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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Debattenschau № 62: Sexuelle Belästigung in der Duma

    Debattenschau № 62: Sexuelle Belästigung in der Duma

    Eine #MeToo-Debatte für die russische Duma: Als erste meldeten sich die Doshd-Produzentin Darja Shuk und die stellvertretende RTVi-Chefredakteurin Jekaterina Kotrikadse zu Wort. Die Journalistinnen klagten öffentlich über sexuelle Belästigung durch den Duma-Abgeordneten Leonid Sluzki. Sluzki selbst bestreitet die Anschuldigungen und hat sich auf seiner Facebook-Seite sogar darüber lustig gemacht. Besondere Brisanz gewann das Thema, als sich Faida Rustamowa den Vorwürfen anschloss: Die Journalistin der russischen BBC gab an, Sluzki sei ihr mit der Handfläche über den Schamhügel gefahren. Rustamowa ließ während ihres Gesprächs mit Sluzki ein Diktiergerät laufen, die BBC veröffentlichte später Ausschnitte daraus:

    „Mein Häschen, willst du nicht auf deine BBC [scheißen – dek]? Und ich nehm dich irgendwohin mit? […] Du läufst ja vor mir weg, willst nicht küssen, ich bin echt beleidigt.”
    „Leonid Eduardowitsch, ich habe einen Freund.”
    „Verlass ihn.”
    „Will ich nicht.”
    „Warum nicht?”
    „Ich will ihn heiraten.”
    „Perfekt. Dann wirst du seine Ehefrau und meine Geliebte!”

    Der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin verkündete am Mittwoch, die Fälle würden untersucht werden. „Ist Ihnen die Arbeit in der Duma zu gefährlich? Dann wechseln Sie doch den Job!“, empfahl er zugleich einer in der Duma akkreditierten Journalistin und gratulierte zum bevorstehenden Internationalen Frauentag.

    Der Fall sorgte für heftige Sexismus-Debatten in russischen Medien, wie es sie seit der #янебоюсьсказать-Aktion nicht mehr gegeben hat. dekoder zeigt einzelne Stimmen daraus.

    Meduza: Sluzki muss gehen

    Die MeduzaRedaktion meldet sich eigentlich selten in einer eigenen Kolumne zu Wort. Im Fall Sluzki war es den Redakteurinnen und Redakteuren aber ein Anliegen, den Rücktritt des Abgeordneten zu fordern:

    [bilingbox]Die russischen Abgeordneten wissen mindestens genau so viel wie wir. Wir wissen – das heißt, auch sie wissen –, dass der Abgeordnete Leonid Sluzki mehrere Jahre im Parlament arbeitende Journalistinnen sexuell belästigt hat. Wir wissen – das heißt, auch sie wissen –, dass die Anschuldigungen gegen ihn belegt sind durch mehrere voneinander unabhängige, nicht-anonyme Quellen sowie einen Audio-Mitschnitt. Wir wissen – das heißt, auch sie wissen –, dass Sluzki diese Anschuldigungen zurückweist, sich darüber lustig macht und nicht vorhat, sich zu entschuldigen. Wir wissen – das heißt, auch sie wissen: Wenn Sluzki seinen Sitz behält und wenn seine Handlungen keine Folgen haben, dann wird er weiter Frauen belästigen, immer wieder. Und nicht nur er.

    Wir wissen – das heißt auch sie wissen – Leonid Sluzki muss sein Mandat selbst abgeben oder dazu gezwungen werden.~~~Российские депутаты обладают как минимум той же информацией, что и мы. Мы знаем — а значит, и они знают, — что депутат Леонид Слуцкий на протяжении многих лет сексуально домогается работающих в парламенте журналисток. Мы знаем — а значит, и они знают, — что обвинения в его адрес подтверждены несколькими независимыми друг от друга неанонимными источниками, а также аудиозаписью. Мы знаем — а значит, и они знают, — что Слуцкий отказывается признавать эти обвинения, высмеивает их и не собирается извиняться. Мы знаем — а значит, и они знают: если Слуцкий сохранит свое кресло, а его действия останутся без последствий, он будет продолжать домогаться женщин снова и снова. И не только он.

    Мы знаем — а значит, и они знают: Леонид Слуцкий должен сдать мандат сам — или его должны заставить это сделать.[/bilingbox]

     
    veröffentlicht am 7. März 2018

    Doshd: Missverständnis?

    Wladimir Shirinowski äußerte sich als einer der ersten zum Thema. Der Chef der LDPR will von den Vorfällen seines Parteikollegens Sluzki nichts gewusst haben und verspricht, mit ihm darüber zu sprechen. Gleichzeitig betont er im Interview gegenüber Doshd, dass es sich möglicherweise um ein Missverständnis handeln könne:

    [bilingbox]Man muss hier das Ziel betrachten. Vielleicht möchte er bei den Journalisten Interesse für sich wecken. Vielleicht möchte er sie dazu bringen, dass sie doch bitteschön zu ihm kommen und ein Interview machen. Ich spreche hier über das Ziel seines Verhaltens, das Motiv. Ich sage nicht, dass das gut ist. Es gibt einfach ein Motiv … Ich weiß noch, wie wir im Grundschulalter Mädchen am Zopf gezogen haben, damit sie sich umdrehen und schauen. Was anderes fiel uns nicht ein. […] Die Motivation ist womöglich gar nicht der Wunsch, jemanden zu kneifen oder anzufassen, sondern einfach die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.~~~Здесь надо смотреть цель. Может быть, он хочет у журналистов вызвать интерес к себе. Он этим самым, может быть, хочет заставить, мол, приходите, берите интервью. Я вам говорю про цель поведения, мотив. Я не говорю, что это хорошо. Просто есть мотив… Я помню, в младших классах школы мы дергали девочек за косичку, чтобы она повернулась и посмотрела. Другого пути не было у нас. […] Мотивация бывает не желание кого-то ущипнуть, дотронуться, а чтобы на него как на человека просто обратили внимание.[/bilingbox]

     
    veröffentlicht am 22. Februar 2018

    Kommersant FM: Keine Konsequenzen

    Dimitri Drise bezweifelt auf Kommersant FM, dass es ernsthafte Konsequenzen für Sluzki geben könnte. Schuld daran sei eine besondere Wahrnehmung der parlamentarischen Klasse:

    [bilingbox]Unabhängig davon, ob Sluzki angebaggert hat oder nicht, ob es eine Belästigung gab oder ob das alles Fantasien der oppositionellen Presse sind – das Wichtigste ist natürlich die Reaktion der Kollegen Abgeordneten und des Vorsitzenden. Wer sind denn schon Journalisten für die hohe Duma-Führung und für Sluzki selbst? Niemand. Einfache Leutchen. Denkt nur, er hat betatscht – sollen sie sich doch freuen. Er ist Abgeordneter, Ausschussvorsitzender – er darf das. Das ist die privilegierte Klasse. Etwas anderes wäre es, wenn er gewagt hätte zu sagen, dass „Krim nicht unser“ sei. Dann wäre es aus – das Mandat niedergelegt und allgemeine Verurteilung, da kommt schon gern mal das Untersuchungskomitee zu Besuch. So ist es nur eine Lappalie, nichts weiter: Wir werden es nicht zulassen, dass jemand den gesetzgebenden Arm der Staatsmacht kompromittiert.~~~Безотносительно того, приставал Слуцкий или нет, был харассмент или это все фантазии оппозиционной прессы — здесь главное, конечно, реакция и коллег-депутатов, и спикера. Кто такие журналисты для высокого думского начальства и самого Слуцкого? Да никто. Простые людишки. Подумаешь, потрогал, — должны радоваться. Он же депутат, председатель комитета — ему можно. Это привилегированный класс. Другое дело — если бы вдруг смел сказать, что, допустим, «Крым не наш». Вот тогда все — в момент мандат на стол и всеобщее осуждение, а там, глядишь, и Следственный комитет в гости. А так — мелочь, да и только: никому не дадим компрометировать законодательную ветвь власти.[/bilingbox]

     
    veröffentlicht am 08. März 2018

    Echo Moskwy: Journalistinnen sollten anständiger rumlaufen

    Tamara Pletnjowa sitzt für die Kommunistische Partei in der Duma, wo sie Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder ist. Gegenüber Echo Moskwy verteidigt sie ihren Kollegen und sucht gleichzeitig die Schuld bei den Journalistinnen selbst:

    [bilingbox]Ich kenne Slutzki schon viele Jahre. […] Ich sage Ihnen ganz aufrichtig: Sluzki ist ein wohlerzogener Mensch, sehr gebildet, ein großer Denker, der sich in internationalen Fragen auskennt, und Frauen gegenüber verhält er sich immer warmherzig. Vielleicht scherzt er ein wenig herum, kann sein – irgendwelche Scherze …, aber dass er eine Frau beleidigt, das werde ich niemals glauben.

    Zudem möchte ich sagen – diese Journalisten-Mädels sollten ein wenig anständiger herumlaufen und nicht mit nacktem Bauchnabel, es ist ja schließlich eine staatliche Institution, […] Ich sehe, wie sie tagelang endlos in den Cafeterien herumsitzen und dann allen möglichen Unsinn schreiben. Was nicht alles über die Duma gesagt wird, dabei sitzen wir von morgens bis in die Nacht über der Arbeit. Deswegen ist das ziemlich bitter, ich will fast sagen beleidigend für ihn, ganz ehrlich, dass er in diese Geschichte hineingeraten ist.~~~Я знаю Слуцкого уже много лет. […] Слуцкий, искренне вам говорю, человек воспитанный, очень грамотный, интеллектуал большой, занимается международными вопросами и к женщинам относится всегда с теплотой. Может быть, он что-то может пошутить, это может — пошутить что-нибудь… но чтобы он оскорблял женщину, я в это никогда не поверю.

    Кроме того, хотела бы сказать, что эти девочки-журналистки ходили бы поприличнее, одевались бы, ведь это государственное учреждение, а не ходили с голыми пупками. […] А то я смотрю, они целыми днями сидят здесь в буфетах бесконечно, а потом напишут всякую ерунду. Чего только не наслушаешься про Думу, хотя мы здесь с утра до ночи занимаемся работой. Поэтому очень обидно, мне даже за него обидно, честное слово, что он попал в эту историю.[/bilingbox]

     
    veröffentlicht am 07. März 2018

    Novaya Gazeta: Der russische Harvey Weinstein

    Geschlechterrollen als heilige Kuh: Anna Narinskaja sucht in der Novaya Gazeta nach den Wurzeln des Problems:

    [bilingbox]Manchmal scheint es, die Rollenverteilung von Männern und Frauen in der Familie und im Leben überhaupt sei die wichtigste aller uns verbindenden Klammern. Das Wichtigste sind für uns die traditionellen Werte, an die wir uns halten, die wir nicht bereit sind aufzugeben. Wir sind bereit, den fremdländischen Harvey Weinstein zu verteidigen sowie sein russisches Double, den Abgeordneten Leonid Sluzki („Was ist schlecht daran, einer Frau an den Hintern zu tatschen? Das schmeichelt ihr doch nur“), weil das die uns herzliebe Disposition nicht zerstört. Der Mann ist der Hausherr und die Frau … die Frau macht die Hausarbeit.~~~Иногда кажется, что вот это распределение женско-мужских ролей в семье и вообще в жизни, — главная из имеющихся у нас скреп. Главное традиционная ценность, за которую мы держимся, которой не готовы поступиться. Мы готовы защищать чужестранного Харви Вайнштейна и его отечественного дублера, думца Леонида Слуцкого («А что плохого в том, чтобы похлопать женщину по заднице? Это ей только льстит»), потому что это не нарушает дорогой нашему сердцу диспозиции. Мужчина — хозяин жизни, а женщина… женщина — она по хозяйству.[/bilingbox]

     
    veröffentlicht am 5. März 2018

    dekoder-Redaktion

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  • Camembert, wo?

    Camembert, wo?

    Vor gut zwei Jahren hat Russland auf die westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise mit einer Einfuhrsperre für Agrarprodukte reagiert. Von Fleisch bis Milch ist seitdem fast alles verboten und darf nicht importiert werden. Das ist die Theorie. In der Praxis gelingt es findigen Händlern, Lebensmittel aus den Embargo-Ländern hier und da weiter ins Land zu bringen, auch wenn Russland an seinen Grenzen immer wieder Tonnen um Tonnen vernichtet.

    So liegt auf einem großstädtischen Fischmarkt mal eben frischer norwegischer Lachs oder im Laden nebenan ein litauischer Käse, der auf Zwischenstation in Weißrussland kurzerhand als „Made in Belarus“ umdeklariert worden ist. Das aber ist über die Zeit seltener geworden. Wer dagegen in St. Petersburg nicht auf die Lebensmittel aus dem westlichen Ausland verzichten will, dem sind auch fliegende Händler behilflich, die schon seit Jahren am Zoll vorbei auf dem Schwarzmarkt aktiv sind. Deren Geschäft ist seit der Einfuhrsperre noch lukrativer geworden.

    So oder so sind durchgesickerte Lebensmittel schwer zu finden. Angestellte einer Petersburger Bezirksverwaltung haben da ihre eigenen, zuverlässigen Quellen – und die Novaya Gazeta hat sich das angeschaut.

    Bürotür ist nicht gleich Bürotür in einer Petersburger Bezirksverwaltung / Foto © Nikita Kravchuk/flickr
    Bürotür ist nicht gleich Bürotür in einer Petersburger Bezirksverwaltung / Foto © Nikita Kravchuk/flickr

    Jeden Tag betritt Maria Schtscherbakowa ihr Verwaltungsgebäude am Newski-Prospekt Nummer 176. Die Vorsteherin des St. Petersburger Bezirks Zentralny geht die Treppe hoch und betritt ihr Büro, ohne auch nur zu ahnen, was sich gleichzeitig eine Etage tiefer abspielt …

    Dort laufen nämlich Geschäfte mit Waren, die es in Russland eigentlich gar nicht geben dürfte. Aber Maria Schtscherbakowa weiß nichts davon. Zumindest wenn man ihren Worten Glauben schenken darf.

    Vor gut zwei Jahren hat Russland den Import von Lebensmitteln eingeschränkt. Auf der Verbotsliste landeten Fleisch, Wurst, Fisch, Gemüse, Obst und Milchprodukte. Dann, Ende Juli 2015, unterschrieb Wladimir Putin noch einen Erlass, demzufolge die illegal eingeführten Lebensmittel zu vernichten sind. Allein zwischen dem 5. und dem 22. August 2015 wurden insgesamt 173,4 Tonnen mit Traktoren plattgewalzt.

    Den Angestellten der Verwaltung des Bezirks Zentralny machen die Sanktionen jedoch nichts aus. Zweimal in der Woche ist hier im Erdgeschoss Hochbetrieb. Mit geheimnisvollen Mienen kommen Verwaltungsmitarbeiter aus einem Räumchen neben der Kantine gelaufen. In den Händen – weiße Tüten. Und in den Tüten sind sanktionierte Lebensmittel: Käse und Wurst, mitgebracht von fliegenden Händlern aus den Nachbarländern Finnland und Estland.

