gibt die Strafvollzugsbehörde FSIN. Der FSIN glaubt, dass ich irgendwo nicht erschienen sei, der FSIN setzt eine Gerichtsverhandlung an. Ich bin ein auf Bewährung Verurteilter. In Ihren Unterlagen ist die Fahndungsausschreibung, da steht schwarz auf weiß, in Großbuchstaben, extra für die Staatsanwälte und Richter aus Chimki: „Eine verfahrenssichernde Maßnahme gibt es nicht.“ Und dann kommt die Polizeichefin von Chimki und sagt: „Kommt, wir inhaftieren ihn!“ Wie soll man das denn überhaupt verstehen?
Der Verfahrensweg ist wie folgt, so steht es schwarz auf weiß im Gesetz: „Der FSIN kann beantragen, eine Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe umzuwandeln.“ Und sie haben es beantragt. Es wurde ein Gerichtstermin festgelegt. Wenn die Polizei glaubt, dass ich festgenommen werden muss, dann kann sie mich für 48 Stunden festnehmen.
Wie kann sich (lacht) eine Polizeichefin von Chimki überhaupt in dieses System einmischen und meine Festnahme beantragen? Das ist doch lachhaft.
Anwältin Michailowa sagt, dass die Behördenleiterin sich auf drei Artikel des Strafgesetzbuches bezieht: Und zwar auf Artikel 46 über die Nichteinhaltung der Auflagen für gemeinnützige Arbeit, Artikel 397 über die Inhaftierung von Verurteilten, die sich Geldstrafen, Arbeiten oder Freiheitsbeschränkungen entzogen haben, und Artikel 399 [Strafvollstreckungsordnung – dek]. Keiner dieser Artikel sehe Freiheitsstrafen von 30 Tagen für Verurteilte während der Bewährungszeit vor.
Michailowa: Außerdem möchte ich das Gericht auf Folgendes aufmerksam machen. Erstens, Nawalny ist nicht untergetaucht. Er hat der Strafvollzugsbehörde mitgeteilt, dass er in Deutschland in ärztlicher Behandlung ist, ein ärztliches Attest der Charité wurde vorgelegt, und dieses befindet sich, soweit ich weiß, in den Unterlagen …
Kobsew: Es ist nicht in den Unterlagen. Wir verweisen darauf in unserer Stellungnahme.
Michailowa: Leider ist bei dieser Gerichtssitzung kein Vertreter des Strafvollzugsdienstes FSIN anwesend, der uns aufklären könnte. Ich denke selbstverständlich, dass das nicht richtig ist – man hätte auch einen Vertreter des Strafvollzugsdienstes zu dieser Gerichtsverhandlung laden müssen. Der FSIN wurde darüber informiert, wo Nawalny sich aufhält, dass er sich nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in ambulanter Behandlung befindet und von Ärzten der Charité beobachtet wird. Diese Dokumente sind einsehbar in den Unterlagen, die dem Simonowski-Gericht vorgelegt wurden, wo eine Anhörung für den 29. Januar anberaumt wurde [diese wurde inzwischen auf den 2. Februar verschoben – dek]. Da die Frage der Umwandlung der Bewährungsstrafe in eine Gefängnisstrafe bei dieser Gerichtssitzung am 29. Januar verhandelt wird, entspricht die jetzige Verhandlung wiederum nicht dem Gesetz.
Wir haben eine Bescheinigung, die wir ganz kürzlich von der Charité erhalten haben. Da die Gerichtsverhandlung so notfallmäßig anberaumt wurde, hatten wir leider keine Zeit, diese Bescheinigung ins Russische übersetzen zu lassen. Sie ist auf den 15. Januar datiert, ich bitte, sie der Akte beizufügen. Daraus geht hervor, dass Nawalny in der Charité behandelt wurde, dann unterzog er sich einer Reha, und diese endete am 15. Januar.
