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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die Tschechoslowaken waren selbst schuld“

    „Die Tschechoslowaken waren selbst schuld“

    Im August 1968 haben die Truppen des Warschauer Pakts dem sogenannten Prager Frühling, Reformbestrebungen in der Tschechoslowakei, ein jähes Ende bereitet. Wie das russische Staatsfernsehen Rossija 1 zum 50. Jahrestag am 21. August 2018 darüber berichtete, das analysiert Alexander Morosow auf The Insider.

    Zu [Prag] 1968 ist viel publiziert worden: Die Dokumente des Politbüro und des KGB, Erinnerungen, Foto- und Videosammlungen, jeder kann die Mitschriften der langen Telefonate zwischen Breshnew und Dubček nachlesen, auch sie wurden veröffentlicht. 
    Womöglich ist die Geschichte dieses Einmarsches das für die breite Leserschaft am besten dokumentierte und offen einsehbare politische Ereignis des 20. Jahrhunderts, jedenfalls auf russischer Seite. Und voilà, es kann sich nun jeder, der sich den neunminütigen Beitrag des wichtigsten russischen Fernsehsenders zum „Jubiläum“ anschaut, selbst davon überzeugen, wie einfach es ist, das Puzzle der einzelnen Episoden derart zu verschieben, dass ein völlig neues Bild entsteht.

    Die Tschechoslowaken sind selbst schuld

    Dabei kann man sehr grob vorgehen, wie das Autoren kleinerer Veröffentlichungen tun, oder dezenter, wie der Chef des Europa-Büros von Rossija. Aber das Ergebnis geht in dieselbe Richtung: Die Tschechen [Tschechoslowaken – dek] sind „selbst an allem schuld“. 
    Sei es Dubček, der die Kontrolle verloren hatte, seien es die Dissidenten, die ja auf Weisung des CIA gehandelt haben, seien es die Tschechen insgesamt, die zu große Veränderungen gefordert haben – der Reformprozess hätte langsamer eingeleitet werden müssen (dazu wird in dem Beitrag ein kurzes Interview mit der tschechischen Journalistin Procházková gebracht), sei es die Atmosphäre 1968 in Europa – auch die habe sich negativ ausgegewirkt.
    Schiebt man beim Legen dieses Puzzles bestimmte Teile weit weg, etwa den Entscheidungsprozess in Moskau, die Reformideen, die in der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei erörtert wurden, die gleiche militärische Einmischung in Budapest im Jahr 1956 und lässt – last but not least – die historische Perspektive (sprich, die Samtene Revolution des Jahres 1989) völlig außer Acht, dann ergibt sich ungefähr jenes Bild, das der Kreml und seine Medien heute präsentieren:
    Schauen Sie: eine tragische Episode in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Tschechen haben das selbst zu verantworten, wollen das aber nicht zugeben, ja mehr noch, sie „verhöhnen die Erinnerung“: Seht nur, sie haben einen Panzer der Befreier rosa angemalt! Ihr Verhältnis zur Geschichte ist ein postmodernistisches, unseres ein trauerndes, heldisches, und wir bedauern, dass das Brudervolk so auf dem Holzweg ist.

    Jeder weiß, selbst bei einer Unterhaltung in der Elektritschka wird der Gesprächspartner gerne zugeben, dass in dieser Interpretation einige historische Fakten nicht ganz korrekt dargestellt sind. Gleichzeitig wird er jedoch abwinken und sagen: „Wenn wir nicht eingegriffen hätten, dann wären Soldaten der NATO gekommen.“ Dieses Argument hat sich mittlerweile auf die Geschichte insgesamt ausgebreitet, es dient als schlussendliche Rechtfertigung jeglicher Handlungen jeglicher russischer Herrscher.

    Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken

    Hier sind vier Positionen zu differenzieren: das Bewusstsein der breiten Bevölkerung, revisionistische Historiker, die Medienmacher des Kreml, und der derzeitige Kreml selbst. 
    Für den normalen unpolitischen Menschen sind solche Beiträge eine große Versuchung. Nach der Krim ist das Leben in der Geschichte unbequem geworden. Eine militärische Intervention in das Leben eines anderen Volkes zu heroisieren, fiel der Bevölkerung sogar in der Sowjetzeit schwer – das galt für die Zeit des Finnischen-Sowjetischen Kriegs und für Afghanistan. Es musste eine Erklärung gefunden werden, die einen mit der Realität versöhnt.
    Heroismus zum Schutz der eigenen Grenzen wird nicht in Frage gestellt. Ein Truppeneinmarsch, um andere zu erobern oder Unerwünschtes zu unterdrücken, stößt hingegen auf inneren Widerstand. Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken, und erklären, dass sie nicht mit denen auf der Landkarte übereinstimmen. 
    Genau das geschieht derzeit: Die imaginierte Grenze verläuft wieder nicht so wie auf der realen Karte, und überall, wo die imaginierte Russki Mir (dt. „Russische Welt“) liegt, stößt sie mit der imaginierten NATO zusammen.