    Je näher die Mittagspause rückt, desto voller wird es

    Um in diesen geheimen Laden zu gelangen, geht es an Wachleuten und Drehkreuzen vorbei direkt zu dem Schild mit der Aufschrift „Kantine“, dann die Stufen hinab. Rechts sieht man ein ausgeblichenes Plakat mit der Aufschrift: „Finnland – ein Märchen!“ Auf dem Plakat sind lappländische Rentiere zu sehen, hinter der Tür eröffnet sich der Raum mit den verbotenen Waren. Eine Kasse gibt es nicht, dafür einen Kühlschrank, in dem das Essen lagert. Ein Ladentisch und Schränke voll Käse, Wurst und Milchprodukten füllen den Raum. Etwas abseits stehen noch Haushaltswaren und Päckchen mit finnischem Kaffee.

    Aber ich will Käse.

    „Was es hier alles gibt!“, bemerkt die Verkäuferin recht familiär und öffnet vorsichtig den Kühlschrank. Und tatsächlich: Da sind Camembert, Parmesan, Brie, Dorblu …

    200-Gramm-Blöcke Mangelware für 120 bis 150 Rubel [1,65 Euro bis 2 Euro] gehen schnell weg. „Diese Stinker hier sind etwas teurer“, sagt die Verkäuferin und zeigt stolz ein Stück Dorblu. „Gibt es sonst nirgends!“

    Der etwas einfachere Käse – abgepackt als 500-Gramm-Aufschnitt – geht zum Schleuderpreis von 300 Rubel [4,15 Euro] über den Ladentisch.

    Eine Kundin betritt den kleinen Laden, eine mittelgroße, zierliche junge Frau in strengem Kostüm. Auch sie möchte Käse. Kühlschranktür auf, Kühlschranktür zu, und eine Packung Camembert landet in der weißen Tüte.

    Der Laden ist sehr beliebt. Um die ersehnten Köstlichkeiten zu kaufen, müssen die Beamten manchmal sogar Schlange stehen. Ich sag nur „Mangelware“! Außerdem ist der Laden nur donnerstags bis 12 und freitags bis 14 Uhr geöffnet

    Die Beamten kommen in Wellen, je näher die Mittagspause rückt, desto voller wird es. Als eine Welle abflaut, schaffe ich es, ein paar Worte mit der Verkäuferin zu wechseln. Sie erzählt mir, den Laden im Verwaltungsgebäude gebe es schon seit drei Jahren und beteuert, „die da oben“ wüssten von seiner Existenz.

    Gibt es da etwa einen Laden?

    In der Verwaltung bestreitet man das empört. Elena Serbinowa, sie ist verantwortlich für das Gebäude, sagt: „Kantine und Bezirksverwaltung haben nichts miteinander zu tun. Es gibt hier ein Restaurant der Kette Amrots und denen gehört die Kantine.“

    Ich frage noch einmal nach, für alle Fälle: „Diese Räume sind also gar nicht Teil der Verwaltung?“
    „Das Gebäude ist in zwei Hälften aufgeteilt: In der einen befindet sich die Verwaltung, sie gehört der Stadt. Die andere gehört der Immobilienverwaltung Jugra.“
    „Und dass in der Verwaltungskantine Sanktionswaren verkauft werden, stört Sie nicht?“
    „Diese Räumlichkeiten gehören uns nicht, also kann ich nichts dazu sagen.“

    Elena Serbinowa beendet das Gespräch.

    Nach Angaben von SPARK, einer Datenbank für professionelle Markt- und Unternehmensanalysen, wird das Gebäude am Newski-Prospekt 176 tatsächlich nicht allein von der Bezirksverwaltung genutzt. Zehn Firmen sitzen in dem Haus, darunter die von Serbinowa erwähnte Immobilienverwaltung Jugra und das Restaurant Amrots. Allerdings sind sie in einem anderen Gebäudeteil und haben einen separaten Eingang, anders als das Wohnungsamt des Bezirks und die Territorialen Wahlkommissionen Nr. 16 und 30, deren Schilder am Eingang des Verwaltungsgebäudes hängen.

    Derweil hat auch im Amrots niemand die leiseste Ahnung davon, dass hier Verwaltungsbeamte mit Sanktionswaren versorgt werden.

    „Damit haben wir nichts zu tun“, erklärt Anait Paradjan entschlossen, sie ist die Geschäftsführerin des Betriebs. „Wir haben hier ein Restaurant für 500 Gäste, aber keinen Laden. Gibt es da etwa einen Laden? Keine Ahnung, wer da was verkauft.“

    Die Immobilienverwaltung Jugra OOO, die in der Bezirksverwaltung als zweiter möglicher Betreiber des Sanktionswarenladens gilt, hat mit dem Ganzen ebensowenig zu tun, ist aber zweifelsohne auch für sich gesehen ein interessanter Laden. Die Organisation wurde gegründet von der Behörde für die Verwaltung von Staatseigentum des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen (auch Jugra genannt) und beschäftigt sich mit der Vermietung von Gewerbe-Immobilien.

    Nun ja, auf der Liste der Büroräume am Newski-Prospekt 176 gibt es jedenfalls keinen einzigen Raum, der auch nur entfernt an das Kämmerlein erinnern würde, in dem mit sanktioniertem Käse gehandelt wird. Und all die genannten Büros befinden sich in dem anderen Gebäudeteil und haben anscheinend nichts mit der Bezirksverwaltung zu tun.

    Keine Ahnung, ich weiß von nichts

    Anfangs dachte ich, am einfachsten wäre es, die Nachfrage zum Camembert an Bezirksvorsteherin Maria Schtscherbakowa bei einem Treffen mit ihren Wählern anzubringen. Im St. Petersburger Büro der Partei Einiges Russland, für die Schtscherbakowa kandidiert, konnte man uns aber nichts über Schtscherbakowas Wahlkampagne sagen und empfahl uns, direkt bei der Bezirksverwaltung von Zentralny anzurufen.   

    Dort hieß es, wir sollten eine gewisse Anna Jurjewna anrufen, die Schtscherbakowas Wahlkampfstab leite. Sie sagte uns wiederum, dass keine Treffen mit Wählern vorgesehen seien. Wenn die Einwohner irgendwelche Fragen an ihre Kandidatin hätten, könnten sie sich für einen Termin in ihrer Sprechstunde als Bezirksvorsteherin anmelden.

    Schließlich gelang es uns, Schtscherbakowas Handynummer herauszubekommen.

    „Maria Dmitrijewna, warum wird im Erdgeschoss der Bezirksverwaltung mit Sanktionswaren gehandelt?“
    „Mit was für Waren?“
    „Mit Sanktionswaren.”
    „Was soll das sein? Nie gehört …“
    „Haben Sie nicht davon gehört, dass  die Regierung 2014 eine Liste von Lebensmitteln erstellt hat, die nicht aus Europa nach Russland importiert werden dürfen? Käse, Wurst …“
    „Weder das Gebäude noch der Raum gehören der Verwaltung, das kann ich Ihnen gleich sagen.“
    „Aber dass es Sanktionswaren gibt, das wissen sie schon?“
    „Nein, keine Ahnung, ich weiß von nichts und habe nie sowas gekauft. Das ist nicht unser Raum. Unsanktionierte Ware habe ich noch nie gekauft.“
    „Wir reden von sanktionierten Waren …“
    „Nie davon gehört. Nie etwas gekauft. Der Raum gehört nicht der Verwaltung.“
    „Warum befindet er sich dann im Verwaltungsgebäude?“
    „Das ist kein Verwaltungsgebäude, damit Ihnen das mal klar ist. Die Verwaltung mietet lediglich ein Zehntel des Gebäudes.“
    „Stört es Sie nicht, dass im selben Gebäude, in dem die Bezirksverwaltung sitzt unerlaubter Handel betrieben wird?“
    „Ich weiß von keinem Handel. Dazu kann ich nichts sagen.“

    Bitte noch den Brie

    Im Laden erkundige ich mich nach dem Preis von Parmesan, lasse mir dann aber Camembert und ein Stück Brie einpacken. Jetzt teile ich mit den Beamten der Bezirksverwaltung ein Nomenklatura-Geheimnis. Einen Kassenbon gibt’s nicht.

