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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ihre Kinder und Enkelkinder werden sich schämen“

    „Ihre Kinder und Enkelkinder werden sich schämen“

    Der Memorial-Mitbegründer Oleg Orlow steht in Moskau wegen eines Artikels vor Gericht, in dem er den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt hat. Dem renommierten Menschenrechtsvertreter drohen zwei Jahre und elf Monate Haft wegen angeblicher „Diskreditierung der Armee“. Das Urteil soll am 27. Februar verkündet werden.  

    Orlow hatte sich bislang aus Protest geweigert, vor Gericht zu sprechen – bis zum heutigen Tag. In einer Atmosphäre, in der die freie Meinungsäußerung immer weiter unterdrückt wird, hat das Schlusswort vor Gericht in Russland heute eine besondere Bedeutung. Mediazona und Meduza haben Orlows Schlusswort im Wortlaut veröffentlicht. dekoder übersetzt Ausschnitte daraus ins Deutsche.

    Update vom 27. Februar 2023: Oleg Orlow wurde zu zweieinhalb Jahren Haft in der Strafkolonie verurteilt.

    Memorial-Mitbegründer Oleg Orlow vor dem Golowinski-Gericht in Moskau. Ihm drohen knapp drei Jahre Haft / Foto © IMAGO, ITAR-TASS

    Am Tag, als diese Verhandlung begann, wurden Russland und die Welt von der schrecklichen Nachricht vom Tod Alexej Nawalnys erschüttert. Auch mich hat sie erschüttert. Ich habe sogar überlegt, ganz auf mein Schlusswort zu verzichten; ist uns heute nach Worten zumute, wo wir alle noch unter Schock stehen nach dieser Nachricht? Doch dann dachte ich: Das sind alles Glieder ein und derselben Kette – der Tod, oder besser gesagt die Ermordung von Alexej, die gerichtlichen Repressalien gegen weitere Regimekritiker, darunter auch gegen mich, das Ersticken der Freiheit im Land, der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine. Also habe ich mich entschieden, dennoch ein Schlusswort zu halten. 
     
    Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich stehe wegen eines Zeitungsartikels vor Gericht, in dem ich das politische Regime, das sich in Russland herausgebildet hat, totalitär und faschistisch genannt habe. Der Artikel wurde vor mehr als einem Jahr geschrieben. Und damals dachten einige meiner Bekannten, dass ich zu dick auftrage. 
     
    Doch jetzt ist völlig offensichtlich – ich habe kein bisschen übertrieben. 

    […] 

    Ich will einige Ereignisse aufzählen, die sich vom Außmaß und von der Tragweite her unterscheiden: 

    • In Russland werden Bücher zeitgenössischer russischer Schriftsteller verboten. 
    • Die „LGBT-Bewegung“, die als solche gar nicht existiert, wurde verboten, was in der Praxis eine schamlose Einmischung des Staates in das Privatleben der Bürger bedeutet. 
    • An der Higher School of Economics ist es den Bewerbern verboten, „ausländische Agenten“ zu zitieren. Bewerber und Studenten müssen, bevor sie  beginnen, ein Fach zu studieren, Listen mit „ausländischen Agenten“ auswendig lernen. 
    • Boris Kagarlizki, ein bekannter Soziologe und linker Publizist, wurde zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, weil er wenige Worte über die Kriegsereignisse in der Ukraine äußerte, die von der offiziell verlautbarten Position abwichen.
    • Der Mann, den die Propagandisten „nationalen Führer“ nennen, äußert sich [im Interview mit US-Moderator Tucker Carlson – dek] öffentlich über den Beginn des Zweiten Weltkriegs wie folgt: „Die Polen haben ihn genötigt, sie sind zu weit gegangen und haben Hitler damit genötigt, den Zweiten Weltkrieg ausgerechnet gegen sie zu starten. Warum begann der Zweite Weltkrieg mit Polen? Polen war rechthaberisch. Hitler blieb nichts anders übrig, als mit Polen zu beginnen, wenn er seine Pläne umsetzen wollte.“ 

    Wie soll man ein politisches System nennen, in dem sich all die von mir aufgezählten Dinge abspielen. Meiner Meinung nach ist die Antwort klar. Leider hatte ich in meinem Artikel recht. 

    […] 

    Sie töten sie dafür, dass sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestiert haben

    Heute werden Alexej Gorinow, Alexandra Skotschilenko, Igor Baryschnikow, Wladimir Kara-Mursa und viele andere in Strafkolonien und Gefängnissen langsam getötet. Sie töten sie dafür, dass sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestiert haben, dafür, dass sie dafür eintreten, dass Russland ein demokratischer, prosperierender Staat wird, der für seine Nachbarn keine Bedrohung mehr darstellt. 

    In den vergangenen Tagen wurden Menschen festgenommen, bestraft und sogar eingesperrt, nur weil sie zu den Denkmälern für die Opfer politischer Verfolgung gekommen sind, um Alexej Nawalny zu gedenken, der ein wunderbarer Mensch war. Ein mutiger und ehrlicher Mensch, der unter unglaublich harten Bedingungen, die extra für ihn geschaffen wurden, seinen Optimismus und seinen Glauben an die Zukunft unseres Landes nicht aufgegeben hat. Natürlich handelt es sich bei seinem Tod um einen Mord, ganz egal, wie er konkret ausgeführt wurde. 

    Die Staatsmacht kämpft sogar gegen den toten Nawalny, sie hat immer noch Angst vor ihm, obwohl er schon tot ist. Zurecht. Sie zerstört die improvisierten Gedenkorte, an denen die Menschen seiner gedenken. 

    Diejenigen, die so etwas tun, hoffen, dass sie auf diese Weise jenen Teil der russischen Gesellschaft entmutigen können, der sich weiterhin verantwortlich fühlt für sein Land.

    Da sollen sie sich mal keine falschen Hoffnungen machen. 

    […] 

    Ich wende mich an Sie, Euer Ehren, und an die Staatsanwaltschaft: Haben Sie keine Angst? Haben Sie keine Angst davor, was aus unserem Land wird, das auch Sie wahrscheinlich lieben? Haben Sie keine Angst, dass nicht nur Sie und Ihre Kinder, sondern auch – Gott bewahre – Ihre Enkelkinder in dieser Absurdität, in dieser Dystopie leben müssen?

    Kommt Ihnen denn nicht das Naheliegende in den Sinn: Dass die Walze der Repression früher oder später diejenigen überrollt, die sie gestartet und vorangetrieben haben? Das ist in der Geschichte doch schon so viele Male geschehen.

    Ich wiederhole, was ich bereits bei der letzten Verhandlung gesagt habe: 

    Ja, Gesetz ist Gesetz. Aber ich erinnere daran, dass 1935 in Deutschland die sogenannten Nürnberger Gesetze verabschiedet wurden. Und dann, nach 1945, wurden die Vollstrecker dieser Gesetze selbst vor Gericht gestellt.  

    Die Strafe wird unweigerlich kommen. Ihre Kinder oder Enkelkinder werden sich schämen

    Ich bin mir nicht zu 100 Prozent sicher, dass die derzeitigen Urheber und Vollstrecker der russischen rechtsstaats- und verfassungsfeindlichen Gesetze gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Aber die Strafe wird unweigerlich kommen. Ihre Kinder oder Enkelkinder werden sich schämen, darüber zu sprechen, wo ihre Väter, Mütter, Großväter und Großmütter gearbeitet haben und was sie getan haben. Dasselbe wird diejenigen treffen, die jetzt in der Ukraine Befehlen gehorchen und damit Verbrechen begehen. Meiner Meinung nach ist dies die schrecklichste Strafe. Und sie ist unvermeidlich.

    Nun, für mich ist eine Strafe ebenfalls unausweichlich, denn unter den derzeitigen Umständen ist ein Freispruch bei einem solchen Vorwurf unmöglich.

    Jetzt werden wir sehen, wie das Urteil ausfallen wird.

    Aber ich bedauere und bereue nichts. 

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  • Video #33: Putin zählt Ukrainer und Belarussen zur „großen russischen Nation“

    Video #33: Putin zählt Ukrainer und Belarussen zur „großen russischen Nation“

    Vor dem Weltkonzil des russischen Volkes hat Wladimir Putin am 28. November ein weiteres Mal seine Vorstellung von imperialer Größe dargelegt. Er sieht das Zarenreich und die Sowjetunion in einer Traditionslinie, die heute durch den Russki Mir fortgeführt werden soll. In diesem Imperium sind Russen, Belarussen und Ukrainer ein „dreieiniges Volk”. Seine Geschichte ist eine Geschichte von Macht und Größe, die nur dann Rückschläge erlitt, wenn seine Führer Schwäche zeigten. Unter ihm selbst sei Russland wieder zur Weltmacht geworden, dem russophoben Westen die Stirn biete. Außer durch den Westen sei Russlands Macht und Größe aber auch durch die Demographie bedroht. Deshalb sollten russische Frauen es ihren Vorfahren gleichtun und „sieben, acht oder mehr“ Kinder gebären. dekoder bringt Ausschnitte aus der Rede.