    Revisionistische Historiker konstruieren bekanntermaßen häufig jahrelang alternative Beschreibungen der Realität, einfach in dem Bestreben, dem Mainstream etwas entgegenzusetzen.
    Solange das nicht von Propagandamachern aufgegriffen wird, bleibt diese alternative Geschichte eine Randerscheinung. Jetzt aber fallen die Interessen des Kreml und der Alternativler zusammen. „Reptiloide verüben einen Anschlag auf den Code der russischen Zivilisation.“ So lautet das wichtigste Thema der aktuellen geopolitischen Forschung.

    Alternative Geschichtssschreibung

    Der Bruch des so genannten „zivilisatorischen Codes“ ist keine Metapher. Diesen Begriff verwenden sowohl Wladimir Putin als auch Patriarch Kirill. Dadurch entsteht ein stabiles Schema, in das sich jedes Ereignis einfügt, eben auch die Operation Donau: Die Tschechen und Slowaken werden schlicht zu Geiseln in der großen Schlacht zwischen den „Russen“ und den „Reptiloiden“: 1968 haben Soldaten der NATO in Tschechien die Russische Welt angegriffen, und mit ihnen haben auch Kräfte angegriffen, deren Ziel es ist, unseren „zivilisatorischen Code“ zu zerstören.

    Das Problem ist, dass im Rahmen des zweiten „Aufstands der Massen“, nämlich während des explosionsartigen Wachstums der Internetkommunikation, jeder, der Inhalte produziert – und seien sie auch noch so irrsinnig – ohne Weiteres seine eigene Sekte bilden kann. Gleichzeitig werden die klassischen Institutionen zur Wissenserzeugung geschwächt und verlieren in der Gesellschaft insgesamt an Autorität. Die Schüler werden nicht bei den Positionen der Lehrbücher verharren – sie werden leicht in Sekten hineingezogen, die alternative Interpretationen verbreiten. Und ein junger Putinscher Karrierist wird gern bereit sein, ein neues Geschichtsschema zu vertreten, in dem überall auf der Welt „undankbare Völker“ den imaginierten Umfang eines „unendlichen Russland“ säumen. 

    Der Chef des Europastudios von Rossija wie auch Russia Today verfügen heute über riesige Möglichkeiten, nach Belieben und vollkommen ungestraft die Figuren auf dem Schachbrett der Geschichte umzustellen und anstelle der Konstellation, die sich aus jahrelanger Forschungsarbeit qualifizierter Historiker ergibt, eine neue herzustellen. Können die Historiker heute – als akademische Institution – dem zweiten „Aufstand der Massen“ und der Revolution der Internetmeinungen etwas entgegensetzen?

    Was können Historiker den Internetmeinungen entgegensetzen?

    Der Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 ist in der politischen Geschichtsbetrachtung der Russen und Tschechen längst abgehakt und wird von der Samtenen Revolution von 1989 überdeckt. Bis zur Krim, die alle Sinnkonstruktionen des Innenlebens der Russischen Föderation deformiert hat, ist jedwede Revision der sowjetischen Epoche sinnlos gewesen: In postsowjetischer Zeit wurden die Beziehungen der Völker auf der Basis derjenigen Wege wiederhergestellt, die die jeweiligen Länder des ehemaligen Ostblocks und die ehemaligen Republiken der UdSSR selbstständig einschlugen. 

    Nun aber, nach der Annexion, gedenkt der Kreml in dieser [revisionistischen – dek] Weise nicht nur des Einmarsches in die Tschechoslowakei, er wird 2019 auch die Samtene Revolution in diesem Sinne interpretieren. Sie muss – wie jeder andere Protest – als „Orangismus“ und „äußere Einmischung“ verstanden werden.
    Die Hauptlinie dieses Gedankenschemas lautet: Soldaten der NATO greifen von allen Seiten an, und mit ihnen Reptiloide, die unsere Identität zerstören. Diese Linie ist unendlich. Auf ihr kann man keinen Punkt setzen. Und nicht – jedenfalls nicht allein Kraft des Verstandes – zu einem gesünderen Geschichtsverständnis zurückkehren.

    Die Angliederung der Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet

    Wenn du im Kopf erst einmal ein „Veteran“ dieses Krieges bist, wirst du ihn auch mit 80 Jahren noch führen. Die Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet: Seine Strahlung wird noch lange Zeit junge Leute zu Veteranen eines imaginierten globalen Krieges machen. 

    Sämtliche Puzzles der Geschichte werden neu angeordnet, alle realen Kontexte zerstört, alle Fragen von Schuld und Verantwortung durcheinander gebracht – und alle Völker werden dastehen als feige Verräter oder naive Dummköpfe, die den eigenen Vorteil nicht begreifen, den ihnen die brüderliche Hilfe des Kreml bringt. Das ist das Fazit des Jubiläums der Operation Donau, wenn man sich den Beitrag des staatlichen russischen Senders anschaut.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Zitat #5: „Senzow ist ein ukrainischer Kamikaze“

    Zitat #5: „Senzow ist ein ukrainischer Kamikaze“

    Die Regisseure Ken Loach und David Cronenberg, die französische Kulturministerin und andere internationale Kulturschaffende haben in der vergangenen Woche auf das Schicksal und den mittlerweile äußerst kritischen Gesundheitszustand des ukrainischen Regisseurs Oleg Senzow hingewiesen. Vor dem Aufruf in Le Monde hatte Frankreichs Präsident Macron in einem Telefonat an Putin appelliert, Senzow freizulassen.
    Seit mehr als drei Monaten ist Oleg Senzow im Hungerstreik. Allerdings hungert Senzow, der 2014 wegen „Terrorismus“ zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, nicht für sich selbst: Sein Ziel ist die Freilassung aller politischen ukrainischen Häftlinge in Russland. 