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  • Lew Tolstoi, der alte Hipster

    Lew Tolstoi, der alte Hipster

    Er galt nicht nur als lebender Klassiker der russischen Literatur, sondern auch als echter Trendsetter: So wurde noch zu Lew Tolstois Lebzeiten sein Landgut Jasnaja Poljana zu einem Pilgerort. Denn Lew Nikolajewitsch liebte Erfindungen und Experimente und verwandelte sein Haus in ein Zentrum von Innovationen. Wie der nicht so alltägliche Alltag in Jasnaja Poljana aussah, erkundet Maria Bessmertnaja auf Kommersant-Weekend anhand von Erinnerungen der Gäste Tolstois.

    Zum 188. Geburtstag des Schriftstellers am 9. September 2016 bringt dekoder ihren Text erstmals auf Deutsch, der zeigt: Tolstoi war ein echter Hipster. Und bei allem Augenzwinkern verrät Bessmertnajas ehrfürchtiger Ton außerdem: Ein Schriftsteller ist in Russland nicht einfach nur ein Schriftsteller. Sondern eigentlich heilig. Mindestens.

     

    FITNESS

    „Er streckte seine Hände aus und hob mich hoch in die Luft – als wäre ich ein kleiner  Hund

    Cesare Lombroso, Mein Besuch bei Tolstoi, 1902

    Am Tag meiner Ankunft spielte er zwei Stunden mit seiner Tochter Rasen-Tennis, danach bestieg er ein von ihm selbst aufgezäumtes und gesatteltes Pferd und lud mich ein, mit ihm baden zu gehen. Es bereitete ihm besondere Freude zu sehen, dass ich nach einer Viertelstunde nicht mehr in der Lage war, hinter ihm her zu schwimmen. Und als ich meine Bewunderung für seine Stärke und Ausdauer zum Ausdruck brachte und meine eigene Ohnmacht beklagte, streckte er seine Hände aus und hob mich ziemlich hoch in die Luft – mit einer Leichtigkeit, als wäre ich ein kleiner Hund. 

    Tolstoi hat seinerzeit sehr für Sport geworben. Er machte ausdauernde Spaziergänge zu Fuß, trieb Gymnastik, schwamm, ritt und lief und bewies am eigenen Beispiel, dass das Bild eines Intellektuellen, der nicht in der Lage ist, etwas Schwereres als ein Buch zu heben, der Vergangenheit angehören sollte.


    SELFIE

    „Lew Nikolajewitsch freute sich wie ein Kind, als er sich auf den Bildern erkannte

    Sofja Tolstaja, Tagebuch, 1910

    Am Abend brachte Tschertkow die Fotos vorbei, die er in Mestscherskoje gemacht hat, wo ihn Lew Nikolajewitsch besucht hatte. Und Lew Nikolajewitsch freute sich wie ein Kind, als er sich selbst auf den ganzen Bildern erkannte.

    Zu Beginn der 1860er Jahre wurde die Fotografie in Russland zur Massenmode und machte auch um Tolstoi keinen Bogen – der ja alle technischen Neuerungen verfolgte. Als größte Fotoamateurin der Familie galt zwar Sofja Andrejewna, aber auch Tolstoi hatte etliche Kameras. 1862 machte er sogar ein Selfie. Aber im Unterschied zu seinen Zeitgenossen, die die Fotografie lediglich als Spielerei betrachteten, ahnte und schätzte Tolstoi ihre großen Möglichkeiten. Und obwohl sein fotografisches Lieblingsgenre das Porträt war, sagte er gerade der Reportage-Fotografie eine große Zukunft voraus.


    VEGGIEBURGER

    „O ja! Ich war auch mal jung … und der Kaukasus war jung … und die Fasane waren jung …“

     

    Leonid Pasternak, Wie der Roman „Auferstehung“ geschaffen wurde: Aus meinen Erinnerungen an Tolstoi, 1928

    Eines Tages, als wir beide unten saßen, kam Tatjana Lwowna rein, um mich zu fragen, was sie für mich kochen sollte (Sofja Andrejewna war verreist, und Tatjana Lwowna kümmerte sich an ihrer Stelle um den Haushalt). Bei den Tolstois wurden immer zwei unterschiedliche Gerichte gekocht: einmal mit Fleisch und einmal ohne  ̶  für Lew Nikolajewitsch und andere Vegetarier. Lew Nikolajewitsch, wie immer humorvoll, hat sofort damit angefangen, uns Ratschläge zu geben, was man für mich kochen sollte. Und am Ende sagte er lachend: „Na gut, Tanja, sag dem Koch, er soll für Leonid Ossipowitsch einen Fasan braten.“ (Dabei schaute er durchs Fenster in den Park.) Und dann, nach einer kurzen Denkpause, fügte er mit gedehnten Worten hinzu: „O ja! Ich war auch mal jung … und der Kaukasus war jung … und die Fasane waren jung …“


    Laut dem Interview, das Lew Tolstoi 1908 der amerikanischen Zeitschrift Good Health gab, wurde er gegen 1883 Vegetarier. Dieser Entschluss war die logische Folge seiner Lehre davon, dass jegliche Gewalt unmoralisch sei. 1893 schrieb Tolstoi den Artikel Die erste Stufe. Ursprünglich wurde der als Vorwort zum Buch von H. Williams Ethik des Essens veröffentlicht, das eine wichtige Rolle dabei spielte, den Vegetarismus in Russland populär zu machen. Es wurde das erste Handbuch für Vegetarier in Russland. Unter Tolstois Einfluss verzichteten nicht nur seine engen Freunde auf Fleisch (Nikolaj Ge, Ilja Repin, Nikolaj Leskow), sondern auch weite Kreise der Moskauer Gesellschaft  ̶  1912, schon nach Tolstois Tod, wurde dort sogar der Verein Geistiges Erwachen gegründet, der den Ersten Allrussischen vegetarischen Kongress organisierte.



     

    NORMCORE

    „Wie schön wäre es, wenn der Lew Nikolajewitsch tatsächlich so wäre!

    Nikolaj Gussew, Zwei Jahre mit Tolstoi, 1907 bis 1909 


    Gestern bekamen wir die Jubiläumsausgabe der Ussurijskaja Molwa, in der ein Artikel über Lew Nikolajewitsch veröffentlicht wurde mit einem Foto, auf dem er in einer Poddjowka, der Pilgerkleidung, und mit einer Tasche über der Schulter, zu sehen war. Lew Nikolajewitsch betrachtete dieses Foto lange und sagte dann mit leiser, nachdenklicher, trauriger Stimme zu mir: „Wie schön wäre es, wenn der Lew Nikolajewitsch tatsächlich so wäre!“

     

    Tolstois Verzicht auf Adelskleidung entsprach seiner Überzeugung, dass die Standesunterschiede überwunden werden müssen. Tolstoi kreierte zwar keine neue Mode, nahm aber den Demokratisierungs-Trend in Sachen Kleidung vorweg, um den im Laufe des gesamten 20. Jahrhunderts gekämpft werden sollte.