     
    Original: kremlin.ru (vom 28. November 2023)

    [bilingbox]Wir wissen, welcher Gefahr wir trotzen. Heute ist praktisch die offizielle Ideologie der westlichen Regierungseliten die Russophobie, andere Formen von Rassismus und Neonazismus.

    […]

    Ich denke, dass wir uns alle erinnern und erinnern müssen an die Lektionen der Revolution von 1917, den darauffolgenden Bürgerkrieg und den Zerfall der UdSSR 1991. So viele Jahre scheinen vergangen, aber die jetzt lebenden Menschen aller Nationalitäten, sogar die im 21. Jahrhundert geborenen, zahlen bis heute, noch Jahrzehnte später, für die damaligen Fehleinschätzungen, die Nachgiebigkeit, was separatistische Illusionen und Ambitionen betraf, für die Schwäche der zentralen Regierung, für die Politik der künstlichen, gewaltsamen Teilung der großen russischen Nation, des dreieinigen Volkes von Russen, Belarussen und Ukrainern.

    […]

    Der Russki Mir, die Russische Welt – das sind alle Generationen unserer Fortfahren und Nachfahren. Der Russki Mir – das ist die Alte Rus, das Moskauer Zarenreich, das russische Imperium, die Sowjetunion, es ist das moderne Russland, das seine Souveränität als Weltmacht wiedererlangt, festigt und ausweitet. Der Russki Mir vereinigt alle, die sich mit unserer Heimat geistig verbunden fühlen, die sich als Träger der russischen Sprache, Geschichte und Kultur betrachten, sogar unabhängig von ihrer nationalen oder religiösen Zugehörigkeit.

    […]

    Viele unserer Völker bewahren Gott sei Dank die Tradition der über Generationen hinweg stabilen Familien mit vier, fünf und mehr Kindern. Wir erinnern uns, dass in russischen Familien viele Großmütter und Urgroßmütter sieben, acht oder mehr Kinder hatten.

    Lassen Sie uns diese wunderbaren Traditionen bewahren und wiederbeleben. Kinderreichtum und große Familien sollen zur Norm werden, zur Lebensweise aller Völker Russlands.~~~Мы знаем, какой угрозе противостоим. Сегодня практически официальной идеологией западных правящих элит стали русофобия, другие формы расизма и неонацизма.

    […]

    Думаю, что мы все помним, нужно помнить уроки революции 1917 года и последовавшей затем Гражданской войны, распада СССР в 1991-м. Казалось бы, столько лет прошло, но живущие сейчас люди всех национальностей, даже родившиеся уже в XXI веке, до сих пор, даже спустя десятилетия, расплачиваются за допущенные тогда просчёты, за потакание сепаратистским иллюзиям и амбициям, за слабость центральной власти, за политику искусственного, насильственного разделения большой русской нации, триединого народа – русских, белорусов и украинцев.

    […]

    Русский мир – это все поколения наших предков и наши потомки, которые будут жить после нас. Русский мир – это Древняя Русь, Московское царство, Российская империя, Советский Союз, это современная Россия, которая возвращает, укрепляет и умножает свой суверенитет как мировая держава. Русский мир объединяет всех, кто чувствует духовную связь с нашей Родиной, кто считает себя носителем русского языка, истории, культуры независимо даже от национальной или религиозной принадлежности.

    […]

    У многих наших народов, слава богу, сохраняется традиция крепкой, многопоколенной семьи, где воспитываются четверо, пятеро и больше детей. Вспомним, что и в русских семьях, у многих наших бабушек, прабабушек детей было и по семь, и по восемь человек, и того больше.

    Давайте эти замечательные традиции сберегать и возрождать. Многодетность, большая семья должны стать нормой, образом жизни для всех народов России.[/bilingbox]

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  • Bilder vom Krieg #14

    Bilder vom Krieg #14

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Bartosz Ludwinski

    Diana, acht Jahre alt, vor dem Haus ihrer Großeltern im Donbass. Diana wurde gezwungen, ihr Zuhause im russisch besetzten Gebiet zu verlassen. Als sie an einem vermeintlich sicheren Ort in der Ukraine ankam, begannen die Kinder, sie als „Separatistin“ zu beschimpfen. Sie entgegnete ihnen, dass ihr Vater in Bachmut für das Land kämpfe. Jetzt ist ihr Vater tot. Aufgenommen am 2. August 2023. / Foto © Bartosz Ludwinski

    dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du das Foto gemacht hast?

    Bartosz Ludwinski: Am 2. August 2023 fuhr ich mit zwei anderen Freiwilligen einer NGO, die Evakuierungen und Hilfseinsätze im Donbass durchführt, in die Frontstadt Tschassiw Jar. Ich habe mich der NGO im Sommer 2023 angeschlossen. Vorher, kurz nach Beginn des Krieges, hatte ich mich als Fahrer für Hilfskonvois gemeldet. Für mich ist es wichtig, etwas zurückzugeben, sonst fühle ich mich schnell als Nutznießer. Am Tag zuvor hatten wir also von einer möglichen Zwangsevakuierung der verbliebenen Kinder in der Umgebung erfahren. Zwischen 60 und 70 Kinder waren aber noch vor Ort. Also machten wir uns auf die Suche nach ihnen.

    Was für einen Eindruck hattest du von Tschassiw Jar?

    Während wir durch den Ort fuhren, schlug unweit von uns eine Granate ein. Es müssen etwa 200 Meter gewesen sein. Eine Frau kam uns auf ihrem Fahrrad entgegen und fuhr einfach geradeaus durch eine weiße Rauchwolke. Die Granate hatte sie nur knapp verfehlt, aber sie beeilte sich nicht einmal. Viele der Menschen, die nahe der Front geblieben sind, sind schwer traumatisiert und nehmen die Gefahr um sie herum nicht mehr wahr, es sei denn, sie betrifft ihr direktes Zuhause. In solchen Momenten versuchen wir, die Menschen zur Flucht zu motivieren. 

    Schließlich traft ihr auf das Mädchen auf dem Foto, die achtjährige Diana. Was ist ihre Geschichte?

    Diana war gerade mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause. Wir sprachen sie an und erfuhren von ihrer Geschichte. Auch ihre Großeltern kamen heraus und zeigten uns das Haus, das mehrfach von Grad-Raketen getroffen worden war. Diana war zuvor in einen anderen Teil der Ukraine geflohen, der als relativ sicher gilt. Dort wurde sie in der Schule von den anderen Kindern als „Separatistin“ beschimpft. Sie antwortete zwar, dass ihr Vater in Bachmut für die Ukraine kämpfe, aber das interessierte die anderen Kinder nicht. „Du bist eine Separatistin“, sagten sie immer wieder. Als wir sie trafen, war Diana gerade wieder in den Donbass zurückgekehrt. Heute ist ihr Vater tot und mit ihm sein Bruder. Beide sind an der Front gefallen. Diana hat nur noch ihre Großeltern. Die wiederum befinden sich in einem Rechtsstreit mit der eigenen Familie um das Land des verstorbenen Vaters. Das war eine Realität, die mich sehr bewegt hat. Wenn ich an diesen Moment zurückdenke, begleitet mich ein Gefühl der Ohnmacht und Fassungslosigkeit.

    Wie war es für dich, als Fotograf in der Ukraine zu arbeiten?

    Es ist schwierig, zu beschreiben, wie es ist, in einem vom Krieg zerrütteten Land zu leben. Man lernt, seine Gedanken und Ängste zu kontrollieren, einige besser als andere. Während meiner Zeit dort habe ich jedoch vor allem viel Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft erfahren und enge Freundschaften geschlossen. Mir war es wichtig, den Krieg authentisch und ehrlich aus meiner Perspektive zu zeigen, aber natürlich auch aus der Perspektive der Ukrainer. Dafür habe ich Wochen und Monate mit ihnen zusammengelebt und konnte so ihre alltäglichen Gedanken, Ängste und Hoffnungen besser verstehen. Das erfordert natürlich viel Zeit und ist nicht jedem möglich. 

    Was wünschst du dir hinsichtlich des Fotojournalismus in Kriegsregionen?

    Generell wünsche ich mir mehr Zeit für den Journalismus. Das Bild eines Fotografen, der sich kurz in ein Kriegsgebiet abseilt und dann für immer von dort verschwindet, gefällt mir nicht. Dennoch ist mir klar, dass es oft unvermeidbar ist. 

    Inwiefern haben diese Erfahrungen dich als Fotografen und deine Arbeitsweise beeinflusst? 

