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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Krieg bleibt Krieg

    Krieg bleibt Krieg

    UPDATE (30. Mai, 16.45 Uhr): Arkadi Babtschenko ist am Leben. Gemeinsam mit dem ukrainischen Geheimdienst SBU gab er eine Pressekonferenz vor Journalisten in Kiew. Die Mordinszenierung hat im russischen Internet heftige Debatten ausgelöst, die wir in unserer Debattenschau abgebildet haben.

    Juri Saprykin, Autor des unten stehenden Nachrufs auf Babtschenko, schreibt unterdessen auf Facebook:

    Wisst ihr was? Er lebt, Gott sei Dank. Nicht eines der gestern Nacht geschriebenen Worte nehme ich zurück. Zugleich hat sich Valentina Iwanowna M. als Mensch gezeigt. Und diesen, hm hm, schwierigen Gefühlskomplex, den die neuesten Nachrichten hervorrufen, werden wir irgendwie überleben (genau wie es jetzt auf allen Seiten richtig wäre, für ein paar Wochen die Sozialen Netzwerke zu kappen und sich keinem Fernseher zu nähern).


    Am 29. Mai wurde der russische Journalist und Schriftsteller Arkadi Babtschenko im Treppenhaus seines Wohnhauses in Kiew erschossen. Hinterrücks, was an die Ermordung anderer Regimekritiker erinnert, wie etwa an die des Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Ein Schwall von Beschuldigungen erfüllt heute die Sozialen Netze. Tenor: Babtschenko sei für das System Putin genauso unbequem gewesen wie Nemzow, sein Tod sei seiner massiven Kritik am System geschuldet. Beweise bleiben aus, wahrscheinlich wird man nie den eigentlich Schuldigen finden und verurteilen, genauso wie im Fall Nemzow. Unmittelbar nach Babtschenkos Ermordung in Kiew begannen gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen ukrainischen und russischen offiziellen Stellen.

    Babtschenko betrieb eine Art aktivistischen Journalismus. Putin sei ein Faschist, Russland sei Mordor – mit solchen Provokationen und Übertreibungen sprach der Journalist vielen aus der Seele, auf Facebook hatte er über 190.000 Follower. Sein Ton war oftmals wütend und schonungslos, seine Wortwahl Mat-durchsetzt. Er brach bewusst Regeln des klassischen Journalismus – was ihm Freunde, aber auch viele Feinde einbrachte – und verschaffte sich damit eine einzigartige Stellung in der russischen Medienlandschaft.

    Neben seinen wütenden Kommentaren zum politischen Tagesgeschehen in Russland und im Donbass rief Babtschenko oft dazu auf, für karitative Zwecke zu spenden. Obwohl er in seinem Blog oftmals seine Mittellosigkeit ansprach, adoptierte seine Familie sechs Heimkinder.

    Im Februar 2017 verließ der Moskauer Journalist Russland in Richtung Prag; laut Eigenaussage, weil er gewarnt wurde, dass sein Leben in Moskau nicht mehr sicher sei. Im August 2017 kündigte er an, „auf einem NATO-Panzer zurückzukehren“. Von Prag ging er zunächst nach Israel, später in die Ukraine.

    Babtschenko sprach oft über den Tod. Er kämpfte in beiden Tschetschenienkriegen, als Kriegsreporter berichtete er auch über die Gräuel im Donbass. Seine Bücher über einzelne Kriegsgeschehnisse sind auch auf Deutsch erschienen, zuletzt der Band Ein Tag wie ein Leben (2014). Einige Male schrieb er darüber, wie er dem Tod entronnen sei. Letztes Jahr ist der Journalist gefragt worden, ob es ihm Angst mache, jetzt zu sterben. Es „macht immer Angst zu sterben“, sagte er, „vor zwanzig Jahren und auch jetzt. […] Ich will mehr leben, als sterben.“

    Am 29. Mai wurde Schriftsteller und Kriegsreporter Arkadi Babtschenko in Kiew erschossen / Foto © Sergej Bobylew/ITAR-TASS
    Am 29. Mai wurde Schriftsteller und Kriegsreporter Arkadi Babtschenko in Kiew erschossen / Foto © Sergej Bobylew/ITAR-TASS

    Er war ein Mensch des Krieges. Er hat ihn gesehen, und er hat viel von ihm verstanden.

    Vor rund drei Jahren hat Colta.ru auf einer Veranstaltung eine Reihe von Kurzfilmen gezeigt, in denen DNR– und ATO-Kämpfer von den Filmemachern begleitet wurden. Nach der Vorführung sagte Arkadi Babtschenko, der Film sei natürlich interessant, aber es käme zu keinem Finale, in gewissem Sinne könne es auch gar keines geben. „In den ersten ein zwei Monaten gibt es noch die Chance, [die Kämpfe – dek] zu stoppen, später aber, wenn alles durcheinander geht, dann ist der Krieg, sofern er nicht ausbrennt und erlischt, nicht mehr zu stoppen. Ich bin gar nicht so sehr verschreckt durch das, was wir gesehen haben, sondern eher davon, wie lange es noch dauern wird und wohin das alles führt, auch für uns.“

    Babtschenko hat in beiden Tschtschenienkriegen gekämpft und war als Kriegskorrespondent in Südossetien. Über seine Kriege hat er in der Erzählung Alchan Jurt geschrieben, die 2002 in der Literaturzeitschrift Nowy Mir erschien, und in Kurzgeschichten, die in das Buch Woina (dt. „Krieg“) eingingen. Babtschenko selbst sagte dazu: „Das ist keine Literatur, das ist Rehabilitation.“

    Wie viele, die Krieg miterlebt haben, schreibt er, dass es beinahe unmöglich ist, aus einem Krieg zurückzukehren, ihn aus sich herauszuätzen. Er selbst ähnelte, sogar äußerlich, einem Soldaten nach der Entlassung aus dem Kriegsdienst: gleichzeitig locker und konzentriert, als wäre er jeden Moment bereit, sich in den Kampf zu stürzen oder in Deckung zu gehen. Sogar sein Nickname im LiveJournal [Starschina Sapassa, dt. „Reserveältester“ – dek], sah nicht aus wie ein geheimnisvolles Bilderrätsel oder gekünstelt Pseudonym, sondern wie eine Zeile aus dem Truppenausweis.

    Ein Soldat schaut anders auf die Welt als ein Zivilist, und das Pathos des Publizisten Babtschenko kann man in einer Frage auf den Punkt bringen: Warum seht ihr denn das Offensichtlichste nicht? Angefangen mit dem berühmten Posting im LiveJournal über ein Schneeräumfahrzeug (laut Babtschenko hätten die Teilnehmer der Proteste im Winter 2012 dieses Fahrzeug klauen und in Richtung Lubjanka lenken sollen, um die dortigen Sperrungen zu durchbrechen – dafür blühte ihm gleich ein Strafverfahren), spricht er beinahe wie mit unverständigen Kindern: Versteht ihr denn nicht – ein erlaubter Protest ist kein Protest, eine mit gewaltsamen Methoden angegliederte Krim ist nicht Russland, das, was im Donbass vor sich geht, das ist Krieg, das ist Schande; und an all dem Schuld ist kein abstraktes „Wir“, sondern seid ganz konkret ihr – die, die brav gewählt haben und die, die keinen Widerstand geleistet haben. Ihr, die Zivilbevölkerung, die ihr das Offensichtlichste einfach nicht seht.

    Schon klar, wie aus Babtschenkos Position heraus seine Moskauer Gesinnungsgenossen wirkten: wie schwache, zu endlosen Kompromissen bereite Konformisten. „Sie standen mit weißen Luftballons im Pferch und gingen dann auseinander.“

    Seine Haltung von unbedingter moralischer Richtigkeit schreckte viele ab. Sein Konzept von kollektiver Verantwortung – in dem die Schuld für das vergossene Blut der letzten Jahre nicht nur bei denen liegt, die Hand angelegt haben, sondern bei jedem, der nicht aktiv Widerstand geleistet hat, sprich: bei praktisch allen Bewohnern Russlands – war dermaßen ungemütlich, dass man es häufig auf die angeschlagenen Nerven oder die schwierigen Lebensumstände schieben wollte. Babtschenko war jedoch bereit, bis zur letzten logischen Grenze darauf zu beharren, und diese Grenze war immer wieder der Tod.

    In Postings weigerte er sich demonstrativ, Trauer zu zeigen für aus dem Leben geschiedene Landsleute – ob bei bekannten Schauspielern oder den Opfern der TU-154-Katastrophe – weil diese Russlands Handlungen auf der Krim und im Donbass aktiv unterstützt oder stillschweigend befürwortet hatten. Das verschaffte ihm einen lautstarken und bösen Ruhm. Für die „Trauer-Polizei“, die sich in den vergangenen Jahren auf Facebook und im Fernsehen gebildet hat und die sich auf alle stürzt, die auf ungehörige Weise über Verstorbene schreiben, war Babtschenko das Hauptziel.

    Derartige Postings von Babtschenko konnte man tatsächlich nur schwer unterschreiben, und als er dann nach mehrfachen Drohungen Russland verließ, löste das kaum Protest oder Mitleidsbekundungen aus. Der persönliche Krieg Babtschenkos wurde zu einem Partisanen-Ritt in ferne Grenzgebiete der Moral und Ethik, wohin zu gehen nur wenige bereit waren. Manchmal schien es, als würde der Autor bereits automatisch die vom Publikum geliebte Todesnummer abspielen, um damit gleichzeitig eine Welle des Hasses und eine Lawine mitfühlender Likes auf sich zu ziehen. Aber irgendwo in den Tiefen stand hinter diesen Zeilen trotz allem lebendiger Groll und starker Schmerz. Das Gefühl eines Menschen, der sich in die Schlacht stürzt, ohne über die Folgen nachzudenken; Krieg bleibt Krieg.

    Foto © Arkadi Babtschenko/Facebook
    Foto © Arkadi Babtschenko/Facebook

    Obwohl er sich mit den derbsten Äußerungen zu den sensibelsten Themen einen Namen gemacht hatte, war er doch ein überraschend sanfter Mensch. Ständig fuhr er mal nach Krymsk, mal in den Fernen Osten, half Flutopfern, sammelte Geld, verteilte Lebensmittel und schaufelte selbst im Dreck. In seiner Familie gibt es sechs adoptierte, sehr schwierige Kinder: Das Sorgerecht hat seine Mutter übernommen, gekümmert haben sich alle. Selbst in seinem ständig wiederkehrenden Mantra „Warum habt ihr denn nicht auf mich gehört?“ war kein Hochmut, sondern nur ein müdes Bedauern: Wenn ihr auf mich gehört hättet, 2011 oder ein wenig später, dann wären Tausende noch am Leben, die Menschen im Donbass, die Passagiere des MH17-Flugs, Nemzow, Scheremet und noch viele mehr. Seiner Logik zufolge – hätten wir auf ihn gehört – wäre auch er selbst jetzt noch am Leben. Es fällt schwer Argumente zu finden, um darüber zu streiten – ja, außerdem mit wem denn noch?

    Seine Sturheit, Unversöhnlichkeit und seine Überzeugung von der Richtigkeit seiner eigenen Position waren wie aus einer anderen Zeit. Man hätte sie problemlos in einer Altgläubigen-Skite verorten können oder in irgendeinem Bauernkrieg aus der Reformationszeit, und das auf beliebiger Seite.

    Es ist absehbar, wie sich die Ermittlungen zu seinem Mord nun abspielen werden: Die Konfliktparteien werden sich endlos gegenseitig die Schuld zuweisen und erklären, wer mehr davon profitiert, der kollektive Putin oder der weltweite Anti-Putin. So ist das postfaktische Zeitalter beschaffen, in dem es angeblich entweder keine Wahrheit mehr gibt oder man unmöglich zu ihr vordringen kann. Für Babtschenko hat es sie zweifellos gegeben und er war bereit, für sie bis zum Äußersten zu gehen. Er war ein Mensch des Krieges, der einst begonnen hat, gegen den Krieg zu kämpfen. Und der Krieg hat sich dafür an ihm gerächt.

    Schlaf gut, Soldat.

