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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Great Firewall of Russia?

    Great Firewall of Russia?

    Nach der Wahl ist vor der Wahl. Die offiziellen Hochrechnungen nach der Dumawahl 2021 sind wenig überraschend: Demnach erhielt die Regierungspartei Einiges Russland rund 50 Prozent der Stimmen bei der Listenwahl und 88 Prozent der Direktmandate, die kommunistische KPRF liegt mit rund 20 und vier Prozent auf Platz 2 dahinter. 

    Der Wahl ging eine massive Unterdrückung der Opposition voraus – vor allem seit den Solidaritätsprotesten für den inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Frühjahr 2021. Im Vorfeld der Wahl hatten etwa die internationalen IT-Unternehmen Apple und Google Nawalnys App für das „kluge Wählen“ für User des Runet gelöscht – dem war unter anderem vorausgegangen, dass Strafverfahren gegen das Personal der beiden Techgiganten in Russland angedroht wurden. 

    Allein aufgrund der Tatsache, dass die Wahl über drei Tage abgehalten wurde und in sieben Regionen auch online abgestimmt werden konnte, war die Beobachtung sehr schwierig (s. dazu unser FAQ zur Dumawahl). Die unabhängige Wahlbeobachtungs-NGO Golos (die als sogenannter „ausländischer Agent“ gelistet ist) berichtet von knapp 2000 Beschwerden allein am Sonntag, dem dritten Wahltag. Zudem seien viele der Wählerinnen und Wähler sogenannte Bjudshetniki, also Mitarbeiter staatlicher oder staatsnaher Institutionen und Unternehmen, die vom Arbeitgeber zur Wahl gedrängt werden. Ähnliche Berichte finden sich in zahlreichen unabhängigen russischen, aber auch deutschen Medien (ausführlich zur Wahl etwa Spiegel Online). 

    Nach der Wahl ist vor der Wahl? Vor allem habe die Dumawahl 2021 gezeigt, welch große Rolle das Internet inzwischen spielt – und wie massiv die Überwachung und Zensur inzwischen sind, meint Kirill Martynow in der Novaya Gazeta. Er sieht die Dumawahl 2021 als massiven Einschnitt – nämlich als Beginn eines „chinesischen Szenarios“ in Russland.

    (Eine Fußnote: Die Novaya Gazeta selbst wurde am Sonntag Opfer heftiger DDoS-Attacken, die Seite war lange Zeit nicht aufrufbar.)

    In der Nacht auf den 16. September geschah etwas Historisches im russischen Internet (Runet): Große Provider fingen mit einem Mal an, GoogleDocs zu blockieren, eines der in Russland meistgenutzten Werkzeuge für die Arbeit mit Dokumenten. Millionen von Menschen in modernen Tätigkeitsfeldern – vom Marketing bis zur Bildungsbranche – nutzen es. Das Vergehen von Google bestand darin, dass Nawalnys Anhänger auf eben dieser Plattform die Liste zum „klugen Wählen“ veröffentlicht hatten: Empfehlungen zur Protestwahl.

    Ein Gesetz, das der Staatsmacht die Grundlage einer solchen Sperrung liefern würde, gibt es nicht, doch das beunruhigt unterdessen niemanden mehr: Im Land wurde de-facto der Ausnahmezustand ausgerufen, der darauf abzielt, im Netz sämtliche Hinweise auf die politische Tätigkeit Nawalnys zu zensieren. 

    Zusammen mit Empfehlungen der Regierung an russische Internetanbieter, große DNS-Dienste nicht mehr zu nutzen, wirkt der Zuwachs an „Souveränität” im Runet wahrlich beeindruckend: Das Sperren von GoogleDocs war einerseits Angstmache und gleichzeitig eine Demonstration der neuen [Filter-]Fähigkeiten mittels Deep Traffic Inspection (DPI) der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor.

    Im Land wurde de-facto der Ausnahmezustand ausgerufen, der darauf abzielt, im Netz sämtliche Hinweise auf die politische Tätigkeit Nawalnys zu zensieren

    Den gesamten GoogleDocs-Content wegen eines einzigen Dokuments zu sperren – das ist eindeutig konträr zur Ideologie des modernen Internet, wo Unternehmen ihren Nutzern ermöglichen, von verschiedenen Orten aus gemeinsam an Projekten zu arbeiten. Dieses besondere Feature der Plattform, Materialien einer unbegrenzten Menge von Nutzern zur Verfügung zu stellen, mussten die Anhänger Nawalnys nutzen, nachdem Roskomnadsor auf Googles Web-App-Plattform appspot.com den Zugang zu ihrer Seite gesperrt hatte.

    Über die Sperrungen des Roskomnadsor wurde eigentlich immer gelacht, aber was die Politik für die Massen angeht, sind sie wirkungsvoll: Der Durchschnittsnutzer versteht vielleicht einfach nicht, wo er trotz des Sperrens ganzer Sektoren wichtige Informationen finden und wie der das Internet so nutzen kann, dass er diese Sperren umschifft.

    Illustration © Pjotr Saruchanow/Novaya Gazeta
    Illustration © Pjotr Saruchanow/Novaya Gazeta

    Der massive Funktionsausfall von GoogleDocs hat durchaus für Unmut gesorgt. Wie auch immer, noch am selben Tag wurde der Versuch, GoogleDocs stillzulegen, abgebrochen – der Dienst ist momentan ohne VPN verfügbar.

    Parallel zu diesen Ereignissen fand eine Sitzung der Kommission des Föderationsrates zum Schutz der staatlichen Souveränität statt, an der auch Vertreter von Google und Apple teilnahmen. Die Veröffentlichung russischer Wahlinformationen auf internationalen Websites wurde von Parlamentariern rund um den berüchtigten Andrej Klimow als „ausländische Wahleinmischung” bezeichnet, und die US-Unternehmen wurden aufgefordert, für den Kreml sensible Informationen über das „kluge Wählen” für Nutzer zu sperren. 

    Wenn Sie darauf gewartet haben, wann das chinesische Szenario im Runet eintritt: Es hat begonnen

    Die US-amerikanischen IT-Giganten waren und blieben während der letzten Jahre die wichtigsten Institutionen der freien Meinungsäußerung in Russland – es entsprach einfach ihren kommerziellen Interessen. Diesmal jedoch verliefen die Verhandlungen der Kommission erfolgreich: Google löschte die Nawalny-App aus seinem Store, Apple tat das gleiche und entfernte in Russland außerdem sein eigenes VPN-Pendant Private Relay, eine Funktion, mit der sich Roskomnadsor-Sperren umgehen lassen. Letzteres ist symbolisch bedeutsam: Zuvor hatte der Konzern Private Relay bereits für Nutzer in China entfernt.

    Wenn Sie darauf gewartet haben, wann das chinesische Szenario im Runet eintritt: Es hat begonnen. Für die Großkonzerne ist es in totalitären Ländern zu gefährlich, auf Seiten der Nutzer zu sein, darum schränken sie dort die Funktionalität ihrer Produkte ein. 

    Laut der New York Times hat Google die Nawalny-App unter direkter Androhung von strafrechtlichen Verfahren gegen Google-Mitarbeiter in Russland aus seinem Play Store gelöscht. In dem Fall hat der Staat faktisch Vertreter des Unternehmens als Geiseln genommen – was dazu führen könnte, dass Google in Zukunft seine Präsenz in Russland auf ein Minimum reduziert. 

    „Etwas Größeres retten“ – nämlich den russischen Markt 

    Google ist auch noch in ganz anderer Hinsicht von der russischen Staatsmacht abhängig: Über ganz Russland sind Server der Infrastruktur Google Global Cache verteilt, welche unter anderem dafür sorgen, dass YouTube-Nutzer Videos ohne Verzögerung und in bester Qualität schauen können.  

    Der Versuch, mit der Regierung einen Kompromiss zu schließen, könnte für Google und Apple bedeuten, „dadurch etwas Größeres zu retten” – nämlich den russischen Markt (wir erinnern uns, dass Google den chinesischen Markt verlassen musste, jedoch eine Rückkehr versuchte). In diesem Sinne ist der Verlust einer konkreten App nicht so schlimm, denn die Nutzer hatten ja andere Möglichkeiten, um an die sie interessierenden Informationen zu kommen.

    Doch der Präzedenzfall ist geschaffen. Indem die amerikanischen Konzerne begonnen haben, das Krokodil aus der Hand zu füttern, werfen sie sich ihm allmählich in Gänze zum Fraß vor, wie es scheint. Am 18. September, dem zweiten Wahltag, veröffentlichte Nawalnys Team ein Schreiben von Google, in dem das Unternehmen fordert, Dokumente [mit Wahlempfehlungen – dek] zum „klugen Wählen“ zu löschen, wegen einer offiziellen Anfrage des Roskomnadsor. Unser lustiges Runet, in dem man die Obrigkeit beschimpfen konnte (weil sie dort nicht unterwegs ist), steht vor dem Aus.  

    Et tu, Telegram?

    Dass die amerikanischen Konzerne mit dem Kreml kooperieren, war für viele wohl keine große Überraschung (schließlich gilt: Business ist Business). Doch was viele russische Nutzer mitten ins Herz traf, war Pawel Durows Entscheidung, in der Nacht auf den 18. September den Telegram-Bot zum „klugen Wählen“ zu sperren. Seit 2018 wahrte sich Telegram den Ruf, eine Art libertäres U-Boot zu sein, das tapfer den Angriffen der Staatszensur ausweicht in den neutralen Gewässern der Netzprotokolle.    

    Das blinde Vertrauen gegenüber Durow ist ein interessantes Forschungsobjekt für Psychologen. Telegram ist ein höchst verschlossenes Business mit Investoren aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und aus Russland. Die Server des Projektes laufen auf proprietärem Code, der potentiell beliebige Backdoors und Sicherheitslücken beinhalten könnte. Institutionell sind das sehr schlechte Ausgangsbedingungen, um Telegram überhaupt irgendeine sensible Information anzuvertrauen.

    Außerdem sind die Pläne zur Monetarisierung von Durows Unternehmen gescheitert. Also wird es möglicherweise nicht nur durch die Peitsche des Kreml eingeschüchtert (es besteht kein Zweifel daran, dass die neuen Möglichkeiten von Roskomnadsor Telegram das Leben schwer machen könnten), sondern es wird vielleicht auch durch das Zuckerbrot des Kreml gelockt: Durow hat bereits Erfahrung mit dem Verkauf von VKontakte an Staatsoligarchen, nun hat er gezeigt, dass er wieder in Kontakt mit den russischen Behörden steht und bereit ist, deren Forderungen zu erfüllen.

    Fairerweise muss man erwähnen, dass es bisher keine anderen Hinweise auf eine Zusammenarbeit zwischen Durow und dem Kreml oder den russischen Geheimdiensten gab. Sollten letztere tatsächlich direkten Zugriff auf die Messenger-Kommunikation von Telegram erhalten, würde dies sofort publik, weil sie als Beweismittel in Strafprozessen verwertet würde. Dies würde zum Niedergang von Durows Unternehmen auf den internationalen Märkten führen. 

    Vielleicht hat sich Durow noch nicht festgelegt, auf welcher Seite er steht, wenn er herzzerreißende Texte darüber schreibt, dass er den Bot für das „kluge Wählen“ gesperrt hat, weil in Russland vor der Wahl angeblich Tage der „Stille“ anbrechen (tatsächlich war das in diesem Jahr nicht der Fall) und dass für ihn „dieses Vorgehen legitim“ und „die Zukunft nebelig“ ist. Telegram legt seinen Status als Kämpfer für Meinungsfreiheit in Russland ab, und man kann mit den Menschen nur mitfühlen, die so an die „libertären Kräfte des Guten“ geglaubt hatten. 

    Zerstörung ganzer Ökosysteme von Apps

    Tatsächlich ist die Zukunft klar und sie ist bereits angebrochen. Das souveräne Runet ist mit der Dumawahl Wirklichkeit geworden und wir müssen nun damit leben. Hier sind alle Arten willkürlicher Sperren möglich, die sofortige Zerstörung ganzer Ökosysteme von Apps auf Geheiß von Behörden, – und die US-Konzerne liefern ein Rückzugsgefecht zum Schutz ihrer Geschäftsinteressen.
    Die westliche Presse wird Google unter Druck setzen, die Börsen werden die Bereitschaft des Unternehmens, den russischen Behörden zu helfen, wahrscheinlich auch nicht zu schätzen wissen.

    Der Schlüssel zur Zukunft liegt jedoch bei den russischen Bürgern, die dem Staat einen Schritt voraus sein und sich vor der Zensur schützen müssen. Junge Menschen posten dieser Tage die Listen des „klugen Wählens“ als Rezension des Videospiels Civilization V auf Steam oder als Fan-Fiction auf Ficbook.

    Der aktuelle Slogan lautet: Proletarier, hier ist dein VPN, nächster Halt ist das dezentralisierte Web.

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  • „Dieser Status ist wie eine schwere Krankheit“

    „Dieser Status ist wie eine schwere Krankheit“

    Die Nachricht kam freitags, Ende Juli: Wieder wurden einzelne Medien und Journalisten auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt. 