    Natürlich beeinflussen all diese Erlebnisse, wie man auf unsere Welt blickt. Gerade der westliche Lebensstil mit all seinem Konsum und seinen Sorgen erscheint einem absurder denn je. Man hinterfragt sich und seine Umwelt nach der Rückkehr. Für kurze Zeit hatte ich das Gefühl, mich innerlich aufzulösen, bevor ich mich wieder an das Leben zu Hause gewöhnen konnte. Durch meine Erfahrungen im Krieg sehe ich aber auch Ereignisse oder Probleme zu Hause viel gelassener. Als Fotograf bin ich natürlich gewachsen und habe mich weiterentwickelt. Im Grunde hat sich an meiner Arbeitsweise nichts geändert. Aber ich denke, ich bin heute besser in der Lage zu erkennen, wann ich visuell überreizt bin und die Kamera für eine Weile weglegen muss. 

    BARTOSZ LUDWINSKI, geboren 1983 in Stettin, verbrachte seine Kindheit und Jugend in Münster. Das Fotografieren brachte er sich selbst bei. In der Ukraine dokumentiert er das Leben der Menschen im Krieg. Seine Werke und Reportagen wurden in verschiedenen deutschen und internationalen Medien veröffentlicht, darunter etwa der Spiegel und das Magazin der Süddeutschen Zeitung.


    Fotos: Bartosz Ludwinski
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 16.10.2023

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Nazar Furyk

    Ein alter Mann namens Tarassowitsch holt eine Waschmaschine aus einem zerstörten Hochhaus. Das Haus wurde zu Beginn der Invasion von russischer Artillerie getroffen. Tarassowitsch hatte darin gewohnt. Irpin war im vergangenen Jahr intensivem Beschuss ausgesetzt. Unter der heftigsten Zerstörung litten das Stadtviertel Irpinsky Lypky und seine Vororte, denn die befanden sich während der Schlacht um Kyjiw im Epizentrum der Kämpfe. Beide Fotos wurden im Mai 2023 im Stadtviertel Irpinsky Lypky aufgenommen.  / Foto © Nazar Furyk

    dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du die Fotos gemacht hast?

    Nazar Furyk: An dem Tag war ich zum vierten Mal in dem Stadtteil Irpinsky Lypky. Ich hörte die Ankündigung, dass mehrere Hochhäuser in diesem Gebiet abgerissen werden sollten. Nachdem die Russen diese Gebäude teilweise bombardiert hatten, konnte niemand mehr darin wohnen. Die Abrissarbeiten zogen sich über mehrere Wochen. Jedes Mal, wenn ich dorthin kam, konnte ich sehen, wie das baufällige Haus nach und nach dem Erdboden gleichgemacht wurde. Manchmal standen auch Einheimische neben mir und beobachteten den Abriss. So lernte ich einen Mann kennen, der sich mit dem Namen Tarassowitsch vorstellte. Er ging in das Haus, in dem seine Wohnung gewesen war, um nachzusehen, ob er noch etwas mitnehmen könnte.

    Hast du mehr von der Geschichte dieses Mannes erfahren?

    Tarassowitsch ist während der gesamten Zeit der Besatzung in Irpin geblieben. Überlebt hat er nur durch einen glücklichen Zufall. Seine Wohnung wurde zwar durch den Beschuss beschädigt, aber er ging trotzdem dorthin zurück und versteckte sich. Immer mehr streunende Hunde kamen in das Haus. Einer von ihnen zog bei Tarassowitsch ein, und sie lebten zusammen. So verbrachte der Mann dort einige Tage und beobachtete, wie russische Bomben auf die Wohngebiete der Stadt fielen. Nach einem weiteren Beschuss brannte schließlich fast seine gesamte Wohnung ab – mitsamt dem Hund, der sich unter seinem Bett versteckt hatte. 

    Wie bildest du den Krieg in deinen Arbeiten ab?

    Wenn ich in befreite Gebiete zurückkehre, ist es mir wichtig, die Geschichte der Menschen und ihrer Umgebung aus einer zeitlichen Perspektive heraus zu erzählen. 
    Auf diese Weise ist es mir möglich, unsere Tragödien und unseren Schmerz im individuellen und kollektiven Gedächtnis festzuhalten. Man könnte sagen, dass die meisten meiner Arbeiten ein kontinuierlicher Prozess sind. Es ist ein endloser Zyklus, der mit unserem Gedächtnis und unseren Bildern arbeitet. 

    Aus welchem Motiv heraus fotografierst du die Auswirkungen des Krieges?

    Ich möchte zeigen, wie sich die grausamen und verheerenden Folgen des Krieges in den Menschen und in der Umgebung manifestieren. Und ich denke, dass alles, was Fotografen jetzt dokumentieren oder filmen, nicht nur ein Beweis für die Verbrechen ist, die Russland an der Ukraine und den Ukrainern begangen hat, sondern auch ein Teil des Prozesses der Herstellung von Gerechtigkeit und einer zukünftigen Bestrafung der Russen. Es ist für uns alle eine Möglichkeit zu erkennen, dass dieser grausame Krieg Menschen auf ganz unterschiedliche Weise zerstört. Auch wenn die Verletzungen nicht immer sichtbar sind, zerstören sie uns sowohl von innen als auch von außen.

    An welchem Projekt arbeitest du aktuell? 

    Seit über einem Jahr arbeite ich an einer großen Fotoserie. Ich fotografiere die Region Kyjiw und ihre Städte und Dörfer. Ich kehre häufig dorthin zurück. In Irpin, dort, wo die Fotos aufgenommen wurden, war ich schon häufiger, ebenso wie in den anderen Städten der Region. Ich beobachte und dokumentiere die Veränderungen der Umgebung, der Menschen dort und ihre Einstellung zu dieser Umgebung. Als der Wiederaufbau der Kyjiwer Region nach der Besetzung begann, wurde mir klar, dass sich die Dinge, die ich jetzt fotografiere, in ein paar Wochen vielleicht schon wieder verändert haben werden. Die Bilder dieser Veränderungen werden dann wahrscheinlich aus unserem Gedächtnis verschwinden. Aber die Bilder aus dieser Zeit und die Erfahrung dieser Transformation – die bleiben erhalten.

    Nazar Furyk, geboren 1995 in Kolomyia im Westen der Ukraine, lebt und arbeitet als unabhängiger Fotograf in Kyjiw. Seine Werke wurden international in renommierten Galerien und Museen ausgestellt und in zahlreichen Magazinen veröffentlicht.

    Bildredaktion: Andy Heller
    Fotos: Nazar Furyk
    Veröffentlicht am 10.10.2023

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  • In den Sümpfen Polesiens

    In den Sümpfen Polesiens

    Polesien, eine zwischen Belarus und der Ukraine gelegene Sumpflandschaft, ist eine Art kulturelle Schatzkammer für Ethnologen. Die Abgeschiedenheit der dortigen Kommunen wird im Frühling durch den schmelzenden Schnee und die dann entstehenden Inseln in der verzweigten Wasserlandschaft verstärkt. Das hat über die Jahrhunderte dazu geführt, dass sich dort vorchristliche Traditionen und archaische Lebensweisen erhalten haben und eine eigene Kultur ausformen konnte. Aber der grenzüberschreitende Raum zwischen Polen, Belarus und der Ukraine habe verhindert, dass sich „eine Monokultur“ entwickelt hat, wie der belarussische Historiker Pawel Tereschkowitsch sagt, „da dort permanente Kulturschwankungen und Fremdeinflüsse bestehen, aus denen sich eine hybride Kultur entwickelt“. Der polnische Ethnologe Józef Obrębski (1905–1967) hielt die Bewohner von Polesien weder für Ukrainer, noch für Belarussen, sondern für ein eigenes Volk. Obrębski gilt bis heute als einer der bedeutenden Erforscher dieser geheimnisvollen Landschaft.

    Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat Fotos von Obrębski ausfindig machen können, die die Bewohner des westlichen Polesien, ihre Häuser und ihren Alltag in den 1930er Jahren zeigen, als die Region zur Zweiten Polnischen Republik gehörte. Wir zeigen eine Auswahl dieser Fotos, die wir durch weitere Fotos aus dem entsprechenden Archiv ergänzt haben. Es ist nach Menschen im Sumpf der zweite Teil einer Reihe mit historischen Fotos aus Belarus.