    Das Portal Meduza sprach mit seinem Anwalt Dimitri Dinse über Senzows Bedingungen und seinen Gesundheitszustand, sowie über die öffentlichen Reaktionen. dekoder bringt Ausschnitte aus dem Gespräch.
     

    Die Ombudsfrau der Ukraine, Ljudmyla Denissowa, veröffentlichte am 9. August dieses aktuelle Foto von Oleg Senzow in Haft / Foto © Ljudmyla Denissowa/Facebook

    Gesundheitszustand

    [bilingbox]Dimitri Dinse: Senzow ist mittlerweile im fortgeschrittenen Stadium des Hungerstreiks.
    Er fühlt sich derzeit schlecht, liegt die meiste Zeit, läuft nur wenig herum. Laut medizinischem Gutachten produziert sein Körper quasi keine Blutkörperchen mehr, sein Hämoglobinwert ist zu niedrig, im anämischen Bereich, er hat Taubheitsgefühle in Händen und Füßen.
    Zweimal ist sein Puls drastisch auf 40 Schläge pro Minute gesunken, jedes Mal schlug man ihm vor, ins Krankenhaus zu gehen. Aber er lehnte eine Einweisung ab, denn die von den Vertragsärzten vorgeschlagenen Konditionen sind schlechter als die, in denen er sich jetzt befindet.

    Ich habe ihn gefragt: „Und was, wenn du das Bewusstsein verlierst und sie dich gewaltsam dorthin bringen?“ Er hat mir geantwortet: „Aus diesem Grund trinke ich die Nährlösung freiwillig, um den Hungerstreik fortsetzen zu können, bei Bewusstsein zu bleiben und nicht irgendwann in einem Krankenhaus zu landen, wo man an mir ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung bestimmte Behandlungen durchführen will.“

    Mit einer solchen Nährlösung kann man recht lange durchhalten, wenn man sie in der vorgeschriebenen Menge zu sich nimmt. Aber Oleg nimmt leider in Absprache mit der Gefängnisleitung genau so viel, dass er weiterhin im Hungerstreik bleibt – er schüttet das Zeug nicht in sich hinein. Sondern er feilscht um jedes Gramm dieser Lösung, um auch ja im Hungerstreik zu bleiben. Das ist seine Entscheidung, leider.~~~Димтирий Динзе: В июле у него начался третий кризис голодовки.
    Сейчас он плохо себя чувствует, в основном лежит, редко ходит. Медицинскими показаниями установлено, что у него фактически не воспроизводятся кровяные тельца, пониженный гемоглобин, развилась анемия, немеют руки и ноги. 
    У него уже дважды резко снижался пульс — до 40 ударов в минуту, и каждый раз ему предлагали уехать в больницу. Но он отказывается от госпитализации, потому что те условия, которые предлагают ему гражданские врачи, хуже тех условий, в которых он находится сейчас.
    На этой медицинской смеси можно продержаться достаточно долгое время, если ее употреблять в адекватных количествах. Но Олег, к сожалению, по договоренности с администрацией употребляет ее ровно столько, чтобы оставаться в голодовке, — он не закидывается этой смесью. Он торгуется за каждый грамм этой смеси, чтобы оставаться в голодовке. Ну, это его выбор, к сожалению.[/bilingbox]

    Öffentlichkeit

    [bilingbox]Meduza: Erzählen Sie ihm denn, dass das Thema aus den Schlagzeilen verschwindet?
    Ja, ich erzähle ihm von den [Solidaritäts-]Aktionen, erzähle ihm, was so passiert. Oleg ist klar, dass sich das Thema nicht drei Monate auf den Titelseiten halten kann. Und er bittet all die, die ihn und die Ukraine unterstützen, dass sie das Thema am Laufen halten mögen und nicht zulassen, dass die Menschen vergessen werden, die sich unrechtmäßig hinter den Mauern russischer Gefängnisse befinden. 

    Oleg ist mittlerweile ein ukrainischer Kamikaze, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat für das Leben anderer, für die Ideale, die er hatte, und für sein Land.~~~— Медуза: Это вы ему рассказываете, что тема угасает?
    — Да, я ему рассказываю про акции [в его поддержку], рассказываю про то, что происходит. Олег понимает, что три месяца тема не может держаться в накале, и он просит всех людей, которые переживают за Украину и за него, чтобы они эту тему поддерживали на плаву, не давали забыть о тех людях, которые незаконно находятся в застенках российских тюрем.
    Олег стал украинским камикадзе, который поставил на кон свою жизнь ради жизни других людей, ради тех идеалов, которые у него были, и ради своей страны.[/bilingbox]

    Bedingungen

    [bilingbox]Inwieweit sind die Bedingungen, die er gestellt hat, überhaupt erfüllbar?
    Das entscheidet sich ganz schlicht: mit der Entscheidung eines Menschen, binnen eines Tages, einer Stunde. Wie hat es bei Sawtschenko und Afanasjew funktioniert? Alles war innerhalb von ein, zwei Tagen entschieden.