    Nach den Solidaritätsprotesten Anfang des Jahres und angesichts der anstehenden Dumawahl geraten auch Medien in Russland immer stärker unter Druck: Die Politanalystin Tatjana Stanowaja konstatiert etwa, dass die unabhängigen Medien „zunehmend politische Bedeutung zugeschrieben bekommen und zur offenen Zielscheibe für die Repressionswalze werden“. Auf der offiziellen Liste der „ausländischen Agenten“ unter Medienschaffenden und Medien jedenfalls stehen derzeit 34 Namen von Journalisten und Medien – 17 davon sind allein 2021 dazugekommen. Darunter sind das Exilmedium Meduza, VTimes und seit dem 23. Juli auch The Insider
    An jenem Freitag, dem 23. Juli, wurden außerdem weitere Einzelpersonen auf die Liste gesetzt: Journalisten von Open Media, das von Michail Chodorkowski finanziert wird. Schon Mitte Juli wurde das Investigativmedium Projekt zur „unerwünschten Organisation“ erklärt, der Chefredakteur Roman Badanin und einzelne Mitarbeiter landeten ebenfalls auf der Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“.

    Als solche sind sie als Einzelpersonen etwa gezwungen, vier Mal im Jahr ein spezielles Meldeformular an das Justizministerium zu senden, wofür sie als juristische Person registriert sein müssen. Sie sind verpflichtet, den Behörden Daten über ihre Aktivitäten, Einnahmen und Ausgaben zu übermitteln, andernfalls drohen Geld- oder sogar Haftstrafen. Und sie müssen jedes Material, das sie veröffentlichen, mit einem speziellen Zusatz kennzeichnen, der deutlich macht, dass der Text von einem „ausländischen Agenten“ stammt – das gilt auch für ihre Posts in sozialen Medien.

    The Village hat einzelne Journalisten von Open Media und Projekt gefragt, wie sie von ihrem Status als „ausländischer Agent“ erfahren haben – und was das mit ihnen, ihrer Arbeit und ihrem Leben macht. Nur wenige Tage nach den Interviews, am heutigen Donnerstag, 5. August, hat Open Media bekannt gegeben, die Arbeit ganz einzustellen.

    dekoder bringt Auszüge aus fünf der Interviews in deutscher Übersetzung.

    „Ich hatte ein Gefühl von absoluter Unsicherheit und Ungerechtigkeit. Du arbeitest, schreibst darüber, wie die Staatsbeamten stehlen, und am Ende bist du der ‚ausländische Agent‘” / Foto © Olga Tschurakowa

    „Mir zerriss es förmlich das Herz, und die Leute aßen weiter ihr Mittagessen“

    Olga Tschurakowa
    Ehemalige Journalistin bei
    Projekt
    Status als „ausländische Agentin“ seit dem 15.07.2021

    Ich saß im Café und arbeitete, als mein Handy plötzlich nicht mehr aufhörte zu klingeln. Mein Name war in die Liste der „ausländischen Agenten“ aufgenommen worden, Projekt hatte man zu einer „unerwünschten Organisation“ erklärt. Ich sprang auf, bekam plötzlich keine Luft mehr, fing an zu weinen, hatte eine Panikattacke. Die anderen Gäste taten, als wäre nichts. Ich glaube, sie haben mich nicht einmal bemerkt. Mir zerriss es förmlich das Herz, und die Leute aßen weiter ihr Mittagessen.

    Am Ende bist du der „ausländische Agent“ und nicht die Menschen, die sich wie die letzten Schweine benehmen

    Ich habe sofort meine Kollegen angerufen. Wir haben besprochen, was wir jetzt machen, was wir tun sollen. Ich hatte ein Gefühl von absoluter Unsicherheit und Ungerechtigkeit. Du arbeitest, schreibst darüber, wie die Staatsbeamten stehlen und wie *** schlecht unser Staat funktioniert, und am Ende bist du der „ausländische Agent“ und nicht die Menschen, die sich wie die letzten Schweine benehmen. Zuerst hatte ich das Gefühl, dass die uns nicht kleinkriegen würden. In den ersten Stunden nach der Erklärung gab es viel Unterstützung, viele Nachrichten. Viele gratulierten sogar zu dem neuen Status, was sehr merkwürdig ist. In unserem pervertierten Staat ist die Erklärung zum „ausländischen Agenten“ wirklich so was wie eine Auszeichnung, aber wenn man das am eigenen Leib erfährt, wird einem klar, dass es da nichts zu gratulieren gibt.

    Ich stand lange unter Schock – wir haben nicht damit gerechnet, dass man uns (die Journalisten von Projekt – Anm. d. Red.) als natürliche Personen zu „ausländischen Agenten“ erklären würde. Im Endeffekt wurde Projekt quasi dichtgemacht – mit so harten Maßnahmen hätte ich nicht gerechnet. Offensichtlich haben wir gute Arbeit geleistet, und die Machthaber hatten davon die Nase voll. 

    Ich bin so gut wie überzeugt, dass wir in Russland nicht mehr arbeiten, keine Recherchen mehr machen können

    Gleich danach bin in den Urlaub gefahren, ins Ausland, und war plötzlich allein mit meinen Gedanken. Da kam eine große Enttäuschung und die Müdigkeit. Ich habe zehn Jahre lang für unabhängige Medien gearbeitet, habe versucht, die Gesellschaft auf die Probleme in unserem Staat aufmerksam zu machen. Jetzt werde ich faktisch aus meinem eigenen Land gedrängt, als wäre ich eine Verbrecherin. Und den Menschen ist immer noch alles egal. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Arbeit nicht mehr machen kann, weil sie offenbar niemand braucht. Warum sollte ich Journalismus machen, wenn er mein Leben zerstört hat? Nach diesem Urlaub hatte ich das erste Mal Angst, nach Hause zurückzukehren. Schon an der Grenze hatte ich Angst vor den Verhören und Durchsuchungen.

    Ich bin so gut wie überzeugt, dass wir in Russland nicht mehr arbeiten, keine Recherchen mehr machen können, im Zweifel hängen sie uns Strafverfahren an, stecken uns ins Gefängnis. Ob ich im Ausland als Journalistin arbeiten will, habe ich für mich noch nicht raus. Und in Russland journalistische Recherchen zu machen, ist im Moment gefährlich, sinnlos und schlicht unmöglich.

    „Dieser Status ist wie eine schwere Krankheit“

    Ilja Roshdestwenski
    Korrespondent bei
    Open Media
    Satus als „ausländischer Agent seit dem 23.07.2021

    Die Nachricht, dass ich zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde, erreichte mich, als ich gerade den Helden meiner neuen Recherche beschattete. Ich hatte seit Stunden auf der Lauer gesessen, da schaute ich aufs Handy, sah die Nachricht, wurde traurig und saß dann noch circa anderthalb Stunden so da. 

    Es ist schwierig, sich auf so etwas vorzubereiten: Du bist die Medien, natürliche Person und „ausländischer Agent“. Mensch und Maschine. Man kann sich natürlich mit seinen Anwälten beraten, alle Anweisungen und Anordnungen des Justizministeriums lesen, aber selbst mit einer juristischen Ausbildung wird man nicht schlau daraus. Das Gesetz zu den „ausländischen Agenten” ist so formuliert, dass es dir schwer gemacht wird, die Berichte zu schreiben und die russische Gesetzgebung zu befolgen.

    Ich habe schon mit allen möglichen Juristen gesprochen. Wir haben abgesprochen, mit wem ich die Entscheidung des Justizministeriums vor den russischen Gerichten anfechten werde und wer mit mir vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zieht. Meine Anwälte werden mir helfen, mich als juristische Person registrieren zu lassen und im Oktober den ersten Bericht abzugeben, damit ich keine groben Fehler mache.

    Das Gesetz ist so formuliert, dass es dir schwer gemacht wird, die russische Gesetzgebung zu befolgen

    Das Justizministerium macht von einer interessanten Praxis Gebrauch – der Eintrag in die Liste wird Freitagabend bekannt gegeben. Am Samstag bin ich mit dem Gedanken aufgewacht, dass ich jetzt „ausländischer Agent“ bin, dass ich buchstäblich einen Knebel im Mund habe. Der Status als „ausländischer Agent” ist wie eine schwere Krankheit. Du kannst dagegen ankämpfen und damit leben, aber es herrschen neue Bedingungen, die du erfüllen musst.

    Wenn du einen Fehler bei der Berichterstattung machst oder bei Facebook den Vermerk vergisst, dass du „ausländischer Agent” bist, bestraft dich das Justizministerium zuerst mit einem Bußgeld. Der zweite Verstoß wird dann schon strafrechtlich verfolgt. Mir ist klar, dass man jeden hinter Gitter bringen kann, aber in meinem Fall ist diese Möglichkeit jetzt nicht mehr so illusorisch. Sie begleitet mich die ganze Zeit.

    „Ich bin auch Agent der Führungsriege, das sollten die nicht vergessen“

    Maxim Glikin
    stellvertretender Chefredakteur von
    Open Media
    Status als „ausländischer Agent“ seit dem 15.07.2021

    Von der Ehrung mit dem Orden Inoagent habe ich während der Arbeit erfahren, als ich die Redaktion eines Artikels beendet hatte und gerade mit dem nächsten beginnen wollte. Ich weiß nicht, warum ich auf dieser Liste gelandet bin – ich mache keinen investigativen Journalismus, von mir gibt’s keine öffentlichen Erklärungen, ich bin nicht auf Twitter. Wobei ich die Logik der Machthaber verstehe, schließlich bin ich stellvertretender Chefredakteur und verantworte das Politikressort, und das macht sie sehr nervös. 

    Natürlich hat es mich schockiert, dass ich jetzt auf der Liste stehe. Zunächst habe ich mich in den Medien nicht darüber geäußert, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich mich dazu verhalten soll.

    Kürzlich war ich dann auf einem Lyrik- und Konzertabend meiner Frau (der Dichterin Sara Selzer – Anm. d. Red.). Da kommen Gäste auf mich zu und wollen mit mir anstoßen. Nach dem Motto: „Ich stoße grad das erste Mal im Leben mit einem „ausländischen Agenten“ an. Das war schon lustig. Aber ich bin nicht euphorisch, mir ist klar – die Aufmerksamkeit wird schwinden, und ich stecke da immer noch drin. 

    Ich bewundere den Mut von Roman Dobrochotow (Chefredakteur von The Insider, der ebenfalls zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde – Anm. d. Red. ) und unterstütze ihn, aber ich kann nicht wie er sagen: „Ich pfeife auf diesen ganzen Inoagenten-Kram, ich schreib denen nichts.“ Ich bin weniger prominent, ich werde alles genau notieren und Rechenschaft ablegen. Das ist natürlich enorm mühsam, aber wenn sie verlangen, noch zehnmal mehr zu machen, werde ich es tun, solange ich genug Kraft und Zeit habe. Ich bleibe bei Open Media. Ich bin nicht sicher, ob ich bei anderen Medien in Russland einsteigen könnte, wenn ich diese Stelle verliere. Früher habe ich Dokumentarfilme gemacht und Bücher geschrieben – vielleicht mach ich dann damit weiter.  [Wenige Tage nach dem Interview, am 5. August 2021, hat Open Media seine Arbeit offiziell eingestellt – dek]

    Ich werde alles genau notieren und Rechenschaft ablegen. Das ist natürlich enorm mühsam

    In den Augen der Machthaber bin ich Agent irgendwelcher ausländischer Interessen, und teilweise stimmt das. Aber gleichzeitig war ich Agent der russischen Machthaber und der Gesellschaft insofern, als ich alle möglichen Positionen, Meinungen und Nachrichten verbreitet habe. Die gesamten 30 Jahre meiner journalistischen Karriere habe ich über die Meinungen russischer Staatsbeamter informiert: in Interviews mit dem Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, dem Chefideologen des Kreml Wladislaw Surkow und vielen anderen. Insofern bin ich auch ein Agent der Führungsriege unseres Landes, und das sollten sie nicht vergessen.

    „Man kann drei Anwälte haben, aber das schützt einen am Ende auch nicht“

    Julia Jarosch
    Chefredakteurin von
    Open Media
    Status als „ausländische Agentin“ seit dem 15.07.2021

    Seitdem wir bekannt gegeben hatten, dass Michail Chodorkowski Open Media finanziert, ist unser Leben nicht mehr so ruhig. Wir konnten zwar im Prinzip arbeiten, unsere Quellen haben mit uns kommuniziert, aber es gab immer wieder Schwierigkeiten. Zum Beispiel haben wir keine Zulassung von der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor bekommen.

    Als ich erfuhr, dass ich und meine Kollegen auf dieser Liste stehen, war ich zwar nicht schockiert, aber ich hatte das Gefühl, dass meine schlimmsten Befürchtungen wahr wurden. Die Durchsuchung bei Roman Dobrochotow und die Beschlagnahmung seines Reisepasses waren eine absolute Grenzüberschreitung. 

    Ich hatte das Gefühl, dass meine schlimmsten Befürchtungen wahr wurden

    Auf der einen Seite gibt es Menschen, die ganz wild darauf sind, ihre Loyalität gegenüber der Regierung zu demonstrieren. Auf der anderen Seite gibt es eine Schar von verstörten Journalisten, die versuchen, sich an die Gesetze zu halten, auch wenn sie sie für ungerecht halten. Das Leben zeigt aber, dass das nicht ausreicht: Man kann drei Anwälte haben, aber das schützt einen am Ende auch nicht. Bei diesem Gedanken wird einem schon ziemlich bang.