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  • Der Hungerstreik des Oleg Senzow

    Der Hungerstreik des Oleg Senzow

    August 2015, der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow steht im Gitterkäfig eines russischen Gerichtssaals und spricht das letzte Wort des Angeklagten. Er sagt, dass die Behörden ihm schon am Tag seiner Verhaftung 20 Jahre Haft prophezeit hätten.

    Senzows Urteil lautet schließlich genau so: 20 Jahre, wegen Terrorismus. Tatsächlich hatte Senzow im Frühjahr 2014 in Simferopol auf der Krim Automaidan-Proteste organisiert – gegen die Angliederung der Halbinsel an Russland. Vorgeworfen wurde ihm dann jedoch, Terroranschläge auf Brücken und öffentliche Denkmäler vorbereitet zu haben, außerdem sei er Teil des nationalistischen ukrainischen Rechten Sektors.

    Beweise gab es dafür keine. Deswegen und auch wegen der Appelle von Filmschaffenden, wie Pedro Almodóvar und Wim Wenders, erregt der Fall des bekannten Regisseurs internationales Aufsehen. Bei Präsident Putin stoßen sie jedoch auf taube Ohren. Auch der Dokumentarfilm The Trial: The State of Russia against Oleg Sentsov, der unter anderem auf der Berlinale 2017 lief, ändert nichts an dem Urteil, das viele Justizexperten als kafkaesk bezeichnen. 

    Mitte Mai 2018, nach vier Jahren Haft, greift der Filmemacher zur Ultima Ratio des passiven Widerstands: Er tritt in den Hungerstreik mit der Forderung, alle ukrainischen politischen Gefangenen in Russland freizulassen. 

    Maria Kuwschinowa fragt für Colta.ru, was Kultur – gerade vor dem Hintergrund des Falls Senzow – eigentlich bedeutet.

     

    Am 14. Mai [2018 – dek] hat Oleg Senzow in einem Straflager jenseits des Polarkreises mit einem unbefristeten Hungerstreik begonnen. Seine einzige Forderung ist die Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen in Russland (laut einer Liste von Memorial sind das knapp über 20 Menschen).

    Im August 2015 hatte Senzow 20 Jahre bekommen für die Organisation einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung von Terroranschlägen.

    Der Schauprozess (nach Muster der Prozesse vom 6. Mai) sollte demonstrieren, dass sich nur ein Häufchen Terroristen gegen das Referendum auf der Krim ausspricht. Wer Widerstand plante, sollte eingeschüchtert werden. Es sollte eine einmalige Operation zur Verängstigung und Unterdrückung sein. Doch zwei Umstände störten die betriebssichere Arbeit der Repressions-Maschine: Erstens gingen die Angeklagten keinen Handel mit den Ermittlern ein und weigerten sich, die Legitimität des Gerichts anzuerkennen. Zweitens erwies sich der Automaidan-Aktivist Oleg Senzow unerwartet als Regisseur, was eine Welle öffentlicher Reaktionen nach sich zog, von Protesten der Europäischen Filmakademie bis hin zu Fragen wie: „Was? Kulturschaffende dürfen Denkmäler sprengen?“

    Ein Teil der russischen Kulturszene reagierte auf die Situation herzlos und verärgert: Der ist gar kein Russe und auch kein wirklich großer Regisseur, irgend so ein Computerclub-Besitzer in Simferopol. Der einzige, halb-amateurhafte Film von Senzow, Gamer, wurde auf Festivals in Rotterdam und Chanty-Mansijsk gezeigt, der Start des zweiten Films Nossorog wurde wegen des Maidans aufgeschoben.

    Für fast alle unbequem

    Für die ukrainische Intelligenzija steht Senzow in einer Reihe mit anderen politischen Gefangenen des Imperiums, wie etwa dem Poeten Wassyl Stus. Dieser hat einen großen Teil seines Lebens in sowjetischen Gefängnissen verbracht und starb im Herbst 1985 im Perm-36, nachdem er eine Woche zuvor zum wiederholten Mal in den Hungerstreik getreten war.

    Für die ukrainische Staatsmacht ist [Senzow – dek] – ein Krimbewohner, der gegen seinen Willen die russische Staatsbürgerschaft bekommen und keine Möglichkeit auf einen Gefangenenaustausch hat – nun unbequem geworden. Für die russische Regierung wäre sein Tod kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft eine lästige, eine sehr lästige Unannehmlichkeit.

    Senzow ist für fast alle unbequem. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er kein Terrorist, doch im Gefängnis ist er zu einem geworden, denn sein Prozess und seine Heldentat sind eine Zeitbombe, die unter dem nun schon vier Jahre dauernden Post-Krim-Konsens tickt. Senzow ist ein Aufstand gegen die hybride Realität des totalen Kompromisses, in dem sogar Google Maps die Krim als russisch oder ukrainisch anzeigt, abhängig davon, wie es euch gefällt. Zu wem gehört die „unblutig“ angegliederte Krim, wenn auch viele Jahre später noch ein Mensch bereit ist zu sterben und sich weigert, die Angliederung anzuerkennen?

    Das Festival-Schicksal des Films Gamer, der Senzow in die Kinowelt brachte, und seine heutige Gefängnisexistenz hinter dem Polarkreis zwingt folgende Frage auf: Was ist eigentlich Kultur, wer schafft sie und aus welcher Haltung heraus? Es gibt darauf verschiedene Antworten.

    Kultur ist ein Instrument, das der Reflexion dient, eine Möglichkeit der Selbsterfahrung und Selbstfindung der Menschen und der Gesellschaft; dabei geht es nicht unbedingt um „hohe Kunst“, das kann auch Popmusik sein oder Mode oder Rap. Oder sie ist, für Menschen mit einem bestimmten Einkommensniveau, kurzen Arbeitstagen und langen Wochenenden, eine Art, die Freizeit zu verbringen.

    Selbstfindung oder Freizeitspaß?

    Es ist offensichtlich, dass die Kultur, die heute in Russland unter der Ägide von Medinskis Ministerium entsteht, nicht zur Kultur des ersten Typs gehört. Die kompromisshaften, zensurfreundlichen „Werke“, die in der Kulturgemeinschaft entstehen, haben gar nicht die Möglichkeit, eine der Fragen zu berühren, vor denen das Land und die Welt heute stehen. Der Donbass und die gesamte Ukraine sind ein großer weißer Fleck – vor fünf Jahren gab es mit ihnen noch umfangreiche und alles durchdringende Verbindungen. Aber man muss ja weiter „arbeiten“. Und was die ganzen schmerzhaften Momente angeht, so ist es leichter zu sagen „das interessiert doch niemanden“ und lieber einen Film zu drehen über die Schwierigkeiten im Familienleben eines trinkenden Arztes und einer nicht trinkenden Krankenschwester.

    Wenn wir über den zweiten Typ sprechen – Kultur als Freizeitvergnügen – dann sprechen wir in erster Linie von Moskau, wo es nur so sprudelt vor Premieren, Lesungen und Ausstellungen – viel, viel seltener ist das in den anderen großen Städten Russlands anzutreffen. In den Regionen ist Kultur des Moskauer Typs nur möglich in Form von innerer Kolonisation.

    Es gibt noch zwei weitere Antwortmöglichkeiten, was denn Kultur sei: Sie ist Propaganda oder einfach ein Aushängeschild von Unternehmen, um sich Staatsgelder anzueignen. Die Auswahl ist nicht besonders groß, und so entsteht ein Motivationsparadoxon: Wenn du dich heute einverstanden erklärst mit Propaganda, Raspil und unnötigen Freizeitfreuden, zensurfreundlichen Kunstprodukten und innerer Kolonisation zwecks Geld, Status und Zugehörigkeit zur professionellen Gemeinschaft, so befindest du dich als Beteiligter automatisch außerhalb der sinnstiftenden Kultur.

    Aus diesem Teufelskreis herauszutreten, und sei es nur als Zeichen des Protests gegen den langsamen Selbstmord eines in einer konstruierten Strafsache verurteilten Kollegen, dazu lässt sich niemand hinreißen, denn das ist nicht praktisch. Obwohl wir durch die Ereignisse der letzten Monate und Jahre schon längst jenseits der Angst hätten landen sollen – das Gefängnis droht heute jedem ohne Ausnahme, Unschuldigen wie Schuldigen.

    Unfähig zur Empathie

    Der postsowjetische Infantilismus ist ein totaler, er befällt die Intelligenzija nicht weniger als das Volk. Infantilismus bedeutet die Unfähigkeit zur Empathie, die Unfähigkeit sich in die Lage des Anderen zu versetzen, selbst wenn dieser Andere der seit 20 Jahren aufs Genaueste studierte Präsident Putin ist, ein Mensch mit einem klaren ethischen System.

    Allem Anschein nach ist die Botschaft, die mit der Festnahme Kirill Serebrennikows versandt wurde, noch immer unverstanden geblieben. Sie besagt: Man darf nicht von Papas Tisch essen und den alten Herrn dann besudeln – das ist gegen die Ponjatija. Willst du ein Dissident sein? Dann nimm den schweren Weg der Festnahmen wegen Ordnungswidrigkeiten und verweigerten Raumanmietungen, der Marginalisierung und Verzweiflung. Willst du ein großes Theater im Zentrum von Moskau? Dann spiel nach den Regeln.

    Kulturschaffende, die heute gegen den Arrest von Kollegen protestieren, die offene Briefe unterzeichnen, aber dabei im System bleiben und ihre Worte nicht mit Taten untermauern, bleiben für die Staatsmacht erträglich. Für die Leute außerhalb von Moskau sind sie Mittäter bei Plünderungen und Genozid.

    Senzow hat die Wahl getroffen zwischen 16 Jahren langsamen Dahinsiechens in der Strafkolonie und einem demonstrativen Selbstmord, nicht einmal, um Aufmerksamkeit auf sein eigenes Schicksal, sondern auf das von anderen politischen Gefangenen zu lenken. Unabhängig vom Ausgang seines Hungerstreiks hat er einen neuen Maßstab für die menschliche und berufliche Würde geschaffen. Ob man diesen Maßstab annimmt oder nicht – das ist eine Sache jedes Einzelnen. Aber ignorieren kann man ihn jetzt nicht mehr.


    Hintergründe:
    Im August 2015 wurde der ukrainische Regisseur Oleg Senzow in Rostow am Don zu 20 Jahren Haft verurteilt – für die Organisation einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung von Terroranschlägen.
    Außerdem wurde in diesem Zusammenhang noch Oleksandr Koltschenko verurteilt – zu zehn Jahren Straflager. Aus den Mitschriften [der Verhandlung, veröffentlicht auf Mediazona dek] geht hervor, dass als einziger Beweis für die Existenz einer terroristischen Organisation die Aussagen von Alexej Tschirni gelten, der mit Senzow nicht einmal bekannt war. Der Video-Mitschnitt von der Operation der Festnahme Tschirnis mit einem Rucksack, in dem sich eine Sprengsatz-Attrappe befindet, wird von der Propaganda oft als Mitschnitt von Senzows Festnahme ausgegeben.
    Aktivist des Automaidan
    Vor seiner Festnahme war Senzow Aktivist des Automaidan und organisierte im Frühling 2014 friedliche Proteste gegen die Angliederung der Halbinsel an Russland. „Der gestrige ,Autokorso der Smertniki‘ hat auf den Straßen Simferopols stattgefunden, aber in sehr begrenztem Umfang“, schrieb er am 12. März [2014 – dek] auf Facebook. „Am Treffpunkt versammelten sich bloß acht Autos plus sechs Kameras mit Journalisten plus zwanzig Aktivisten als Beifahrer. Ich hatte auf mehr gehofft, aber leider hat die Mehrzahl der Sofa-Revolutionäre Angst bekommen. Verkehrspolizei und Miliz waren auch am Start und haben eindringlich empfohlen, im Sinne unserer Sicherheit nicht loszufahren. Wir haben gesagt, dass unsere Aktion friedlich ist, dass wir nicht vorhätten, die Verkehrsregeln zu brechen, und haben ihnen vorgeschlagen, uns zur allgemeinen Beruhigung zu begleiten.“
    Der zweite Angeklagte, Oleksandr Koltschenko, hat gestanden, dass er beteiligt war an der Inbrandsetzung eines Raums, der in den Akten des Verfahrens als Büro von Einiges Russland bezeichnet wird, obwohl sich dort im April 2014 noch das Büro der ukrainischen Partei der Regionen befand. Die Brandstiftung erfolgte nachts und zielte auf materiellen Schaden, nicht auf menschliche Opfer.
    Man hat versucht sowohl Senzow als auch Koltschenko mit dem in Russland verbotenen Rechten Sektor in Verbindung zu bringen. In Senzows Fall ist das nicht bewiesen. Im Falle Koltschenkos, der für seine links-anarchistischen Ansichten bekannt ist, absurd. Gennadi Afanassjew, der zweite Zeuge, auf dessen Aussagen sich die Anklage stützt, erklärte, dass auf ihn Druck ausgeübt und er gefoltert worden sei.