Michailowa führt an, dass Nawalny auf Russlands Ersuchen hin im Rahmen einer Übereinkunft für Rechtshilfe in Deutschland vernommen wurde. In dem Ersuchen wurde Nawalnys Adresse in Deutschland angegeben, was bedeutet, dass die russischen Behörden wussten, wo sie ihn finden konnten. Am 20. Januar 2021 ist für den Politiker ein Gerichtstermin angesetzt, im Fall einer Verleumdungsklage; die Gerichtsvorladung dafür wurde an Nawalnys deutsche Adresse geschickt. An diese Adresse schickte auch das Bezirksgericht Simonowski der Stadt Moskau seine Vorladung an Nawalny.
Als Michailowa fertig ist, listet der Richter die Dokumente und Anträge auf und fragt, ob alle mit der Zulassung der Bescheinigung in deutscher Sprache einverstanden sind. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft erhebt Einspruch, da „Gerichtsverfahren in der Russischen Föderation auf Russisch geführt werden“, der Richter lehnt [die Zulassung] ab.
Kobsew: Ich unterstütze die Position von Alexej Anatoljewitsch und meiner Kollegin. Ich bin auch deshalb der Meinung, dass dem Antrag der Polizeichefin von Chimki nicht stattzugeben ist, weil Nawalny – wie gesagt – vom Zeitpunkt seiner Vergiftung bis zu seiner gestrigen Rückkehr nicht zur Inspektion erschienen ist. Und aus hinreichendem Grund. Damit gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, seine Bewährungs- in eine Haftstrafe umzuwandeln. Insofern als zudem alle staatlichen Stellen sehr wohl über Nawalnys Wohnsitz in Deutschland Bescheid wussten … Eine Person zur Fahndung auszuschreiben ist nur möglich, wenn der Aufenthaltsort der Person nicht bekannt ist. In diesem Fall war der Aufenthaltsort bekannt. Wenn der Aufenthaltsort festgestellt ist, es aber nicht möglich ist, die Person zu vernehmen, ist dies kein Grund, sie zur Fahndung auszuschreiben. Genau aus diesem Grund hat Nawalny gezielt Eingaben sowohl beim Gericht als auch bei der Strafvollzugsbehörde gemacht, wo er seine Adresse in Berlin angab. Deshalb wurde er unrechtmäßig auf die Fahndungsliste gesetzt.
Kobsew führt die Erklärung des Obersten Gerichtshofs an, dass es möglich ist, eine Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe zu verwandeln, wenn Verstöße gegen Auflagen vor Ablauf der Bewährungszeit begangen wurden oder wenn sich herausstellt, dass der Verurteilte untergetaucht ist. Nawalny sei jedoch aus einem triftigen Grund nicht zur Strafvollzugsbehörde erschienen und habe keine Verstöße begangen. Nach Kobsews Rede steht die Vertreterin der Staatsanwaltschaft Koloskowa auf und ersucht, dem Antrag auf Verlängerung von Nawalnys Haftzeit stattzugeben. Die Richterin zieht sich unter Rufen von der Straße in den Beratungsraum zurück. Sie verspricht, in 15 Minuten zurück zu sein, kommt aber erst eine Stunde später wieder und verliest ihre Entscheidung: Nawalnys U-Haft wird auf 30 Tage verlängert.
Die Reaktionen auf die Eskalation im Kapitol sind in Westeuropa nahezu einhellig: Allenthalben ist hier die Feststellung „Angriff auf Demokratie“ zu vernehmen. Viele wähnen sich in einem schlechten Film, wenn sie die Bilder der von Trump angefeuerten Menge sehen, die das US-Parlament stürmt und die Abgeordneten in die Flucht treibt.
In Russland sind die Reaktionen anders: Das Land befindet sich kollektiv in den traditionell langen Neujahrsferien, heute feiern zahlreiche orthodoxe Kirchen außerdem Weihnachten. Während der Feierlichkeiten dringen nur wenige Kommentare zu den Unruhen im Kapitol an die Öffentlichkeit. Für Kommentatoren in staatsnahen Medien scheinen sie aber ein gefundenes Fressen zu sein. dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in russischen Medien.