    „Ich bin geneigt, meine Karriere als Reporter zu beenden“

    Pjotr Manjachin,
    Ehemaliger Autor bei
    Projekt
    Status als „ausländischer Agent“ seit dem 15.07.2021

    Das ist alles ganz banal. Ich habe aus den Nachrichten erfahren, dass ich in die Liste der „ausländischen Agenten“ aufgenommen wurde. Ich war erstmal geschockt. Hatte keine Ahnung, was passiert, es war komisch, schrecklich und unklar. 

    Gerade mache ich Urlaub in der Natur. In der Oblast Nowosibirsk. Wenn ich zurückkomme, mache ich mir Gedanken wegen der Arbeit – das ist gerade noch völlig unklar. Ich bin geneigt, meine Karriere als Reporter zu beenden, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie man mit diesem Ausländischer-Agent-Balken irgendwo publizieren soll, außer in Medien, die ebenfalls als „ausländische Agenten“ gelten. Verständlicherweise werden nur sehr wenige Medien bereit sein, immer jene 24 Wörter voranzustellen: „Diese Mitteilung wurde erstellt (oder verbreitet) von … der/das eine Funktion als ausländischer Agent innehat … “ 

    Ich kann mir nicht vorstellen, wie man mit diesem Ausländischer-Agent-Balken irgendwo publizieren soll

    Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt immer im Fokus bin. Es ist nicht so, dass die Organe der Staatsmacht sich nicht auch schon vorher für mich interessiert hätten. Aber wenn man bedenkt, dass ich innerhalb vieler tausender Kilometer der einzige „ausländische Agent“ bin [Pjotr lebt in Sibirien – Anm. d. Red.], werden sie sich jetzt doppelt so so sehr für mich interessieren. Das wird natürlich nicht nur auf der Arbeit so sein – jeder beliebige Text von mir muss gekennzeichnet werden, auch etwa ein wissenschaftlicher Artikel. 
    Ich hab keine Ahnung, was ich da machen soll. Bei juristischen Fragen hilft mit das Zentrum zum Schutz der Rechte von Medien. Wir werden eine juristische Person anmelden und dann weiter all diese dämlichen Rechenschaftsforderungen erfüllen.

    Ich habe nicht vor, diese Heimat zu verlassen, nicht wegen einer Entscheidung des Justizministeriums

    Auszuwandern ist die gleiche Option wie Tod oder Gefängnis. Es ist albern zu denken: „Ich gehe, wenn es dann völlig eskaliert, aber jetzt geht es noch …“ So schiebt man das alles ständig auf, darum bleibe ich in Sibirien. Das ist meine vertraute Heimat, ich bin bewusst nicht von hier weggegangen vor sechs Jahren, als ich die Schule abgeschlossen habe. Und ich habe auch jetzt nicht vor, diese Heimat zu verlassen, nicht wegen einer Entscheidung des Justizministeriums oder sonst irgendetwas. 

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  • Der Fall Timanowskaja: Wie man einen internationalen Skandal baut

    Der Fall Timanowskaja: Wie man einen internationalen Skandal baut

    „Ich wurde unter Druck gesetzt, man versucht, mich gegen meinen Willen außer Landes zu bringen.“ Mit diesen Worten wandte sich die belarussische Leichtathletin Kristina Timanowskaja am Sonntag aus Tokio an das Internationale Olympische Komitee.

    Das Belarussische Olympische Komitee hatte zuvor den Abzug der Sportlerin von den Olympischen Spielen erklärt und dies offiziell mit ihrer „emotional-psychischen Verfassung“ begründet. Kritiker sehen den tatsächlichen Grund allerdings in Aussagen Timanowskajas, die sie zwei Tage zuvor auf ihrer Instagram-Seite gemacht hatte: Dort hatte sie sich darüber empört, dass sie nun kurzfristig und unabgesprochen in einer weiteren Disziplin (4-mal-400-Meter-Staffel) antreten müsse – anstelle ihrer Kolleginnen, die nicht an den Spielen teilnehmen konnten, weil Sportfunktionäre bei den Dopingtests geschlampt hätten.

    Timanowskaja musste am Sonntag letztlich nicht nach Belarus ausreisen, wo sie nach eigenen Angaben womöglich Repressionen erwartet hätten. Kurz nach dem Vorfall am Flughafen von Tokio veröffentlichte der Telegram-Kanal Nik i Maik den mutmaßlichen Mitschnitt eines Gespräches, in dem Nationaltrainer Juri Moissewitsch und ein weiter Sportfunktionär Timanowskaja die Ausreise nahelegen und auch, in der Angelegenheit von nun an zu schweigen. Dimitri Nawoscha, Gründer des Sportportals sports.ru, spricht von einem „epochalen Dokument“: „Eine Mischung aus Lügen, direkten Drohungen, Victimblaming (,Du zerstörst das Schicksal anderer Menschen‘), Überredungen (,Mach es fürs Team!‘) – ein Dogmen-Mix aus Orthodoxie und Komsomol.“

    Der im Juni nach Kiew geflohene politische Analyst Artyom Shraibman kommentiert den Vorfall um Timanowskaja auf seinem Telegram-Kanal und sieht darin seine bereits mehrfach geäußerte These über den Machtapparat Lukaschenkos bestätigt: „Das System verliert an Kompetenz und macht einen Fehler nach dem anderen.“ 

    Der Fall der Athletin Timanowskaja demonstriert höchst anschaulich, wie ein bürokratisches System – das sich im vergangenen Jahr jegliche Selbstkontrolle abgewöhnt und innere Checks and Balances sowie die Reste von Kritikfähigkeit aufgegeben hat – wie dieses System aus einer völlig unbedeutenden Episode einen internationalen Skandal macht.

    Ausländische Journalisten fragen oft: Warum musste man denn gleich Sanktionen provozieren, um Protassewitsch festzunehmen? Warum musste man sich ausgerechnet 80 Prozent [der Wählerstimmen – dek] andichten vor einem Jahr?

    Doch dafür gibt es keinen Grund. Das System funktioniert nicht so, dass es bei der Entscheidungsfindung alle Risiken abwägt. Die Anreize sind hier anders gelagert: Um jeden Preis gilt es, das zu löschen, was den Zorn des Ersten [Mannes im Staate – dek] entflammen könnte. Und wenn der Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden.

    Ich bin ziemlich sicher, dass sich alles wie folgt entwickelt hat: Timanowskaja veröffentlicht ein Video mit Kritik an den Sportfunktionären, die die Dopingtests von anderen Athletinnen vergeigt haben und nun Timanowskaja zwingen, an deren Stelle zu laufen. Telegram-Kanäle greifen das Video auf.

    Wenn Lukaschenkos Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden

    Das Fernsehen läuft in dem Modus: Auf alles eindreschen, was Telegram-Kanäle aufgreifen. Im Endeffekt ist Timanowskaja nun die Anti-Heldin aller Nachrichtensendungen im Staatsfernsehen. Lukaschenko schaut Fernsehen und ist wütend: Wir haben ihr doch alles gegeben, haben sie auf unsere Kosten trainiert, und sie zieht da ihre Show ab und postet solche Sachen. Lukaschenko greift zum Hörer und fordert, Timanowskaja von den Spielen abzuziehen und sie mit dem nächsten Flugzeug nach Hause zu schicken.

    Die Sportfunktionäre beeilen sich, die Weisung auszuführen, aber es sickern schon Informationen durch. Also denken sie sich eine Version aus über eine ärztliche Untersuchung und eine instabile Gefühlslage der Läuferin [als offizielle Erklärung des Rückzugs von den Spielen – dek]. Die Läuferin bestreitet aber, dass sie überhaupt untersucht worden sei. Internationale Medien greifen die Geschichte auf und machen daraus einen Skandal, der durchaus zum Ausschluss von Belarus aus dem IOC oder anderen Sanktionen im Sportbereich führen kann.

    Ich wette – sollte es so kommen – dann wird im nächsten Stadium von einer geplanten Provokation und einer im Voraus gekauften Timanowskaja die Rede sein. Sie hat ja auch einen verdächtigen Nachnamen [ähnlich zu dem von Swetlana Tichanowskaja – dek]. Und alles im Rahmen eines hybriden Kriegs, nach dem gescheiterten Blitzkrieg. Alles, damit die Region Grodno an Polen fällt. Oder ist es jetzt die Region Gomel an Japan?

    Aber im Ernst: Bei dieser Geschichte geht es nicht nur um die Mechanismen, wie unser Staat funktioniert, sondern auch um dessen Reputation. Hätten Sportfunktionäre irgendeines anderen Landes als Belarus – und vielleicht abgesehen von Nordkorea – beschlossen, einen Sportler zum Flughafen zu bringen, der wegen einer Meinungsverschiedenheit mit seinen Vorgesetzten von den Spielen abgezogen wurde, hätte dem niemand Beachtung geschenkt. Aber in unserem Fall ist selbst im fernen Japan jedem klar, was Timanowskaja im Vorzeigeland der europäischen Sicherheit droht.

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  • Schöne neue Welt?

    Schöne neue Welt?

    Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen, wichtig sei, dass sie sich getroffen haben, sich alles wieder etwas normalisiere. Die eigentliche Arbeit gehe jetzt erst los. So könnte man im Großen und Ganzen die russischen wie deutschen Einschätzungen des Putin-Biden-Treffens am gestrigen Mittwoch, 16. Juni 2021, in Genf zusammenfassen. Dem ging unter anderem voraus, dass Biden im Frühjahr – noch ziemlich frisch im Amt – im TV die Frage „Denken Sie, dass Putin ein Killer ist?“ mit „Das tue ich“ beantwortet hatte.

    Beim gestrigen Treffen in Genf nun einigten sich beide Staatschefs darauf, dass die jeweiligen abgezogenen Botschafter wieder nach Moskau und Washington zurückkehren, in Fragen der Rüstungskontrolle strebe man einen „Stabilitätsdialog“ an. Auch Gespräche über Cybersicherheit seien geplant. Biden sagte zudem, man habe Russland klargemacht, dass die USA Menschenrechtsverletzungen weiterhin kritisieren würden.

    Nach dem Treffen betonten beide Staatschefs in getrennten Pressekonferenzen den konstruktiven Ton der Zusammenkunft. US-Präsident Biden fasste zusammen, dass niemand Interesse an einem neuen Kalten Krieg habe. Inwiefern das Treffen dennoch restaurativen Charakter trage und an Zeiten der alten Bipolarität erinnere – das kommentiert Alexander Baunow auf Carnegie.ru.

    Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen – so der Tenor zum Treffen Bidens und Putins in Genf / Foto © kremlin.ru, CC BY 4.0
    Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen – so der Tenor zum Treffen Bidens und Putins in Genf / Foto © kremlin.ru, CC BY 4.0

    Auch die Russen lieben ihre Kinder – dieser Satz war ein Vorbote für das Ende des Kalten Krieges. Nach dem Gipfel in Genf haben wir von Präsident Putin erfahren, dass Präsident Biden seine Mutter liebt und während der Verhandlungen auf sie zu sprechen kam. Wenn es den Staatsoberhäuptern der beiden Länder nur mit Mühe gelingt, das gemeinsame politische Terrain zu sondieren, so suchen sie es im Einfachen und Menschlichen. 

    Das neue Russland

    Russlands politisches System wird immer weniger westlich, geradezu herausfordernd unwestlich, und das Gipfeltreffen mit dem wichtigsten demokratischen Staatsoberhaupt hat diesen Umbau nicht verlangsamt, sondern, im Gegenteil, beschleunigt. Als hätte man sich bei dem Treffen mit Biden darauf vorbereitet, ein neu formatiertes Russland zu präsentieren, mit dem und über das man spricht.

    Weder im außen- noch im innenpolitischen Verhalten des Kreml gab es vor dem Gipfel Schritte, die als Versuch gelten können, gefallen zu wollen. Ein Angleichen oder auch nur ein Versprechen sich anzugleichen wurde nicht nur aufgeschoben, sondern abgebogen.

    Russlands politisches System wird immer weniger westlich, geradezu herausfordernd unwestlich

    Während des vergangenen Jahres wurde die Entwicklungphase Russlands abgeschlossen, die man symbolisch als Gorbatschow-Jelzin-Etappe bezeichnen könnte. Die Verfassungsänderungen besiegelten den Bruch. Die Vielzahl an Änderungen markieren nicht so sehr den Beginn einer neuen Etappe, vielmehr verleihen sie der Quantität schon angesammelter Änderungen eine neue Qualität und institutionalisieren das Putinsche Russland.

    Putin ist nach Genf gefahren, um dort im Namen dieses neuen Russland zu sprechen, das sich nun nicht mehr entwickelt, indem es Institutionen nach westlichem Vorbild aufbaut oder gar imitiert. Diese Aufgabe ist von der Agenda gestrichen. Russland geht nicht mehr auf einem souveränen Weg auf ein gemeinsames Ziel zu, jetzt ist sein Ziel selbst souverän. 

    Das Neue Russland verzichtet weiterhin nicht auf Marktwirtschaft und prinzipiell offene Grenzen. Aber: Hier muss Glasnost nun nicht zwingend zur westlichen Meinungsfreiheit, Pluralismus nicht zum demokratischen Wettstreit werden und der Markt muss nicht geöffnet werden für Unternehmen aus dem Westen. 