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  • „Er ist nicht unser Zar“

    „Er ist nicht unser Zar“

    Am 5. Mai 2018, dem Samstag vor Putins vierter Amtseinführung, hatte Oppositionspolitiker Nawalny erneut zu Protesten aufgerufen: „Er ist nicht unser Zar“ lautete die Parole der Kundgebungen in ganz Russland. Die klang schon deutlich mehr nach Systemwechsel als noch im Jahr zuvor, als die Menschen vor allem gegen die Korruption auf die Straße gegangen sind. Unter dem Motto „Dimon wird antworten” waren die damals auch eher gegen Dimitri Medwedew, nicht gegen Putin selbst gerichtet.
    Beobachtern zufolge gingen der Staat und staatsnahe, selbsternannte Bürgerwehren am vergangenen Samstag mit besonderer Härte gegen die Demonstranten vor, die Slogans wie „Wir sind die Macht” skandierten. Im Internet machten auch Bilder von der Festnahme Minderjähriger die Runde.

    Laut der Bürgerrechtsorganisation OWD-Info wurden in 27 Städten knapp 1600 Personen festgenommen. Neben Moskau und Petersburg gab es Demonstrationen in Tscheljabinsk, Krasnodar, Woronesh und zahlreichen weiteren russischen Städten.

    Während staatsnahe Medien die Proteste wie gewohnt weitgehend ignorieren, berichten vor allem unabhängige Medien darüber. dekoder bringt Ausschnitte daraus, zeigt Bilder und ein Video der Proteste.


    Video: Konstantin Selin/Fontanka.ru (Original)

    Vedomosti: Staat bringt sich in Misskredit

    Die Redaktion von Vedomosti stellt die Ereignisse vom 5. Mai in Zusammenhang mit dem heutigen vierten Amtsantritt Putins – und fragt, ob der Kreml gut damit beraten ist, gewaltsam gegen die vielen jugendlichen Protestierenden vorzugehen:

    [bilingbox]Die Amtseinführung Wladimir Putins, bei der er am Montag zum vierten Mal den Eid als russischer Präsident ablegen wird, wie auch schon 2012, verläuft im Schatten der vor dem Festakt gewaltsam auseinandergetriebenen oppositionellen Kundgebunden. Womöglich wurde dabei noch brutaler vorgegangen als in den vergangenen Jahren. […]
    Doch eine solche Brutalität wird kaum effektiv sein. Die hohe Wahrscheinlichkeit im Awtosak zu landen kann, im Gegenteil, die Teilnahme an Protestveranstaltungen bei Jugendlichen nur romantisieren. […]
    Die Landesgeschichte und Ereignisse in postsowjetischen Ländern zeigen, dass solche Organisationen [wie der Kosakenverband ZKW – dek] nicht in der Lage sind, den Staat im Falle seriöser Unruhen zu unterstützen. Stattdessen können sie ihn in Misskredit bringen durch Gewalt gegen Heranwachsende und Frauen, was sogar bei den Loyalen Kritik hervorruft.~~~Инаугурация Владимира Путина, который в понедельник в четвертый раз принесет присягу президента России, как и в 2012 г., пройдет под знаком предшествовавшего торжествам силового разгона оппозиционных выступлений – возможно, еще более жесткого, чем последние несколько лет. […] Но такая жестокость вряд ли будет эффективной. Высокие шансы оказаться в автозаке, напротив, могут только романтизировать участие в протестных акциях для молодежи. […]

    Отечественная история и события в постсоветских странах показывают, что подобные организации не способны поддержать государство в случае серьезных волнений. Зато они могут дискредитировать его насилием против подростков и женщин, которое вызывает осуждение даже у лоялистов.[/bilingbox]

    erschienen am 06.05.2018

    „Sie tun ihm weh! Hören sie auf!“ rufen Demonstrierende / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta
    „Sie tun ihm weh! Hören sie auf!“ rufen Demonstrierende / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta

    Echo Moskwy: Gespaltene Opposition

    Auf Echo Moskwy beklagt der Menschenrechtler Juri Samodurow, dass die Opposition gespalten sei. Dabei wäre eine gemeinsame Aktion viel wirksamer gewesen.

    [bilingbox]All die Oppositionellen, die gegen diese Aktion waren und dagegen auf Facebook und Echo Moskwy getrommelt hatten, à la „wir wollen für Nawalny nicht die Kohlen aus dem Feuer holen. Nawalny ist ein autoritärer Leader usw.“ – die haben diese Aktion einfach nicht verstanden!

    Wenn Jawlinski und Nawalny, Kassjanow und Netschajew ZUSAMMEN zu dieser nicht-genehmigten, friedlichen und freien Aktion der Bürger aufgerufen hätten, wenn sie denn auch ZUSAMMEN gekommen wären, dann HÄTTE der 5. MAI die politische Atmosphäre in unserem Land zum Besseren ÄNDERN KÖNNEN.

    Jawlinski und Kassjanow und Borowoj und Netschajew haben wieder mal ihre Chance verpasst, außerdem haben sie die Jugend heute allein gelassen, sie der Polizei, der Nationalgarde, dem OMON überlassen.~~~Все оппозиционеры режиму Путина, кто были против и агитировали против этой акции в фейсбуке и на Эхо Москвы , говоря «не хотим таскать каштаны из огня для Навального. Навальный авторитарный лидер и т.п. и т.д.» ничего в этой акции не поняли!

    Если бы к этой несогласованной , мирной и свободной акции граждан призвали и Явлинский и Навальный и Касьянов и Нечаев и статусная интеллигенция и правозащитники ВМЕСТЕ и пришли бы на нее тоже ВМЕСТЕ , то 5 МАЯ МОГЛО ИЗМЕНИТЬ политическую атмосферу в нашей стране в лучшую сторону.

    И Явлинский и Касьянов и Боровой и Нечаев снова упустили свой шанс, а кроме того оставили молодежь сегодня одну, наедине с полицией, Росгвардией, ОМОНОм…[/bilingbox]

    erschienen am 05.05.2018

    Teilnehmer der Demo auf dem Puschkin-Platz in Moskau: „Ihr könnt  nicht alle blockieren.“ „Es reicht, ihr habt genug über mich hinweg entschieden!“ / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Teilnehmer der Demo auf dem Puschkin-Platz in Moskau: „Ihr könnt nicht alle blockieren.“ „Es reicht, ihr habt genug über mich hinweg entschieden!“ / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Facebook/Galljamow: Bilderkampf gewonnen

    Der politische Kampf ist auch ein Kampf der Bilder. Vor allem Fotos von Verhaftungen Minderjähriger machten in Sozialen Medien die Runde. Auf Facebook kommentiert der Politikwissenschaftler Abbas Galljamow:

    „Besonders gefährlich“

    [bilingbox]Dem Fotografen dieses Bildes ist Nawalny noch bis an sein Grab zu Dank verpflichtet. Wie auch dem Jungen. Ein einziges solches Foto reicht, um die Regierung für gescheitert zu erklären. Unsere Sicherheitskräfte sind natürlich unverbesserlich. Sie sind es, die mit ihrem Feuereifer das Regime zu Grabe tragen.~~~Автору этого фото Навальный должен будет по гроб жизни обязан. Как и мальчишке, конечно. Одной этой фотографии достаточно, чтобы объявить власть проигравшей.

    Наши силовики, конечно, неисправимы. Именно они своим рвением режим и угробят.[/bilingbox]

    erschienen am 05.05.2018

    Die Menge ruft: „Man hat den Zar verhaftet!“ Der Schildträger fordert:  „Putin soll Imperator werden“ / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta
    Die Menge ruft: „Man hat den Zar verhaftet!“ Der Schildträger fordert: „Putin soll Imperator werden“ / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta

    Republic: Image eines Polizeistaats

    Auf Republic sinniert Oleg Kaschin nach dem gewaltsamen Vorgehen der Sicherheitskräfte und den Provokationen durch die Kosaken darüber, weshalb sich der russische Staat immer mehr als Polizeistaat darstelle:

    [bilingbox]Der russische Staat will heute wie ein Polizeistaat aussehen. Das ist kein Fehler und kein Missverständnis, sondern eine bewusste Entscheidung, die die Staatsmacht getroffen hat. Um eine revolutionäre Bedrohung zu bekämpfen, braucht es gar keine revolutionäre Bedrohung. Die Leute, die eine solche Aufgabe haben – die politische Stabilität aufrecht zu erhalten – werden sie immer aufrecht erhalten, ganz unabhängig davon, ob sie bedroht ist oder nicht.
    Der Albtraum der Administration des Präsidenten, der anti-extremistischen Polizeiabteilungen, der militärischen Einheiten der Rosgwardija, und so weiter, bis hin zu eben jenen Kosaken, ihr Albtraum ist eine Protestaktion, zu der niemand kommt, so dass sie mit der Bedrohung, auf deren Bekämpfung heute ihr ganzes Leben ausgerichtet ist, alleine dastehen.[…]
    Diese hausgemachte Landschaft politischer Konfrontation ist heute womöglich der beste Schutz der Staatsmacht vor irgendwelchen Überraschungen. Du kannst auf den Platz gehen, du wagst dich zu verabredeter Zeit auf den Platz – und die Staatsmacht wird dort auf dich warten, sie braucht dich.~~~Сегодня российское государство хочет выглядеть полицейским. Это не ошибка и не недоразумение, это сознательный выбор, сделанный властью. Чтобы бороться с революционной угрозой, сама по себе революционная угроза не нужна. Люди, у которых такая работа – обеспечивать политическую стабильность, – будут обеспечивать ее всегда вне зависимости от того, угрожает ей что-нибудь или нет. Наверное, кошмаром администрации президента, антиэкстремистских полицейских управлений, боевых подразделений Росгвардии и так далее вплоть до тех же казаков – их кошмаром была бы протестная акция, на которую вообще никто не пришел, оставив их без той угрозы, на противодействии которой выстроена сегодня вся их жизнь.[…]
    Рукотворный ландшафт политического противостояния – пожалуй, сегодня именно он служит лучшей защитой власти от любых неожиданностей. Можешь выйти на площадь, смеешь выйти на площадь в назначенный час – власть ждет тебя там, ты ей нужен.[/bilingbox]

    erschienen am 07.05.2018

    Diskussion über Putin zwischen einem nationalistisch eingestellten Demonstrierenden und einer NOD-Anhängerin / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Facebook: Böse, archaisch, das Volk hassend

    Der kremlkritische Journalist Alexander Morosow kommentiert auf Facebook, dass der schwarze Peter nun bei der Staatsmacht liege:

    [bilingbox]Nawalny geht immer alles leicht und präzise von der Hand, und mit einer klaren Botschaft an die Öffentlichkeit. Es schien, dass in diesem Jahr nichts auf Komplikationen rund um die Amtseinführung hindeuten würde: Alle haben Angst, das Gefühl allgemeiner Hoffnungslosigkeit wächst, die Post-Krim festigt sich auf allen Gebieten, Politik und Protest ist sogar im Bewusstsein kritisch denkender Menschen zu etwas geworden, wovon man sich besser fernhält.

    Und doch gab es ein ideales Ergebnis: Ein Rekordanzahl von Festnahmen in [rund] 30 Städten, furchtbare Videos, auf denen OMON-Leute wie Bestien auf normale Bürger eindreschen, Ultrarechte mit Peitschen stürzen sich auf dem Puschkin Platz auf die Versammelten. Ein Zwölfjähriger wird von einem Schrank von Wachtposten mit brutaler Fresse im schmerzhaften Griff zum Mannschaftswagen geführt.