    Fotos zu finden, die zeigen, wie die Belarussen vor dem Zweiten Weltkrieg lebten, ist schwierig, da sich viele Bilder aus dieser Zeit im Ausland in privaten Sammlungen oder Museen befinden. Wir können eine Sammlung von Fotografien des polnischen Ethnologen Józef Obrębski präsentieren mit Genehmigung des Robert S. Cox American Research Centre for Special Collections and University Archives an der Bibliothek der University of Massachusetts Amherst
    Von April 1934 bis September 1936 führte der Wissenschaftler im Auftrag des Polnischen Instituts für die Erforschung nationaler Probleme und der Kommission für wissenschaftliche Forschungen in den östlichen Ländern eine Forschungsexpedition durch das westliche Polesien durch. Ein bedeutender Teil seines Schaffens, das der Untersuchung der sozialen Struktur des polesischen Dorfes und seines Wandels gewidmet war, bezieht sich auf das Territorium unseres Landes. Schauen Sie sich an, wie dieser Ethnologe das Leben in den belarussischen Dörfern des westlichen Polesiens in den 1930er Jahren festgehalten hat.

     

    Polesierinnen: Mutter und Tochter in festlichen Kleidern, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Trocknen von Heu auf einem Reiter, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Molkerei, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries

    Familie: Der Hausherr bei …, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Trocknen von Getreide (auf dem Hof ausgelegte Matten mit Getreide), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Großes Wohnhaus, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Ernte (Männer und Frauen ernten Getreide), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Getreidespeicher und Lager auf einem großen Bauernhof, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Großer Bauernhof, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Gesellschaft: Schaukel im Wald, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Typen: Ältere Männer, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Eingang zum Bauernhof (Schweine werden am Zaun eines Bauernhauses gefüttert), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Ein Mann sät Getreide, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Familiensitz – eine Frau steht auf einem Weg neben reetgedeckten Bauernhäusern, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Haus einer Baptisten-Familie, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Große Baptisten-Familie – Söhne im Haus, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Vortrieb des Viehs zum Wasser (während der Fliegenplage, Vieh trinkt in einem See), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Gesellschaft: Schlägerei auf dem See  auf einem Fischerboot in Ufernähe, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Der Babrowitskaja-See: Fischer holen ihre Netze ein, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Ansicht: Reet-Hütte auf einem Floß, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Gerstenernte, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Schweine am Fluss, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries

    Im Original erschienen bei Zerkalo
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am: 10.10.2023

    Mit freundlicher Genehmigung der Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries

     

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  • Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Am Mittwochabend ist ein Privatjet der Wagner-Gruppe in der Region Twer abgestürzt, alle zehn Insassen sind laut russischen Medien ums Leben gekommen. An Bord soll sich der Chef der Söldnergruppe Jewgeni Prigoshin befunden haben, ebenso deren Kommandeur und Mitbegründer Dimitri Uktin.

    Genau vor zwei Monaten hatte Jewgeni Prigoshin seinen Aufstand der Wagner-Söldner gegen die russische Militärführung angeführt: Sie hatten die Millionenstadt Rostow am Don besetzt, Militärkolonnen rollten bereits auf Moskau zu, doch dann wurde der spektakuläre „Marsch der Gerechtigkeit“ überraschend abgeblasen. Vermittelt hatte das nach außen Alexander Lukaschenko, Alexej Djumin soll dabei eine zentrale Rolle gespielt haben. Putin hatte noch am Morgen des 24. Juni öffentlich von „Verrat“ und einer unweigerlichen Bestrafung gesprochen. Doch im Endeffekt konnte sich Prigoshin weiterhin frei in Russland bewegen, die Wagner-Söldner sind zum Teil wie vereinbart nach Belarus gegangen oder wurden in die russische Armee eingegliedert. 

    Angesichts dieser Vorgeschichte halten es viele Beobachter für ausgeschlossen, dass der Flugzeugabsturz ein Unfall war. dekoder hat erste Reaktionen von russischen und belarussischen Kommentatoren übersetzt.

    Alexander Baunow/Facebook: Mafia-Methode

    Russland wird schon seit über eineinhalb Jahrzehnten als ein Mafia-Staat beschrieben. Aus dieser Logik heraus erklärt auch der Analyst Alexander Baunow auf Facebook den Tod von Prigoshin.

    [bilingbox]Eine Bestrafungsmethode in Diktaturen besteht darin, den Feind/Verräter vor seiner Vernichtung für sich zu gewinnen oder sich zumindest mit ihm zu versöhnen, um so zu tun, als sei ihm vergeben worden. Das ist wie in Mafia-Filmen, wo sich rivalisierende Gruppen und ihre Bosse zusammentun, und anschließend die einen die anderen aus einer Torte erschießen, oder wie in Der Pate, wo sich alle versöhnen, bevor sie sich auslöschen.~~~Одна из технологий  наказания внутри диктатуры – приблизить врага/предателя перед уничтожением, или хотя бы помириться сделать вид, что прощен. Это как в фильмах про мафию, враждующие группы и их боссы собираются вместе, чтобы потом одни расстреляли других из торта, или в «Крестном отце» всё мирятся прежде чем  уничтожать.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Tatjana Stanowaja/Telegram: Eine Lehre für potenzielle Nachfolger

    Nicht einmal die russischen Propagandaorgane verbreiten die Version, dass der Absturz ein Unfall war. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja argumentiert auf Telegram, dass Prigoshins Ermordung eine Signalwirkung hat.

    [bilingbox]

    Was auch immer die Gründe für den Flugzeugabsturz sein mögen, jeder wird ihn als einen Akt der Rache und Vergeltung ansehen – und der Kreml wird das nicht groß verhindern. Aus der Sicht Putins – und vieler Silowiki und Militärs – soll der Tod Prigoshins allen potenziellen Nachfolgern eine Lehre sein […]

    Prigoshins Tod ist eine direkte Bedrohung für alle, die ihm bis zum Schluss treu geblieben sind oder ihn offen unterstützt haben. Dies wird eher abschrecken als zu Protesten anregen. Deswegen ist keine besondere Reaktion zu erwarten. Es wird Empörung und Unzufriedenheit geben, aber keine politischen Konsequenzen.

    ~~~

    Каковы бы ни были причины крушения самолета, все будут видеть это как акт возмездия и расправа, и Кремль не будет особенно мешать этому. С точки зрения Путина, а также многих среди силовиков и военных – смерть Пригожина должна быть уроком любым потенциальным последователям. […]

    Смерть Пригожина – прямая угроза для всех, кто оставался с ним до конца или открыто поддерживал. Это скорее напугает, чем вдохновит на протесты. Поэтому никакой особой реакции ждать не стоит. Негодование и недовольство будет, политических последствий – нет.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Ekaterina Schulmann/Telegram: Tarnung zum Untertauchen 

    In einer ersten Reaktion erinnert die russische Politologin Ekaterina Schulmann auf ihrem Telegram-Kanal daran, dass auch eine Inszenierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden kann.

    [bilingbox]Aber ein ausgebranntes Flugzeug ist auch eine gute Tarnung, um mit einem der vielen Ersatzpässe für immer unterzutauchen. Ab in die Pampa, wo keiner einen findet, bis Gras über die Sache gewachsen ist und die Spuren kalt sind. Mein Leben – ein Roman!~~~Но и для того, чтобы скрыться навсегда, взяв один из многочисленных запасных паспортов, сгоревший самолёт – тоже подходящий повод. Ворон костей не соберёт, концы в пепел, след простыл. Quel roman que ma vie![/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Michael Naki/Telegram: Alles ist so, wie es scheint 

    Manche witzeln über Michael Naki, er sei ein Prigoshinologe. Tatsächlich hat der populäre YouTuber und Militäranalyst schon im Februar 2023 vorhergesagt, dass Prigoshin keines natürlichen Todes sterben wird. Auf Telegram wendet er sich nun gegen die These, dass der Absturz eine Inszenierung sei. Für Naki ist alles in Wirklichkeit genauso, wie es auch scheint.

    [bilingbox]

    Erinnert ihr euch noch daran, als die Drohnen in den Kreml flogen? Da gab es alle möglichen Hypothesen, etwa dass der FSB da seine Finger mit drin hatte. Nichts davon konnte bestätigt werden, und ich denke, heute ist allen klar, dass es ukrainische Drohnen waren.

    Erinnert ihr euch noch an Prigoshins Meuterei? Damals hat kaum einer versäumt, sie als Inszenierung zu bezeichnen. Allerdings konnte niemand erklären, was der Zweck dieser Inszenierung war. Ich glaube, heute gibt es nur noch wenige Menschen, die an eine Inszenierung glauben.

    Jetzt haben wir die gleiche Situation. Ich kann weder zu 100 Prozent sagen, dass Prigoshin wirklich tot ist, noch, dass da irgendein raffinierter Plan dahintersteckt. Aber ich bin mir mehr als sicher, dass alles genauso ist, wie es auch aussieht. Putin hat Prigoshin demonstrativ getötet, und zwar auf eine Art und Weise, die keinen Raum lässt für Fantasien über einen Unfall oder Beteiligung der ukrainischen Streitkräfte.

    ~~~

    Помните, когда дроны прилетели в Кремль? Сколько там было всевозможных гипотез, что, мол, это дело рук ФСБ. Ни одна не подтвердилась, и, думаю, что сейчас всем очевидно, что это были украинские дроны.