    Und genau deshalb hatte der bevorstehende Gipfel auch keinerlei Einfluss auf den Umgang mit der Opposition und den unabhängigen Medien oder auf die Unterstützung Lukaschenkos. Im Gegenteil: Im Vorfeld des Treffens mit Biden hat der Kreml den Ausbau eines autoritäreren Staates nicht gestoppt, sondern beschleunigt. Die Versuche Bidens (und zuvor ausländischer Journalisten), Putin wegen der Leiden russischer Oppositioneller zu beschämen, prallten auf eine Mauer des Unverständnisses und führten zu Beschuldigungen der Gegenseite. Das Koordinatensystem, in denen solche Anschuldigungen Gewicht haben, existiert für Putin nicht mehr. 

    Aus Russlands Handeln vor dem Gipfel folgt, dass die Diplomatie der Zugeständnisse im Austausch für Lob und Anerkennung kein tragfähiges Modell mehr ist. Moskau will zeigen, dass Zugeständnisse nun gegen Zugeständnisse getauscht werden müssen oder gegen Androhungen von realem Schaden. Also hat Biden eine Liste von 16 Themengebieten entrollt, in denen Cyberattacken Tabu sind: „Drohungen gab es keine, wir haben nur gesagt, wie wir auf eine Verletzung der amerikanischen Souveränität reagieren werden.“ 

    Die Diplomatie der Zugeständnisse im Austausch für Lob und Anerkennung ist kein tragfähiges Modell mehr

    Russland hat hier den Vorteil, dass es ein Land mit höherer Schmerzgrenze ist, das zur Durchsetzung seiner Interessen zu größeren Opfern bereit ist – und dessen Führung sich nicht vor Opposition und Presse verantworten muss. Der Westen stützt sich seinerseits auf eine ganze Bandbreite finanzieller und technologischer Überlegenheiten, mit denen er Druck auf Russland ausüben kann. Im Ergebnis wird nun der zweite Versuch gemacht, eine bilaterale Kommission für Cyber-Gefahren einzurichten – den ersten unter Trump hatten Kongress und Staatsapparat blockiert.

    Das neue Amerika

    Putin brachte das neue Russland mit zum Gipfel, Biden das neue Amerika. Dies ist ein Amerika, das die Beziehungen zu seinen Verbündeten, die Einheit des Westens und das Ansehen der Demokratie wiederherstellt. Bidens Projekt ist dabei offen restaurativ, doch Putins Projekt, zumindest für das System der internationalen Beziehungen, ebenfalls. 

    Die Beziehungen zu Russland müssen von nun an offiziell nicht auf Russlands potentieller Ähnlichkeit zum Westen gründen. Sie sind auch nicht abhängig davon, wie der Westen Russlands Zustand bewertet – sondern sie richten sich ausschließlich auf gemeinsame Interessen in den Bereichen, wo sie denn bestehen, gegen einen gemeinsamen Feind, falls sich so einer finden lässt, um Zusammenstöße dort zu vermeiden, wo sie auftreten könnten.

    Bidens Projekt ist offen restaurativ, doch Putins Projekt ebenfalls

    Darüber hinaus wurde den beiden entscheidenden Supermächten zu den besten Zeiten ihres Zusammenwirkens angeboten, im Interesse der gesamten Menschheit gemeinsam gegen weltumspannendes Übel vorzugehen – angefangen bei Faschismus und Kolonialismus bis hin zur Hilfe für Entwicklungsländer gegen Hunger und Analphabetismus. Die Plattform „gegen den gemeinsamen Feind“ bringt Putin den USA gelegentlich nahe: Er schlägt eine Zusammenarbeit gegen den islamistischen Terror vor, gegen die Pandemie oder die globale Erwärmung. Die amerikanischen Präsidenten waren einer solchen Zusammenarbeit gegenüber bislang nicht sehr aufgeschlossen, würde doch Russland dadurch, wenn auch nur scheinbar, den eingebüßten Status zurückerlangen.

    Biden kann einer solchen Zusammenarbeit jedoch zustimmen. Einen hohen Stellenwert in seiner Vorstellung von bilateraler Zusammenarbeit hat das Klima. Das Pariser Klimaabkommen hat sich stark eingeprägt, weil Putins und Trumps Positionen sich nicht trafen. Und das bedeutet, wenn man sich Moskau bei diesem Thema annähert, geht man nicht auf Putin zu, sondern handelt gegen Trump. 
    Auch das klassische Thema der START-III-Verlängerung und die nukleare Rüstungskontrolle wurden von Trump vernachlässigt. Demnach kann Biden auch hier mit Putin zusammenarbeiten, ohne dabei im Schatten eines nachgiebigen Trump zu stehen. 

    Schon während des Kalten Krieges lag Biden als Berufspolitiker das Thema der Verhinderung eines nuklearen Konflikts zwischen den beiden prinzipiell verschiedenen Staaten am Herzen. Und auch der Kreml freut sich über die Wiederbelebung der guten alten Tradition der Atomgespräche zwischen den Supermächten. Dazu gaben beide Seiten sogar eine gemeinsame Erklärung ab, obwohl von dem Gipfel gar keine Beschlüsse erwartet worden waren.

    Ukraine und Belarus, Syrien und Libyen

    Die beiden Seiten waren so sehr von globalen Themen in Anspruch genommen, dass sie sich allem Anschein nach nicht ausführlich mit lokalen Konflikten beschäftigten. Die Themen Ukraine und Belarus, Syrien und Libyen wurden zwar angesprochen, allerdings nicht ausreichend für jene, für die diese Themen am wichtigsten sind. Die Journalisten ließen es sich nicht nehmen, Biden dafür Vorwürfe zu machen, genauso wie dafür, dass er es verpasst hatte, Putin offen anzuprangern.

    Das Ausbleiben einer gemeinsamen Pressekonferenz war die positive Antwort Bidens auf die wichtigste Frage der russischen Außenpolitik: „Respektierst Du mich?“. Eine positive öffentliche Antwort oder zumindest das Ausbleiben einer öffentlichen negativen Antwort war die Bedingung für das Treffen sowie für Gespräche mit Moskau generell.

    Die neue Welt

    Nach dem Wahlsieg Bidens hat vor unseren Augen ein wichtiger Umschwung stattgefunden. Als die Demokraten in das Weiße Haus einzogen, schien es, als ob der Hauptkonflikt der Präsidentschaft Trumps zwischen den USA und China beigelegt und Russland nun isoliert und hart bestraft würde. Einige Monate später sehen wir, dass sich die Rhetorik der neuen Regierung in Bezug auf China verschärft hat.
    Biden trifft sich früher mit Putin als mit Xi Jinping. In seinen Aussagen über China tauchte die These von der künstlichen Entstehung des Corona-Virus in einem Labor auf, was bislang fälschlicherweise für ein Trump-Thema gehalten wurde.
    China ist nun nicht mehr willkürliche Zielscheibe für Trumps persönliche Wut, sondern objektiver globaler Rivale – und es ist nun Aufgabe jeder US-Regierung, ihn einzudämmen. Doch bevor es an diese grundlegende Aufgabe geht, ist es wünschenswert, die russische Frage irgendwie zu lösen. Sie zu lösen, indem man Russland enger an die westliche Welt bindet, ist nicht gelungen. Bleibt also nur, Russland unschädlich zu machen und es dabei so zu lassen, wie es laut seiner Führung sein will, solange das von der Mehrheit der Bevölkerung noch nicht angefochten wird.

    China ist nun objektiver globaler Rivale – und es ist nun Aufgabe jeder US-Regierung, ihn einzudämmen. Doch bevor es an diese grundlegende Aufgabe geht, ist es wünschenswert, die russische Frage irgendwie zu lösen

    Biden hat die theoretische Chance nicht vertan, Russland aus der aktiven Konfrontation herauszuführen und das Beziehungschaos, das auf den Trümmern von Russlands westlichem Weg entstanden ist, langsam zu ersetzen durch den Aufbau einer neuen vertraglichen Ordnung mit einem also doch wieder nicht-westlichen Russland.
    Für Putin bietet das die Möglichkeit festzuklopfen, dass mit Russland nicht in der Annahme seiner künftigen westlichen Qualitäten verhandelt wird, sondern mit Russland als das, was es ist, wie schon zu Zeiten der alten Bipolarität. Die auf dieser Grundlage getroffenen Vereinbarungen verlieren auch dann nicht an Gültigkeit, wenn Russlands derzeitiges Staatsoberhaupt länger an der Macht bleiben sollte, als es in früheren, westlicher orientierten Zeiten vorgesehen war.

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  • „Geiseln verurteilt man nicht!“

    „Geiseln verurteilt man nicht!“

    Nach über 90 Minuten Befragung im staatlichen Sender ONT sagt Roman Protassewitsch einen Satz, dessen Botschaft viele Belarussen nur zu gut verstehen: „Und ich möchte nie wieder in die Politik verwickelt werden, oder in irgendwelche schmutzigen Spiele oder Streitigkeiten.“ Es ist ein Satz, den viele Belarussen in den vergangenen 26 Jahren verinnerlicht haben: sich nicht in die Politik einmischen. Denn, wenn sie es tun, wenn sie ihren Unmut gegenüber Alexander Lukaschenko auf die Straße tragen, wenn sie sich oppositionell betätigen, gibt es womöglich Probleme mit den Machthabern. 

    Solche Probleme hat eben nun der 26-jährige Protassewitsch, der vor zehn Tagen auf spektakuläre Art und Weise zusammen mit seiner Freundin Sofia Sapega festgenommen wurde: Das Ryanair-Flugzeug, in dem er saß, wurde während eines Flugs von Athen nach Vilnius zu einer Zwischenlandung in Minsk gezwungen. Vergangenen Donnerstag strahlte der Staatssender ONT besagtes Interview aus, in dem Senderchef Marat Markow Protassewitsch über seine Arbeit für den Telegram-Kanal Nexta, über die Opposition um Swetlana Tichanowskaja, über seine Zeit und Rolle beim „Asow“-Bataillon in der Ukraine und viele andere Themen sprechen lässt. 

    „Heute haben wir die öffentliche Hinrichtung von Roman Protassewitsch erlebt“, kommentierte der Historiker Alexander Fridman das ausgestrahlte Gespräch, in dem der Interviewte nicht etwa seine Sicht auf die Dinge und seine Überzeugungen darlegt. Protassewitsch fungiert als Überbringer von althergebrachten Narrativen, alten Botschaften in neuem Gewand und ein paar gänzlich neuen Bonmots der Staatspropaganda. So sei die Opposition um Tichanowskaja und Pawel Latuschko in der Diaspora nur an Geld interessiert, der Westen und die EU würden die Opposition und so letztlich auch die Proteste finanzieren, zudem habe ein Teil der Opposition selbst die Notlandung mit Protassewitsch inszeniert, um die belarussische Führung zu diskreditieren und Sanktionen durch die internationale Staatenwelt zu provozieren. 

    Das TV-Gespräch löste international vehemente Kritik aus. Auch auf belarussischer Seite wurden viele Stimmen laut – darunter die Eltern Protassewitschs –, die mutmaßten, dass das Interview unter Druck, möglicherweise unter Folter, entstanden sei. Der Menschenrechtler Sergej Ustinow analysierte dazu die Wunden an Protassewitschs Handgelenken und sein offensichtlich geschwollenes Gesicht und verglich dies mit den bekannten Foltermethoden des belarussischen KGB. Nikolaj Chalesin, Gründer des Belarus Free Theatres, urteilte, dass man Protassewitsch für seine Aussagen nicht schuldig sprechen dürfe und dass das Gespräch ein neuerlicher Beweis dafür sei, dass die Machthaber vor Gewalt, Niedertracht und Zynismus nicht halt machen: „In Belarus leben wir in einer Zeit, in der sich Beispiele für Schwäche, Verrat und Laster mit Beispielen für verzweifelten Mut, unglaubliche Stärke und überwältigende Liebe abwechseln. Dies sind die Zeichen des Krieges – der Wechsel von Hässlichkeit und Schönheit. Und es ist nicht an uns, über diejenigen zu urteilen, die nicht unsere Seite gewählt haben.“ Der Politologe Waleri Karbalewitsch kommentierte, dass viele Aussagen Protassewitschs vor allem an einen adressiert seien – nämlich an Lukaschenko selbst. Protassewitsch äußert dabei auch die Hoffnung, dass Lukaschenko ihn aufgrund seiner angeblichen Beteiligung am Krieg der Ukraine gegen die prorussischen Separatisten nicht an die Machthaber der Luhansker Volksrepublik ausliefere. Karbalewitsch schreibt: „Ein weinender Feind, der um Gnade und Nachsicht von Alexander Grigorjewitsch bittet, ist die politische Dividende, die alle negativen Folgen aufhebt: die Sperrung des Luftraums, Wirtschaftssanktionen und so weiter. Ein moralisch gebrochener Gegner ist Balsam für eine traumatisierte Seele.“

    In dem Gespräch, das im Original über vier Stunden gedauert haben soll, nannte Protassewitsch auch einen Chat, über den bekannte Belarussen die Proteste im Sommer 2020 geplant und organisiert haben sollen. So fiel auch der Name des renommierten politischen Analysten Artyom Shraibman, der am Tag nach der Ausstrahlung der Sendung Belarus verließ und sich nun in der Ukraine befindet. In einem Post, den er über seinen Telegram-Kanal und über Facebook verbreitete, erklärte er seine Beweggründe für die hastige Flucht und auch seine Beteiligung an besagtem Chat.