    LOKALE MARKEN

    „Heute hat Lewotschka eine Galosche genäht

     

    Sofja Tolstaja, Brief an Tatjana Kusminskaja, 1884 

    Heute hat Lewotschka eine Galosche genäht. Da kommt er zu mir, um sie mir zu zeigen, und sagt: „C’est délicieux!“ Die Galosche war aber sehr grob genäht und hatte einen hässlichen Schnitt.

    Seine ersten Stiefel nähte Tolstoi 1884. Darüber schreibt Sergej Arbusow in seinen Memoiren, er diente bei den Tolstois als Lakai. Damals kam Tolstoi zu der Überzeugung, dass die Schriftstellerei eine sinnlose Beschäftigung sei, und wollte irgendeinen „echten“ Beruf lernen. Schließlich fand er in Jasnaja Poljana einen Schuster, der sich bereit erklärte, ihn auszubilden. Wegen dieses Hobbys wurde Tolstoi, der nicht nur für sich, sondern auch für Freunde und Familie Schuhe nähte, Inkonsequenz unterstellt – denn zu diesem Zeitpunkt war er bereits Vegetarier. Allerdings mochte auch Tolstoi selbst seine „Rindsleder-Stiefel“ nicht besonders gern und brach stattdessen zu mehrstündigen Spaziergängen immer wieder in Bastschuhen mit Galoschen auf.  


    BIKING

    „Die Kunst des Radfahrens erlernte der Graf ohne große Mühe, und er fährt jetzt völlig sicher und frei

    Wassili Maklakow, Aus Erinnerungen, 1954

    Als die Fahrräder in Mode kamen, schloss Tolstoi trotz seines hohen Alters das Radfahren ins Herz. Einmal fragte ich ihn in Jasnaja Poljana, warum er lieber das Fahrrad nahm anstatt zu reiten. Er erklärte mir damals, dass er ab und zu komplette mentale Erholung brauche. Und wenn er zu Fuß liefe oder reite, hindere ihn das nicht daran zu denken, sodass sein Gehirn sich nicht ausruhe. Wenn er aber mit dem Rad fahre, müsse er auf den Weg achten, sprich auf Steine, Radspuren und Löcher; und dabei höre er auf zu denken.

    Ein Fahrrad der englischen Marke Rover bekam Tolstoi 1895 – also, als diese Sportart sich in Russland gerade erst zu entwickeln begann – von der Moskauer Gesellschaft der Fahrradfahrer geschenkt. Auch hier war Tolstoi ein Trendsetter, denn er wurde mit 67 Jahren zum Gesicht einer neuen Sportmode.

    In der Fahrrad-Zeitschrift Cycliste erschien ein Artikel, in dem es hieß, dass Tolstoi nicht nur selbst Fahrrad fuhr, sondern auch seinen Kindern das Radfahren beibrachte: „Wir haben ihn vergangene Woche dabei beobachtet, wie er, in sein traditionelles Hemd gekleidet, in der Reitbahn Fahrrad fuhr. Die Kunst des Radfahrens erlernte der Graf ohne große Mühe, und er fährt jetzt völlig sicher und frei. Auch die Kinder von Lew Nikolajewitsch sind Radfahrer.“



    „Dürfte ich Sie bitten, mit dem Phonographen eine kurze Ansprache an die Völker der ganzen Welt zu machen?

    Thomas Edison, Brief an Lew Tolstoi, 1908

    Gnädiger Herr! Dürfte ich Sie darum bitten, mit dem Phonographen eine oder zwei Aufnahmen auf Französisch oder Englisch zu machen, am besten eine kurze Ansprache an die Völker der ganzen Welt, in beiden Sprachen? Idealerweise sollte es eine kurze Ansprache an die Völker der Welt sein, in der Sie eine Idee zum Ausdruck bringen würden, die die Menschheit in moralischer und sozialer Hinsicht nach vorne bringt. Sie sind weltberühmt, und ich bin mir sicher, dass Ihre Worte dann von Millionen von Menschen mit begieriger Aufmerksamkeit gehört werden.

    Die erste Aufnahme, auf der Tolstois Stimme zu hören ist, stammt von 1895. Sie wurde im Haus von Juli Blok gemacht – einem Pionier der russischen Tonaufnahme. In den Besitz eines eigenen Phonographen kam Tolstoi aber erst 13 Jahre später: Thomas Edison persönlich schickte ihm 1908 seine Erfindung. Zusammen mit dem Geschenk kam ein Brief, in dem er Tolstoi darum bat, spezielle Aufnahmen für nicht-russischsprachiges Publikum zu machen.

    Pawel Birjukow erinnert sich daran, dass Tolstoi den Phonographen mit großer Aufregung erwartete, die für ihn untypisch war. Aber er freute sich schon auf den Nutzen, den ihm dieses Gerät bringen würde. Und tatsächlich wurde Tolstoi zum ersten russischen Schriftsteller, der den Phonographen für seine Arbeit verwendete: Er nahm belletristische Werke, Briefe, Publizistik und Märchen auf, die er dann in der Schule von Jasnaja Poljana den Kindern vorspielte.  


    KINDERERZIEHUNG

    „In jeder Schule wimmelt es nur so von ‚ertrinkenden‘ Puschkins, Ostrogradskis und Lomonossows

    Lew Tolstoi, Brief an Alexandra Tolstaja, 1874

    Wenn ich die Schule betrete und diese Schar zerlumpter, schmutziger, magerer Kinder sehe, mit ihren hellen Augen und oft engelhaften Gesichtern, überkommen mich Besorgnis und Entsetzen  ̶  wie beim Anblick ertrinkender Menschen … Ich wünsche mir Bildung für das Volk, nur um diese ganzen „ertrinkenden“ Puschkins, Ostrogradskis und Lomonossows zu retten. Denn in jeder Schule wimmelt es nur so davon.

    1859 wurde in Jasnaja Poljana eine Schule für Bauernkinder eröffnet. Auf dem Lehrplan standen: Lesen, Schreiben, Kalligrafie, Grammatik, heilige Geschichte, russische Geschichte, Mathematik, naturwissenschaftliche Diskussionen, Malen, technisches Zeichnen, Singen und Religion.

    Das leitende pädagogische Prinzip bestand darin, dass auf die Schüler kein Druck ausgeübt wurde: Der Unterricht, der unter anderem von Tolstoi selbst gegeben wurde, wurde zeitlich frei eingeteilt, es bestand keine Pflicht, Hausaufgaben zu machen, und der Schwerpunkt wurde darauf gelegt, die Kinder zu eigenständigem Denken anzuregen.


    VINYLOPHILIE

    Also!, sagte Lew Nikolajewitsch laut. Also!, wiederholte er begeistert. Sein rechtes Bein zuckte, seine Augen leuchteten. Na, so was! Aber echt! – sagte er angetan

    Alexej Sergejenko, Tanzmusik (Anekdoten über L.N. Tolstoi: Aus Erinnerungen, 1978)


    Am 9. Dezember 1903 kamen mein Vater und ich nach Jasnaja Poljana und brachten, gemäß W. W. Stassows Bitte, ein Grammophon mit. Das war damals noch eine echte Kuriosität und Lew Nikolajewitsch hatte so etwas noch nie gehört. […] Am Abend versammelten sich alle Hausbewohner inklusive Lew Nikolajewitsch im Salon. Das Grammophon mit dem riesigen Trichter stellte man auf den Flügel. Mein Vater und ich zogen das Federwerk auf und legten Schallplatten auf. Es wurden Werke von Beethoven, Chopin und Tschaikowski gespielt sowie Opernarien und ein Geigentrio. Alle lauschten der Musik ernst und konzentriert und wunderten sich über die unglaubliche Erfindung, die in der Lage war, die in der Natur vorhandenen Laute wiederzugeben. Lew Nikolajewitsch sagte ab und zu mit Staunen: „Also …“ Dann ertönte das Tanzstück Die Pflasterstraße entlang. Der Chor sang keck: „Ein junges Mädel lief die Pflasterstraße entlang, lief kühles Quellenwasser holen …“ „Also!“, sagte Lew Nikolajewitsch laut. „Also!“, wiederholte er begeistert. Dann lächelte er und schüttelte den Kopf. Sein rechtes Bein zuckte, seine Augen leuchteten. „Na, so was! Aber echt!“ – sagte er angetan. Sein rechtes Bein zuckte wieder, sein linkes auch.      