Rosbalt: Wie in Kirgistan?
Bei den Bildern aus dem Kapitol fühlen sich viele Kommentatoren in Russland an Ereignisse aus Nachbarländern erinnert – hier Jewgeni Jewdokimow auf dem unabhängigen Nachrichtenportal Rosbalt.
[bilingbox]Der Ablauf der Ereignisse erinnert an das klassische Szenario einer Farbrevolution in einem Dritte-Welt-Land. Aggressive Anhänger des unterlegenen Kandidaten sind unzufrieden mit dem Wahlausgang und ziehen zum Sturm auf das Parlament – etwas sehr Ähnliches ist Anfang Oktober in Kirgistan passiert.
Doch nun geht es um eine führende Weltmacht in militärisch-politischer wie auch wirtschaftlicher Hinsicht.~~~Такой ход событий напоминает стандартный сценарий «цветной революции» в странах третьего мира. Агрессивные сторонники проигравшего кандидата, недовольные исходом выборов, идут на штурм парламента — что-то очень похожее в начале октября происходило в Киргизии.
Однако на этот раз речь идет о ведущей державе мира, как в военно-политической, так и в экономической сферах.[/bilingbox]
Farbrevolutionen sind nach Kreml-Lesart meist aus dem Ausland – allen voran von den USA – gesteuert. Nach Ansicht von Leonid Sluzki, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, rächt sich das nun.
[bilingbox]Der Bumerang der Farbrevolutionen fliegt offensichtlich zurück in die USA. Das alles droht zu einer Jahrhundertkrise des amerikanischen Regierungssystems zu werden.~~~Бумеранг „цветных революций“, как мы видим, возвращается в США. Все это грозит обернуться кризисом американской системы власти в новом столетии.[/bilingbox]
In der offiziellen Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta, kommentiert Konstantin Kossatschow, Vorsitzender des auswärtigen Ausschusses im russischen Föderationsrat, und zieht einen Vergleich zum Maidan in der Ukraine.
[bilingbox]Das Fest der Demokratie ist vorbei.
O weh, das ist wirklich ein Tiefpunkt, und das sage ich ohne Schadenfreude. Amerika gibt nicht mehr den Kurs vor – und hat mithin auch jegliches Recht dazu verloren, den Kurs vorzugeben oder ihn gar anderen aufzuzwingen.
Zu guter Letzt kann ich mir eine Frage an Frau Nuland nicht verkneifen, die nun wieder ins Außenministerium einzieht, und ihre damaligen Kuratoren des Maidan-Projekts, die jetzt wieder an die Macht kommen. Was würden sie Leuten sagen, die Kekse verteilen an die Krawallmacher auf den Stufen des nationalen Parlaments? „Das Volk hat immer Recht“? „Es lebe die Demokratie“? „Weg mit den Usurpatoren“? Tja …~~~Праздник демократии закончился.
Это, увы, на самом деле дно, говорю это без тени злорадства. Америка более не прокладывает курс, а следовательно – утратила все права его задавать. И тем более навязывать другим.
А напоследок, не удержусь – вопрос госпоже Нуланд, возвращающейся в Госдеп США, и ее тогдашним кураторам майданного проекта, возвращающимся в президентскую власть. Что бы они сказали сейчас тем, кто собрался бы раздавать печеньки толпам бузотеров на подступах к национальному парламенту? „Народ всегда прав“? „Да здравствует демократия“? „Долой узурпаторов?“ Ну-ну.[/bilingbox]
Facebook/Sergej Medwedew: Geschenk für die Propaganda
Der Politologe Sergej Medwedew zeigt sich auf seiner Facebook-Seite betroffen – und sieht in den Ereignissen ein Geschenk für die Kreml-Medien.