    Помните мятеж Пригожина? Который только ленивый не назвал инсценировкой. Правда, никто не мог объяснить, в чем цель этой инсценировки. Думаю, что сейчас мало людей, которые все еще полагают, что это была инсценировка.

    Та же ситуация и здесь. Я не могу на 100% утверждать, что Пригожин точно мертв, и что нет каких-то хитрых планов. Но я более чем уверен, что всё именно так, как выглядит. Путин демонстративно убил Пригожина, причем способом, который не оставляет места фантазии на тему случайности или действий ВСУ.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Friedman/Telegram: Der Mann, der zuviel wusste

    Der belarussische Historiker und Analyst Alexander Friedman glaubt, dass der Tod Prigoshins auch als Warnung an Lukaschenko verstanden werden kann.

    [bilingbox]Auf jeden Fall wird Lukaschenko sagen können, dass seine Garantien für Prigoshin nur auf dem Territorium von Belarus und nicht für andere Teile des Unionsstaates galten. Der Tod von Jewgeni Prigoshin macht Alexander Lukaschenko in gewisser Weise zu einem „neuen Prigoshin”. Einerseits gibt ihm sein Tod die Möglichkeit (sollte der Kreml zustimmen), Teile der Gruppe Wagner unter seine Kontrolle zu bringen. Andererseits ist es die typische Geschichte eines Mannes, der zuviel wusste. Und das wird, wie wir heute gesehen haben, im Kreml nicht verziehen.~~~Александр Лукашенко в любом случае сможет сказать, что его гарантии Пригожину действовали только на территории Беларуси и не распространялись на другие части Союзного государства. Смерть Евгения Пригожина делает самого Александра Лукашенко в какой-то степени «новым Пригожиным». С одной стороны, она дает ему возможность (если будет на то согласие Кремля) поставить под свой контроль части ЧВК «Вагнер» в Беларуси. С другой стороны, это типичная история человека, который слишком много узнал. А такое, как мы сегодня увидели, в Кремле не прощают.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Klaskowski/Pozirk: Jede Menge Probleme für Lukaschenko

    Was passiert nun mit den Wagner-Söldnern in Belarus? Mit dieser Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski auf Pozirk.

    [bilingbox]

    Lukaschenko kann den Tod des Wagner-Chefs nutzen, um die Spannungen in den Beziehungen zu den Nachbarländern der Europäischen Union und der NATO etwas zu senken.
    Eine andere Frage ist, ob Putin es eilig hat, diese toxische Mannschaft [die Wagner-Söldner – dek] einzusammeln oder dem belarussischen Machthaber zumindest Geld für den Unterhalt dieser problematischen Gäste zu geben. […]
    In jedem Fall hat der „kleine Bruder”, der in diesem Stück einen PR-Coup als Retter Russlands beim blutigen Aufstand leisten wollte, ordentlich viele Probleme übergeholfen bekommen.

    ~~~

    Лукашэнка можа скарыстаць смерць кіраўніка ПВК, каб трохі разрадзіць напружанне ў дачыненнях з суседнімі краінамі Еўразвязу і НАТО.
    Іншае пытанне, ці паспяшаецца Пуцін забіраць гэты таксічны актыў або хаця б даць грошай на ўтрыманне гэтых праблемных для беларускага правіцеля гасцей.

    В любом случае «младший брат», который хотел пропиариться в этом сюжете как спаситель России от кровавого бунта, получил на свою голову кучу проблем. 

    [/bilingbox]

    erschienen am 24.08.2023, Orignal

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  • Menschen im Sumpf

    Menschen im Sumpf

    Es sind Bilder von Szenen und Menschen, die aus der Zeit gefallen scheinen. Pferdekarren, hölzerne Kanus als Transportmittel, unbefestigte Straßen, Frauen, die Flachs schlagen. Vielleicht stellte sich auch bei Louise Arner Boyd (1887–1972) dieser Eindruck ein, als die berühmte Forscherin 1934 das südliche Belarus mit seinen wilden Sümpfen und Wasserwegen bereiste. Schließlich kam sie aus den damals vergleichsweise hochmodernen USA in diese archaisch wirkende Region, die in Belarus von einem nahezu mystischen Faszinosum umweht ist und der der Schriftsteller Iwan Melesh (1921–1976) mit seinem Epos Menschen im Sumpf (1962) ein literarisches Denkmal setzte. 

    „In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird Melesch oft als Beispiel für ein sakralisiertes Raumverständnis herangezogen“, schreibt die Slawistin Nina Weller in einem Feature für Deutschlandfunk. „Das Bild des Menschen im Sumpf steht demnach für einen belarussischen Menschentypus, der sich durch die Erfahrung des Überlebens unter widrigen Bedingungen, aber auch durch die unbeirrte Wiederaneignung des fremdbestimmten Raums auszeichnet. Der Mensch im Sumpf verharrt eher passiv in seinem kleinen Kosmos, passt sich dem aufgezwungenen Schicksal an, doch nutzt er die Situation gewitzt auch zum eigenen Vorteil.“

    Die Fotos, die Louise Arner Boyd auf ihrer Reise durch die Sümpfe machte, geben auch einen Eindruck von dieser kulturellen Mystik. Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat sie für seine Leser wiederentdeckt. Die einzigartigen Bilder stammen aus der Sammlung der American Geographical Society Library, die an den University of Wisconsin-Milwaukee Libraries aufbewahrt wird. Wir zeigen eine Auswahl.

    Vor fast 90 Jahren, im Jahr 1934, unternahm die berühmte US-amerikanische Forscherin und Reisende Louise Arner Boyd nach der Teilnahme an einem internationalen Geographenkongress in Warschau eine dreimonatige Reise durch die Länder der sogenannten Kresy. Sie reiste mit dem Auto von Przemyśl in Polen über Lwiw, Kowel, Kobrin, Pinsk, Kletsk, Njaswish und Slonim nach Wilna. Ihre Fotos und Notizen über die Länder des heutigen Belarus, Polens, der Ukraine und Litauens können uns viel über das Leben der Menschen erzählen, die in der Zwischenkriegszeit in dieser Region lebten. Dabei schenkte die Reisende dem belarussischen Polesien, dem Fluss Prypjat und seinen Nebenflüssen sowie der Hauptstadt der Region – Pinsk – besondere Aufmerksamkeit. 

    Wir bieten einen Blick in das Alltagsleben der Bewohner von Polesien in der Zwischenkriegszeit, das die Reisende in ihren Fotos festgehalten hat, begleitet von ihren ureigenen Bildunterschriften bzw. Anmerkungen.

    Ein Bauer mit Pflug und Pferd in einem Boot in den Prypjatsümpfen, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Familie steht am späten Nachmittag am Ufer der Prypjatsümpfe, dahinter ihr Haus. Links eine Frau beim Wäschewaschen, 1. Oktober 1934
    „Die Menschen hier besitzen ihr eigenes Grundstück, und die Grundstücksgrenzen sind entlang der Uferpromenade durch Markierungen gekennzeichnet. Sie bemessen ihr Eigentum nach Sznwry, was Seil bedeutet. Sie sagen: ,Ich habe so viele Sznwry‘, anstatt in Hektar zu messen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Mann fischt von einem Kanu aus, Prypjatsümpfe, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Zwei Frauen stehen in einem Kanu und waschen Wäsche, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Segelboot auf dem Fluss Pina in der Nähe von Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Männer beim Abladen von Heu von Lastkähnen am Markt von Pinsk, 30. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Lastkahn, beladen mit Holz, nähert sich Pinsk, 30. September 1934
    „Viele dieser Lastkähne kommen aus der Nähe der Grenze zu Russland.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Passagierschiff legt am Ufer in Pinsk an, 30. September 1934
    „Dies ist die Art von Seitenrad-Dampfer, wie sie auf dem Prypjat und seinen Nebenflüssen verwendet werden.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen in einem mit Baumstämmen beladenen Kanu vor Pinsk, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen sitzen in Kanus am Pinsker Markt, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Markt von Pinsk: Karren mit Heu und Birkenrinde, die für die Herstellung von Sandalen genutzt wird, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Stand mit Stiefeln auf dem Markt in Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Pferdekutsche auf der Hauptstraße in Pinsk am Markttag, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Verkaufsstände auf dem Pinsker Marktplatz, 3. Oktober 1934
    „Stände auf dem Marktplatz oberhalb der Uferpromenade. Töpferwaren, Holzwaren, Eisenwaren und so weiter auf Gehweg und Straße.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Mutter und Kind stehen neben einem strohgedeckten Gebäude, 1. Oktober 1934
    „Im Vordergrund rechts steht ein hölzernes Instrument zum Tragen von Flachs. Das Gebäude verfügt über gewebte Seitenwände, um eine Belüftung zu ermöglichen, und ist mit Stroh aus Riedgras gedeckt. Im Hintergrund stehen aufrecht am Zaun zwei Stangen zum Löschen von Dachbränden. An einem Ende befindet sich eine Bürste zum Ausschlagen der Funken und am anderen Ende ein Eisenhaken zum Abziehen des brennenden Strohs.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Automobil auf einer unbefestigten Straße östlich von Kobryn, 29. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Frauen dreschen Flachs, 2. Oktober 1934
    „Scheune und Getreidespeicher. Links bearbeiten zwei Frauen Flachs. Rechts eine hölzerne Egge. Ein Bündel Roggen. Diesen Leuten ging es gut. Sie waren sauber und die Kinder trugen gute Kleidung. Sie waren orthodox-griechische Katholiken, und ihre Kirche befand sich zwischen den Kiefern.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Drei Dorfbewohner sitzen zusammen, 7. Oktober 1934
    „Nahaufnahme von Männern in einem Dorf. Links: langer Bart, in der Mitte Schnauzer, rechts: glatt rasiert.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Pferd zieht große Baumstämme, östlich von Iwazewitschy, 8. Oktober 1934
    „42 Meilen östlich von Iwazewitschy. Wagen mit Holzstangen, die die Hinterräder verbinden und dazu dienen, das hintere Ende der langen Baumstämme zu lenken. Form einer Wünschelrute. Links die Vorderseite eines weiteren Wagens.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd“/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Kreuze auf einem Dorffriedhof, 5. Oktober 1934
    „Friedhof. Hohe unbemalte Kreuze ohne Namen oder Erkennungszeichen. Pflöcke markieren, wo die Toten begraben sind. Moos auf den Kreuzen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