    Das politische Regime produziert sich auf allen internationalen Informationsplattformen unausgesetzt als böse, archaisch und das Volk hassend (Volksgegner).~~~У Навального все получается всегда очень просто, точно и с ясной доставкой контента аудитории. Казалось бы ничто не предвещало никаких осложнений вокруг инаугурации в этом году: все запуганы, общее чувство безнадежности растет, посткрым укрепляется во всех сферах, „политика“ и „протест“ превратились в сознании даже критически мыслящих людей в нечто, от чего нужно держаться подальше.

    И тем не менее – опять идеальный результат: рекордное количество задержаний в 30 городах, жуткие видео, где ОМОН с озверением избивает обычных граждан, ультраправые с плетьми нападают на собравшихся на Пушкинской площади, 12-летнего подростка болевым приемом ведет в автозак крупный мордатый „вертухай“. То есть политический режим непрерывно ведет „презентацию“ себя на все мировые информационные панели в качестве избыточно злобного, архаичного и ненавидящего „население“ (антинародного).[/bilingbox]

    erschienen am 06.05.2018

    Teilnehmende werfen Plastikflaschen auf die OMON-Kräfte / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta
    Teilnehmende werfen Plastikflaschen auf die OMON-Kräfte / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta

    New Times: Mit Peitschen und Schraubenziehern

    Andrej Kolesnikow ist Politikwissenschaftler und Programmdirektor von Carnegie Moscow Center. Auf New Times erklärt er, warum man von der neuen-alten Staatsmacht keine wirklichen Wunder erwarten dürfe:

    [bilingbox]Den Problemen von brennenden Einkaufszentren und der Umwandlung ganzer Regionen des Landes in Mülleponien ist nicht mit der Heiligung von Georgsbändchen beizukommen. Was es in der vierten Legislaturperiode bestimmt nicht geben wird, ist Zauberei: Durchbrüche aller Art und erstaunlich effektive Regierungswunder. Auch dann nicht, wenn tonnenweise Reliquien aller Heiligen, die es gibt auf dieser Welt, angeliefert werden, und wenn alle Ämter mit Technokraten besetzt werden und mit Wachleuten aus dem System FSO. Man muss arbeiten, aber nicht mit Peitschen und Schraubenziehern die Daumenschrauben anziehen, sondern mit Kopf und Herz. Diese Einsicht ist bislang nicht bei der Staatsmacht Russlands angekommen. Und höchstwahrscheinlich wird sie überhaupt nicht mehr ankommen.~~~Проблемы горящих торговых центров и превращения целых регионов страны в свалки нельзя решить освящением георгиевских ленточек. Чего точно не будет в четвертом сроке, так это волшебства — всяких там прорывов и удивительной эффективности в управлении. Даже если тоннами возить сюда мощи всех святых, имеющихся в наличии на земле, и поназначать на все должности «технократов» и охранников из системы ФСО. Придется работать, но не нагайками и отвертками, закручивающими гайки, а головой и сердцем. Понимание этого к российским властям еще не пришло. И, скорее всего, уже не придет.[/bilingbox]

    erschienen am 06.05.2018

    Eine der ersten Festnahmen: „Russland, das sind wir", steht auf dem Schild / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta
    Eine der ersten Festnahmen: „Russland, das sind wir“, steht auf dem Schild / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta

    MBX.media: Zeichen der Ohnmacht

    Für den renommierten Politikwissenschaftler Dimitri Oreschkin ist das gewaltsame Vorgehen gegen die Protestierenden nur eine Erscheinung der Ohnmacht vom System Putin, wie er im Interview mit MBX.media darstellt. Der Kanal ist von Putin-Kritiker Michail Chodorkowski finanziert und nach seinen Initialien (Michail Borissowitsch Chodorkowski) benannt.

    [bilingbox]Da Putin bei den Wahlen die Mehrheit der Stimmen bekommen hat, meinen er und seine Leute, dass sie volles Recht hätten, den ganzen Protest schnell zu ersticken. Er muss die Zensur einschalten und den Mund derer stopfen, die unzufrieden sind. Das wäre unabhängig davon passiert, ob die Menschen am 5. Mai auf die Straße gegangen wären oder nicht, ob sie in Awtosaks gesteckt worden wären oder nicht. Das Auseinandertreiben [von Protesten – dek] ist nicht die Ursache, sondern eines der Phänomene der neuen Politik. Wenn nicht bei dieser Demo, dann hätten wir die Daumenschrauben bei irgendwas anderem beobachten können – zum Beispiel bei dem Druck auf Medien oder auf die Organisatoren von Umweltprotesten. Das wird auf jeden Fall passieren, denn das Wesen von Putins Herrschaft besteht nicht im Dienst an der Gesellschaft, sondern im Selbsterhalt.

    Je schlechter, je ineffektiver die Machtvertikale selbst ist, desto fester muss sie die Daumenschrauben anziehen.~~~Так как Путин получил большинство голосов на выборах, он и его люди считают, что у них есть полное право быстренько задушить весь протест. Ему нужно включать цензуру, прикрывать рот тем, кто не доволен. Это произошло бы независимо от, того вышли бы люди 5 мая или нет, распихали бы их по автозакам или нет. Разгон не причина, а одно из явлений новой политики. Если не на этом митинге, то мы увидели бы закручивание гаек в чем-нибудь другом — например, в давлении на СМИ или на организаторов экологических протестов. Это в любом случае будет, потому что сущность власти Путина не в служении обществу, а в самосохранении.

    Чем хуже, чем менее эффективна сама вертикаль, тем больше ей приходится закручивать гайки.[/bilingbox]

    erschienen am 06.05.2018

    Menschen in Kosakenuniforn schlagen auf Demonstrierende ein / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Menschen in Kosakenuniforn schlagen auf Demonstrierende ein / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Als Menschenkette marschieren Demonstrierende den OMON-Kräften entgegen / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta
    Als Menschenkette marschieren Demonstrierende den OMON-Kräften entgegen / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta
    Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta
    Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta

    Erschienen am 07.05.2018
    dekoder-Redaktion

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  • Zitat #3: „Attacke auf ein nationales Gut“

    Zitat #3: „Attacke auf ein nationales Gut“

    Russland blockiert Telegram: Nach einem Gerichtsurteil am vergangenen Freitag hat die Medienaufsichtbehörde Roskomnadsor gestern mit der Sperrung des Messenger-Dienstes begonnen. Im Zuge dessen wurden hunderttausende IP-Adressen blockiert, darunter auch Cloud-Dienste von Amazon und Google. Auf diese war Telegram zunächst ausgewichen.
    Dem Urteil ging ein Streit zwischen Telegram und Roskomnadsor voraus über die Herausgabe verschlüsselter Daten.

    Auf das Urteil am vergangenen Freitag reagierte die Redaktion des russischen Exilmediums Meduza in ihrem Newsletter mit bewegenden Worten:

    [bilingbox]Die Sperrung von Telegram ist eine Attacke auf etwas, auf das das Land stolz sein sollte.

    Ein „nationales Gut“ in Russland ist nicht Gazprom, das sich selbst so nennt, sondern Telegram. Wie viele russische Unternehmen kennen wir, die in der dritten Amtszeit von Putin entstanden sind und eine Weltsensation wurden? Wie viele russische Unternehmen haben Erfolg im Ausland, ohne auch nur eine Kopeke aus dem Staatssäckel erhalten zu haben, beziehungsweise ohne den Verkauf natürlicher Rohstoffe zu betreiben?

    Die Sperrung von Telegram, das ist ein Schlag gegen die russische Wirtschaft.

    Der russische Staat hätte Pawel Durow zu seinem Hauptverbündeten machen sollen, stattdessen erklärte er ihn zum Feind. Dank Durow haben wir VKontakte – ein Soziales Netzwerk, das unter dem Druck von Facebook nicht aufgegeben hat (wie viele davon gibt es noch auf der Welt?). Pawel Durow wurde der Held einer Generation, das ideale Vorbild, einer der berühmtesten Russen – berühmt im Übrigen nur für Gutes.

    Die Sperrung von Telegram ist ein Schlag gegen unsere Zukunft.~~~Блокировка телеграма — это атака на то, чем страна должна гордиться. 
    «Национальное достояние» в России — не «Газпром», который так себя называет, а Telegram. Сколько мы знаем российских компаний, появившихся во время третьего срока Путина и ставших мировой сенсацией? Сколько российских компаний добились успеха за рубежом, не взяв ни копейки из государственного бюджета и не занимаясь продажей природных ресурсов? 
    Блокировка телеграма — это удар по российской экономике. 
    Российское государство должно было сделать Павла Дурова своим главным союзником, а вместо этого объявило врагом. Благодаря Дурову у нас есть «ВКонтакте» — соцсеть, которая так и не сдалась под напором Facebook (много ли на земле осталось таких мест?). Павел Дуров стал героем поколения, идеальным примером для подражания, одним из самых известных россиян — причем известных только с лучшей стороны.
    Блокировка телеграма — это удар по нашему будущему. [/bilingbox]


    In ganzer Länge erschien der Newsletter am 13.04.2018 unter dem Titel Telegram – nazionalnoje dostojanije (dt. „Telegram  ein nationales Gut). Das russische Original lesen Sie hier.

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    Zitat #2: „Gewaltsame Deals“

    Vorgestern hat Trump Russland gedroht, in Syrien „smarte“ Lenkwaffen einzusetzen. Nicht einmal eine Stunde später ruderte er zurück und sagte, dass es für die USA „easy“ wäre, Russlands darbender Wirtschaft zu helfen. Der Journalist und Militärexperte Pawel Felgengauer erklärt in der Novaya Gazeta, wie ein solcher Deal „Hilfe statt Raketen“ aussehen könnte:

    Mit „smarten Lenkwaffen“ drohte Trump Russland –  Pawel Felgengauer hält dies für einen „gewaltsamen Deal“ / Foto © Gage Skidmore/flickr.com
    Mit „smarten Lenkwaffen“ drohte Trump Russland – Pawel Felgengauer hält dies für einen „gewaltsamen Deal“ / Foto © Gage Skidmore/flickr.com

    [bilingbox]Die Sanktionen werden „easy“ aufgehoben. Russland bekommt Investitionen und Technologien, und die langjährige wirtschaftliche Stagnation wird dadurch beendet. Dafür muss man [Russland – dek] aber Assad aufgeben genauso wie die Donbass-Republiken. Und wir müssen die Minsker Vereinbarungen vollständig erfüllen. Erst dann werden alle zufrieden sein. Andernfalls werden Raketen abgeschossen. […]

    Ja, als man sich in Moskau im November 2016 über Trumps Wahlsieg gefreut hatte, hat man sich einen zukünftigen Pakt, der die Spannungen mit den USA löst, anders vorgestellt. Anscheinend sind gewaltsame Deals grundlegend für Trumps Geschäftserfahrungen, ähnlich wie in Russland. Wenn es um Immobilien geht, dann kann es sein, dass eine solche Art der Übereinkunft funktioniert, und wenn sie es nicht tut – dann schreibt man einfach die Verluste ab und fängt irgendwas Neues an. Im Fall zweier atomarer Supermächte können die Verluste allerdings tatsächlich massiv ausfallen. In den USA sind viele davon überzeugt, dass Trump völlig fehl am Platze ist. Wie gefährlich das [diese Fehlbesetzung – dek] ist, ist nun auch in Moskau angekommen, wo er versucht, Russland gewaltsam zum Frieden zu zwingen.~~~Санкции будут сняты «легко», Россия получит инвестиции и технологии, многолетняя экономическая стагнация закончится, но надо «сдать» Асада. Еще, очевидно, надо «сдать» донбасские республики — безусловно, выполнить Минские соглашения, и всем будет хорошо. В случае отказа — полетят ракеты. […]
    Да, не таким представлялся будущий пакт с Трампом по глобальному разрешению противоречий с США, когда в Москве радовались в ноябре 2016-го его победе. Но, похоже, в бизнес-опыте Трампа именно такой силовой способ заключения сделок, схожий с российским, — основной. Если дело касается недвижимости, такой способ договариваться может работать, а не выйдет, то потери можно списать и браться за что-то другое. В случае двух ядерных сверхдержав потери могут оказаться вправду капитальными. В США многие уверены, что Трамп попал совсем не на свое место. Теперь, когда он пытается силой принудить Россию к миру, и до Москвы дошло, насколько это опасно.[/bilingbox]


    In ganzer Länge erschien der Artikel am 13.04.2018 in der Novaya Gazeta unter dem Titel Tramp samedlennowo dejstwija (dt. „Trump mit Zeitzündung“). Das russische Original lesen Sie hier.