[bilingbox]Keep America Great? Diese Präsidentschaft konnte nicht einfach so enden, mit einer friedlichen Regierungsübergabe. Das, was als böse Clownerie begann, endet mit dem Versuch eines Umsturzes – eigentlich müssten Trump, der den Mob zum Kapitol geschickt hat, Impeachment und Gerichtsverfahren erwarten. Ich kann mir jedoch kaum vorstellen, wie seine 70 Millionen Wähler damit zurechtkommen werden, die durch Propaganda, Soziale Medien und Verschwörungstheorien angeheizt sind – das alles in einem ausgeprägten Föderalismus und mit zig Millionen Waffen, die im Umlauf sind. Für den 20. Januar ist schon ein Marsch auf Washington angekündigt – der Tag der Vereidigung des neuen Präsidenten wird ein wahrer Test für die Regierung. Voller Schmerz schaue ich auf Amerika am Rande eines Bürgerkriegs. Und die Kreml-Propaganda frohlockt – was für ein schönes Weihnachtsgeschenk. Hat jemand gedacht, das alles würde mit dem Jahr 2020 enden? Herzlich willkommen im Jahr 2021! ~~~Keep America Great? Это президентство не могло закончиться просто так, мирной передачей власти. То, что началось, как злая клоунада, заканчивается попыткой государственного переворота — по-хорошему, Трампа, пославшего толпу на Капитолий, должен ждать импичмент и суд. Но мне сложно представить, как с этим смирятся 70 миллионов его избирателей, воспаленных пропагандой, соцсетями, теориями заговора — при наличии сильного федерализма и десятков миллионов единиц оружия. Уже объявлен марш на Вашингтон 20 января — и реальном тестом для власти может стать день инаугурации. С болью смотрю на Америку на грани гражданской войны. А кремлевская пропаганда ликует — такой подарок на рождество. Кто-то думал, что все это закончится в 2020 году? Добро пожаловать в 2021й.[/bilingbox]
Ganz nüchtern klingt auf den ersten Blick der Kommentar von Margarita Simonjan. Doch in dem Tweet der Chefredakteurin von Russia Today – ihre erste Reaktion zum Thema überhaupt – erkennen andere Nutzer auch Spott und Hohn.
[bilingbox]Ich möchte die Gelegenheit nutzen und den Bürgern der USA zum orthodoxen Weihnachtsfest gratulieren.~~~Пользуясь случаем, поздравляю граждан США с православным Рождеством.[/bilingbox]
Dimitri Trawin warnt vor einer Überbewertung der Ereignisse: Das was in den USA passiert, ist halb so wild, glaubt der Wirtschaftswissenschaftler und Journalist – und vergleicht den Fall mit Belarus.
[bilingbox]Stellen wir uns vor, dass die gestrigen Ereignisse nicht in Washington, sondern in der Hauptstadt irgendeiner Bananenrepublik stattgefunden haben. Ein Typ mit Hörnern bricht in das örtliche Kapitol ein, während die Polizei Siesta hält. Ein anderer Typ klettert die Wand hoch, entweder mit Anlauf oder aus Schreck. Wie würden sie das bewerten? Wahrscheinlich als eine alberne Clownerie, die man belächeln kann, aber nicht mehr. […]
In jedem Land gibt es Freaks mit einem Hang zum Schockieren und Provozieren. […] Und nur selten kann ein Clown ernsthafte Veränderungen herbeiführen, wie es in Italien mit Beppe Grillo der Fall war.