    Aber Sawtschenko war nur eine einzige Person, und auf Olegs Liste stehen 64.
    Nun, Oleg ist ja kein Idiot, er fordert nicht, dass alle gleich freigelassen werden. Leitet die Sache ein, nehmt Verhandlungen auf, lasst vielleicht zwei drei oder auch einen frei. Er sagt: „Ich bin bereit, den Hungerstreik zu beenden, wenn die Sache eingeleitet wird und wenigsten ein politischer Gefangener in die Ukraine kommt. Ich erbitte das nicht für mich, ich erbitte das für andere.“~~~— Насколько условия, которые он выдвинул, вообще выполнимы?
    — Это решается элементарно: решением одного человека, одного дня, одного часа. Как с Савченко и Афанасьевым получилось? Все решилось за один-два дня.
    Но Савченко была одна, а в списке Олега 64 человека.
    — Так Олег же не идиот, он же не просит сразу всех освободить. Начните процесс, начните переговоры, освободите хотя бы двух-трех или одного. Он говорит: «Я готов уйти с голодовки, как только процесс пойдет и хоть один человек из политзаключенных окажется в Украине. Я не за себя прошу, прошу за других».[/bilingbox]


    In ganzer Länge erschien das Interview am 10.08.2018 unter dem Titel  «On stal ukrainskim kamikadse, kotory postawil na kon swoju shisn radi shisn drugich» (dt. „Oleg ist mittlerweile ein ukrainischer Kamikaze, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat für das Leben anderer“). Das russische Original lesen Sie hier.

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  • Die antiwestliche Propaganda ist gescheitert

    Die antiwestliche Propaganda ist gescheitert

    Zufrieden zog Dimitri Medwedew Mitte Juli die WM-Bilanz: Mehr als drei Millionen ausländische Touristen haben Russland besucht, die Mehrheit von ihnen verließ das Land mit guten Eindrücken, so der Premierminister. 
    Gute Eindrücke sammelten offenbar auch die Russen selbst: Nicht nur die unabhängigen Medien, auch die staatlich-gelenkten schrieben während der WM von den freundlichen ausländischen Fans, die eine ausgezeichnete Stimmung im Land verbreiten. Viele Beobachter nahmen die WM deshalb als eine Art Verbrüderungsfest wahr. Manche konservativen Politiker warnten zwar vereinzelt vor Touristen, dies tat dem als Völkerverständigung empfundenen Fest allerdings keinen Abbruch.

    Vor diesem Hintergrund bewerten manche Analysten die neuesten Meinungsumfragen von Lewada als eine etwas andere WM-Bilanz: Die antiwestlichen Stimmungen in der Gesellschaft haben nämlich rapide abgenommen, auch die Zustimmungswerte für den Präsidenten sowie für die Regierung sanken deutlich. 
    Während das Sinken der Zustimmungswerte für den Präsidenten auch der unpopulären Rentenreform geschuldet sein könne, so sei die dem Westen gegenüber freundlichere Stimmung größtenteils auf die WM zurückzuführen, so die Erklärung. Seit Jahren kritisieren Analysten, dass staatlich-gelenkte Medien von russophoben Ausländern berichten, die die Festung Russland belagern und danach trachten, das Land in die Knie zu zwingen. Die WM, mit ihren fröhlichen und freundlichen Fans, habe dieses Bild ins Wanken gebracht.

    Alles nur eine Momentaufnahme? Dreht sich die Stimmung nach den neuesten US-Sanktionen wieder zurück? Möglich, meint Lilija Schewzowa, eine der renommiertesten Politologinnen Russlands. In einem Meinungsstück auf Rosbalt ahnt sie dennoch ein Scheitern des System Putin.

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

    Das Lewada-Zentrum hat nachgewiesen, dass die tragende Säule des Systems in Russland wegsackt: Die Russen wollen nicht länger in einer belagerten Festung leben und gegen den Westen kämpfen. 68 Prozent sprechen sich heute für eine Annäherung an den Westen aus. Dadurch werden Putins Beliebtheitswerte stärker abfallen und die Proteststimmung wird entsprechend zunehmen. Beliebtheitswerte kann man pimpen und Proteste kann man neutralisieren, wenn das Volk bereit ist, ins Kriegslager zurückzukehren. Aber was, wenn die Mehrheit dort nicht hinwill? Wenn die Menschen des militaristischen Geheuls müde sind? Allem nach zu urteilen ist den russischen Bürgern sehr bewusst, dass die Konfrontation Russlands mit dem Westen ein Ablenkungsmanöver ist: von innenpolitischen Problemen und von der Unfähigkeit der Regierenden, diese zu lösen.