    Sein Grammophon hat Tolstoi 1903 von seinem Schüler Alexej Sergejenko geschenkt bekommen. Tolstoi war ganz begeistert von dem Geschenk und erkannte später auch die großen aufklärerischen Möglichkeiten der neuen Technik. Tolstoi wurde zu einem enthusiastischen Nutzer des Phonographen. Seine einzige Kontroverse mit der Schallplattenindustrie entstand erst, als ihm klar wurde, dass die Aufnahmen seiner Stimme nur gegen Geld verbreitet wurden. Das hinderte die Firma Grammophon aber nicht daran, im Jahr 1910, gleich nach Tolstois Tod, Schallplatten mit seiner Stimme herauszugeben in einer für die damalige Zeit rekordverdächtigen Neuauflage von 100.000 Stück.

     

     

     

     

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  • Das wahre und das vermeintliche Vaterland

    Viel ist über „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew gerätselt worden: Ist es ein politischer Film? Ein metaphysischer? Ein religiöser? In diesem Text nimmt der Regisseur sein eigenes Werk unter die Lupe, und es zeigt sich: Ihm selbst geht es vor allem um die Ethik, um den Wert des einzelnen Menschen. Es sei ein urtypisches russisches Elend, sagt er, die Persönlichkeit des Einzelnen zu verachten, und nichts sei schädlicher für eine Zivilisation. „Leviathan“ ist für ihn vor allem ein Hymnus an die eigentliche Heimat des Menschen – die Menschlichkeit.

    Der folgende Text stammt aus dem Februar dieses Jahres, als Leviathan gerade in Russland in die Kinos kam. Ich habe ihn damals nicht veröffentlicht, weil ich den Zuschauern die Gelegenheit geben wollte, sich eine eigene Meinung über das Gesehene zu bilden. Jetzt aber, nachträglich, nachdem öffentlich wie privat so viel gesagt wurde, habe ich mich gefragt, wie ich selbst als Zuschauer den Film gesehen hätte. Bekanntlich kann man jedes Werk unterschiedlich interpretieren, und da es in einem Kunstwerk viele Sinnströme gibt, ist es oft schwer, sie alle in einer einzigen Aussage zu fassen. Hier möchte ich deshalb nur auf ein Thema des Films eingehen – auf eines der Hauptthemen.

    Wenn man mit der Arbeit an einem Film beginnt, sucht man unwillkürlich nach Parallelen und Verbindungen des eigenen Stoffes zu den ewigen Motiven. So war es auch hier: Als mir die Idee kam, die Geschichte der Konfrontation eines Einzelnen mit dem herzlosen Moloch des Systems zu erzählen, musste ich sofort an Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas denken, die in ihrer Spannung der wahren Geschichte des Pechvogels Marvin John Heemeyer – einem Schweißer aus Colorado – sehr ähnelt. Heemeyers Revolte war die erste Inspiration für meinen Leviathan. Später kamen die Anspielungen auf das Buch Hiob hinzu.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Alle Sujets wiederholen sich im Laufe der Zeit. Wir hatten nicht die Absicht, Kleists Novelle oder die Parabel von Hiob zu illustrieren oder die Geschichte des amerikanischen Schweißers faktentreu nachzuerzählen. Wozu auch? Die erste Geschichte kann man in den Bibliotheken, die zweite in der Bibel und die dritte auf YouTube finden. Sie alle bildeten lediglich den Nährboden, eine Art metaphysischen Lehm, aus dem ein völlig neues, eigenständiges Werk modelliert wurde, dessen hauptsächliches Material jahrelang beobachtete Eigentümlichkeiten und Liebreize des russischen Lebens waren. Und sein Titel wurde Leviathan.

    Der Dorfpriester Wassili verweist den Zuschauer am Ende des zweiten Drittels des Films auf den Schluss des Buches Hiob, wo dem Gerechten der Herrgott erscheint. An dieser Stelle des Alten Testaments erwähnt Gott Leviathan – das schreckliche Seeungeheuer, das unverwundbar und, wie alles andere unter der Sonne auch, von Ihm, dem Herrgott, erschaffen ist. Doch allein die Parallele zu den Bildern des Alten Testaments hätte nicht ausgereicht für die Entscheidung, unserem Film einen solch ernsten Titel zu geben. Ein Seenungeheuer, ein Wal hat noch nichts  gemein mit der vom Menschen selbst erschaffenen Maschine der Gewalt. Die Verwendung des Namens Leviathan in einem solchen Kontext ist aber nicht mein Verdienst. Lange vor uns hat die Geschichte selbst die Parabel von Hiob unter die Lupe genommen und den Sinn der Zitate verdeutlicht: Ich meine das Traktat von Thomas Hobbes, einem englischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens.

    Der große Wal, das schreckliche Ungeheuer – das ist der Staat, ein Idol, das vom Menschen zu seiner eigenen Sicherheit geschaffen wurde, zur Rettung vor sich selbst. Der Staat ist laut Hobbes der ideale Ausweg aus dem Zustand vom „Krieg aller gegen alle“, in dem „der Mensch dem Menschen ein Wolf ist“. Um dieser Sackgasse zu entkommen, hat die Menschheit den Staat erfunden – eine politische Ordnung, die auf dem Gesellschaftsvertrag basiert. Der Souverän stellt seinen Untertanen verschiedene Machtinstitutionen zur Verfügung, die dem einfachen Bürger Sicherheit garantieren sollen. Polizei, Gericht, gesetzgebende Versammlungen, mit anderen Worten: An die Stelle vom „Krieg aller gegen alle“ tritt ein administrativ-bürokratisches System, das die Beziehungen der Menschen untereinander regelt. Eine Lösung des Problems? Ja. Aber um diese Sicherheit zu erlangen, muss der Mensch dem Souverän seine Freiheit abtreten.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Als ich Hobbes’ Ideen kennenlernte, fiel mir sofort die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis auf. Besonders in unserem Fall ist doch klar, dass der Untertan, der seine Freiheiten dem Staat abtritt, davon ausgeht, dass sich der Staat als Gegenleistung dazu verpflichtet, ihn zu verteidigen. Das sind aber nur vermeintliche Verpflichtungen und es ist nur eine Illusion von Sicherheit. Denn laut Hobbes schuldet der Souverän niemandem etwas. Tatsächlich befindet sich der Mensch also in einem System heuchlerischer Sklaverei, wo der „Krieg aller gegen alle“ noch schrecklichere Formen annimmt, weil er sich hinter dieser Heuchelei versteckt. Indem der Mensch seine Freiheit abtritt, unterschreibt er faktisch einen Vertrag mit dem Teufel. Für mich bedeutet Hobbes’ Leviathan genau das, und zwar nicht auf dem Papier, sondern im Leben. Schrecklich ist weiterhin, dass Hobbes, dieser tiefgründige Analytiker der Struktur des Lebens, auch die Kirche als eine Form der Macht über die Menschen und als Stütze Leviathans sieht. In seinem Weltbild hätte Hobbes ihr aber lieber eine dem Souverän untergeordnete Rolle gegeben. Das wäre auch im Interesse der Kirche selbst. Es ist also kein Zufall, dass die Kirche dem Menschen vorschlägt, sich als Sklave sowohl Gottes als auch des Souveräns zu sehen und sich immer daran zu erinnern, welch bescheidenen Platz er in der Welt einnimmt und wie wenig individuelle Verantwortung er trägt.