    Im Original erschienen bei Zerkalo
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion

    Mit freundlicher Genehmigung der The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

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  • Bilder vom Krieg #12

    Bilder vom Krieg #12

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Brendan Hoffman

    Kinder nehmen an einem Inlineskating-Kurs in Kyjiw teil. Aufgenommen am 13. Juni 2023 in Kyjiw / Foto © Brendan Hoffman
    Kinder nehmen an einem Inlineskating-Kurs in Kyjiw teil. Aufgenommen am 13. Juni 2023 in Kyjiw / Foto © Brendan Hoffman

    [bilingbox]dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du das Foto aufgenommen hast?

    Brendan Hoffman: Ich habe dieses Foto am 13. Juni dieses Jahres gemacht, also nur eine Woche nachdem russische Streitkräfte den Staudamm von Nowa Katschowka im Süden der Ukraine gesprengt hatten. Die Menschen waren (und sind) immer noch wütend und schockiert darüber. Es ist eine so sinnlose Katastrophe. Die Sprengung scheint keinen anderen Zweck zu haben, als die ukrainische Zivilbevölkerung zu bestrafen. Aber die Ukrainer sind darin geübt, schnell zu reagieren. Also fanden die Menschen Wege, um sich gegenseitig zu helfen und gelassen zu bleiben.

    Den größten Teil des Tages habe ich in einem Tierheim verbracht, das Haustiere aufnahm, die bei der Überschwemmung von Cherson ausgesetzt worden waren. Den ganzen Tag von Hunden und Katzen umgeben zu sein – das ließ die Welt irgendwie in Ordnung erscheinen. Am Abend machte ich mich dann auf den Weg, um das Gebäude bei perfektem Licht einzufangen. Es ist immer noch schwer zu glauben, dass dies ein realer Ort ist. Es ist eines der wenigen Fotos, von dem ich schon im Vorhinein wusste, dass ich es machen wollte. Ich hatte allerdings keine Ahnung, dass dort ein Inlineskating-Kurs für Kinder stattfinden würde. Das war reines Glück. Für mich sind diese Kinder der Inbegriff von Freiheit.

    Wie würdest du deine Erfahrungen als Fotograf während des Krieges gegen die Ukraine beschreiben?

    Meine Erfahrungen sind insofern etwas ungewöhnlich, als dass ich ein dauerhaft in der Ukraine lebender Ausländer bin. Meine Frau ist Ukrainerin. Als die Invasion begann, konnte ich nicht einfach wieder nach Hause gehen. Zu allem Überfluss war meine Frau Ende Februar letzten Jahres im sechsten Monat mit unserem ersten Kind schwanger. Wir erlebten die erste Phase der Invasion zu Hause in unserem Schlafzimmer in Kyjiw. Dann verließen wir die Stadt. Etwa einen Monat lang arbeitete ich weiter, so gut es eben ging. Aber dann musste ich mich darauf konzentrieren, eine neue Wohnung in einem anderen Land zu finden und mich rechtzeitig dort einzuleben, um unseren Sohn auf der Welt willkommen zu heißen.

    Vor einem Jahr kehrten wir schließlich in die Ukraine zurück. Ich gehe nicht oft an die Front, sondern bleibe meist in Kyjiw. Das ist zwar manchmal gefährlich, aber es gibt mir die Möglichkeit, zu erkunden, wie der Krieg alles berührt – auch abseits der Front. Und, wie alles trotzdem weitergeht.

    Wie sollten Fotografen den Krieg deiner Meinung nach abbilden?

    Ich denke, wir müssen über einzelne Fotos hinausdenken und uns auf den Gesamteindruck konzentrieren, den wir als Fotografen vermitteln. Es gibt visuelle Klischees. Wenn man die bedient, kann das dazu führen, dass fade, sich wiederholende und zu vereinfachte Bilder entstehen. Daran bin ich genauso schuld wie jeder andere auch. Soweit es möglich ist, müssen wir versuchen, ehrlich und klar zu zeigen, wie der Krieg ist: nicht nur für die Soldaten oder für die Opfer eines Raketenangriffs. Sondern für all die Millionen von Menschen, die ihn durchleben. Das kann kompliziert sein.

    Gerätst du manchmal auch an den Rand deiner Möglichkeiten als Fotograf – insbesondere seit Beginn des Krieges?

    Es gab Momente – zum Beispiel, als 2014 das Malaysia-Airlines-Flugzeug MH17 über dem Osten der Ukraine abgeschossen wurde –, in denen ich keine Fotos von dem machen wollte, was vor mir lag. Es war zu grausam, und solche grausamen Fotos würden mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso nicht veröffentlicht werden. Ich wollte das nicht tun und auch nicht dabei gesehen werden, wie ich solche Fotos mache. Es war, als ob die Leute eine falsche Vorstellung davon bekommen würden, was die Aufgabe eines Fotografen ist. Später bedauerte ich, dass ich die Bilder nicht gemacht hatte. Als historische Dokumente wären sie wichtig gewesen. Das ist es, was die Leute normalerweise meinen, wenn sie fragen, was auf einem Foto gezeigt werden kann oder sollte: Wie drastisch und blutig darf es sein, was ist akzeptabel? Krieg, das ist eine Frau, die von einer russischen Rakete aus ihrer Wohnung im 17. Stock in Kyjiw gesprengt wird und in Dutzenden von Teilen auf dem Parkplatz landet. Das war etwas, das ich letzten Monat gesehen habe. Die hässliche Realität zu vermeiden, fühlt sich an, als würde man die Wahrheit verbergen und einen Kreislauf des Tötens aufrechterhalten. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es wichtig ist, drastische Bilder zu machen, wenn man sie vor Augen hat – aber auch sehr genau darüber nachzudenken, wie sie, wenn überhaupt, gesehen werden.

    Wie lässt sich deine Position als Fotograf in der Ukraine beschreiben?

    Ich habe Glück, denn ich habe einen festen Arbeitsplatz und im Gegensatz zu vielen meiner ukrainischen Kollegen kann ich das Land verlassen, wann immer ich will. Ich bin zwar ziemlich eng mit der Ukraine verbunden, aber es ist trotzdem nicht mein Land. Ich werde nicht zum Kampf einberufen werden. Es ist ein schwieriger Balanceakt: Um gute Arbeit zu leisten, muss man einen Ort gut kennen, aber für mich ist auch eine gewisse Distanz erforderlich. Das war am Anfang am schwierigsten zu erreichen. Jetzt gibt es viele Momente, in denen ich weniger Beobachter sein möchte und stattdessen in irgendeiner Weise aktiver beteiligt sein möchte.~~~dekoder: Can you remember the day when you took the image? 

    Brendan Hoffman: I took this picture on June 13 of this year, so it was only a week after Russian forces blew up the hydroelectric dam at Nova Kakhovka, in southern Ukraine. People were (and are) still angry and in shock about it – such a pointless catastrophe that didn’t seem to have any function but to punish civilians and destroy infrastructure that supports some of the richest farmland in the world. Still, Ukrainians are practiced at leaping to action so people were finding ways to help and generally being stoic. I had spent most of the day at an animal shelter that was housing pets abandoned when Kherson flooded. Being surrounded by dogs and cats all day made the world feel kind of alright.