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    Zitat #1: „Wir haben eine neue Kubakrise“

  • Zitat #1: „Wir haben eine neue Kubakrise“

    Zitat #1: „Wir haben eine neue Kubakrise“

    Nach dem mutmaßlichen Giftgasangriff in Syrien drohte Trump mit einer „starken Reaktion“. Der russische UN-Botschafter Nebensja entgegnete, dass ein Angriff „schwerwiegende Folgen“ haben werde. In The New Times appelliert der russische Militärexperte Alexander Golz an die Vernunft der Verantwortlichen:

    Der russische UN-Botschafter Nebensja drohte mit „schwerwiegenden Folgen“ bei einem amerikanischen Raketenangriff in Syrien / Foto ©  Eskinder Debebe/UN Photo
    Der russische UN-Botschafter Nebensja drohte mit „schwerwiegenden Folgen“ bei einem amerikanischen Raketenangriff in Syrien / Foto © Eskinder Debebe/UN Photo

    [bilingbox]Eine direkte kriegerische Konfrontation, die sich die Militärs Russlands und der USA noch im Februar – nach der Zerschlagung von Söldnertruppen durch die Amerikaner – nicht einzustehen getrauten, ist mittlerweile höchstwahrscheinlich.
    Die Gefahr wächst um ein Vielfaches, falls nun aus Moskau der Befehl folgt, amerikanische Raketenträger anzugreifen. Es ist klar, dass die vielfache amerikanische Überlegenheit (gewährleistet durch die Flugzeugträgerkampfgruppen der 6. Flotte, die strategische Luftwaffe sowie Stützpunkte auf Kreta, Zypern und in Neapel) Moskau wenig Chancen lässt, einen konventionellen Krieg zu gewinnen. O weh, das bedeutet, dass sehr bald die Verlockung aufkommen wird, mit dem Einsatz von Kernwaffen zu drohen … Da ist sie also, die neue Kubakrise in Zeiten der Postmoderne. Das einzige, was ein winziges bisschen Optimismus einflößt, ist die Hoffnung auf die Vernunft der Militärs, denen sehr bewusst ist, was folgen wird, wenn die Befehle erst ergangen sind.~~~Прямое военное столкновение, признать которое военные России и США побоялись в феврале, после разгрома американцами колонны наемников, сейчас становится весьма вероятным.
    Опасность возрастает многократно, если из Москвы последует приказ атаковать «носители» американских крылатых ракет. Понятно, что при многократном американском превосходстве (его обеспечивают авианосные группировки 6-го флота, стратегическая авиация, базы на Крите, Кипре, в Неаполе) у Москвы мало шансов победить в обычной войне. Увы, это означает, что очень скоро возникнет соблазн угрожать применением ядерного оружия… Вот он, новый Карибский кризис, эпохи постмодерна. Единственное, что внушает толику (очень малую) оптимизма, так это надежда на разумность военных, которые прекрасно понимают, что последует после того, как приказы будут отданы.[/bilingbox]


    In ganzer Länge erschien der Artikel am 10.04.2018 in The New Times unter dem Titel Karibski Krisis 2.0 (dt.„Kuba-Krise 2.0“). Das russische Original lesen Sie hier.

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  • Debattenschau № 65: Russische Diplomaten ausgewiesen

    Debattenschau № 65: Russische Diplomaten ausgewiesen

    Es war eine konzertierte Aktion: Am Dienstag haben die USA, Kanada und mehrere europäische Länder russische Diplomaten ausgewiesen. Fast 150 Personen sind betroffen, in 26 Ländern, darunter 15 EU-Staaten. Dies ist eine Reaktion auf den Giftanschlag auf den Ex-Doppelagenten Skripal in Südengland.
    Das Auswärtige Amt begründete die Ausweisungen damit, dass Russland nicht zur Aufklärung des Falls beitrage. Die Entscheidung sei nicht leichtfertig getroffen worden, aber man wolle nun „Entschlossenheit“ signalisieren. Allerdings wurden auch im Westen die Maßnahmen mitunter kritisch kommentiert, zumal es keine Beweise gibt, dass Moskau tatsächlich hinter dem Giftanschlag auf den Ex-Doppelagenten steckt. 
    Moskau kündigte an, die Ausweisungen würden nicht folgenlos bleiben. Bislang steht eine russische Reaktion noch aus. 

    Sind die Ausweisungen eine wichtige diplomatische Reaktion auf russische Herausforderungen seit 2014? Oder droht nun eine weitere Eskalation, die am Ende noch die Falschen trifft? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in russischen Medien.

    Rossijskaja Gaseta: Schlimmer als Kalter Krieg

    Der Außenpolitik-Experte Fjodor Lukjanow scheut in der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta den Vergleich mit dem Kalten Krieg – die Situation sei derzeit wesentlich unberechenbarer:

    [bilingbox]Die Verwendung des Ausdrucks „Kalter Krieg“ ist im Grunde ziemlich riskant. Nicht weil das eine Übertreibung wäre – vom Geist und der Atmosphäre her stimmt das alles, der Grad gegenseitiger Entfremdung ist komplett. Aber der der alte Terminus bezieht sich auf eine Situation, die vierzig Jahre zurückliegt, die sehr viel verständlicher und kontrollierbarer war, die ziemlich klaren Verhaltensregeln unterworfen war, formellen wie informellen. 

    Aktuell ist das völlig anders, Symmetrie ist per Definition unmöglich (die ganze Welt ist voll von Asymmetrien; die jetzige multilaterale Ausweisung [von Diplomaten – dek], bei der völlig unklar ist, wie man darauf angemessen reagieren soll, ist der beste Beweis dafür). Die Verantwortungslosigkeit der öffentlichen Erklärungen lässt einen völlig ratlos zurück. Das heißt, tatsächlich ist die Lage wesentlich schlechter.

    Wenn man die Spezifika der modernen Welt berücksichtigt, ist zu erwarten, dass die Wirtschaft den hauptsächlichen Schauplatz darstellen wird. Für ein neues Bündel Sanktionen ist also praktisch schon gesorgt bis hin zu Versuchen finanzieller Erdrosselung im Stile der Maßnahmen gegen den Iran (Gruß oder eher Tschüss an das berüchtigte SWIFT-System).~~~Вообще, употребление самого понятия "холодная война" довольно рискованно. Не потому что это преувеличение – по духу и атмосфере все так и есть, степень взаимного отчуждения полнейшая. Но прежний термин отсылает к ситуации сорокалетней давности, которая была намного более понятной, управляемой и подчинялась довольно четко определенным правилам поведения – формальным и неформальным. Сейчас ничего этого нет, симметричность невозможна по определению (весь мир состоит из сплошных асимметрий и данная многосторонняя высылка, где непонятно, как вообще правильно реагировать, тому убедительное свидетельство), а безответственность публичных заявлений вызывает настоящую оторопь. Так что на деле обстановка существенно хуже.
    Стоит ожидать, что основным полем – с учетом специфики современного мира – будет экономика, так что новый веер санкций практически обеспечен, вплоть до попытки финансового удушения в стиле мер против Ирана (привет, точнее, пока, пресловутый SWIFT).[/bilingbox]

     
    erschienen am 26. März 2018

    Facebook/Alexander Morosow: Zivilgesellschaft als Zielscheibe

    Der kremlkritische Journalist Alexander Morosow warnt auf Facebook davor, dass die Reaktion Moskaus nun genau die Falschen treffen könnte:

    [bilingbox]Für die meisten europäischen Länder ist es eine symbolische Geste, weil jeweils drei bis vier Menschen ausgewiesen wurden. […] Der „symbolische Charakter“ ändert aber nichts daran, dass Moskau reagieren wird – das alles ist wie ein Schneeball, der in den letzten Jahren immer schneller größer wird.

    Deshalb kann man nun alles erwarten: sowohl Restriktionen im wissenschaftlichen und studentischen Austausch als auch gegenüber den Vertretungen zivilgesellschaftlicher Organisationen europäischer Länder in Russland, von denen auch schon davor viele ihre Büros aus Moskau abgezogen haben. Das wird ein neue lange Etappe der Konfrontation.~~~Для большинства европейских стран – это символический жест, поскольку выслали по 3-4 человека. […] Но "символический характер" ничего не меняет, поскольку Москва будет отвечать – и все это как снежный ком, быстро нарастает в последние годы. Поэтому ждать можно чего угодно и в сфере ограничения научного и студенческого обмена, и в отношении представительств гражданских организаций европейских стран в России – уже и ранее многие вывели свои офисы из Москвы, – а теперь будет новый длинный этап конфронтации.[/bilingbox]

     
    erschienen am 26. März 2018

    Rosbalt: Mauer des Unverständnisses

    Die Debatte ist in Russland überschattet vom Großbrand im westsibirischen Kemerowo: Nur einen Tag danach erfolgten die Diplomatenausweisungen. Der Politikwissenschaftler Iwan Preobrashenski stellt auf Rosbalt fest, dass dies in westlichen Medien kaum Thema ist:

    [bilingbox]Tatsächlich war früher alles deutlich anders. Zum Beispiel hat die Tragödie von Beslan Europa buchstäblich erschüttert, obwohl der Großteil der westlichen Presse Russland hart verurteilte für den Krieg in Tschetschenien. Für die Kinder aus Beslan gibt es heute Denkmäler in Europa, und die Erinnerung an diese Tragödie ist lebendig. Über die in Flammen gestorbenen Kinder aus Kemerowo erfahren viele Europäer aber schlicht nichts, weil in der Zwischenzeit eine Mauer des Unverständnisses, der Angst und des Misstrauens zwischen Russland und Westeuropa gewachsen ist.~~~Раньше, надо отметить, все было заметно иначе. Например, трагедия Беслана буквально потрясла Европу, и это несмотря на то, что ранее западная пресса в большинстве своем жестко осуждала Россию за войну в Чечне. Памятники детям Беслана есть сегодня во многих европейских странах и память об этой трагедии жива. А вот о сгоревших кемеровских детях многие европейцы видимо просто не узнают, потому что между Россией и западной частью европейского континента выросла за эти годы стена непонимания, страха и недоверия.[/bilingbox]

     
    erschienen am 26. März 2018

    Izvestia: Spektakel der Theresa May

    In der kremlnahen Izvestia sieht Politologe Jewgeni Krutikow das Vorgehen als außenpolitisches Ablenkungsmanöver einer innenpolitisch angeschlagenen Theresa May:

    [bilingbox]Wahrscheinlich wird es irgendeine Fortsetzung geben, ein Einfrieren irgendwelcher „toxischer“ russischer Vermögen. Doch das wäre das Höchstmaß des Spektakels einer Theresa May, die es nicht geschafft hat, eine Margaret Thatcher zu werden. Sie hat keine weiteren Möglichkeiten in petto.
    Nun, dann kommt Prinz Harry eben nicht zur Fußballweltmeisterschaft nach Moskau, dafür werden die Engländer mit großer Wahrscheinlichkeit die Vorrunde nicht überstehen. Sie sorgen sich schon jetzt um „die Sicherheit ihrer Familien“ in Moskau, die Ärmsten. Nun, dann fragen Sie mal Ihre Premierministerin, warum sie in der Welt Dummheit und Inkompetenz verbreitet.~~~Возможно, последует некое продолжение в виде ареста каких-то «токсичных» российских активов. Но всё это максимум того спектакля, который разыгрывается с подачи так и не ставшей Маргарет Тэтчер Терезы Мэй. Никаких дальнейших шагов в ее арсенале нет. Ну не приедет принц Гарри в Москву на чемпионат мира по футболу, так и англичане, скорее всего, из группы не выйдут. Они уже сейчас переживают «за безопасность своих семей» в Москве, бедняжки. Ну так и спросите со своего премьер-министра, зачем она разгоняет по миру глупость и некомпетентность.[/bilingbox]

     
    erschienen am 26. März 2018

    Facebook/Maria Sacharowa: Alle für einen, der eine für keinen

    Außenamtssprecherin Maria Sacharowa wundert sich auf Facebook über so viel europäische Solidarität mit den Briten – angesichts des Brexit:

    [bilingbox]Wenn London nicht mehr in der EU ist, wird es nicht nicht mehr an Verpflichtungen im Rahmen des einheitlichen außenpolitischen Kurses gebunden sein. Wenn es will, beginnt ein Spiel der Annäherung, wenn es will, entfernt es sich. Tja, und die in der Europäischen Union verbleibenden Staaten werden weiterhin gebunden sein an die Sippenhaft der antirussischen Solidarität, die ihnen seinerzeit von den Briten aufgehalst wurde. Alle für einen, der eine für keinen – das ist die neue Devise, die Brüssel von London geschenkt bekommen hat.~~~Когда Лондон из ЕС выйдет, его ничто не будет связывать обязательствами в рамках единого внешнеполитического курса. Захочет — начнет игру на сближение, захочет — на удаление. А вот оставшиеся в Европейском союзе страны так и будут связаны круговой порукой антироссийской солидарности, навязанной когда-то британцами. Один их всех, и все под одного — новый девиз, подаренный Лондоном Брюсселю.[/bilingbox]

     
    erschienen am 26. März 2018

    RBC: Angestauter Ärger

    Die Politologin Tatjana Stanowaja sieht auf RBC die diplomatische Reaktion des Westens dagegen nicht allein als Reaktion auf den Fall Skripal: 

    [bilingbox]Die Ausweisung der Diplomaten sollte nicht zu sehr als Reaktion auf die Ereignisse von Salisbury gesehen werden, sondern vielmehr als angesammelte Verärgerung und Besorgnis bezüglich Russlands in Post-Krim-Zeiten.
    Die Ausweisung der Diplomaten ist nur der Anfang eines tiefgreifenden Prozesses, in der der außenpolitische Einfluss Russlands vom Westen kanalisiert wird und das Land [Russland – dek] sich als Reaktion darauf selbst isoliert.~~~Высылку дипломатов следует понимать не столько как ответ на события в Солсбери, а как проявление накопившегося раздражения и опасений, связанных с Россией посткрымского периода. Высылка дипломатов — только начало более глубокого процесса канализации Западом внешнего влияния России и ответной самоизоляции страны.[/bilingbox]

     
    erschienen am 28. März 2018
    dekoder-Redaktion

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    Die Katastrophe von Kemerowo

  • Die Katastrophe von Kemerowo

    Die Katastrophe von Kemerowo

    Es ist eine Tragödie: Der Großbrand in einem Einkaufszentrum im westsibirischen Kemerowo hat mehr als 60 Menschenleben gefordert – darunter viele Kinder. Die genauen Gründe für den Brand sind unklar, klar ist aber, dass hier Verschiedenes zusammengekommen sein muss. Zum einen stellten Behörden gravierende Verstöße gegen Bau- und Nutzungsrechte fest, es mangelte eklatant an Sicherheitsvorkehrungen, noch dazu soll ein Wachmann nach Ausbruch des Brands den Alarm ausgeschaltet haben. Von Korruption ist in Sozialen Netzwerken die Rede, als Präsident Putin Kemerowo am Dienstag besuchte, sprach er von „krimineller Nachlässigkeit und Schlamperei“.  
    Ein großes Misstrauen in die Behörden, aber auch der Umgang der lokalen Politiker mit der Katastrophe, schürt die Wut und Trauer der Menschen nach dem Brand im Einkaufszentrum Simnjaja Wischnja. Viele trauen den offiziellen Angaben über die Opferzahlen nicht, es kursieren Gerüchte, die Zahl der Toten sei weit höher.

    Gouverneur Aman Tulejew entschuldigte sich zwar bei Putin – aber nicht bei den Opfern der Brandkatastrophe. Zu einer Demonstration in Kemerowo kam nicht der Gouverneur, sondern sein Stellvertreter Sergej Ziwiljow. Unter dem Druck der Menge fiel er schließlich auf die Knie, unter Pfiffen und Buhrufen. Auf der Kundgebung sagte er unter anderem auch: „Ich bin ernannt, ich bin nicht gewählt.“ Staatliche Fernsehsender berichteten über den Besuch Putins, aber kaum über die rund 5000 Demonstranten in der Stadt am gleichen Tag. Doch die Anteilnahme im ganzen Land am heutigen Mittwoch, einem offiziellen Tag der Trauer, ist sehr hoch. In Moskau etwa gab es schon am Vorabend Trauer- und Solidaritätsbekundungen auf zentralen Plätzen der Stadt. 

    Nach der Brandkatastrophe in Kemerowo werfen dabei gerade unabhängige Medien viele Fragen auf: Nicht nur nach der Kluft zwischen Politik und Volk, wie sie derzeit, kurz nach den Wahlen, viele empfinden. Sondern auch Fragen nach der Kluft zwischen Russland und dem Westen. Darunter fällt auch die Ausweisung zahlreicher russischer Diplomaten, zu der es im Zusammenhang mit dem Fall Skripal kam – nur einen Tag nach der Katastrophe in Kemerowo. 

    dekoder bringt eine Vor-Ort-Reportage der Novaya Gazeta aus Kemerowo sowie Ausschnitte aus der Debatte in unabhängigen Medien.

    Update (25.03.2019): Laut offiziellen Zahlen starben bei der Brandkatastrophe in Kemerowo 60 Menschen, darunter 37 Kinder. Als Ursachen gelten derzeit Fahrlässigkeit der Einkaufszentrums-Betreiber, Verstoß gegen Brandschutzvorkehrungen und Korruption. Seit einigen Monaten läuft ein Ermittlungsverfahren gegen insgesamt 15 Verdächtige.

    [Am Dienstag, 27. März – dek] gegen 10 Uhr treten der stellvertretende und der Vize-Gouverneur der Oblast Kemerowo Wladimir Tschernow und Sergej Ziwiljow vor die Menschenmenge.

    „Wollen wir hier herumbrüllen oder sprechen?“, fragt Ziwiljow laut.

    „Wir wollen Fragen stellen!“, ruft ein Mensch in der Menge. „Warum mussten die Menschen sterben?“

    „Tatsächlich eine interessante Frage“, antwortet Ziwiljow gelassen. „Um sie zu beantworten ist eine Sonderermittlungsbrigade aus Moskau hergeschickt worden.“

    Ein Pfeifkonzert geht los.

    „Wieviel Menschen sind umgekommen?“

    „64.“

    Die Menge reagiert mit wütendem Gebrüll. Die offizielle Zahl glaubt hier niemand. Die Menschen wiederholen Mal um Mal ein und dieselben Gerüchte – es gebe 150 bis 400 [Tote]. Dass die Leichenhallen überfüllt seien und die Toten in einem Kühlhaus-Kombinat versteckt würden. Dass auf dem Südfriedhof von Kemerowo bereits 200 neue Gräber ausgehoben seien. Dass eine ganze Schulklasse aus dem Dorf Treschtschewski gekommen sei, 30 Kinder, und sie alle verbrannt seien. (Uns haben Menschen aus Treschtschewski gesagt, dass im Einkaufszentrum Simnjaja Wischnja [dt. Winterkirsche] fünf Fünftklässlerinnen verbrannt seien – N.G.)

    Anscheinend spürt der Vize-Gouverneur die wachsende Anspannung nicht und ruft die Anwesenden auf, bitte Namen von Opfern zu nennen, die nicht auf den offiziellen Listen ständen. Niemand nennt Namen, die Staatsvertreter werden erneut ausgepfiffen.

    Auf dem Platz gibt es keinerlei Lautsprecher, die Staatsvertreter sind nur in den ersten Reihen zu hören. Dennoch strömen die Menschen weiter und füllen den Platz – gegen 11 Uhr vormittags sind es schon 3000 bis 4000 Menschen.

    Nach zwei Stunden ergreift der Kemerower Geschäftsmann Igor Wostrikow das Wort – und bringt selbst ein Mikrofon mit. Der Mann sagt zunächst, dass er im Simnjaja Wischnja seine ganze Familie verloren und seine Tochter anhand der Schuhe identifiziert hätte.

     
     

    „Wollen Sie jetzt mit Trauer PR betreiben, junger Mann?“, äußert sich der Vize-Gouverneur Wostrikow gegenüber. Igor wird rot und zischt dem Gouverneur leise ins Gesicht:

    „Meine Familie ist umgekommen, meine Schwester Aljona, meine Frau Jelena und meine drei Kinder: 7, 5 und 2 Jahre alt.“

    Der Vize-Gouverneur ist sichtlich betroffen und legt Wostrikow väterlich die Hand auf die Schulter.

    Dieser Mann wird faktisch zum Anführer der Kundgebung. Er gibt das Mikrofon anderen weiter, die der Reihe nach das Wort ergreifen und Ziwiljow und Tschernow ihre Fragen stellen. Er bietet an, sich an die städtischen Leichenhäuser zu wenden, die Informationen über die Opferzahlen zu überprüfen und eine E-Mail-Adresse einzurichten, an die alle Angehörigen von Opfern Informationen senden könnten.

    Einige Journalisten und die aktivsten Versammlungsteilnehmer fahren mit dem Bürgermeister von Kemerowo zu den Leichenhallen. Im Laufe des Tages sind unter der eingerichteten Mail-Adresse Informationen zu 85 Vermissten eingegangen. Wostrikow zufolge wurden alle an die Polizei weitergegeben.

    Die Teilnehmer der Versammlung verlangen ein Mikrofon, unter dem Gelächter der Menge: „Wie wollen Sie eigentlich eine Oblast verwalten und regieren, wenn Sie nicht mal ein Mikrofon herbeischaffen können.“ Mehr als zwei Stunden dauert es, bis endlich eine Verstärkeranlage auftaucht. Bis dahin wirkt die Versammlung ziemlich absurd: Versammlungsteilnehmer schreien Fragen aus der Menge, Ziwiljow und Tschernow antworten etwas, was ohne Mikrofon kaum zu verstehen ist. Als klar ist, dass sie sowieso niemand hört, verfallen die Staatsvertreter in Schweigen. Inmitten der schreienden, Mat-Beleidigungen ausstoßenden Menge stehen sie da und schweigen, senken zuweilen ihren Blick auf ihre Smartphones oder wenden sich ihren Helfern zu. Da buht und pfeift die mehrere tausend Menschen umfassende Menge los und ruft: „Schau uns in die Augen!“

    Manchmal streckt jemand mit Absicht den Staatsdienern Wostrikows Mikrofon hin:

    „Wann treten Sie zurück?“, rufen sie Ziwiljow zu. Der weicht dem Mikro schweigend aus.

    „Sie klauen auf dem Posten schon seit zwei Jahren, was nur geht!“, schreit jemand Tschernow an.

    „Erst anderthalb“, antwortet er.

    Dann kommen Mikrofone und Verstärker.

    Auf dem Platz beginnt so etwas wie „Das freie Mikrofon“ nach dem Vorbild aus den 1990ern: Die Menschen drängen sich der Reihe nach in die Mitte und sprechen über ihre Anliegen: Es geht von Angehörigen, die beim Brand ums Leben kamen, bis hin zu Problemen mit dem städtischen Wohnungsamt. Es scheint, dass allein die Möglichkeit frei und unzensiert zu sprechen die Menschen beruhigt und den Hass auf dem Platz sinken lässt.

    Die Versammlung dauert fast elf Stunden. Erst bei Einbruch der Dunkelheit löst sie sich auf.