     


    Mehr dazu in der Infografik: Wie beliebt ist Putin? / Quelle: Lewada-Zentrum

    Die Autokratie verliert ihre Legitimation und die Regierung der Räuberelite wird in die Brüche gehen, da sie alles Liberale zu einer Gefahr für die Staatlichkeit Russlands gemacht hat, gegen das unbedingt Widerstand geleistet werden müsse.

    Es ist doch wirklich frappierend: Die russischen Bürger sprechen von einer Normalisierung der Beziehungen zum Westen, und das trotz der westlichen Sanktionen! Das heißt, diese Sanktionen binden das Volk nicht an den Kreml, wie das viele erwartet haben.

    Das, was wir derzeit beobachten, zerstört die übliche Logik: Der Amerikanische Kongress prüft ein neues Paket mit höllischen Sanktionen gegen Russland. Und die Einstellung russischer Bürger gegenüber den USA beginnt, wie Lewada sagt,  sich zu verbessern: Wenn im Mai 2018 noch 69 Prozent eine negative Haltung gegenüber den USA hatten („gut“ antworteten damals 20 Prozent), so ist die positive Haltung im Juli auf 42 Prozent gestiegen, die negative ist auf 40 Prozent gesunken. 
    Das heißt: Den russischen Bürgern ist klar, dass die Sanktionen nicht gegen sie gerichtet sich, sondern gegen die sie korrumpierende politische Klasse. Oder etwa nicht?

     


    Mehr dazu in der Infografik: Russlands Verhältnis zu den USA / Quelle: Lewada-Zentrum

    Die Zahlen von Lewada beschreiben das Versagen des Kreml gleich an mehreren Fronten:

    Erstens ist es ein Eingeständnis, dass die russische Außenpolititk versagt hat, die Russland vor der Welt zu einem Aussätzigen gemacht hat. Bestätigt wird das durch die abgefallenen Ratings früher sehr beliebter Minister wie Lawrow und Schoigu, auf deren Kappe der aggressiv-militaristische Kurs Russlands geht („Wenn sie uns nicht lieben und anerkennen, sollen sie wenigstens Angst vor uns haben!”). 
    Die russische Außenpolititk schafft kein Wohlergehen, sondern ist zu einer schweren Bürde geworden, die aus dem klammen Haushalt Geld für Kriege und außenpolitische Abenteuer abzieht. Das wird den Menschen langsam klar.

    Zweitens sehen wir ein ohrenbetäubendes Zusammenkrachen der Kreml-Propaganda, die schon seit Jahrzehnten dem Volk gegenüber den Westen einen Feind nennt. Kurz, im Kreml gibt es Anlass zu großer Beunruhigung. Und was, wenn eine positive Haltung der russischen Bürger dem Westen gegenüber plötzlich zu Sympathien für, Gott bewahre, liberale Werte führt?

    Das Schlimmste ist hier, das unser System nicht imstande ist, sich umzugestalten. Es kann sich nicht verabschieden vom Überleben als einziger Idee, also von der Suche nach einem äußeren Feind, der dann innere Feinde schafft. Andere Ideen hat die Autokratie nicht hervorgebracht. Und das bedeutet, dass die Jungs dort Wege suchen werden, um die Bevölkerung zurückzuführen in eine aggressive und feindliche Gesinnung gegenüber der liberalen Welt – der für die Machthaber tödlichen Alternative.

    All dies muss schnell geschehen, damit sich für die wachsende Unzufriedenheit der russischen Bürger kein anderes Objekt findet – Sie wissen schon, welches… Also wird die Regierung neue mythische „Bedrohungen” erschaffen, neue Anlässe suchen, um Hörner zu zeigen und der Welt mit einer Schreckensfratze Angst einzujagen. Sie wird neue Wege finden, sie wieder um den Kreml zu scharen. Es sei an die Putinworte erinnert: „Kommt lasst uns sterben hier bei Moskau, wie unsre Brüder einst gestorben sind! Zu sterben haben wir gelobt, den Treueeid gehalten in der Schlacht bei Borodino.” Ja, die werden wirklich warten, dass wir für sie sterben! Und die Wahrscheinlichkeit oder sogar Zwangsläufigkeit, dass sie der Gesellschaft eine neue Bedrohung bescheren werden, die macht Angst, wenn wir uns an die vormaligen, in der russischen Geschichte nicht weit zurückliegenden Momente der Mobilisierung erinnern ….

    Der Versuch der Regierung, Russland wieder zur antiwestlichen Zone zu machen, wird eine neue Herausforderung für das Volk, ein Test, wie vernunftgelenkt es ist und wie fähig, politischen Lug und Trug zu erkennen. Wir wollen das Volk nicht unterschätzen.

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  • Video #21: Boykott der „Liberasten“

    Video #21: Boykott der „Liberasten“

    Am 9. September findet in Russland der sogenannte einheitliche Wahltag statt: Unter anderem sollen 26 Gouverneure neu gewählt werden. Während des Wahlkampfes in der Oblast Samara ist nun eine sogenannte „soziale Werbung“ aufgetaucht. Ebenso anonym wie ein Wahlwerbespot zur Präsidentschaftswahl 2018, sorgt auch diese Werbung derzeit für Aufruhr. 