    How does the photo make you feel when you now look at it? 

    It’s still hard to believe this is a real place. It’s so perfect for the age. This is a rare photo that I knew ahead of time I wanted to make, and I made a special trip one evening to catch it with the perfect light. I had no idea there would be a children’s rollerblading class, however. That was pure luck, but to me those kids are freedom incarnate. 

    What were your experiences as a photographer during the war?

    I’m slightly unusual as far as my experience, in that while I am a foreigner, I live permanently in Ukraine and my wife is Ukrainian. When the full-scale invasion began, I couldn’t just do my assignment and then leave to go home again. To top it off, in late February of last year, my wife was nearly six months pregnant with our first child. We experienced the opening salvo of the invasion at home in our bedroom in Kyiv, and left the city the next day. I continued working as best I could for about a month but ultimately I had to focus on finding a new place to live in a different country and getting settled in time to welcome our son into the world. 

    We returned to Ukraine a year ago and I’ve been working pretty intensively since then, but again with a somewhat unusual role. I don’t often go to the front lines and instead mostly stay in Kyiv, which is sometimes dangerous but more often gives me the opportunity to explore the fascinating and telling ways that the war touches everything, but everything still carries on. 

    In your opinion: How should photographers depict the war?

    We have to think beyond individual frames to focus on the overall impression we give. There are deadline pressures and visual cliches that can conspire to produce bland, repetitive, and oversimplified imagery, and I’m as guilty as anyone of that. But to the extent possible, we really need to try to show with honesty and clarity of thinking what war is like, not just for soldiers or the victims of a missile attack, but for all the tens of millions of people living through it. It can be complicated.

    Where do you feel your own limits? Could you reflect on your own photographic position, especially within the context of the on-going war? 

    There have been times – for example, when Malaysia Airlines flight MH17 was shot down over eastern Ukraine in 2014 – when I felt like a vulture and did not want to take pictures of what was in front of me. It was too graphic, and such graphic photos wouldn’t be likely to be published anyway. I didn’t want to do it and I didn’t want to be seen doing it. It was like people would get the wrong idea about what a photographer’s purpose is. Later, I had regrets that I hadn’t made the pictures. I still think they were too graphic to be published, but they would be important as historical documents. This is normally what people mean when they ask about what can or should be shown in a photo: how graphic and bloody is acceptable? Of course, that’s what war is, it’s a woman blown out of her 17th floor apartment in Kyiv by a Russian missile and landing in the parking lot in dozens of pieces. That was something I saw last month. It’s a dilemma because avoiding the ugly reality feels like hiding the truth and perpetuating a cycle of killing. I’ve come to the conclusion that it’s important to make graphic pictures when presented with them but to be very thoughtful about how, if ever, they are seen.

    As for my overall photographic position, I’m lucky. I have steady work and unlike many of my Ukrainian colleagues, I can leave the country when I want to and take a break, or I could pack up and move away entirely. While I’m pretty deeply enmeshed in Ukraine, it is still not my country and I’m not going to be called up to fight. It’s a tricky balance: doing good work requires deep knowledge of a place but for me, it also requires a certain detachment. That was the hardest thing to achieve early on, and now there are a lot of times when I would like to be less of an observer and instead be more actively involved in some way.[/bilingbox]

    BRENDAN HOFFMAN

    geboren 1980 im US-Bundesstaat New York, lebt und arbeitet in Kyjiw. Er ist Mitbegründer des Prime Collectives, eine internationale Gruppierung aus Fotografen, Filmemachern und bildenden Künstlern, die sich in ihren Werken mit Fragen der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit auseinandersetzen. Seit 2013 dokumentiert er vor allem die Geschehnisse in der Ukraine. Seine Arbeiten wurden weltweit vielfach veröffentlicht und ausgestellt.
    Regelmäßig verfasst er Beiträge für Medienhäuser wie die New York Times und National Geographic.


    Bildredaktion: Andy Heller
    Foto: Brendan Hoffman
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 28.07.2023

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Lesha Berezovskiy

    Dom Kultury | Kulturhaus / Foto © Lesha Berezovskiy, 2. April 2023 in Derhatschi, Oblast Charkiw

    LESHA BEREZOVSKIY

    [bilingbox]Ich kam mit Freunden von der Freiwilligenorganisation Livyj Bereh in die Oblast Charkiw. Die vergangenen sechs Monate hatten sie vor allem Dächer in der Gemeinde Derhatschi repariert, die zu Beginn der Invasion heftig bombardiert worden war, als die Russen versuchten Charkiw einzunehmen. 

    Dieses Gebäude weckte meine Aufmerksamkeit. Erstens war es das Dom Kultury (Kulturhaus), das seit Anfang der Invasion als humanitäres Hilfszentrum genutzt worden war. Menschen aus allen naheliegenden Dörfern kamen und holten sich Essen, Medikamente und andere humanitäre Hilfsgüter. 

    Neben allem berührte mich vor allem die Flagge der EU zwischen all den ukrainischen Flaggen, was die Haltung der Ukrainer klar zeigt – worüber Russland offensichtlich nicht froh ist. Deswegen setzen sie ihre Kriegsverbrechen in der Ukraine fort.

    In meinen Bildern möchte ich die Wahrheit und Komplexität der Situation zeigen. Und auch meine eigenen Erfahrungen als Mensch, der diesen Krieg seit fast neun Jahren miterlebt. Er drang erstmals 2014 in mein Leben, als ich in Donezk lebte.

    Die russische Propaganda hatte schon seit Jahrzehnten nicht nur innerhalb Russlands hervorragend funktioniert, sondern auch in der Ukraine und der ganzen Welt. Sie haben sich unglaublich ins Zeug gelegt, um im Westen die Meinung zu etablieren, dass die Ukraine ein Teil von Russland sei. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sie diesen Krieg vorbereitet. Und die ukrainische Identität schon lange davor angefangen zu zerstören, wie auch viele andere Nationalitäten auf dem Gebiet der Ex-UdSSR.

    Ich bin kein Fotoreporter oder Fotojournalist, sodass ich oft lieber nicht fotografiere, weil ich die Ereignisse zu verstörend finde und niemandem zu nahe treten möchte. Also versuche ich, eine tieferliegende Schicht des Krieges zu zeigen. In dem Schweizer Online-Magazin Republik mache ich seit dem ersten Tag der Invasion eine Kolumne und es kam viele Male vor, dass ich es vorzog, über Ereignisse zu schreiben, ohne davon Bilder zu machen.

    Wie sich meine Fotografie im Verlaufe des Kriegs verändert hat? Von der Technik her vielleicht: Ich fotografiere jetzt auch digital, zusätzlich zum Analogfilm, denn in den ersten Monaten nach dem 24. Februar 2022 war es einfach zu heftig: Mit einer analogen Kamera herumzulaufen und nicht zeigen zu können, was du gerade fotografiert hattest, war ein bisschen bedenklich. Also habe ich mich an eine kleine Digitalkamera gewöhnt, fotografiere aber immer noch lieber Mittelformat.

     

    LESHA BEREZOVSKIY

    Lesha Berezovskiy, 1991 geboren in der Oblast Luhansk, ist ein Fotograf aus der Ukraine. Der Autodidakt wuchs im Donbas auf, zwischen der rauen Industriestadt Jenakijewe und dem ruhig ländlichen Nowoaidar, wo seine Großeltern lebten und wohin die Mutter ihn und seine Schwester oft schickten, um ihn vor den harten Vibes der Stadt zu schützen. Dort verbrachte er die Tage mit Ziegenhüten und in der schönen Natur am Fluss Aidar. Hier entwickelte Lesha seine Liebe zur Natur und lernte es zu schätzen, Zeit allein und mit seinen Gedanken zu verbringen – etwas, das in seinen Fotografien von Beginn an spürbar war und sich in einer feinen Wahrnehmung der Atmosphäre eines Gegenstands oder einer Situation niederschlägt – und Leben in seine Bilder bringt.

    Lesha Berezovskiys Bildkolumne „Leben in Trümmern“ gibt es nun auch als Buch, derzeit arbeitet er unter anderem am Projekt „War Knocked On My Door Again“.~~~I went to Kharkiv region with my friends from volunteer organization Livyj Bereh. Over the past 6 months they were focused on fixing roofs in Derhachi hromada which was bombed heavily in the beginning of the full scale invasion when russians tried to occupy Kharkiv. 


    This particular building especially dragged my attention. First of all it was the house of culture which was actually used as a humanitarian hub since the full scale invasion began. People from all the nearest villages were coming there to get food, medicine and other humanitarian aid. Besides this what really touched me was the flag of EU along with Ukrainian flags which clearly shows the position of Ukrainians – and russia is obviously not happy with it. That’s why they keep committing war crimes in Ukraine.