    Was für eine Ironie. Am Morgen des 3. Juni erscheint im Medienprojekt Redakzija ein Beitrag, der mit meinen Worten endet, ich würde mich nicht direkt gefährdet fühlen und Belarus deswegen nicht verlassen. Und schon abends packe ich eilig meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg.

    Ich finde es wichtig zu sagen warum. In dem Interview auf ONT hat Roman Protassewitsch gesagt, ich hätte beratend zur Seite gestanden in einem Chat, den man bezeichnen könnte als Koordinationszentrum der Revolution: Love Hata [dt. Liebeshütte].

    Ich kann nur raten, warum und ob aus eigenem Willen – doch Roma hat übertrieben, was meine Beteiligung angeht. Ich war tatsächlich bis Ende Herbst 2020 in diesem Chat, der seinerzeit als einfacher Online-Treffpunkt für Blogger begonnen hatte. Aber mit zunehmendem Umfang der Proteste wurde dieses Thema zum zentralen Diskussionspunkt.

    Mich hat interessiert, live zu beobachten, wie diejenigen miteinander kommunizieren, die ab August als Koordinatoren der belarussischen Revolution bezeichnet wurden. Diese Bezeichnung passt jedoch bei weitem nicht zu allen in diesem Chat, und die Besprechung der Details bevorstehender Aktionen geschah aus Sicherheitsgründen in Audiokonferenzen der Koordinatoren. Aus eben jenen Sicherheitsgründen habe ich an keiner dieser Konferenzen teilgenommen.

    Doch es ging dabei natürlich nicht nur um Sicherheit. Entschuldigt den Pathos: Ich vertrete schon lange die Position, dass ein Analyst nicht Teilnehmer sein kann oder darf an den Prozessen, die er analysiert, genau wie ein Fußballkommentator bei einem Spiel nicht gleichzeitig Feldspieler sein kann. Viele kritisieren mich für diese Zurückhaltung, doch Politik ehrlich analysieren und gleichzeitig politisch aktiv sein, das könnte ich nicht.

    Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht genau, ob die belarussischen Geheimdienste überhaupt ein auf Verhaftung abzielendes Interesse an mir hatten. Es gibt Gerüchte über die Vorbereitung eines Strafverfahrens, doch das lässt sich momentan schwer belegen. Paradoxerweise wussten die Silowiki über die Existenz dieses Chats, seine Themen und Teilnehmer mindestens seit Mitte Herbst. Ich wurde sogar schon im Dezember auf ONT in der Teilnehmerliste gezeigt, vor einem halben Jahr. Und nichts ist passiert.

    Ich habe damals nicht das Land verlassen, weil mir bewusst war, dass man mir eigentlich nichts vorwerfen kann. Trotz der geleakten Screenshots aus dem Chat und obwohl die Geheimdienste sicherlich einen riesigen Fundus solcher Screenshots haben, wusste ich genau, dass da keine „Strippenzieherei“ von mir zu finden ist, weil es sie tatsächlich auch nicht gab. Höchstens, wenn man sie in Photoshop malt. Es gab von mir keinerlei Beratung jenseits einer grundlegenden Beschreibung dessen, wie ich die Lage im Land sehe, also das, was ich auch in Interviews und Artikeln sage.

    Doch im heutigen Belarus ist selbst die Nichtbeteiligung an dem, was die Staatsmacht für ein Verbrechen hält, keine ausreichende Absicherung mehr. Im Fall tut.by, bei dem es formal um Steuern des Unternehmens geht, sitzt der politische Block der Redaktion ein, Leute, die vermutlich keinerlei Ahnung davon haben, wie viel Steuern gezahlt werden.   
    In meinem Fall ist das genau die gleiche Situation. Allein die Tatsache, dass ich vor vielen Monaten in diesem Chat dabei war und jetzt die laute Äußerung von Protassewitsch, dazu ein Moderator, der in Bezug auf mich extra nachgefragt hat – das bedeutet den Übergang in eine ungemütliche Risikozone. Dieses Gefühl wurde stärker, als ich an eben jenem Abend draußen an meinem Hauseingang etwas bemerkte, das sehr nach Beschattung aussah. 

    Ich weiß nicht, ob mir Verhaftung drohte. Sie strahlten Romans Interview aus, ohne mich vorher festzunehmen, obwohl ich mich nicht versteckt hatte. Möglicherweise wäre auch jetzt wieder alles ausgegangen wie vor einem halben Jahr, also folgenlos. Doch unter diesen Vorzeichen einfach weiterhin ruhig im Land zu leben und zu arbeiten, wäre schwierig gewesen. Daher musste ich die schwere Entscheidung treffen, zu gehen. Beide Alternativen – Untersuchungshaft oder tägliche Erwartung der Untersuchungshaft – wären sowohl für mich als auch für meine Nächsten schlimmer gewesen.
    Im Grunde war’s das schon. Ich danke für die Aufmerksamkeit, für die Anteilnahme und für die vielen Angebote zu helfen. Meine Situation ist ungleich einfacher als die derer, die im Gefängnis sitzen oder auf die Entlassung ihrer Angehörigen warten müssen. Deswegen wäre es an meiner Stelle eine Sünde zu verzagen. Ich arbeite weiter, wie ich bisher gearbeitet habe. Ich werde mein Bestes geben, meine gewohnte Herangehensweise an Analysen beizubehalten, auch wenn man versucht, aus mir den Berater von irgendjemandem zu kneten. Ich habe niemanden beraten und habe es auch nicht vor. 
    Dann bis bald in der Heimat. Alles geht vorüber.

    PS: Groll gegen Protassewitsch gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Wir wissen nicht, welchen Keller in Luhansk und welches Schicksal für seine Freundin man ihm ausgemalt hat für den Fall, dass er das Interview ablehnt. Geiseln verurteilt man nicht. 

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  • Harte Landung

    Harte Landung

    Um 14.15 Uhr Ortszeit landet am vergangenen Sonntag die Ryanair-Maschine FR 4978 am Nationalen Flughafen von Minsk. Eigentlich hätte der Flug, der in Athen gestartet war, um 13 Uhr die litauische Hauptstadt Vilnius erreichen sollen, das eigentliche Ziel der Reise. Was den Piloten letztlich veranlasst hat, mit über 100 Passagieren und sechs Crewmitgliedern an Bord in der belarussischen Hauptstadt zu landen, darüber gibt es noch kein klares Bild. Denn in dem Moment, als die Boeing 737 sich über der belarussischen Stadt Lida befand, war sie Vilnius eigentlich näher als Minsk. In der offiziellen Erklärung, die vom Pressedienst des Minsker Flughafens veröffentlicht wurde, heißt es, dass das Flugzeug ein Notsignal abgegeben und sich an den Minsker Flughafen gewandt habe mit der Bitte um Landung. Die Nachricht sei um 12.50 Uhr Minsker Zeit eingegangen, berichtet Tut.by in einer detaillierten Recherche. Dann wird die Faktenlage unklarer. Denn ursprünglich ist in den offiziellen Kanälen der belarussischen Machthaber von einer Bombendrohung die Rede. Am Sonntagabend heißt es von offiziellen belarussischen Stellen dazu, dass man diese aus Informationen der Hamas erhalten habe, was von der Hamas aber kurze Zeit später dementiert wird. Jedenfalls macht sich der Ryanair-Flug auf den Weg nach Minsk, mittlerweile ist ein Kampfjet der belarussischen Luftwaffe aufgestiegen, angeblich auf Befehl von Alexander Lukaschenko, der die Aktion persönlich geleitet haben soll. Die MiG 29 begleitet Flug FR 4978 nach Minsk. 

    Nach der Landung müssen die Passagiere die Maschine verlassen, ihr Gepäck wird mehrmals von Sicherheitsbeamten durchsucht. Die mehrstündige Aktion findet neben dem Flugzeug statt, was für eine angebliche Bombendrohung zumindest ungewöhnlich erscheint. Schließlich werden zwei Passagiere festgenommen: Der Belarusse Roman Protassewitsch und dessen Freundin Sofia Sapeha, eine russische Staatsbürgerin. Protassewitsch war Chefredakteur des Telegram-Kanals Nexta, der seit dem Beginn der Proteste in Belarus nach dem 9. August 2020 zu einer der wichtigsten Informationsquellen für die Ereignisse in dem osteuropäischen Land avancierte. Der Kanal wurde von den Machthabern in Belarus als „extremistisch“ eingestuft. Der 26-jährige Protassewitsch, der bereits seit 2019 in Polen lebt, stand auf der Fahndungsliste der belarussischen Machthaber. Nach Bekanntwerden der Festnahmen macht in den sozialen Medien schnell eine Anschuldigung die Runde: Die Landung in Minsk sei eben wegen Protassewitsch erzwungen worden. Nexta ließ die Vermutung verlautbaren, Lukaschenko habe mit einem Verstoß gegen alle Gesetze ein Flugzeug „gekapert“. Das offizielle Minsk verteidigte sein Vorgehen, das nun „bewusst politisiert“ werde.

    Das Vorgehen des Lukaschenko-Staates wurde noch am Sonntagabend von zahlreichen Regierungen und Organen der EU scharf kritisiert. Dem Autokraten wurde „Luftpiraterie“ vorgeworfen. Zahlreiche Fluggesellschaften haben angekündigt, den belarussischen Luftraum ab sofort umfliegen zu wollen. Bereits am Montag verkündete die EU neue Sanktionen, unter anderem soll der Luftraum über der EU für belarussische Maschinen gesperrt werden. Zudem wurde die unverzügliche Freilassung von Protassewitsch gefordert, dem nach belarussischen Gesetz bis zu 15 Jahren Haft oder sogar die Todesstrafe drohen könnten. Am Montagabend verbreiteten mehrere staatliche Kanäle in Belarus ein Video von Protassewitsch, in dem er – sichtlich unter Druck stehend und mit Verletzungen und blauen Flecken im Gesicht – seine vermeintliche Schuld eingestand.

    Warum ausgerechnet Protassewitsch? Was bedeutet dieses beispiellose Ereignis für die belarussische Opposition und für die internationale Staatenwelt? Hat der russische Präsident Putin Lukaschenko den Rücken für diese Aktion freigehalten, war der Kreml letzten Endes womöglich sogar beteiligt? Auf diese und andere Fragen versucht der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für Naviny.by Antworten zu finden.

    Offiziell versucht Minsk alles so darzustellen, als sei Protassewitsch ganz zufällig gefasst worden. Eigentlich habe Belarus aber Europa vor einer Gefahr gerettet (und was, wenn nun tatsächlich eine Bombe an Bord gewesen wäre, hm?!), und nur deswegen habe es den ausländischen Linienflieger, der von Athen nach Vilnius flog, zur Landung gezwungen.

    Ihren Reaktionen nach zu urteilen glauben Europa und Washington einer so unschuldigen Version nicht mal ansatzweise. Die dortigen Politiker gehen vielmehr davon aus, dass das Regime, um seinen Feind einzufangen, das Leben von EU-Bürgern und die Flugsicherheit gefährdet hat. Schwere Vorwürfe wurden laut. Die Entführung eines Flugzeugs auf Geheiß der Behörden bezeichnete Ryanair-Chef Michael O’Leary als „staatlich gesponsorte Piraterie“. Er deutete an, dass sich an Bord des Flugzeugs mehrere KGB-Agenten befunden hätten.

    Den Kommentaren in den Medien und Sozialen Netzwerken nach zu urteilen vermuten auch viele unabhängige Experten und belarussische Bürger hinter dieser verrückten Geschichte eine gut durchdachte Aktion der belarussischen Geheimdienste. Umso mehr als die großen Bosse mit den Schulterklappen zuvor öffentlich gedroht hatten, die ihren Worten zufolge „blutrünstige“ Opposition wo auch immer zu ergreifen. Die Geschichte von der Festnahme Protassewitschs schlägt genau in diese Wir-haben-lange-Arme-Kerbe. Das breite Publikum nun von einer anderen Interpretation zu überzeugen, ist also eine – nun, sagen wir mal: sehr undankbare Aufgabe.

    Warum ausgerechnet Protassewitsch?

    Der Blogger und Journalist Protassewitsch ist 2019 nach Polen emigriert. Er hat der belarussischen Machtelite natürlich ordentlich in die Suppe gespuckt, als er im vergangenen Jahr bei Ausbruch der Massenproteste einen Telegram-Kanal redaktionell verantwortete [den Kanal Nexta – dek], den die Behörden schließlich als „extremistisch“ einstuften.

    Die Welle der belarussischen Revolution hat das Regime ins Wanken gebracht und seine Führung eindeutig in Angst versetzt. Und einige Telegram-Kanäle schienen tatsächlich die Straßenproteste zu koordinieren und führten einen harten Infokampf gegen das Regime. Deswegen wurde gegen Protassewitsch auch ein Strafverfahren aufgrund von drei Paragraphen eingeleitet.