    Dabei wirbt der Spot gar nicht für einen Kandidaten, offenbar soll er Menschen einfach dazu animieren, überhaupt zur Wahl zu gehen. Die Mittel dazu sind hier ähnlich wie bei dem berüchtigten Wahlwerbespot zur Präsidentschaftswahl – die Macher bedienen sich erneut homophober Ressentiments und reproduzieren gängige Klischees über Liberale („Liberasten“).

    Die Frage, wer dahinter steckt, wird auch bei diesem Video vermutlich nie beantwortet. Viele munkeln, dass die Polittechnologen des derzeitigen technokratischen Interims-Gouverneurs Dimitri Asarow die eigentlichen Auftraggeber seien, Beweise für diese These bleiben allerdings aus. 


    Das Originalvideo finden Sie hier.


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  • Russische Journalisten in Afrika getötet

    Russische Journalisten in Afrika getötet

    Unbekannte Angreifer haben in der Nacht auf Dienstag in der Zentralafrikanischen Republik drei russische Staatsbürger getötet: den Dokumentarfilmer Alexander Rastorgujew, den Kriegsreporter Orchan Dshemal und den Kameramann Kirill Radtschenko

    Die Journalisten waren seit dem 28. Juli in dem Bürgerkriegsland unterwegs. Für das Online-Medium ZUR des Oligarchen Michail Chodorkowski arbeiteten sie an einem Film über die russische Söldner-Einheit Wagner. Das Militärunternehmen wird dem Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoshin zugeschrieben. In der Vergangenheit geriet es immer wieder in die Schlagzeilen wegen mutmaßlicher Beteiligung an den Kriegen in der Ostukraine und in Syrien.

    Rastorgujew, Dshemal und Radtschenko wollten nach Angaben des Journalisten Rodion Tschepel Hinweisen auf Russen in Militäruniform nachgehen, die angeblich in der Zentralafrikanischen Republik immer wieder gesichtet wurden. Bereits im Juni hatte die Novaya Gazeta über russische Staatsbürger in der Zentralafrikanischen Republik berichtet, die dort als Militärausbilder sowie möglicherweise auch als Leibwache des Präsidenten tätig sind. 

    Der Angriff soll sich nahe der Stadt Sibut ereignet haben, wie der dortige Bürgermeister der Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Näheres über die Täter ist bislang nicht bekannt. Laut einer Studie des Forschungsinstituts IPIS vom Dezember 2017 sind bewaffnete Wegelagerer auf den Straßen der Zentralafrikanischen Republik keine Seltenheit. Die politische Lage in dem Land, das zu den ärmsten der Welt zählt, ist äußerst instabil. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges 2013 sind tausende Menschen ums Leben gekommen.

    Die Novaya Gazeta und Meduza veröffentlichten Nachrufe von Journalisten an ihre verstorbenen Kollegen. 

    Kirill Radtschenko, Alexander Rastorgujew und Orchan Dshemal – die Journalisten und Filmemacher wurden in der Zentralafrikanischen Republik getötet / Fotos © anna-news-info über Facebook
    Kirill Radtschenko, Alexander Rastorgujew und Orchan Dshemal – die Journalisten und Filmemacher wurden in der Zentralafrikanischen Republik getötet / Fotos © anna-news-info über Facebook

    Orchan Dshemal

    [bilingbox]Maxim Schewtschenko: Er kannte keine Angst. Konnte sich einfach nicht fürchten. Er ging immer auf Gefahren zu – selbst wenn das zuweilen ziemlich unvernünftig war. In Donezk lief er vor meinen Augen mitten im Feuer, er ging aufrecht und schwang seinen Stock – seit einer Verletzung hinkte er. Rundum gingen Minen hoch, alle lagen, aber er stand aufrecht, ohne sich zu verstecken.
    Ich wusste, dass er in die Zentralafrikanische Republik wollte. Er wollte mit anderen Journalisten, die dort arbeiten, etwas zu TschWK Wagner machen. Ich wollte ihm das ausreden: „Wozu? Hier ist genug zu tun, ein Haufen Arbeit liegt hier.“
    Er wollte mit einer knackigen, unglaublichen Reportage in den großen Journalismus zurückkehren, aus dem er nach einer schweren Verletzung in Libyen verschwunden war.
    Und so ist er dorthin gefahren, denn rationale Erwägungen, Worte wie „das ist gefährlich“ haben ihn nie von etwas abgehalten. Denn wo es gefährlich war, da war Orchan.
    Orchan war in der letzten Zeit der beste Journalist in unserem Land. Er war während des Krieges in Südossetien. Mit dem Fotoapparat in der Hand lief er in den Reihen der angreifenden Soldaten mitten im Feuer. Hat darüber ein wunderbares Buch geschrieben. Er war im Donbass und an weiteren Orten.
    Orchan ist den Tod eines echten Kriegsreporters gestorben. Er war der mutigste Mensch, den ich im Leben kannte. Er war ein wunderbarer Mensch.~~~Максим Шевченко: Это был человек, который не знал страха. Он просто не умел бояться. Он шел всегда навстречу любой угрозе — даже порой несколько безрассудно. На моих глазах в Донецке он ходил под огнем в полный рост, так, размахивая палочкой — он хромал после ранения. Вокруг рвались мины, все лежали, а он стоял в полный рост, даже не прятался.