Der Unterschied zwischen Aktionen einer Gruppe von Freaks und einer ernsthaften demokratischen Bewegung zeigt sich deutlich an den jüngsten Ereignissen in Belarus: Die Belarussen haben zwar verloren, aber […] der starke friedliche Protest in verschiedenen Städten dieses kleinen Landes hat gezeigt, dass ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft eine andere politische Ordnung will. In Amerika gibt es keine Spur von so etwas: Was auch immer für Krawallmacher auf den Straßen oder innerhalb der Mauern des Kapitols auftauchen, die Gesellschaft als Ganzes ist mit dem demokratischen System, in dem man Trump gegen Biden oder Republikaner gegen Demokraten austauschen kann, durchaus zufrieden.~~~Представим себе, что вчерашние события стряслись не в Вашингтоне, а в столице какой-нибудь банановой республики. Мужик с рогами влез в местный Капитолий, пока полиция была на сиесте. Другой мужик забрался на стенку: то ли с разбега, то ли с перепуга. Как бы мы к этому отнеслись? Наверное, как к дурацкой клоунаде, которой можно уделить для смеха немного внимания, но не более того. […] В любой стране есть маргиналы, склонные к эпатажу. […] И лишь изредка клоун может спровоцировать серьезные перемены, как это было в Италии с Беппе Грилло. Различие между акцией кучки маргиналов и серьезным демократическим движением хорошо видно по недавним событиям в Беларуси. Белорусы проиграли, но […] мощный мирный протест в разных городах этой маленькой страны показал, что значительная часть общества хочет иного политического режима. В Америке ничего подобного нет. Какие бы погромщики не появлялись на улицах или в стенах Капитолия, общество в целом вполне удовлетворено демократической системой, при которой можно свободно менять Трампа на Байдена или республиканцев в целом на демократов.[/bilingbox]
Vom „Blockbuster“ und „Gulfik-Gate“ (dt. Unterhosen-Gate) schreiben unabhängige russische Medien, nachdem der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny am Montag, 21. Dezember, seinen jüngsten Coup gelandet hat: Ich rief meinen Mörder an. Er hat gestanden lautet der Titel seines aktuellen Videos. Darin ist zu sehen, wie Nawalny mehrere der acht FSB-Agenten anruft, die mutmaßlich hinter dem Anschlag auf ihn stehen. Zunächst legen einige von ihnen wieder auf, bis sich Konstantin Kudrjawzew, ein Chemiker im Dienst des FSB, schließlich tatsächlich auf das Gespräch einlässt. Nawalny gibt sich dabei als Mitarbeiter von Nikolaj Patruschew aus, dem Chef des Russischen Sicherheitsrats. In dem rund 49-minütigen Telefonat sagt Kudrjawzew unter anderem, dass das Gift an der Innenseite von Nawalnys Unterhose angebracht worden sei, und auch, dass der Oppositionspolitiker wohl nur überlebt habe, weil das Flugzeug zwischengelandet und sofort ein Krankenwagen vor Ort gewesen sei. Das Gespräch, bei dem unter anderem auch Bellingcat-Chefredakteur Christo Grozew dabei war, war bereits Mitte Dezember aufgezeichnet worden – als die Recherchen zu den acht FSB-Mitarbeitern von The Insider, Bellingcat und Der Spiegel veröffentlicht wurden. Online ging das Video jedoch erst am 21. Dezember. Auf seiner Jahrespressekonferenz vergangene Woche hatte Präsident Putin noch jede Beteiligung des FSB an dem Mordversuch abgestritten: „Wenn man das gewollt hätte, dann hätte man es auch zu Ende geführt.“ Der FSB beeilte sich nun, das Video als „Fälschung“ und Provokation westlicher Geheimdienste darzustellen. Unterdessen ließen im RUnet Spott und Häme nicht lange auf sich warten, unter anderem gingen zahlreiche Unterhosen-Memes viral. Im US-Kongress soll sich womöglich ein Unterausschuss mit dem Fall befassen, ein US-Abgeordneter kündigte eine Anhörung an.
In einem viel beachteten Facebook-Post beschreibt der Politologe und Journalist Kirill Rogow, was das Nawalny-Video für den „Mythos Geheimdienst“ bedeutet – und damit für den „Mythos Putin“.