    Hier stellt sich für den Menschen die fundamentale Glaubensfrage: Wer bin ich wirklich – ein Sklave Gottes oder Sein Sohn? Die Antwort scheint mir auf der Hand zu liegen: Ein Sklave verkauft seine Freiheit für einen Teller Suppe aus Angst vor seinem Schicksal, Angst um seine Zukunft und um das Wohl seiner Kinder … Kurzum, egal womit er diese freiwillige Sklaverei rechtfertigt, wenn er sein Schicksal anderen anvertraut, muss ihm doch bewusst sein, dass er im Tausch für etwas Vermeintliches seine größte Gabe, sein wahres Eigentum – den freien Willen – aufgegeben hat.

    Und dann, als Antwort auf diesen Handel, kam der furchtlose und opferbereite Menschensohn in die Welt und bot den Menschen die Befreiung an. Man hat ihn gekreuzigt, sich dann nach und nach Seinen Sieg angeeignet und aus dessen Überresten neue Fesseln geschaffen. Aber diese Stimme lebt und spricht durch Jahrhunderte zu uns. „Ihr seid meine Brüder“, sagt Er uns durch seine Apostel. Und wenn er tatsächlich der Sohn Gottes ist und wir Seine Brüder sind, dann sind auch wir zwangsläufig Söhne Gottes.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Ich finde es schade, dass die Politik und die zeitweilige Veränderung des geistigen Klimas in unserem Lande viele Zuschauer daran hindern, diesen einfachen Gedanken zu hören: Mit meinem Film trete ich für die Einmaligkeit des menschlichen Lebens als einzigen wahren Wert und einzige Wahrheit ein. Keine großen Worte – ob Vaterland, Gott oder Gesetz – geben uns das Recht, das Leben eines anderen Menschen zu vernichten. Die Respektlosigkeit dem Menschen und dem Eigenwert seiner Persönlichkeit gegenüber ist ein urtypisches russisches Elend, das bereits seit vielen Jahrhunderten andauert und unser Leben noch lange beeinträchtigen wird. Wahrscheinlich so lange, bis wir begreifen, dass diese sklavische Eigenschaft – die Persönlichkeit des anderen zu verachten – schädlich für jede Zivilisation ist. Es ist wohl das Schicksal des Menschen, jeden Tag neu wählen zu müssen, in wessen Königreich wir gehören und wessen Söhne wir sind – die Gottes oder die Leviathans. Und Heimat, das sind nicht nur Hügel, Birken und Bächlein. Die Heimat eines Menschen ist das, wonach sich seine Seele am meisten sehnt. Die Heimat, das ist der Gewaltige Ozean, der große und weite Kreis des Weltalls und der kleine Kreis des nahen Umfelds – deine Familie und deine Freunde, die dir geistig nah sind. Das alles zusammen – und nicht irgendwelche Parolen und Präsidenten, Parlamente und Waffen, Priester und Propagandisten machen das Gut eines Menschen aus. Das Licht des heimischen Herdes, das Licht des Geistes und der Erkenntnis und schließlich Gottes selbst – das alles zusammen ist unser wahres Vaterland.

    Und egal, ob wir in der am weitesten entwickelten oder archaischsten Gesellschaft leben, wir werden alle früher oder später vor diese Wahl gestellt, als Sklaven oder als freie Menschen zu handeln. Und egal ob wir gläubig oder atheistisch sind: Wir werden uns dieser Prüfung nicht entziehen können. Und sollten wir naiv glauben, dass die eine oder andere Staatsordnung uns von dieser Wahl befreien würde, so irren wir uns gewaltig. Im Leben des Bürgers eines jeden Landes kommt früher oder später die Stunde, wo er mit diesen Fragen konfrontiert wird: Zu wem gehörst du? Wer bist du? Und gerade weil ich dem Zuschauer all diese beängstigenden Fragen noch stellen kann und weil es hierzulande noch möglich ist, einen tragischen Helden oder einen „Gottessohn“ zu finden, ist mein Vaterland für mich noch nicht verloren.

    Februar 2015

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  • Nach dem Bruderkuss

    Nach dem Bruderkuss

    Im Jahr 1990 malte der Moskauer Künstler Dimitri Vrubel an den Überresten der Berliner Mauer sein historisches Bild: den Kuss von Leonid Breschnew und Erich Honecker. Nun, kurz vor dem 44. Jahrestag der Errichtung der Grenze, die Berlin und ganz Europa in zwei Lager teilte, hat sich „bumaga“ mit dem Künstler über den aktuellen Stand der zeitgenössischen Kunst und Politik unterhalten. Warum er in den 2000er Jahren Russland verlassen hat, ob Künstler zu einer Revolution fähig sind und wozu die Avantgardisten die klassische russische Literatur brauchen: Dimitri Vrubel redet über Pawlenski, Tolstoi, die Biennale in Venedig und Angela Merkel in Gestalt von Anna Karenina.

    Vor fünf Jahren sind wir (Dimitri Vrubel und Viktoria Timofejewa, Frau und Co-Künstlerin Vrubels, Anm. Bumaga) nach Berlin gezogen. Warum? Politisch und gesellschaftlich begannen nach dem Georgienkrieg in Russland Rückschritte, und wo Rückschritt herrscht, ist die aktuelle Kunst gewöhnlich ständigen Angriffen ausgesetzt; Kunst zu machen wird lebensgefährlich. Noch wichtiger war aber etwas anderes: Jeder Künstler in Russland fängt früher oder später an, immer wieder das Gleiche zu machen. In dem Jahr, in dem wir nach Deutschland übersiedelten, hatten wir den Zenit erreicht: Wir hatten in der Gelman-Galerie ausgestellt und in der Tretjakow-Galerie und standen vor der Frage: Was soll jetzt noch kommen?

    Dimitri Vrubel. Fotos von Marija Iwanowa
    Dimitri Vrubel. Fotos von Marija Iwanowa

    Ich glaube, meine Kollegen aus Russland nehmen mir das Wort „Zenit“ vielleicht übel. Wir kennen uns alle, sind in den 1980er Jahren aus denselben Wurzeln erwachsen. Doch unsere abweichende Haltung hier hat mittlerweile dazu geführt, dass wir für die Moskauer Kunstszene quasi inexistent sind. Für uns ist das kein Problem, denn die Moskauer Kunstszene ist hier auch in keiner Form vertreten. Auch in Moskau war ich eher ein Einzelgänger: Als die Perestroika begann und sich die wichtigsten Künstler im besetzten Haus im Furmanny Pereulok betätigten, hatte ich schon meine eigene Wohnungsgalerie.

    Über die russische Kunst im Westen

    In Moskau wird dir keiner sagen, ob du wirklich etwas Neues geschaffen hast oder ob es das schon vor dreißig Jahren in Österreich gab. Sogar mein wunderbarer Kollege Oleg Kulik, der Mensch-Hund – das ist die österreichische Aktionskunst der 1960er Jahre. Russland war jahrelang aus der Weltgeschichte der Gegenwartskunst herausgerissen, und das ist die Antwort auf die Frage, warum es im Westen keine russischen Künstler gibt: Alles ist schon dagewesen. Ein westlicher Künstler muss unbedingt einen eigenen Stil wählen, doch die Wiedererkennbarkeit – ob von Gerhard Richter, Neo Rauch, Keith Haring, Damien Hirst oder wem auch immer – ist das Ergebnis eines sehr langen innerlichen Selektions-Prozesses.