    Я знал, что он собирается в Центральноафриканскую республику. Он собирался делать материал о «ЧВК Вагнера» вместе с другими журналистами, которые там работают. Я его отговаривал от этого: «Зачем? Тут полно дел, полно работы здесь».
    Он вообще хотел вернуться с каким-то ярким, невероятным репортажем в большую журналистику, из которой он выпал после тяжелого ливийского ранения.
    И он поехал туда, поскольку его никогда не останавливали рациональные рассуждения, слова «это опасно». Потому что там, где было опасно, там был Орхан.
    Орхан был лучший журналист последнего времени в нашей стране. Он был во время войны в Южной Осетии. С фотоаппаратом в руках шел с цепями атакующих десантников — под огнем. Написал об этом прекрасную книгу. Он был на Донбассе, он был в других разных местах.
    Орхан умер смертью настоящего военного журналиста. Орхан был храбрейший из людей, кого я знал вообще в жизни. Это был прекрасный человек.[/bilingbox]

    [bilingbox]Nadeshda Keworkowa: Er war der große Sohn eines großen Vaters. Er war Muslim, der bei allem, was er tat, Muslim blieb.
    Seine gesamte journalistische Arbeit war der Gerechtigkeit gewidmet. Er war immer da, wo es brannte. Ein unglaublich, übermenschlich mutiger Mensch.
    Er war der beste Journalist der muslimischen Gemeinschaft, und bei dem Sturm, den wir alle gerade spüren, ist das ein großer Verlust. Ein unersetzlicher Verlust.~~~Надежда Кеворкова: Великий сын великого отца. Это был мусульманин, который оставался мусульманином, что бы он ни делал.
    Вся его журналистская работа была посвящена справедливости. Он был, конечно, на острие. Человек невероятной, нечеловеческой храбрости <…>
    Это был самый лучший журналист мусульманского сообщества, и по тому шквалу, который мы все ощущаем, это большая утрата. Я бы даже сказала невосполнимая.[/bilingbox]


    Alexander Rastorgujew

    [bilingbox]Andrej Loschak: Letztes Jahr haben wir an ähnlichen Geschichten gearbeitet. Ich habe einen Film über die ehrenamtlichen Helfer von Alexej Nawalny gedreht, war in allen Landesteilen, in denen es Regionalbüros gibt. Und Sascha hat fürs deutsche Fernsehen einen Film über die russischen Wahlen gedreht, zu dessen Protagonisten auch Nawalny gehörte. Wir sind uns in dieser Zeit oft begegnet.
    Ich war immer davon fasziniert, wie professionell er arbeitet. Dabei muss man sagen, dass ich auch ziemlich neidisch war, wir haben ja dasselbe gemacht und waren Konkurrenten. 
    Ich habe viel von ihm gelernt. Mut, und Freiheit … Ich habe mich beim Fernsehen immer an ein bestimmtes Genre gehalten, er aber hatte keine Genres – er war ein freier Mensch und ein mutiger. Auch sein Tod macht das deutlich.

    Ich war in  einer ähnlichen Situation: Ich sollte auch in die Zentralafrikanische Republik reisen, um einen Beitrag für den Aurora-Preis zur Förderung der Menschlichkeit zu drehen. In der Zentralafrikanischen Republik gab es einen Geistlichen, der Menschen rettete während des Bürgerkriegs, der dort schon jahrelang andauert. 
    Wir sollten dorthin, hatten schon Logistik und Sicherheit durchgeplant und sogar einen Geleitschutz der UN-Blauhelme arrangiert. Aber im letzten Moment haben die Organisatoren unsere Leben gerettet, indem sie uns rieten, nicht in diesen Teufelskessel zu fahren und irgendwas aus den Archiven zu nehmen.

    Tja, und Sascha ist gefahren.~~~Андрей Лошак: В последний год мы работали над похожей историей. Я делал фильм про волонтеров Алексея Навального, ездил по всем регионам, где были штабы. А Саша снимал фильм для немецкого телевидения про российские выборы, и одним из главных героев в нем был Навальный. Мы пересекались часто.
    Я всегда заворожено смотрел на то, как профессионально он работает. Но при этом, надо сказать, сильно ревновал, потому что мы делали одно и то же и, конечно же, друг с другом соревновались, конкурировали.
    Я у него учился многому. Смелости какой-то, свободе… Я работал на телевидении в рамках определенного жанра, а у него этих жанров не было — он был свободный человек и смелый. И смерть его это подтверждает.

    У меня была подобная ситуация: я тоже должен был поехать в ЦАР на съемку ролика для гуманитарной премии «Аврора». В ЦАР был священник, спасавший людей во время гражданской войны, которая там не прекращается уже много лет. И мы должны были туда ехать, прорабатывали логистику и безопасность, даже договорились, что у нас будет конвой ООН. Но в последний момент организаторы спасли нам жизнь, сказав собрать что-нибудь на архивах и посоветовав не лезть в это пекло.