Der Mythos vom KGB/FSB hat sowohl die Kommunistische Partei als auch die Sowjetunion überlebt. Geschaffen hat ihn Juri Andropow: Als selbst das gutgläubige Sowjetvolk nicht mehr an den Kommunismus glaubt und die Gerontokratie der Partei verachtet, wächst hinter der verfallenden Fassade der Schatten einer Struktur, die von dem allgemeinen Zerfall verschont bleibt, die wachsam den großen Staat vor den Attacken innerer und äußerer Feinde schützt. Eine Struktur, die weiß, was andere nicht wissen, und über Qualitäten verfügt, die keine andere Struktur hierzulande hat: Effektivität und innere Ordnung.
Dieser Mythos hat im Laufe der Geschichte empfindliche Kratzer abbekommen. Etwa beim Augustputsch 1991, als anstelle der unfehlbaren, mächtigen Maschinerie eine gewaltige Leere klaffte. Einige Jahre später waren die Bürger Russlands müde von der Korruption und dem Chaos, das ihnen die junge Demokratie brachte (und das jungen Demokratien insgesamt innewohnt). Da erinnerten sich die Menschen daran, dass da doch irgendwo diese geheime Organisation existiert, die auf wundersame Weise erhalten blieb zwischen Enteignungen und Privatisierungen und nach wie vor über jene Qualitäten verfügt, die keine andere ihnen bekannte nicht-geheime Struktur hierzulande hat: Uneigennützigkeit, Effektivität, innere Ordnung, Gerechtigkeit und Informiertheit.
Kratzer im Mythos
Wladimir Putin wurde zum Hauptprofiteur dieses wiederbelebten Mythos, dieses Traums. Genauer gesagt wurde er zu dessen schauspielerisch talentiertem Restaurator. Denn ein unvoreingenommener Blick auf seine Karriere offenbart gleich etwas Banales: Sie war nicht sonderlich erfolgreich. Sowohl die Arbeit im Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft als auch die Tätigkeit als KGB-Mann in der Rolle des Prorektors der Leningrader Universität – das sind ziemlich magere Randposten innerhalb des weltbekannten allmächtigen Dienstes der Ordnung und Wahrheit. Obwohl er diesem Verein gleich nach dem Ende der UdSSR leichtfertig den Rücken kehrte, verstand es Wladimir Putin meisterhaft, den Mythos dieser geheimen Macht plastisch und feinfühlig zu vermitteln – den „Mythos KGB“, eines effektiven, uneigennützigen, informierten und dem Staat verpflichteten Dienstes, eine Struktur, die so anders ist als alle anderen hierzulande. Genau deswegen hegte das russische Volk so lange eine solch erstaunliche Ergebenheit für Putin. Wenn das Volk auf ihn schaute, dachte es: „Was, wenn eine solche Struktur tatsächlich irgendwo hierzulande existiert? Natürlich ganz geheim, denn die nicht-geheimen kennen wir nur allzu gut, aber die geheime … vielleicht gibt es die wirklich?“
Kleinkriminelle Witzfiguren
Dieser kurze Exkurs in die Geschichte des russischen Durchschnittswählers und seine Erwartungen an die Institutionen macht deutlich, welch einen Schlag der nicht-zu-Ende-ermordete Nawalny dem putinschen Hauptmythos verpasst. Alles Geheime wird konkret, und nun zeigt sich dieser bewunderte Dienst in Person irgendwelcher Knechte aus der Platte von nebenan. Kleinkriminelle Witzfiguren, die losgezogen sind, um den Eingriff von Nawalnys Unterhose mit Nowitschok einzureiben und es später dann wieder aus dem Eingriff von Nawalnys Unterhose auszuwaschen. Und es stellt sich heraus, dass sie weder das eine noch das andere richtig gemacht haben, was grob gesagt bedeutet, dass dieser krasse Geheimdienst nicht nur das Zentrum stupider und sinnloser Grausamkeiten ist, sondern auch das Zentrum von monströser Ineffektivität, Ungerechtigkeit und Unordnung.