    Aber jetzt sind die Proteste dem Erdboden gleichgemacht. Zu koordinieren gibt es da nichts mehr. Warum ist die Verhaftung Protassewitschs den Machthabern ausgerechnet jetzt so wichtig, dass sie sogar all die unangenehmen Konsequenzen aus dem Ausland in Kauf nehmen?

    „Hier geht es nicht so sehr um rationale, als vielmehr um emotionale Aspekte. Zum Beispiel um den Wunsch, sich für die Schockmomente zu rächen, die die Machthaber im letzten Jahr durchgemacht haben“, so Waleri Karbalewitsch vom analytischen Zentrum Strategija in Minsk.

    Außerdem sei den Machthabern wichtig, durch den Fang eines Feindes ihre Anhänger zu motivieren, „so nach dem Motto, schaut her, wie cool wir sind“, sagt der Analyst in einem Kommentar auf Naviny.by.

    Die Verhaftung Protassewitschs passe gerade in propagandistischer Hinsicht gut ins Konzept: „Womöglich wird er etwas erzählen, und dann heißt es im Fernsehen: Schaut her, die westlichen Geheimdienste haben eine Farbrevolution in Belarus eingefädelt.“

    In der Tat hat die belarussische Führung schon seit Beginn der Proteste die Verschwörungserzählung forciert, dass Saboteure im Westen diesen ganzen Brei angerührt hätten. Und wir haben schon gesehen, dass die hiesigen Silowiki imstande sind, die Zungen der Verhafteten zu lösen. Also ist nicht ausgeschlossen, dass man Protassewitsch etwas in den Mund legen wird – um Leute zu diskreditieren, die gegen das System von Alexander Lukaschenko kämpfen, und besonders diejenigen, die er „Flüchtige“ nennt.

    Und natürlich wird mit dem Aufgreifen Protassewitschs das Ziel verfolgt „den Anführern der emigrierten Opposition einen Schreck einzujagen“, unterstreicht der Gesprächspartner von Naviny.by.

    Es sei noch hinzugefügt, dass dieser Plot, der so manchen Blockbuster aus Hollywood in den Schatten stellt, sicherlich den gesamten Protest der belarussischen Gesellschaft beeindrucken wird. Als wollten die Machthaber zeigen: Wenn wir sogar die kriegen, die sich mit der Ausreise in Sicherheit wähnten, dann können wir euch, liebe Täubchen, sowieso jederzeit in die Mangel nehmen.

    Über die Folgen dieser Geschichte, die bereits heftigen Widerhall in der Welt gefunden hat, hat man sich in den belarussischen Machtstrukturen nicht allzu viele Gedanken gemacht, besser gesagt „man erwartet nicht, dass es besonders weitreichende Folgen geben wird“, so Karbalewitsch.

    Lukaschenkos Krieg mit dem Westen spielt Moskau in die Hände

    Moskaus Reaktion auf diesen Skandal ist interessant: Die Sprecherin des russischen Außenministeriums hat in ihrer typischen Manier versucht, dem Westen die Leviten zu lesen. Dieser, so Maria Sacharowa, solle sich doch mal erinnern an die „Zwangslandung des Flugzeugs des Präsidenten von Bolivien in Österreich auf Ersuchen der Vereinigten Staaten; und an die Ukraine, wo ein belarussisches Flugzeug mit einem Antimaidan-Aktivisten elf Minuten nach dem Start zur Landung gezwungen wurde“.

    Doch so viel Whataboutism hat sich als tölpelhaft erwiesen: Denn damit gibt man indirekt zu, dass Minsk, als es das irische Flugzeug zur Landung zwang, eine Sonderoperation durchgeführt hat.
    Insgesamt hat Moskau allerdings zurückhaltend reagiert. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow kommentierte den Ryanair-Vorfall nicht weiter: die internationalen Luftfahrtbehörden sollten die Situation bewerten, sagte er nur. Der russische Außenminister Sergej Lawrow plädierte dafür, „die Situation nicht im Eifer des Gefechts und nicht übereilt zu bewerten, sondern auf Grundlage aller verfügbaren Informationen“.

    Mit anderen Worten: Die russische Führung scheint nicht bereit zu sein, vorbehaltlos für ihren Verbündeten einzustehen. Warum nicht?

    Der Minsker Analyst Andrej Fjodorow schließt in seinem Kommentar für Naviny.by nicht aus, dass die belarussischen Behörden geplant hatten, Moskau in den Skandal mit der Zwangslandung und der Festnahme von Protassewitsch hineinzuziehen: „Wenn Moskau [in dieser Geschichte] Schulter an Schulter mit Minsk kämpfen würde, hätte es keine Handhabe, [die belarussische Regierung] bei Verfassungsreformen, Machttransfer und so weiter unter Druck zu setzen.“ So sieht der Analyst eine mögliche Logik der belarussischen Seite.

    Moskau würde nur ungern in eine Angelegenheit hineingezogen, in der die Minsker Argumente nicht sehr überzeugend klingen. Der Kreml will seine Vorteile in den Verhandlungen mit Lukaschenko nicht verlieren, sagt der Gesprächspartner von Naviny.by.

    Man muss jedoch anmerken, dass einige Kommentatoren meinen, dass bei der Verhaftung von Protassewitsch auch russische Geheimdienste ihre Hand im Spiel hatten. 

    So oder so, der Skandal mit dem Ryanair-Flugzeug und die Inhaftierung des ausgewanderten Oppositionellen ist für Moskau von Vorteil, glaubt Karbalewitsch: „Lukaschenko ist isoliert; neue Konfrontation mit dem Westen; die Brücken werden abgebrochen.“

    Minsk setzt noch auf Verhandlungen, doch vorläufig wächst sich der Konflikt weiter aus

    Im Prinzip sieht es wie ein politische Gesetzmäßigkeit aus: Je schlechter Lukaschenkos Beziehungen mit dem Westen sind, desto abhängiger ist er vom Kreml. Die Geschichte mit Protassewitschs Gefangennahme schwächt also potenziell Lukaschenkos Position in Richtung Osten.

    Das zieht allerdings auch die Europäische Union in Betracht, wenn sie Sanktionen gegen das belarussische Regime ausarbeitet. In Brüssel befürchtet man traditionell, dass übermäßiger Druck auf Belarus das Land immer stärker an Russland bindet.

    Die zweite Sorge des Westens gilt den möglichen Gegensanktionen: Das Regime könnte die Opposition, die zivilgesellschaftlichen Strukturen und die unabhängigen Medien im Land endgültig zerstören. Im April hat der belarussische Außenminister Wladimir Makei ein solches Szenario ganz offen umrissen: Falls die Sanktionen verschärft würden, „wird es diese Zivilgesellschaft nicht mehr geben, um die sich unsere europäischen Partner so sehr sorgen“.

    Die belarussischen Behörden rechnen offensichtlich damit, dass der Westen mit seinem „verfaulten Humanismus“ kalte Füße bekommt und keine härtere Gangart einlegen wird.

    Andere Kommentatoren meinen, dass die belarussische Führung, die die europäischen Politiker für Schwächlinge hält, mit dem Ryanair-Flugzeug dem kollektiven Westen auf den Zahn fühlt: Wird er auch diese Pille schlucken?

    Darüber hinaus könnte Protassewitsch, den belarussische Menschenrechtler bereits als politischen Gefangenen anerkannt haben, hinter Gittern (zusammen mit den anderen bekannten Persönlichkeiten) zu einem wertvollen Faustpfand werden in den voraussichtlichen Verhandlungen des Regimes mit dem Westen, in denen es um einen Ausweg aus der Isolation und das Auftauen der Beziehungen gehen wird. Darin liegt ein weiteres Motiv der Regierung, die Kosten für die sensationelle Landung des irischen Flugzeugs in Minsk in Kauf zu nehmen.

    Werden solche Berechnungen aber aufgehen? Wie ein Schneeball sammelt diese ganze Geschichte bis jetzt üble Konsequenzen an. Vor dem Hintergrund des Skandals mit dem Flugzeug entflammte ein diplomatischer Konflikt mit Lettland. Minsk gab bekannt, dass es nicht nur seinen Botschafter, sondern die gesamte Botschaft wegen des Vorfalls mit der belarussischen Staatsflagge in Riga abberuft. Lettland reagierte symmetrisch.

    Der Knoten des Konflikts mit dem Westen zieht sich immer fester zu. Und in Belarus wird alles noch düsterer.

  • Debattenschau № 83: Das Ende der unabhängigen Medien in Belarus?

    Debattenschau № 83: Das Ende der unabhängigen Medien in Belarus?

    Am Morgen des 18. Mai 2021 drangen Mitarbeiter der staatlichen Abteilung für Finanzermittlung (DFR) in die Redaktionsräume des unabhängigen Medienportals Tut.by in Minsk ein. Sie durchsuchten die Räumlichkeiten sowie einige regionale Büros des Unternehmens und auch die Wohnung von Chefredakteurin Marina Solotowa. Im Laufe des Tages wurden die Webseite sowie zahlreiche Spiegelserver blockiert. Am Ende des Tages wurde schließlich bekannt, dass zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Tut.by inhaftiert wurden.  

    In einer offiziellen Verlautbarung des Informationsministeriums zum Vorgehen gegen das größte unabhängige Medienunternehmen des Landes heißt es: „Die Generalstaatsanwaltschaft stellte zahlreiche Sachverhalte von Verstößen gegen das Gesetz über Massenmedien fest, die die Platzierung von verbotenen Informationen in einer Reihe von Veröffentlichungen auf der Internetressource Tut.by betreffen.“ Zudem wird Tut.by Steuerhinterziehung vorgeworfen. Gegen die Inhaber des Unternehmens wurde ein Strafverfahren eingeleitet.

    Tut.by wurde in den vergangenen Jahren immer wieder Ziel von staatlichen Attacken. Journalistinnen und Journalisten, die für unabhängige Medien in Belarus arbeiten, leben seit den Protesten infolge des 9. August 2020 ohnehin gefährlich

    Schon in den ersten Stunden nach Bekanntwerden des Vorgehens gegen Tut.by schwappte eine Welle der Empörung in den belarussischen sozialen Medien auf sowie zahlreiche Bekundungen der Solidarität. Zudem entfachte sich eine Debatte über die Frage, wie der Schlag gegen Tut.by einzuordnen sei und wie weit die Machthaber um Alexander Lukaschenko hinsichtlich der ohnehin weitreichenden Repressionen noch gehen werden. dekoder bringt eine Auswahl von Stimmen aus dieser Debatte.

    Nasha Niva: Abhängiger von Russland?

    Das älteste belarussischsprachige Medium Nasha Niva hält das Vorgehen gegen Tut.by für einen schweren Schlag, der die belarussische Medienlandschaft insgesamt betrifft.

    [bilingbox]Durch die Sperrung von Tut.by ist ein Strich unter die bisherige Existenzweise von Medien in Belarus gezogen worden. Die Zerschlagung des Medien-Flaggschiffs wirft die nationalen Medien um Jahrzehnte zurück und macht den Staat hinsichtlich der Information noch abhängiger von Russland. Es ist nun notwendig, die Gesellschaft für die Unterstützung der Medien zu mobilisieren, die es noch gibt – innerhalb des Landes und im Ausland.~~~Блакаванне Тут.бая таксама падводзіць рысу пад ранейшым этапам існавання СМІ ў Беларусі. Разгром флагмана медый адкідвае нацыянальныя СМІ на дзесяцігоддзі і зробіць дзяржаву яшчэ больш інфармацыйна залежнай ад Расіі. Спатрэбіцца мабілізацыя грамадства на падтрымку тых беларускіх СМІ, якія застаюцца — унутры краіны і за яе межамі. [/bilingbox]

    erschienen am 18.05.2021, Original

    Narodnaja Wolja/Pjotr Kusnjazou: „Die Machthaber machen einen riesigen Fehler“

    Pjotr Kusnjazou, Direktor der regionalen Informationsplattform Gomel – Silnyje Nowosti, urteilt in einem längeren Kommentar für die Zeitung Narodnaja Wolja, dass die ständigen Repressionen gegen unabhängige Medien vor allem die Hoffnungen auf ein demokratisches Belarus zerstören.

    [bilingbox]Kann man in diesem Kampf siegen? Für vernünftige Menschen ist offensichtlich, dass man das nicht kann, wenn solche Methoden zum Einsatz kommen. Darüber hinaus ist noch etwas anderes offensichtlich: Jegliche folgerichtige Bewegung in die vorgegebene Richtung „alle zu erwürgen“ kann lediglich dazu führen, dass im Informationsraum von Belarus eine gähnende Leere entsteht. Eine Leere – kein Vakuum. Ein Vakuum kann es in diesem Bereich nicht geben, denn wenn ihnen das gelingt, was sie wollen, dann wird diese Leere unmittelbar gefüllt werden mit einem Produkt von völlig anderem Niveau und völlig anderer Qualität.
    In diesem Sinne bedeutet der Tod des unabhängigen Mediensektors einen Schlag nicht nur und gar nicht so sehr gegen den demokratisch denkenden Teil der Gesellschaft als vielmehr gegen Belarus als zivilisiertes Land.~~~Возможно ли победить в этой борьбе? Здравомыслящим людям очевидно, что такими методами – нет. Больше того, очевидно и другое: последовательное движение в заданном направлении «всех придушить» может привести лишь к тому, что в информационном поле Беларуси появятся зияющие пустоты. Пустота – не вакуум, вакуума в этой среде быть не может, поэтому, если у них получится сделать то, что они хотят, пустоту эту, неминуемо, заполнит продукт совершенно другого уровня и качества.
    В этом смысле гибель существующего независимого медиасектора будет означать удар не только и не столько по демократически мыслящей части общества, сколько по Беларуси как цивилизованной стране как таковой.[/bilingbox]

    erschienen am 18.05.2021, Original

    SB. Belarus segodnja/Alexander Schpakowski: „Apotheose der Unverschämtheit und Unmoral“

    In seiner Einschätzung für die staatliche Zeitung SB. Belarus segodnja hält der Politologe Alexander Schpakowski das Vorgehen des Staates gegen Tut.by aufgrund mutmaßlicher Steuervergehen für völlig legitim. Zudem wirft er ein, dass Unternehmen, die Teil des Minsker Hi-Tech-Parks sind und damit von Steuervergünstigungen profitieren, sich dem Staat gegenüber loyaler zeigen sollten.