    Später erklärt Aman Tulejew im Gespräch mit Putin, dass die Teilnehmer der Demonstration in Kemerowo in Wirklichkeit gar keine Angehörigen der Brandopfer seien:

    „Heute sind da 200 Menschen. Das sind überhaupt keine Angehörigen der Brandopfer, das sind ständige Unruhestifter. Es ist Frevel, wenn Trauer herrscht und du dabei deine Probleme lösen willst.“

    Text: Jelena Ratschewa



    Novaya Gazeta: Eine Folge der totalen Korruption

    Julia Latynina beklagt in der Novaya Gazeta, dass zahlreiche Tote hätten vermieden werden können, wenn man die Fluchttür des Kinosaals nicht abgeschlossen und einfachste Vorkehrungen des Brandschutzes beachtet hätte. Das Problem mit Letzterem sieht sie als ein strukturelles in Russland:

    [bilingbox]Das schrecklichste und unvorstellbarste ist, dass der Brand absolut unkompliziert war. Klar, wenn irgendein Grenfell Tower mit 24 Etagen abbrennt: Hochhausbrände sind technisch ein Alptraum. Aber hier? 4 Etagen. Mitten am Tag. Ein Gebäude, in dem alle Leute auf den Beinen sind und laufen können.
    Es hätte eigentlich kein Problem sein dürfen: Der Feueralarm geht los, die Türen fliegen auf und alle Leute rennen raus, innerhalb von wenigen Minuten, bis zum letzten Mann. Vielleicht würde jemand eine Rauchvergiftung erleiden, aber mehr auch nicht.
    In der gesamten zivilisierten Welt hat sich eine einfache Sache eingebürgert: Türen, die nur in eine Richtung aufgehen. 
    […]
    Man hätte neben der Tür einen Knopf anbringen können, mit dem sich die Tür öffnen lässt und der gleichzeitig den Feueralarm auslöst. Man hätte ein Glaskästchen mit einem Schlüssel daneben klatschen können. Oder eine Axt oder weiß der Teufel! Aber bei der russischen Brandschutzbehörde, da geht es ums Abzwacken von Kohle und um Nobelkarossen für die Chefs. Nicht um die Sicherheit der Bevölkerung.
    […]
    Diese Geschichte handelt davon, dass eine moderne, hochtechnologisierte Megapolis nicht funktionieren kann unter den Bedingungen von totaler Korruption, mittelalterlichen Bauvorschriften und Populismus.
    ~~~Самое ужасное, непредставимое — это совершенная несложность пожара. Понятно, когда сгорает какая-нибудь Grenfell Tower, там 24 этажа, пожары в высотках — это технический кошмар. Но тут? 4 этажа. Середина дня. Здание, где все люди были на ногах.
    Никакой проблемы не было бы и не должно было быть: звучит сигнализация, распахиваются двери, и люди выбегают все, в считанные минуты, до единого человека: ну разве что кто-нибудь дымом чуть отравится.
    Во всем цивилизованном мире освоена простая штука: двери без запоров, которые в одну сторону раскрываются, а в другую — нет.
    […]
    Можно установить рядом с дверью кнопку, которая ее открывает, а когда дверь открывается — на пульте тут же срабатывает сигнализация. Можно рядом с дверью присобачить стеклянный ящичек, а в него положить ключ. Можно топор, черт возьми, повесить у этой двери! Но наш Роспожнадзор — это про срубание бабок и «лексусы» у начальников. Он не про безопасность населения.
    […]
    Это история о том, что современный высокотехнологичный мегаполис не может функционировать в условиях тотальной коррупции, средневековых строительных норм и популизма.
    [/bilingbox]

    Snob: Keine Menschlichkeit

    In seiner Trauerrede fragte Wladimir Putin: „Was passiert bei uns? […] Wir reden über Demographie und verlieren so viele Menschen.“ Diese Wortwahl erregte in unabhängigen Medien viel Aufmerksamkeit, auch Andrej Perzew fragte für Snob nach den Hintergründen einer solchen Rhetorik:

    [bilingbox]Im Augenblick einer Tragödie klingen solche Aussagen grausam. Die Machthaber finden nicht zur Menschlichkeit zurück: Laut Putin besteht die Schuld der Beamten aus Kemerowo darin, dass der Staat eine Ressource verloren hat. Das ist auch ein Argument, aber im Fall von Massen von Opfern steht es an fünfter oder zehnter Stelle. Von der Idee her muss ein Staat um der Bürger willen existieren und nicht umgekehrt. Aber in der Logik eines Wladimir Putin ist es besser, Bürger als Bevölkerung zu bezeichnen, die mit Ziffern benannt wird und sonst mit nichts. Solche Definitionen haben auch eine praktische Bedeutung: Denn Bürger kontrollieren die Regierenden, die Bevölkerung aber wird von den Regierenden kontrolliert.~~~В момент трагедии такие высказывания звучат дико. Власть не может вернуться к человечности. Вина кемеровских чиновников, по Путину, в том, что государство потеряло ресурс. Это тоже аргумент, но в случае массовых жертв — пятый и десятый. По идее, государство должно существовать ради граждан, а не наоборот. Но в логике Владимира Путина граждан, скорее, лучше называть населением, которое обозначается цифрами и больше ничем. У этих определений есть и практическое значение, ведь граждане управляют властью, а населением управляет власть.[/bilingbox]

    Colta: Mythos der Beliebtheit

    Kemerowo ist bei Weitem kein Einzelfall, und auch deswegen wird vermehrt Kritik an der Staatsführung laut. Vor diesem Hintergrund fragt Fjodor Krascheninnikow auf Colta, was Putins triumphales Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl vor zwei Wochen eigentlich aussagt:

    [bilingbox]In der Oblast Kemerowo stimmten laut offiziellen Zahlen 85,57 Prozent für Putin, und 96,69 Prozent der Bevölkerung stimmten 2015 für den immer noch waltenden Gouverneur Tulejew. […] Doch weder Putin noch Tulejew sind vor die Menschen getreten. Vermutlich deshalb, weil sie selbst keinerlei Illusionen über ihre tatsächliche Beliebtheit haben – vor allem unter den Verwandten und Nahestehenden der lebendig verbrannten Menschen. Der Mythos über die unglaubliche Beliebtheit der russischen Staatsmacht bei der Bevölkerung lebte nach der Präsidentschaftswahl nur zehn Tage. Er starb in Kemerowo, auf dem Platz der Räte.~~~За Путина в Кемеровской области голосовали, по официальным данным, 85,57% избирателей, а за все еще действующего губернатора Тулеева в 2015 году якобы проголосовали и вовсе 96,69% населения. […] Но к людям не вышли ни Путин, ни Тулеев. Возможно, потому, что сами они не питают никаких иллюзий относительно истинных масштабов своей популярности — особенно среди родных и близких заживо сгоревших людей. Миф о невероятной популярности российской власти среди населения прожил всего 10 дней после президентских выборов и умер в Кемерове, на площади Советов.[/bilingbox]

    Novaya Gazeta: Verhöhnende Worte

    Irina Petrowskaja zeigt sich in der Novaya Gazeta entsetzt über den Umgang der staatlichen Fernsehsender mit der Katastrophe und macht das an einem besonders frappierenden Beispiel des TV-Senders Rossija-1 deutlich:

    [bilingbox]Als es in Kemerowo bereits Nacht wurde und die Feuerwehr immer noch mit den Flammen kämpfte, ging Dimitri Kisseljows Wochenrückblick Westi Nedeli auf Sendung. Der Moderator und seine Kollegen hatten mindestens sieben Stunden Zeit, um die Sendung umzustellen. Aber sie „schätzten das Ausmaß der Tragödie falsch ein“ und stellten nichts um. Sie begannen nicht mit der Tragödie, sondern mit dem Triumph: den beispiellosen Ergebnissen der Präsidentschaftswahl. Und erst nach 20 Minuten (so lange dauerte dieser Beitrag) wich Kisseljow für drei Minuten vom vorab festgelegten Programm ab und berichte im Schnellsprech vom Brand in Kemerowo.
    […]
    Drei Minuten – dann berichtet Kisseljow schon wieder voller Elan über den gerade abgeschlossenen Wettbewerb des Verteidigungsministeriums um die beste Bezeichnung für Russlands neueste Waffentypen.
    „Auch ich habe meinen Vorschlag für eine der Raketen eingereicht“, brüstete sich der Moderator: „Asche.“
    Einer der höchsten Medien-Funktionäre des Landes, der Preisträger des TEFI-Preises und mehrfache Vater Kisseljow musste dabei nicht schlucken und hat vermutlich nicht einmal daran gedacht, wie verhöhnend seine Worte in dem Moment klingen, als gerade ein Feuer Dutzende Erwachsene und Kinder in Asche verwandelt.
    ~~~Когда в Кемерове уже наступила ночь, а пожарные все еще боролись с огнем, в эфир вышла итоговая программа Дмитрия Киселева «Вести недели». У ведущего и его сотрудников было как минимум 7 часов на то, чтобы переверстать выпуск, но… не «представляя масштабов трагедии», они этого делать не стали и начали не с трагедии, а с триумфа — беспрецедентных итогов президентских выборов. И лишь спустя 20 минут (столько длился сюжет) Киселев на 3 минуты отвлекся от заранее утвержденной верстки, скороговоркой сообщив о пожаре в Кемерове.
    […]
    Три минуты — и вот уже Киселев с воодушевлением докладывает о только что завершившемся всенародном конкурсе Министерства обороны на лучшее название современных образцов вооружения.
    «Я тоже предлагал свое название для одной из ракет, — похвастался он личным участием в конкурсе. — «Пепел».
    Один из высших медийных чиновников страны, лауреат ТЭФИ и просто многодетный отец, не поперхнулся и, наверное, даже не подумал, сколь кощунственно звучат его слова в этот час, когда огонь превращает в пепел десятки взрослых и детей!
    [/bilingbox]

    Facebook/Wladimir Warfolomejew: Große Angst

    Bei aller Wut und Trauer, bei allem Protest stellt Wladimir Warfolomejew vom Radiosender Echo Moskwy vor Ort fest, wie groß die Angst der Menschen ist, wie er auf Facebook schreibt:

    [bilingbox]Wir sprechen hier nur von einer technisch bedingten Katastrophe. Es geht nicht um einen Terroranschlag, politische Verschwörung oder eine militärische Aggression. Aber was für eine Angst haben die Kusbass-Bewohner, die heute nicht laut darüber sprechen können?! In den letzten 24 Stunden hat uns etwa die Hälfte unserer Gesprächspartner gebeten, ihre Namen nicht zu nennen. Einige der Befragten bestanden sogar darauf, dass wir ihre Stimmen verfremden. Und das sind Menschen, die uns von den Ereignissen in einer Stadt berichteten und keine, die Staatsgeheimnisse verraten.~~~Это ведь просто техногенная катастрофа, а не теракт, не политический заговор или военная агрессия. Но какой же дикий страх перед властью испытывают жители Кузбасса, которые сегодня боятся говорить вслух о том, что произошло. За эти сутки около половины, наверное, наших источников в Кемерове попросили не называть своих имён. Кое-кто даже настоял на том, чтобы мы изменили их голоса в эфире. А ведь эти люди всего лишь рассказывали про происходящее в городе, а не выдавали государственные секреты.[/bilingbox]

    Rosbalt: Mauer zwischen Russland und dem Westen

    Der Politikwissenschaftler Iwan Preobrashenski hat sich in ausländischen Medien umgeschaut und festgestellt, dass Russland vor allem wegen der neuen Eskalation im Fall Skripal in den Schlagzeilen ist. Auf Rosbalt kommentiert er:

    [bilingbox]Man muss bemerken, dass das früher alles merklich anders war. Zum Beispiel hat die Tragödie von Beslan Europa buchstäblich erschüttert, obwohl der Großteil der westlichen Presse Russland hart verurteilte für den Krieg in Tschetschenien. Für die Kinder aus Beslan gibt es heute Denkmäler in Europa, und die Erinnerung an diese Tragödie ist lebendig. Über die in Flammen gestorbenen Kinder aus Kemerowo erfahren viele Europäer aber schlicht nichts, weil in der Zwischenzeit eine Mauer des Unverständnisses, der Angst und des Misstrauens zwischen Russland und Westeuropa gewachsen ist.~~~Раньше, надо отметить, все было заметно иначе. Например, трагедия Беслана буквально потрясла Европу, и это несмотря на то, что ранее западная пресса в большинстве своем жестко осуждала Россию за войну в Чечне. Памятники детям Беслана есть сегодня во многих европейских странах и память об этой трагедии жива. А вот о сгоревших кемеровских детях многие европейцы видимо просто не узнают, потому что между Россией и западной частью европейского континента выросла за эти годы стена непонимания, страха и недоверия.[/bilingbox]

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  • Medien-Boykott der Staatsduma

    Medien-Boykott der Staatsduma

    Der Fall Leonid Sluzki schlägt immer höhere Wellen. Dem Duma-Abgeordneten der LDPR wird vorgeworfen, im Parlament akkreditierte Journalistinnen mehrfach sexuell belästigt zu haben. In einem Fall hat die russische BBC Sluzkis Übergriffigkeit per Audiomittschnitt dokumentiert (siehe auch unsere Debattenschau zum Thema). Am Mittwoch hatte sich nun der Ethikrat der Duma mit der Angelegenheit beschäftigt, konnte jedoch keinerlei „Verletzung von Verhaltensnormen“ feststellen.