    The truth and complexity of the situation are what I was trying to show in my pictures. Also my own experience as a person who experiencing this war for almost nine years. First it has broke in to my life in 2014 when I lived in Donetsk. 
    Russian propaganda worked very well for decades not only inside russia itself but also in Ukraine and all over the world. They’ve put so much effort to establish the opinion of Ukraine in the West like it’s a part of russia. They’ve been preparing for this war since the fall of USSR. And destroying Ukrainian identity even long before, as well as many other nationalities within the territory of ex-USSR. 


    I’m not a reportage photographer or photojournalist, so often I prefer not to photograph because I find the events too disturbing and don’t want to make anyone uncomfortable. So I try to show this war on a bit deeper level. I’ve been doing a column at Swiss magazine Republik since the first day of full scale invasion and there were many times when I chose to write about some events without taking pictures of it. 

    – Did your photography change in the course of the war? If so, in which way? 

    It may have changed a bit in technical aspect. I started using digital in addition to film because first months after 24.02.2022 were too incense and walking around with a film camera without ability to show what did you take a picture of was a bit risky. So I got used to small digital camera but I still prefer medium format on film. 

     

    LESHA BEREZOVSKIY

    Lesha Berezovskiy (*1991 Luhansk Oblast) is a photographer from Ukraine. The auto-didact grew up in Donbas, between the rough industrial city of Yenakijeve and the quiet, rural town of Novoaidar, where his grandparents lived and where his mother sent him and his sister as often as possible, in order to protect them from the tough city vibes. There, spending the days hoarding goats and enjoying nature by the Aidar River, Lesha developed his love for nature and learned to appreciate the time and space alone with his thoughts – a characteristic that has been recognizable in his photography from the very beginning, manifesting itself as a very fine sense for the atmosphere surrounding a subject or a situation, bringing his images to life.[/bilingbox]

    Foto: Lesha Berezovskiy
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 28. Juni 2023

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    Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das?

    Am 24. Juni hat der Kreml die wohl schwersten 24 Stunden seiner jüngsten Geschichte erlebt. Plötzlich schien ein großes Blutbad vor Moskau oder gar ein Bürgerkrieg im Land möglich. Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin hatte am frühen Morgen des 24. Juni das Militärhauptquartier in Rostow am Don unter Kontrolle gebracht, seine Miltärkolonne konnte im Laufe des Tages nahezu ungehindert mehrere hundert Kilometer Richtung Hauptstadt vorrücken. Putin sprach von Verrat und kündigte „unausweichliche Strafen“ für die Organisatoren und Beteiligten des bewaffneten Aufstandes an.

    Dem vorausgegangen war ein Konflikt zwischen der Wagner-Truppe und dem russischen Verteidigungsministerium, der sich seit Monaten zuspitzte. Während der Kämpfe um die ostukrainische Stadt Bachmut beschuldigte Prigoshin mehrfach öffentlichkeitswirksam Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow und beklagte, dass sie den Wagner-Truppen absichtlich Munition vorenthalten würden. Am 10. Juni ordnete Schoigu an, dass alle „Freiwilligenverbände“ bis zum 1. Juli Verträge mit dem Verteidigungsministerium abschließen müssen, was Prigoshin – wohl um seine Söldner-Firma fürchtend – entschieden ablehnte. Am Abend des 23. Juni behauptete Prigoshin schließlich, die russische Armee habe Wagner-Camps im Hinterland beschossen. Dabei seien zahlreiche Kämpfer ums Leben gekommen. Für diese (unbestätigten) Vorfälle kündigt Prigoshin eine Antwort an.

    Der von ihm als „Marsch der Gerechtigkeit“ bezeichnete Marsch auf Moskau endet keine 24 Stunden später damit, dass Prigoshin seine Militärkolonne zurückzieht und in Rostow unter dem Jubel der Schaulustigen in einen SUV steigt, der ihn nach Belarus bringen soll. Er hat offiziell unter Vermittlung von Alexander Lukaschenko eine Einigung mit dem Kreml erzielen können, die ihm Straffreiheit und eine Ausreise gewährt.

    Nach diesen turbulenten Ereignissen fragen viele: Was war das eigentlich? Ein versuchter Putsch? Alles eine große Inszenierung (mit mehreren abgeschossenen Helikoptern, mindestens zehn Toten und einem massiven Imageschaden für Putins Machtvertikale)? Tatjana Stanowaja sieht darin eher einen Akt der Verzweiflung Prigoshins, dessen Flucht nach vorne womöglich eine Spur zu groß geraten ist. Die Politikwissenschaftlerin ist Senior Fellow beim Carnegie Russia Eurasia Center und hat 2018 das Analysezentrum R.Politik gegründet. dekoder hat ihre Einschätzung auf Twitter aus dem Englischen übersetzt.

    Unten nun eine kurze Beschreibung von Prigoshins Meuterei und den Faktoren, die ihren Ausgang mitbestimmten. Wir Beobachter haben zunächst wichtige Details verpasst – aufgrund einer mageren Informationslage und Zeitmangels für eine tiefgehende Analyse. Hier nun die Sichtweise, die derzeit am plausibelsten erscheint.

    Prigoshins Aufstand war kein Greifen nach Macht und kein Versuch, den Kreml zu übernehmen. Es war ein Akt der Verzweiflung – Prigoshin wurde aus der Ukraine gedrängt und war somit unfähig, Wagner so aufrechtzuerhalten wie vorher, während der Staatsapparat sich gleichzeitig gegen ihn stellte. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, ignorierte Putin ihn und unterstützte öffentlich seine gefährlichsten Widersacher. 

    Prigoshins Ziel war es, Putins Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und eine Diskussion über die Bedingungen zu erzwingen, wie seine Aktivitäten aufrechterhalten werden könnten: eine klar definierte Rolle, Sicherheitsgarantien und Finanzierung. Das waren keine Forderungen, die auf einen Staatsstreich abzielten, es war Prigoshins verzweifelte Offerte, um sein Unternehmen zu retten, in der Hoffnung, dass seine Verdienste bei der Eroberung Bachmuts (dafür brauchte er sie!) berücksichtigt würden und seine Anliegen bei Putin ernsthafte Aufmerksamkeit erregen würden. Jetzt sieht es so aus, dass diese Verdienste Prigoshin halfen, mit dem Leben davonzukommen, aber ohne eine politische Zukunft in Russland (zumindest solange Putin an der Macht ist).

    Prigoshin wurde von Putins Reaktion überrascht und war nicht vorbereitet auf seine plötzliche Rolle als Revolutionär. Er hatte auch nicht damit gerechnet, dass Wagner Moskau erreichen würde; dort hätte seine einzige Option darin bestanden, den Kreml zu stürmen – eine Aktion, die zweifelsohne ihn und seine Kämpfer ausgelöscht hätte.

    Die Teile der [politischen] Elite, die dazu fähig waren, wandten sich an Prigoshin, doch zu kapitulieren. Das verstärkte wohl bei ihm das Gefühl des drohenden Untergangs. Ich denke jedoch nicht, dass es Verhandlungen auf oberster Ebene gab. Lukaschenko unterbreitete Prigoshin ein von Putin gebilligtes Rückzugsangebot unter der Bedingung, dass Prigoshin Russland verlässt und Wagner aufgelöst wird.

    Meines Erachtens war Prigoshin nicht in der Position, um Forderungen zu stellen (wie den Rücktritt von Shoigu oder Gerassimow – den viele Beobachter heute erwarten. Wenn das geschieht, ist der Grund dafür ein anderer.) Nach Putins Ansprache am Morgen des 24. Juni war Prigoshins vorrangiges Ziel, eine Möglichkeit zum Ausstieg zu finden. Die Situation hätte unausweichlich in den folgenden Stunden zu Toten geführt. Möglich ist, dass Putin Prigoshin Sicherheit versprach, unter der Bedingung, dass er ruhig in Belarus verweilt.

    Ich bleibe bei meiner Aussage, dass Putin und dem Staat ein schwerer Schlag versetzt wurde (der erhebliche Nachwirkungen auf das Regime haben wird). Doch ich möchte betonen, dass das Image für Putin immer zweitrangig war. Abgesehen von Äußerlichkeiten hat Putin das Wagner- und Prigoshin-Problem tatsächlich gelöst, indem er Ersteres aufgelöst und Letzteren verjagt hat. Die Situation wäre viel schlimmer gewesen, wenn sie in einem Blutbad an Moskaus Stadtrand geendet hätte. 

    Und: Nein, Putin braucht weder Wagner noch Prigoshin. Er kann es mit eigenen Kräften schaffen. Davon ist er nun mit Sicherheit überzeugt. Viele weitere Details werde ich morgen Abend [Montag] in meinem Bulletin veröffentlichen.

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