    [bilingbox]Für all diese IT-Unternehmen sind sehr hohe Zuwendungen vorgesehen. Ganz ehrlich – meiner Ansicht nach ist das eine Apotheose der Unverschämtheit und Amoral. Einerseits als Flaggschiff im Informationskrieg gegen den Staat und gegen den Präsidenten persönlich aufzutreten. Gegen Lukaschenko. Denn sie bekämpfen ihn ja nicht nur als politischen Führer, sondern auch als Menschen, beleidigen und diskreditieren ihn mannigfach. Und andererseits sind sie sich gleichzeitig nicht zu fein, Zuwendungen anzunehmen, die ihnen vom belarussischen Staat gewährt werden, und Erlasse dieses Staatsmannes, des Präsidenten der Republik Belarus zu nutzen. Das ist meiner Ansicht nach die Apotheose der Doppelmoral, der Unverschämtheit, der Amoral, die ich rein menschlich nicht verurteilen würde, doch meine Bewertung fällt negativ aus.~~~Вот для этих всех IT-компаний предусмотрены очень серьезные льготы. И, на мой взгляд, если честно, это апофеоз наглости и аморальности. С одной стороны, выступать флагманом информационной войны против государства и против Президента лично. Против Лукашенко. Ведь они в том числе борются именно с ним не только как с политическим лидером, но как с человеком, всячески его оскорбляя и дискредитируя. Но при этом не стесняются пользоваться льготами, предоставленными белорусским государством и указами этого государственного деятеля — Президента Республики Беларусь. Вот это, на мой взгляд, апофеоз двойных стандартов, наглости, аморальности, который чисто по-человечески я не берусь осуждать, но моя оценка этого негативная.[/bilingbox]

    erschienen am 18.05.2021, Original

    Facebook/Lavon Volski: „Je suis Tut.by“

    Lavon Volski gilt als Ikone der alternativen Musikszene in Belarus. Er ist der Meinung, dass die ständigen Repressionen das Fass zum Überlaufen bringen könnten.

    [bilingbox]Ich verstehe, dass das Niveau gehalten werden muss. Das Level darf nicht gesenkt werden. Immer wieder muss deutlich gemacht werden, wer hier der Herr im Hause ist. Alle müssen in Angst gehalten werden. Das ist eine einfache Bauernregel: Angst haben – das bedeutet: jemanden zu achten. Nur wächst mit jedem neuen Druck nicht die Angst, sondern der Hass. Und der erfasst mit jedem Tag, mit jedem neuen „kriminellen“ Fall mehr und mehr Leute. Er sammelt sich immer weiter an, er staut sich auf in diesem geschlossenen Raum. Der Zeiger schlägt schon längst aus dem roten Bereich, und sie kippen immer mehr Zündstoff hinein, immer mehr … Je suis Tut.by~~~Я разумею, што ўзровень трэба трымаць. Не зьніжаць градус. Раз за разам дэманстраваць, хто тут гаспадар. Трымаць усіх у страху. Такі просты мужыцкі разьлік: баяцца — значыць паважаюць. Толькі ад кожнага новага ціску расьце ня боязь, а нянавісьць. І яна з кожным днём, з кожнымі новымі “крымінальнымі” справамі ахапляе ўсё болей і болей людзей. І яна ўсё назапашваецца, усё расьце ў гэтай замкнёнай прасторы. Стрэлка даўно на чырвонай зоне, а яны ўсё падкідаюць паліва, болей і болей… Je suis TUT.by[/bilingbox]

    erschienen am 18.05.2021, Original

    YouTube/Swetlana Tichanowskaja: „Sie töten die Presse“

    Für Swetlana Tichanowskaja, die führende Figur der belarussischen Oppositionsbewegung, ist es völlig klar, welches Ziel die belarussischen Machthaber mit der Abschaltung von Tut.by verfolgen.

    [bilingbox]Wir alle sind heute Zeugen des vorsätzlichen Mordes an dem Medium und unabhängigen Portal Tut.by. 20 Jahre hat es den Belarussen einwandfrei seriöse Nachrichten vermittelt und war ein Paradebeispiel für die unabhängige Presse. Viele haben befürchtet, dass es so kommen wird. Doch es ist ein völlig anderes Gefühl, wenn man die konsequente Zerstörung der Freiheit mit eigenen Augen sieht. Die Zusammenrottung von Leuten, die in Belarus die Regierungsmacht fest in ihren Händen halten – das ist ein wahres Besatzerregime: Sie töten die Presse, töten Parteien und Gruppierungen, sie töten uns – auf der Straße und in den Gefängnissen.~~~Сегодня мы все – свидетели умышленного убийства медиа и независимого портала TUT.by. Он 20 лет исправно сообщал беларусам честные новости и был образцом независимой прессы. Многие опасались, что так и произойдет, но это совсем другое чувство, когда смотришь на последовательное уничтожение свободы собственными глазами. Сборище людей, которые удерживают власть в Беларуси, – это и есть настоящий оккупационный режим: они убивают СМИ, убивают партии и сообщества, убивают нас – на улицах и в тюрьмах.[/bilingbox]

    erschienen am 18.05.2021, Original

    Tribuna/Maxim Beresinski: „Sie können nicht alle zum Schweigen bringen“

    Maxim Beresinski, der für das populäre Online-Sportmedium Tribuna die belarussische und ukrainische Sparte verantwortet, fragt sich, wen die Staatsmacht als nächstes ins Visier nehmen könnte.

    [bilingbox]Wir sind schon daran gewöhnt: Jeden Tag gibt es einen neuen Tiefpunkt. Und trotzdem ist es jedes Mal ein Schock …
    Alles läuft genau so, wie es Pastor Niemöller auf dem Höhepunkt im Kampf mit den Nazis in Deutschland gesagt hat: Politiker, Geschäftsleute, Anwälte, Studenten, Pfarrer, kinderreiche Mütter haben sie schon geschasst. Jetzt sind die Journalisten dran. Wenn sie jetzt kommen und dich holen, wird niemand mehr da sein, dem du es erzählen kannst. Wir wissen nicht, was der nächste Trigger sein wird, aber der einzige Weg ist nun die maximale Öffentlichkeit. Alle Stimmen werden sie nicht schaffen abzuwürgen.~~~Мы уже привыкли к тому, что каждый день – новое дно. Но все равно каждый раз шок.
    Все идет ровно так, как говорил пастор Нимёллер в разгар борьбы с нацизмом в Германии. Они уже пришли за политиками, бизнесменами, адвокатами, студентами, священниками, многодетными мамами. Теперь они пришли за журналистами. Теперь, когда придут за тобой, некому будет об этом рассказать. Мы не знаем, что станет новым триггером, но максимальная гласность сейчас – единственный путь. Все голоса им не заткнуть.[/bilingbox]

    erschienen am 18.05.2021, Original

    RuBaltic/Wsewolod Schimow: Faustpfand in Verhandlungen mit dem Westen?

    In einem Beitrag für das Kaliningrader Online-Portal RuBaltic hält der belarussische Politologe Wsewolod Schimow beim Vorgehen gegen Tut.by eines für sicher: die weitere Verschlechterung der Beziehungen mit dem Westen.

    [bilingbox]Die Idylle endete am 9. August 2020, als das „herzliche Einverständnis“ zwischen der Regierung und den Kräften, die Tut.by verkörpern, innerhalb von einer Sekunde zerstört war. 
    Die ganze Frage ist, wie weit die belarussischen Machthaber in diesem Spiel zu gehen bereit sind. Die Zerschlagung von Tut.by bleibt ja im Westen nicht unbemerkt und senkt die Chancen auf eine Normalisierung der Beziehungen weiter.
    Andererseits ist nicht ganz auszuschließen, dass das Schicksal von Tut.by vielleicht ein Faustpfand wird in den Verhandlungen zwischen den belarussischen Machthabern und dem Westen.~~~Идиллия закончилась после 9 августа 2020 года, когда «сердечное согласие» между властью и теми силами, которые олицетворяет tut.by, было в момент разрушено.
    Весь вопрос в том, насколько далеко готова белорусская власть идти в этой игре. Ведь разгром tut.by не останется незамеченным на Западе и еще больше снизит шансы на нормализацию отношений.
    С другой стороны, нельзя исключать, что судьба tut.by как раз-таки станет элементом торга в переговорах между белорусской властью и Западом.[/bilingbox]

    erschienen am 18.05.2021, Original

    Facebook/Yahor Lebiadok: Die Förderung der russischen Agenda

    Der Militärhistoriker Yahor Lebiadok bringt die Zerschlagung der unabhängigen belarussischen Medien in einen außenpolitischen Zusammenhang. Er glaubt, dass hinter dem Vorgehen gegen Tut.by eine Konzession Lukaschenkos an Wladimir Putin und dessen Politik erkennbar sei.

    [bilingbox]Was Tut.by angeht, kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber was das Portal ausmacht: Es stellt eine gewisse Barriere zu russischen Inhalten in den Köpfen der Belarussen dar. 
    Ich habe es bereits mehrfach gesagt und wiederhole es hier noch einmal: Während alle auf die Verhandlungen zu Krediten, Öl und Integrations-Roadmaps schauen, gibt Lukaschenko zur Unterstützung Putins (oder unter seinem Druck) viel Belarussisches auf – von der Kultur bis zu dringlichen Themen. Das merken die Menschen angesichts der vielen Nachrichten gar nicht, und es sind Dinge, um die es Lukaschenko aus seiner Perspektive nicht schade ist. Für Lukaschenko bedeutet die Säuberung solcher Medien, die Bewahrung der Regierung vor Kritik – auch im Zusammenhang mit möglichen politischen Kampagnen zu einer neuen Verfassung. Für Putin bedeutet sie die Säuberung des belarussischen Informationsraumes von allem Belarussischen und gleichzeitig die Förderung der russischen Agenda. ~~~К TUT.BY может быть различное отношение, но что свойственно этому порталу — это определенный барьер на пути российского контента в головы беларусов.
    Говорил ни раз и здесь повторю — пока все смотрят на торг по кредитам, нефти, интеграционным картам Лукашенко за поддержку Путиным (или под давлением) сдает беларуское — от культуры до повестки дня. Это людям мало заметно в объеме новостей, и это то, что Лукашенко не жалко сдать, на его взгляд. Для Лукашенко зачистка такого рода СМИ — это удержание власти от критики, в том числе и в контексте возможных политических кампаний по Конституции (что и для РФ, вероятно, нужно). Для Путина — это зачистка беларуского информационного пространства от всего беларуского с продвижением российской повестки[/bilingbox]

    erschienen am 18.05.2021, Original

    dekoder-Redaktion

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    Lukaschenkos Büchse der Pandora

    Eine der wichtigsten Entscheidungen seiner gesamten Amtszeit – so nannte Alexander Lukaschenko am 17. April eine Neuerung, die er eine Woche später verkündet hat: Sollte dem Präsidenten etwas zustoßen, soll seine Macht einem neuen Dekret zufolge an den belarussischen Sicherheitsrat übertragen werden. 

    Ebenfalls am 17. April hatten der belarussische KGB und der russische FSB verkündet, ein angeblich geplantes Attentat auf Lukaschenko vereitelt zu haben. Dem Politologen Alexander Feduta und zwei weiteren Männern wird vorgeworfen, einen Umsturz in Belarus geplant zu haben. Lukaschenko vermutet dabei eine Beteiligung amerikanischer Geheimdienste. Auch Putin erwähnte den Fall in seiner Rede zur Lage der Nation. Im belarussischen Staatsfernsehen sprach ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter sogar von einer geplanten Invasion aus Litauen, mit Geländefahrzeugen und Maschinengewehren. 

    Fürchtet Lukaschenko ernsthaft um sein Leben? Während der genaue Wortlaut des Dekrets noch nicht bekannt ist, wird derzeit viel spekuliert, was es damit auf sich hat: Eine Art Lebensversicherung für Lukaschenko, wie Iryna Chalip in der Novaya Gazeta meint? Oder handelt es sich womöglich um Vorbereitungen auf einen Machttransfer nach kasachischem Szenario, wie Artyom Shraibman auf Telegram vermutet?