Ein Geschmäckle bleibt
All das wird unser Durchschnittswähler natürlich nicht glauben: „Wenn sie ihn hätten töten wollen, dann hätten sie ihn getötet“, Nawalny hätte das alles nicht ohne Tipps von [ausländischen] Geheimdiensten wissen können, und so weiter. Und dennoch bleibt ein recht starkes Geschmäckle. Denn gleich neben dem Glauben an die geheime Superorganisation, die den Durchschnittswähler so lange an Putin glauben ließ, lebt in seiner Seele auch die Ahnung von der totalen Niedertracht der Behörden, von der Ineffektivität und mafiösen Korruption, von all dem, worüber Nawalny in seinen brillanten Ermittlungen so überzeugend berichtet.
Putins große Jahrespressekonferenz fand am gestrigen Donnerstag, 17. Dezember 2020, online statt, mit nur wenigen Journalisten vor Ort – wegen Corona. Aus seiner Residenz in Nowo-Ogarjowo heraus sprach der Präsident zu unterschiedlichen Themen, lobte etwa die Corona-Strategie der russischen Regierung und zeigte sich verhalten erwartungsvoll, was die russisch-amerikanischen Beziehungen unter Biden betrifft. Mit besonderer Spannung war jedoch erwartet worden, was der russische Präsident zur Vergiftung Nawalnys sagen würde. Erst kurz vorher hatte ein internationales Recherchenetzwerk, unter anderem mit The Insider und Bellingcat, berichtet, dass es acht FSB-Mitarbeiter gewesen seien, die Nawalny vergiftet und außerdem bereits jahrelang beschattet hätten. Das Video, das Nawalny daraufhin ins Netz stellte, hat bereits rund 15 Millionen Aufrufe.
Putin wies alle Anschuldigungen zurück: „Wer ist er schon?“, sagte er über Russlands bekanntesten Oppositionspolitiker. „Wenn man das [Nawalny ermorden – dek] gewollt hätte, dann hätte man es auch zu Ende geführt.“ Die Informationen der Journalisten stammten eindeutig von US-amerikanischen Geheimdiensten, so Putin weiter, es gehe darum, Russland damit anzugreifen.
Beweis für die Unschuld des Kreml? Oder einfach erwartbare Strategie? Der renommierte Politologe Sergej Medwedew jedenfalls hat eine ähnliche Reaktion vorausgesagt – und beschreibt, warum sich nichts ändern wird:
[bilingbox]Fürs Protokoll: Die Vergiftung von Nawalny ist scheußlich. Die Recherche einfach ein Traum – Respekt vor allen Mitwirkenden, und doppelt Respekt für den Mut von Roman Dobrochotow, der zudem noch in Russland geblieben ist. Der FSB ist urkomisch (wie auch all seine früheren Inkarnationen) – am liebsten würde man die Coen-Brüder einen Film über ihn drehen lassen. Und trotzdem möchte man fragen: So what? Was haben wir denn Neues erfahren? Dass sie Nawalny auslöschen wollten? Dass der FSB dahinter stand? Dass aus der bedrohlichen Organisation von einst eine kriminellen Bude geworden ist? Mich wundert, dass meine Kollegen und lieben Freunde schon zwei Tage lang schreiben, dass „ein neuer Tiefpunkt erreicht ist“ und „die Welt nicht mehr so sein wird wie vorher“, dass das mehr ist, als die Skripals und die Boeing und dass der Kreml sich von diesen Enthüllungen nicht erholen wird. Really? Da kommt einem plötzlich der freundliche Captain Renault aus Casablanca in den Sinn, wie er im Restaurant Rika wütend ruft: „I'm shocked, shocked to find that gambling is going on in here!“
Die traurige Wahrheit ist, dass diese Recherche – so exzellent sie auch ist – nichts ändern wird: nicht in Russland und erst recht nicht im Westen. Die, die den Machthabern nicht glauben, fühlen sich in diesem Unglauben bestätigt – auch wenn diese Recherchen nicht nur das traditionelle Nawalny-Publikum betreffen. Für die meisten Russen wird es eine „undurchsichtige Sache“ bleiben und einе „Attacke im Informationskrieg“ – sie sind zu apathisch, gleichgültig und konformistisch und werden im Neujahrstrubel nicht darauf reagieren. So, wie sie auch schon auf die Vergiftung selbst nicht reagiert haben oder auf die Selbstverbrennung der Journalistin Irina Slawina.