    Dies sorgte bei vielen Journalisten für große Empörung. Innerhalb kürzester Zeit verkündeten über 20 russische Medien – darunter Kommersant, Vedomosti, Novaya Gazeta, Meduza und viele weitere auf dekoder vertretene – die Zusammenarbeit mit der Staatsduma einschränken oder gar vollständig boykottieren zu wollen: Sekret Firmy beispielsweise schreibt fortan hinter jeder Erwähnung der Duma den Zusatz: „(Staatsorgan, das sexuelle Belästigung rechtfertigt)“, RBC, Echo Moskwy und eine Reihe weiterer Medien haben ihre parlamentarischen Korrespondenten abgezogen, da die Duma „kein sicherer Ort für Journalisten“ sei, wie Echo-Chefredakteur Alexej Wenediktow erklärt.

    Olga Beschlej, Chefredakteurin von Batenka, beschreibt in einer Kolumne auf Colta, warum sie bei der Solidaritätsaktion Stolz empfindet auf die Presse in Russland.

    Weit über 20 russische Medien verkündeten, ihre Zusammenarbeit mit der Staatsduma einschränken oder boykottieren zu wollen
    Weit über 20 russische Medien verkündeten, ihre Zusammenarbeit mit der Staatsduma einschränken oder boykottieren zu wollen

    Hilflosigkeit ist das Gefühl, das wir hier allzu oft empfinden. Ein Gefühl, das uns schon seit allzu langer Zeit aufgezwungen wird.

    Ja, eine Gruppe von Menschen versucht ständig etwas zu unternehmen – eine Gruppe, die sogar selbst gar nicht sagen kann, welchen Anteil der Bevölkerung sie ausmacht, weil die Umfragen sie genauso belügen, wie sie den Präsidenten belügen. Diese Menschen – zu denen manchmal auch ich gehöre – unterschreiben Petitionen, machen Einzelproteste, gehen zu Demonstrationen, schreiben Texte, kratzen an den Türen von Diensträumen [hoher Beamter – dek]. Und jedes Mal dasselbe Gefühl: Von uns hängt gar nichts ab, wir können nur bitten und krakeelen, bitten und krakeelen. Und weiter Spiele spielen, deren Regeln von Betrügern gemacht werden.

    Aber Hilflosigkeit wird durch aktives Handeln überwunden. Deshalb ist die Geschichte mit dem Abgeordneten Sluzki und jenem Konflikt mit der Duma, auf den sich Journalistinnen, Journalisten und ganze Redaktionen eingelassen haben, weitaus bedeutender als eine Geschichte über einen Rüpel und seine Maßlosigkeit.

    Es ist auch ein Aufstehen gegen Machtmissbrauch. Auch ein Aufstehen gegen die Gewalt der Privilegierten und im Grunde auch gegen jedwede andere Gewalt. Es ist ein Aufstehen gegen gegen das herrische, konsumistische Verhältnis der Machthaber gegenüber allen anderen. 

    Es ist eine Geschichte darüber, dass die Geduld zu Ende geht.

    Denn es gab in den letzten 18 Jahren eigentlich genug Gründe, Journalisten aus dem intransparent und unehrlich arbeitenden Parlament abzuziehen. Aus einem Parlament, das Gesetze verabschiedet hat und verabschiedet, die die Meinungsfreiheit beschneiden. Es gab auch so schon genug Gründe dafür, dass das Land aufhört, die Lügen, Rüpeleien, Gewalt und Dieberei zu tolerieren.

    Niemand sollte in einem Organ der Staatsmacht arbeiten, das sexuelle Belästigung rechtfertigt. Und genau so sollte man meiner Meinung nach nicht in einem Organ der Staatsmacht arbeiten, das ein Gesetz über die Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt verabschiedet hat.

    Ich weiß nicht, ob es den Journalisten gelingen wird, im Fall Sluzki hinreichend Druck auszuüben, wenn man bedenkt, dass die Staatsmacht ihre Leute unter dem Druck der Gesellschaft nie im Stich lässt. Aber dass die Journalisten sich auf diesen Konflikt eingelassen haben, lässt einen stolz sein auf die Presse in Russland. Das ist schon keine Hilflosigkeit mehr.

    Und auch kein Spiel nach aufgezwungenen Regeln.

    Mich befremden die Befürchtungen einiger Menschen, dass wir ohne Journalisten in der Duma eine Informationsquelle verlieren würden. Ein professioneller Journalist – und alle Redaktionen, die ihre Kollegen abgezogen haben, sind zweifellos sehr professionell – findet Wege, um von Gesetzesinitiativen nicht nur in der unteren Kammer des Parlaments zu erfahren. Um so mehr, da die wichtigsten Gesetze nicht von Abgeordneten der Staatsduma geschrieben, sondern von der Präsidialadministration lanciert werden.

    Und schließlich: Die hochkarätigste, wertvollste und gesellschaftlich wichtigste Arbeit von Journalisten in Russland findet nicht in den Räumen der Staatsduma statt. Sie findet statt bei Recherchen jener Geschichten, über die die Abgeordneten sich ausschweigen. Wenn daher in meiner Redaktion ein parlamentarischer Journalist gebraucht würde – dann nur, um ihn von dort abzuziehen.
     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Video #16: Loblied auf Stalin

    Video #16: Loblied auf Stalin

    Eine kleine Revolution bei den Kommunisten: Wenn im postsowjetischen Russland ein neuer Präsident gewählt wurde, hieß der Kandidat der KPRF in der Regel Gennadi Sjuganow – der auch seit Parteigründung deren Vorsitzender ist. Für die bevorstehende Präsidentschaftswahl am 18. März 2018 haben die Kommunisten nun einen neuen Kandidaten ins Rennen geschickt: Pawel Grudinin. Dem Mehrheitseigner und Direktor der Sowchose Lenin wird aktuell vorgeworfen, mehrere schweizer Bankkonten verschwiegen zu haben. Das wäre formell ein Grund, Grudinin von der Wahl auszuschließen. Doch die Zentrale Wahlkommission beschränkt sich derzeit darauf, Grudinins neu entdeckten Auslandskonten in die offizielle Kandidaten-Info aufzunehmen.

    Der russische YouTuber Juri Dud hat sich für seinen Kanal vDud mit dem Kandidaten der Kommunisten getroffen und ihn über sein Verhältnis zu Stalin befragt.


    Das Originalvideo finden Sie hier.
    Veröffentlicht: 9. März 2018.


    Wie stehen andere Kandidaten zu Stalin?

    Xenia Sobtschak: Schandfleck der russischen Geschichte

    Die Präsidentschaftskandidatin Xenia Sobtschak geht auf ihrer Website hart ins Gericht mit dem Diktator. Sie erklärt, warum eine Verherrlichung Stalins im heutigen Russland nicht zulässig sei:

    [bilingbox]Vor 65 Jahren ist Stalin gestorben. Bedauerlich ist nur, dass er für seine Untaten nie vor einem irdischen Gericht stand. […] Stalin ist ein Schandfleck in der Geschichte unseres Landes. Von dieser Schande kann man sich nur auf eine Art befreien – so wie sich das deutsche Volk von seiner historischen Schande befreit hat: indem man die Wahrheit sagt. Die Wahrheit darüber, dass Stalin verantwortlich ist für den Tod von Millionen Menschen – unschuldiger, verletzter, alter, Kinder. Politiker, die Stalin rechtfertigen, […] die ihm irgendeine mythische oder gar positive Rolle in der Geschichte zuschreiben, sind Mittäter dieser und künftiger Verbrechen.~~~65 лет назад умер Сталин. Жалеть можно только о том, что за свои злодейства он не предстал перед земным судом. […] Сталин — позорное пятно на истории нашей страны. Избавиться от этого позора можно единственным способом — так же, как избавился от своего исторического позора народ Германии. Говоря правду.

    Правда в том, что Сталин — ответственный за смерть миллионов людей, невиновных, раненых, стариков, детей. Политики, оправдывающие Сталина […] , признающие за ним какую-то мифическую и тем более положительную роль в истории, — соучастники этих преступлений и соавторы преступлений будущих.[/bilingbox]

     

    Wladimir Putin: Kind seiner Zeit

    Wladimir Putin sieht die Sache nicht so eindeutig wie seine Konkurrentin im Wahlkampf. In Oliver Stones The Putin Interviews meinte er, man müsse Stalin trotz seiner Verbrechen aus dem historischen Kontext heraus betrachten:

    [bilingbox]Stalin war ein Kind seiner Zeit. Man kann ihn noch so sehr dämonisieren oder eben noch so viel über über seine Verdienste beim Sieg über den Nazismus sprechen. […] Eine übermäßige Dämonisierung Stalins ist, wie mir scheint, eines der Mittel, um die Sowjetunion und Russland anzugreifen. Um zu zeigen, dass das heutige Russland irgendwelche Muttermale des Stalinismus trägt. Wir alle haben irgendwelche Muttermale. Na und? Natürlich bleibt was im Bewusstsein hängen, aber das heißt nicht, dass wir alle Gräuel des Stalinismus vergessen sollten, die mit Konzentrationslagern und der Vernichtung von Millionen von Landsleuten verbunden sind.~~~Сталин был продуктом своей эпохи. Можно сколько угодно его демонизировать и сколько угодно, с другой стороны, говорить о его заслугах в победе над нацизмом. […] Мне кажется, что излишняя демонизация Сталина — это один из способов, один из путей атаки на Советский Союз и Россию. Показать, что сегодняшняя Россия несет на себе какие-то родимые пятна сталинизма. Мы все несем какие-то родимые пятна, ну и что. Конечно, в сознании что-то остается, но это не значит, что мы должны забыть все ужасы сталинизма, связанные с концлагерями и уничтожением миллионов своих соотечественников.[/bilingbox]

     

    Wladimir Shirinowski: Halunke und Verbrecher

    Wladimir Shirinowski, Präsidentschaftskandidat der LDPR, ist bekannt für seine leidenschaftlichen Ausbrüche. Dementsprechend beantwortet er auch die Frage nach Stalin:

    [bilingbox]Schauen Sie sich den Lebenslauf an: Hat nie irgendwo studiert, nie irgendwo gearbeitet, in zehn Jahren zwei Priesterseminare abgebrochen, war nie bei der Armee. Seine ganze Biografie besteht aus Verbannung, Lager, Flucht und Diebstahl. Das war vor der sowjetischen Herrschaft. Unter sowjetischer Herrschaft ist er gleich Minister geworden. Stellen Sie sich das vor, der hat nie etwas geleitet, nur kriminelle Strukturen verwaltet. […] Alles was Stalin gemacht hat ist, Konkurrenten auszuschalten. Auf Russland hat er doch gespuckt, auf das russische Volk, auf sein eigenes Georgien, auf alles. […] Anfang März liegt er im Sterben, liegt da mit einem Schlaganfall und seine engsten Berater, wie wilde Tiere, machen nichts. Soll das ein Anführer sein? […] Es haben ihn doch alle gehasst, alle, die wussten was für ein Halunke und Verbrecher das ist.~~~Посмотрите на биографию: никогда нигде не учился, никогда нигде не работал, десять лет – две духовные семинарии так и не окончил. Человек в армии никогда не был. Вся его биография: ссылки, лагеря, побеги, грабежи. Это до советской власти. Советская власть: сразу министром стал. Представляете, ничего никогда не управлял, только криминальными структурами управлял. […] Вся деятельность Сталина – это уничтожить своих конкурентов. Плевать на Россию, на русский народ, на собственную Грузию, на все наплевать. […] Он умирает первого марта, он лежит с инсультом и ближайшие соратники как звери ничего не делают. Это что руководитель? […] Так его ненавидели все, все его ненавидели, кто знал, каков он негодяй и преступник.[/bilingbox]

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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