    Ich brauchte drei Jahre in Berlin, um zu verstehen, dass sich die russische visuelle Sprache genauso stark von der westlichen unterscheidet wie Russisch von Deutsch. Versuchen Sie mal, mit einem Deutschen russisch zu sprechen: Man wird Sie nicht verstehen. Und danach werden Sie in Ihr Heimatland zurückkehren und sagen: „Mich versteht dort keiner.“ Genau das aber tun sehr viele unserer Künstler und versuchen ihre Botschaft in russischer narrativer Sprache zu vermitteln. Für einen westlichen Menschen ist aber in erster Linie ein „Schlag ins Auge“ interessant und erst dann das Wesen des Bildes. Deshalb gibt es nur zwei russische Künstler, die im Westen vollkommen adaptiert sind: Malewitsch und Kandinsky. Mit Deutschen deutsch zu reden, und sei es nur schlecht, ist weitaus wirksamer, als mit ihnen gut russisch zu reden.

    Über Pjotr Pawlenski und die aktuelle Kunst

    Keiner meiner Kollegen wagt es, mit aktuellen Nachrichten zu arbeiten. Nirgendwo auf der Welt. Was mich sehr wundert, denn genau das wäre ja aktuelle Kunst!

    Mein großes Idol in dieser Hinsicht ist Pjotr Pawlenski. Er arbeitet zweifelsohne mit aktuellen Themen. Seine Performance, bei der er sich den Mund zugenäht hat, war zwar nichts Neues, hat aber interessanterweise die meisten Schlagzeilen gemacht. Als er sich das Ohrläppchen abgeschnitten und ein andermal seinen Hodensack an den Roten Platz genagelt hat, das waren absolut perfekte Aktionen. Wichtig ist vor allem, dass er direkt reagiert und dass er die unglaubliche Fähigkeit hat, mit seinem eigenen Körper zu arbeiten und ihn als Material zu nutzen. Allerdings macht er das im Rahmen der traditionellen Aktionskunst, wir dagegen arbeiten im Rahmen der totalen Kunst.

    Die Ereignisse, die ich auswähle, sind Teil meiner Biographie: Ich möchte sie geschichtlich festhalten, zumindest in meiner eigenen Geschichte als Künstler. Wenn mich etwas bewegt, versuche ich, auch andere zu bewegen. Und mithilfe des Bruderkusses, der auch nach 25 Jahren immer noch aktuell ist, erforschen wir die Mechanismen: Wie funktioniert die Kunst, die etwas mit Unsterblichmachung zu tun hat?

    Über Anna Karenina, Morphium-Trips und die klassische Literatur

    In mein neues Projekt Anna Karenina News ist alles eingeflossenen, womit ich mich in den letzten 40 Jahren beschäftigt habe. Es ist eine alte Idee, ein altes Vorhaben von uns: Nicht durch ein Medium Kunst zu machen, sondern die Kunst selbst als Medium, Nachricht, Meldung zu verstehen. Wir haben systematisch Reaktionen auf verschiedene Themen erforscht, angefangen mit der Politik: Haben ein Bild von Angela Merkel in der Rolle von Anna Karenina veröffentlicht und anschließend virale Bilder, Sport, Erotik. Jedes Bild wird von einem Zitat aus dem Klassiker in drei Sprachen und einer Audio-Spur begleitet. Zeitungen haben wir schon gemacht, Outdoor-Präsentationen sind geplant.

    Warum wir mit Anna Karenina angefangen haben? Erstens weil alle sie kennen. Zweitens weil dieses Buch ausnahmslos alle Fragen beantwortet, von der Geburt bis zum Tod. Eine Sache darin hat mich besonders verblüfft. Vor zehn Jahren ging meine ziemlich lange Alkoholpraxis zu Ende. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, was ein Alkohol-Drogen-Trip ist. Wenn Graf Tolstoi uns die letzten Tage von Anna Karenina schildert, ist mir klar, dass das nichts anderes als eine Insider-Beschreibung eines heftigen Morphium-Trips ist. Es ist eine Art absoluter Text, durch den all diese Bilder, die eine starke Verbindung zu heute haben, erhalten bleiben auf dem Gebiet der unsterblichen Kunst. Das ist stark.

    Projekt Anna Karenina News
    Projekt Anna Karenina News

    Außerdem gibt es so gut wie keine Menschen, die gegen die klassische Literatur wären. Ob Faschisten, Kommunisten, jung, alt, Deutsche, Russen oder Amerikaner – alle sind dafür. Im Unterschied zu einer Zeitung, die morgen schon keiner mehr braucht, existiert hier der Text jenseits der Zeit. Trotzdem ist es kein Evangelium, mit dem wir in unserem Evangelium-Projekt gearbeitet haben. Wir wollen derzeit sehen, inwiefern Anna Karenina News total sein kann, um alle Medien- und Kunsträume für sich zu beanspruchen.

    Über Kunst für Reiche und für alle

    In den 20 Jahren, die Damien Hirst von Andy Warhol trennen, hat sich herausgestellt, dass nicht Dollar (wie Warhol meinte), sondern 100 Millionen ein Kunstwerk sind. Der Höhepunkt der Kommunikation in der aktuellen Kunst ist heute die Biennale von Venedig; Venedig wird im Jahr der Biennale zur teuersten Stadt der Welt. Und das bedeutet, dass die ganze aktuelle Kunst, die in den 1960er Jahren als revolutionäre Kunst geboren wurde, zu einem Spielzeug verkommen ist für die, die das Geld haben, um nach Venedig zu kommen.

    Kunst muss man verkaufen. Aber man muss sie auch so platzieren, dass die Format-Bandbreite von einer handgefertigten Kopie des Bruderkusses für sehr viel Geld bis zu Postkarten für fünf Euro reicht. Wenn Kunst schwer erreichbar ist, dann nennt sie nicht „aktuell“ oder „experimentell“, sondern sagt gleich: „nur für Reiche“. Die ideale Kommunikation in der aktuellen Kunst sollte ganz einfach sein: ein Klick.

    Über das Russland von gestern und heute

    Ich war 29, als ich zum ersten Mal im Ausland landete. Und wo? Gleich in Paris! Aber nach einer Woche dort habe ich begriffen, dass mich dort nichts wundert, dass alles dort so ist, wie es sein soll. So sollen Läden und Straßen aussehen, so sollen Menschen lächeln. Und als ich dann im November nach Moskau zurückgekehrt bin, war das für mich ein furchtbarer Schock. Noch drei Monate war ich völlig durchgedreht wegen dieser absoluten Abnormalität: Alles schnell schnell, gehetzt, auf dem Sprung, und nur ja niemanden wirklich angucken. Warum leben die Menschen so? Heute bemüht sich Russland, Europa zu sein. Es ist auch Europa, aber ein halbfertiges. Im heutigen Moskau spürt man die imperiale Wucht: Alles ist teuer, Staus, riesige Autos. Wenn in Berlin einer einen Geländewagen fährt, dann ist es entweder ein reicher Araber oder ein Zigeunerbaron oder ein Russe.

    Ich besuche Russland nicht öfter als ein Mal im Jahr und nur kurz. Dort leben meine drei älteren Kinder und meine beiden Enkelkinder, dort liegen meine Mutter und meine Großmutter begraben. Ich kann kein Urteil über die Veränderungen im Land abgeben: Ich treffe mich nur mit meinen Kindern. Mit denen, die mich besuchen, reden wir immer weniger darüber, wohin sich Russland bewegt. Es reicht, einen Blick in Facebook zu werfen – und schon wird alles klar. Mir ist aufgefallen, dass man in den letzten fünf Jahren praktisch aufgehört hat, offline über Politik zu reden.

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