    Für den belarussischen Politologen Waleri Karbalewitsch ist das Dekret vor allem eins: verfassungswidrig und damit hochgefährlich. Ein Kommentar auf SN Plus
     

    Bei einem Subbotnik am 17. April macht Alexander Lukaschenko eine große Ankündigung – es gehe um eine der wichtigsten Entscheidungen seiner Regierungszeit / Foto © president.gov.by
    Bei einem Subbotnik am 17. April macht Alexander Lukaschenko eine große Ankündigung – es gehe um eine der wichtigsten Entscheidungen seiner Regierungszeit / Foto © president.gov.by

    Was unmittelbar ins Auge springt, ist der absolut verfassungswidrige Charakter dieser Entscheidung. Schließlich schreibt die geltende Verfassung genau vor: Wenn der Präsident seine Verpflichtungen nicht erfüllen kann, werden seine Vollmachten an den Premierminister übergeben. Das ist alles klar und deutlich.

    Ein präsidiales Dekret kann nicht die Verfassung ersetzen, das ist nicht rechtmäßig. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass Abschnitte der Verfassung, die die Tätigkeit der Regierungsorgane regeln, nur mit einem Volksentscheid beschlossen werden können und nicht anders.

    Selbst in Monarchien kann der Monarch nicht einfach nach eigenem Gutdünken entscheiden, wer nach seinem Abgang auf dem Thron sitzen soll. Es gibt ein Gesetz zur Regelung der Thronfolge. 

    Demnach ist das geplante Dekret mit einem solchen Inhalt ein Sabotageakt an der Verfassung. Erstmals seit 1996 beabsichtigt Lukaschenko derart klar und offensichtlich die Verfassung zu verletzen. Da im Sicherheitsrat die Silowiki überwiegen, schlägt Lukaschenko quasi vor, den Militärs die Macht zu übertragen. Damit würde eine Struktur zum höchsten Regierungsorgan, die von niemandem gewählt und von der Verfassung nicht vorgesehen ist. 

    Sabotageakt an der Verfassung

    Unter diesen außergewöhnlichen Umständen wird besonders deutlich, dass im Land ein Regime der persönlichen Macht herrscht, ein personalisiertes Regime. Gewichtige Entscheidungen über den Staatsapparat trifft ein einzelner Mensch, ausgehend von seinen persönlichen Interessen. Alle weiteren staatlichen Organe sind reine Dekoration. Niemand kann Lukaschenko sagen, er breche die Verfassung. Weder das Verfassungsgericht, noch die Staatsanwaltschaft, noch die zwei Kammern der Nationalversammlung würden wohl auf irgendeine Weise auf den offensichtlich verfassungswidrigen Sabotageakt reagieren. 

    Es stellt sich natürlich die Frage: Warum so plötzlich? Warum wollte Lukaschenko nicht auf die neue Verfassung warten (das Referendum ist für Anfang 2022 angesetzt), um diese Neuerung darin festzuschreiben, warum ändert er das Regierungssystem stattdessen mit solchen Sondermethoden? 

    Es stellt sich natürlich die Frage: Warum so plötzlich?

    Allem Anschein nach glaubt Lukaschenko wirklich an diesen Verschwörungsmythos und leidet an einer traumatischen Störung. Es sagt etwas über seinen Geisteszustand aus, dass ihn sogar die Karikatur eines Umsturzes zu hektischem Handeln bewegt, zu verzweifeltem Herumzerren an diversen Regierungshebeln, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Einen Menschen, der sich in einem solchen Zustand befindet, kann man leicht manipulieren – was der KGB offenbar auch tut.

    All das passiert zu einem Zeitpunkt, wo sich scheinbar alles beruhigt hatte: Die Hauptgefahr für das Regime ist gebannt, der Protest auf ein Minimum heruntergefahren, die Regierung hat die Situation im Lande unter Kontrolle und nichts zu fürchten. Lukaschenko sieht das jedoch anders, wie sich zeigt. Er lebt jeden Tag in Erwartung eines Anschlags auf seine Machtstellung. Nur in so einem Zustand kann man sich solche Dekrete ausdenken. Mit dieser Entscheidung zeigt Lukaschenko, dass die politische Krise im Land noch nicht überwunden ist, auch wenn die Staatsmedien seit Monaten den Sieg verkünden. Aber Sieger verhalten sich anders.

    Verzweifeltes Herumzerren an diversen Regierungshebeln

    Sollte Lukaschenko dem aktuellen Premierminister (Roman Golowtschenko) misstrauen, dann müsste er, so könnte man meinen, einen anderen ernennen, dem er vertraut. Aber nein. Lukaschenko setzt mehr Hoffnung auf ein Kollektivorgan (den Sicherheitsrat) als auf eine konkrete Person. Schon früher hat er mehrfach behauptet, dass man seinem Nachfolger nicht so viel Macht übertragen darf, dass man die Vollmachten des Präsidenten unbedingt auf mehrere Zweige der Staatsgewalt aufteilen muss. Hier gilt die gleiche Logik.

    Doch hier ergibt sich noch ein Problem. Mit dem geplanten Dekret demonstriert Lukaschenko, dass die Verfassung an Geltungskraft verliert. Und wenn das so ist, dann besteht – „wenn es morgen keinen Lukaschenko mehr gibt“ – eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die politischen Prozesse unkontrolliert und außerhalb des rechtlichen Rahmens ablaufen werden. Warum geht Lukaschenko davon aus, dass im Sicherheitsrat Entscheidungen per Abstimmung und nicht durch Gewalt getroffen werden? Wenn es kein Gesetz gibt, ist alles erlaubt. Mit dem Verfassungsbruch öffnet Lukaschenko die Büchse der Pandora, und entlässt einen gefährlichen Geist aus der Flasche.

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    „Symptom einer politischen Krankheit im Endstadium“

    Am vergangenen Freitag haben die russischen Behörden erklärt, das Online-Medium Meduza in die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ aufzunehmen. Das Exilmedium (mehr zur Vorgeschichte hier) hat seinen Sitz im lettischen Riga und ist seit seiner Gründung 2014 zu einem der populärsten unabhängigen russischsprachigen Medien avanciert, aus dem auch dekoder regelmäßg übersetzt. Als sogenannter „ausländischer Agent“ muss Meduza alle Beiträge mit einem entsprechenden Vermerk kennzeichnen und die Finanzen offenlegen, bei Verstößen droht eine Geldstrafe und letztlich die Blockade. „Das ist eine langsame Erdrosselung“, sagtе Meduza-Chefredakteur Iwan Kolpakow im Interview auf Doshd

    Schon während der Solidaritätsproteste für Nawalny im Januar und Februar waren die Behörden massiv gegen einzelne Medien und Medienschaffende vorgegangen, im April hatte außerdem die Festnahme von vier RedakteurInnen des Studentenmagazins Doxa für Aufsehen gesorgt.

    Vom Agentengesetz jedoch waren bislang Auslandsmedien wie die BBC oder Golos Ameriky (Voice of America) betroffen, ansonsten vor allem NGOs wie die Menschenrechtsorganisation Memorial und das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada. 2020 hatte die Duma außerdem Verschärfungen des 2012 ins Leben gerufenen Gesetzes beschlossenen, wonach auch Einzelpersonen als „ausländischer Agent“ bezeichnet werden können – und zwar auch dann, wenn das Geld, das sie aus dem Ausland empfangen haben, gar nicht in Zusammenhang mit irgendeiner politischen Tätigkeit steht. Die EU bezeichnete die Einschränkung unabhängiger Medien in Russland am Samstag als „extrem besorgniserregend“.

    „Ausländischer Agent“ – Maxim Trudoljubow nimmt das Vorgehen gegen Meduza auf Facebook zum Anlass, den Begriff vor allem auf den symbolischen Gehalt hin zu hinterfragen.

    Mitbürger zu „ausländischen Agenten“ zu erklären – das ist ein zynischer und selbstgerechter politischer Trick. Vielfach erprobt, in unterschiedlichen Epochen und unter unterschiedlichsten Bedingungen – in revolutionären Situationen und in solchen mit einer einzigen „siegreichen“ Partei. Die schlichte Einstufung des Opponenten als äußerer Feind macht den innenpolitischen Dialog zum Krieg. Da ist kein parlamentarischer Disput mehr, kein Disput zwischen Parteien, kein öffentlicher Dialog mit Veröffentlichungen und angriffslustigen Gegendarstellungen, nicht mehr Pamphlet um Pamphlet, nicht ein Wort, das das andere gibt. Hier ist Schluss mit lustig, übereinander Lachen ist verboten – keine Witze, Meme und Satire mehr. Die andere Seite führt das Gespräch aus einer Position der Gewalt heraus. Das passiert, wenn die, die momentan  am Ruder sind, keine Argumente mehr haben. Das ist wie eine Vergewaltigung.

    Aber das ist nicht alles. Es ist nicht nicht nur Zynismus und Selbstgerechtigkeit von Menschen mit Villen in Südfrankreich. Es ist der Beweis für die Transformation des Regimes, das sich immer weiter ändert, um der sogenannten ersten Person Schutz zu gewähren – was wiederum seine, also des Regimes, einzige Mission ist. Ob „er“ (das Regime und sein Gesicht mit dem Anfangsbuchstaben P) will oder nicht – der endgültige Schritt, jegliche politische Gegner, nicht registrierte, nicht anerkannte, unverständliche Akteure als „die Anderen“ zu klassifizieren und ihnen ein Label anzuheften, das ist das eindeutige Symptom einer politischen Krankheit im Endstadium, die viele Namen hat: Totalitarismus, Faschismus, alles Mögliche, über das man nicht diskutieren möchte. 

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    Lancelot im Schlund des Drachen

    Entmutigung – das ist das Gefühl, das Andrej Swjaginzew vor allem verspürt, wenn er an die Situation des inhaftierten Alexej Nawalny denkt. Bei einem Publikumsgespräch in Nowosibirsk wurde der renommierte Regisseur (Leviathan, Die Rückkehr) nach Nawalny gefragt, der in Haft in Hungerstreik getreten ist, um eine angemessene ärztliche Behandlung zu erwirken. Sein Team hatte vergangene Woche über kritische Kaliumwerte des Oppositionellen informiert, ein Herzstillstand drohe.

    Dem Aufruf, für Nawalnys Leben auf die Straße zu gehen, waren am gestrigen Mittwoch, 21. April, schließlich russlandweit mehrere tausend Menschen gefolgt. Die NGO OWD-Info berichtet von über 1700 Festnahmen, mehr als 800 davon allein in Sankt Petersburg.

    Mit dem in Nowosibirsk artikulierten Gefühl, dass der Staat abwesend sei, sich immer weiter von den Menschen entferne, ist Swjaginzew nicht alleine – auch die Politologin Tatjana Stanowaja konstatiert dies in einer Analyse von Putins Rede zur Lage der Nation. 

    dekoder bringt Swjaginzews Statement auf Deutsch, das Taiga.info und Meduza verschriftlicht haben.

    „Für mich ist völlig offensichtlich, dass es in diesem Land weder Recht noch Gesetz noch sonst irgendetwas gibt.“ – Regisseur Andrej Swjaginzew / Foto © Alexander Miridonow/Kommersant
    „Für mich ist völlig offensichtlich, dass es in diesem Land weder Recht noch Gesetz noch sonst irgendetwas gibt.“ – Regisseur Andrej Swjaginzew / Foto © Alexander Miridonow/Kommersant

    Für mich ist völlig offensichtlich, dass es in diesem Land weder Recht noch Gesetz noch sonst irgendetwas gibt. Man kann sich auf nichts verlassen, nur auf irgendeine Art von Gemeinsamkeit, auf Kameraderie, auf ein Hören, eine Schulter.

    Mich entmutigt die aktuelle Situation enorm, weil mir völlig unklar ist, welches Instrumentarium nötig ist, um dieser Walze etwas entgegenzusetzen. Sie walzt im wahrsten Sinne des Wortes einen Menschen zu Tode, der jetzt für alle in den Flammen verbrennt. Lancelot im Schlund des Drachen. Das ist ein bezaubernder Anblick, bewundernswert, denn an Mut fehlt es diesem Mann nicht. Doch er hat diesen Weg natürlich vollkommen bewusst gewählt, er brennt wie eine Fackel, das ist klar.

    Was können nun die anderen tun? Zuschauer bleiben in diesem Zweikampf, den man nicht mal Zweikampf nennen kann, oder irgendwie daran teilnehmen? Es ist völlig unklar.

    Noch etwas hat mich ergriffen und entzückt: Ein Mensch, der [in Solidarität mit Nawalny] in den Hungerstreik getreten ist. Er heißt Nikolaj Formosow und ist ein ehemaliger Professor der Higher School of Economics und der MGU. Man muss handeln, denn reden ist völlig sinnlos. An den Menschen [den Präsidenten Russlands Wladimir Putin] wendet sich schon die ganze Welt. Alle bedeutenden Persönlichkeiten bitten um eine ganz einfache Sache: Gewährt dem Mann medizinische Hilfe. Doch er [Putin] ignoriert die weltweite Stimme, obwohl das Volk es schon herausschreit.
     
    Ein merkwürdiges Gefühl entsteht. Ein Gefühl der Abwesenheit des Staates, ein Gefühl der Abwesenheit dessen, der geschworen hat, Garant für das Leben und die Würde seiner Bürger zu sein. In diesem Zustand ist es sehr schwer eine Handlung zu finden, ein Wort.

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