Die Menschen sterben bei uns zu Tausenden an Covid still vor sich hin, was ist da schon eine Vergiftung. Für den Westen ist es eine innere russische Angelegenheit – anders als bei der Boeing, wo 298 ausländische Staatsbürger gestorben sind, und anders als bei den Skripals, wo Russland chemische Waffen auf dem Territorium eines NATO-Mitglieds einsetzte. Neue Sanktionen wird es nicht geben, denn der Kreml hat längst alle roten Linien überschritten und praktisch einen Freibrief bekommen, innerhalb der Grenzen der ehemaligen UdSSR (außer anscheinend dem Baltikum) alles zu tun, was er will. Bei Russland winkt man nur noch ab, man hat ja auch genug eigene Probleme. Und so wird der Kreml weiterhin mantraartig „Provokation“ und „Ihr-lügt-doch-alle“ herunterspulen und einen dabei weiter mit starren Fischaugen anglotzen.
Was den Tiefpunkt angeht: Hier gibt es keinen Tiefpunkt, es ist der freie Fall ins Bodenlose. Wer wird Russland aufhalten, wer traut sich überhaupt, einem Land mit Atomwaffen etwas zu sagen?
Also noch einmal: Riesenrespekt an die Kollegen, volle Unterstützung für Alexej – doch die Welt bleibt dieselbe, und Russland wird seinen freien Fall ins Bodenlose fortsetzen.~~~For the record. Отравление Навального чудовищно. Расследование феерично — респект всем, кто его проводил, и дважды респект за смелость Роман Доброхотов, который остается при этом в России. ФСБ комична (как и все их предыдущие инкарнации, Бошировы и Луговые) — больше всего хочется, чтобы про них сняли кино братья Коэны. […] И все же хочется спросить: but so what? Что нового мы узнали? Что Навального хотели уничтожить? Что за этим стояла ФСБ? Что некогда грозная организация превратилась в криминальный балаган? И меня удивляют коллеги и добрые друзья, которые уже вторые сутки пишут, что "пробито новое дно" и "мир никогда не будет прежним", что это больше, чем Скрипали и Боинг и Кремль не оправится от этого разоблачения. Really? Вспоминается милейший капитан Рено из "Касабланки", гневно восклицающий в ресторане Рика: I'm shocked, shocked to find that gambling is going on in here! Печальный факт состоит в том, что это расследование, сколько бы блестящим оно ни было, ничего не поменяет — ни в России, ни тем более на Западе. Те, кто не верит власти, укрепятся в своем неверии, даже если это расследование выйдет за пределы традиционной аудитории Навального. Для большинства россиян это будет "мутное дело" и "атака в информационной войне" — они слишком апатичны, безразличны и конформны и не отреагируют на это в новогодней суете, как не отреагировали на само отравление Алексея или на самосожжение Славиной. У нас люди молча тысячами умирают от ковида, какое там отравление. Для Запада это внутреннее дело России — в отличие от Боинга, где погибли 298 иностранных граждан, и от Скрипалей, где Россия применила химоружие на территории члена НАТО. Ни к каким новым санкциям это не приведет, Кремль уже давно перешел все красные линии и практически получил карт-бланш на любые действия в границах бывшего СССР (кроме, видимо, Балтии), на Россию махнули рукой, своих проблем хватает. И власть будет все так же привычно талдычить "провокация" и "всевыврети", глядя немигающими рыбьими глазами. А дно — дна здесь нет в принципе, это свободное падение в пустоте, […] кто посмеет что-либо сказать стране с ядерным оружием? Так что еще раз: огромный респект коллегам, лучи поддержки Алексею — но мир останется прежним, […] и Россия продолжит свой полет в пустоту.[/bilingbox]