    А вот Саша полез.[/bilingbox]

    [bilingbox]Vitali Manski (Meduza): Während ich mit Ihnen rede, läuft gerade der Fernsehsender Doshd, mit Newsticker, dass Orchan Dshemal, Alexander Rastorgujew und Kirill Radtschenko ums Leben gekommen sind.

    Alle drei Tode sind eine riesige Tragödie. Doch die Gesellschaft erkennt das Niveau und die Größe von Rastorgujews Persönlichkeit nicht an. Denn er hat mit der Sprache des Dokumentarfilms Kunstwerke geschaffen. Zu der Zeit, als es noch keine Filme gab, haben so etwas die großen russischen Schriftsteller wie Tolstoi und Gogol getan: Sie haben das russische Dasein beschrieben – mit all seiner Größe und seinem Dreck, seiner Sauberkeit und einer Art Dürftigkeit, der Breite und der Enge, im riesigen Ausmaß der russischen Widersprüchlichkeit.
    Rastorgujew war ein begnadeter Künstler. Zumindest soll sein Tod, zum Teufel damit, die Menschen wachrütteln und dazu bringen, seine Epen anzusehen.
    Er hat sich reingefressen ins Leben und festgebissen, ist in sein Nervenzentrum vorgedrungen – und hat dort geatmet. Nur dort konnte er existieren – das ist eine einzigartige, einmalige Eigenschaft. ~~~Виталий Манский (Meduza): Сейчас я с вами разговариваю, у меня перед глазами «Дождь», и идет такая строка, что Орхан Джемаль, Александр Расторгуев и Кирилл Радченко погибли. Все три смерти — это огромная трагедия. Но общество не осознает уровень и масштаб личности Александра Расторгуева. Потому что он языком документального кино создавал такие художественные произведения, которые когда-то, когда еще не было кинематографа, делались великими русскими писателями — Толстым, Гоголем, — описывавшими русское бытие, со всем его величием и грязью, чистотой и какой-то скудостью, широтой и узостью, во всем огромном диапазоне российского противоречия.
    Расторгуев был выдающийся художник. Хотя бы смерть, черт возьми, должна людей встряхнуть и заставить посмотреть эти его эпосы. 

    Он въедался, вгрызался в жизнь, залезал в ее подкорку — и там он дышал. Он мог существовать только в этом пространстве — это совершенно уникальное, неповторимое свойство.

    [/bilingbox]

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Zitat #4: „Prozess der Deputinisierung“

    Zitat #4: „Prozess der Deputinisierung“

    Gegen die Rentenreform protestierten am Wochenende russlandweit mehrere zehntausend Menschen. Aufgerufen dazu haben sowohl oppositionelle als auch systemoppositionelle Kräfte wie die Kommunistische Partei der Russischen Föderation. Diese hatte am 19. Juli bei der ersten Lesung in der Duma gegen die Rentenreform gestimmt, genauso wie die LDPR und Gerechtes Russland. Abgeordnete der Regierungspartei Einiges Russland konnten die Systemopposition jedoch überstimmen. 

    In der Gesellschaft ist die Rentenreform sehr unpopulär. Auch Wladimir Putin distanzierte sich nach der Abstimmung von den Plänen. Er machte deutlich, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen sei. 
    Laut Beobachtern sind die Proteste im ersten Reformentwurf mit einkalkuliert: Die Regierung sei zu Zugeständnissen bereit, um den Protest schrittweise zu neutralisieren. 

    Für die Politologin Tatjana Stanowaja bedeutet dies, dass der Kreml die Regierungspartei bloßstellt, die in den letzten Wochen für die Reform eingetreten ist. Aber auch für Putin selbst könnte das Ganze Folgen haben: 

    [bilingbox]Der einzige Legitimitätsquell des derzeitigen Regimes ist Wladimir Putin.

    Doch jetzt gerade wird er zum ersten Mal gleichzeitig zum Quell der Delegitimierung: Der Regierungspartei, den föderalen und gesetzgebenden Parlamenten und den regionalen Eliten gegenüber ist das Verhalten beim Durchdrücken der Rentenreform, mit der Putin offiziell angeblich nichts zu tun hat, inkorrekt. Das ist ein höchst risikoreiches Spiel, und es hat das Potenzial, dem System als Ganzem einen heftigen Schlag zu versetzen.

    Bestimmt kann man wieder etwas zurechtrücken (den Gesetzesentwurf abmildern) (und das wird im Herbst auch geschehen). Viel schwieriger wird jedoch sein, der Gesellschaft zu erklären, dass das Putin-Regime weiterbesteht, trotz dieser merkwürdigen Verabschiedung einer nichtputinschen Entscheidung (des Gesetzentwurfs in erster Lesung).

    „Wo ist der Präsident?“ Diese Frage ertönt immer öfter in den Korridoren und führt zu einer Gegenfrage: „Kann denn ein Regime, in dem eine kritische, sehr bedeutende Reform ohne den Präsidenten gestartet wird, putinsch genannt werden?“

    Sollte der Prozess der Deputinisierung weitergehen, so wird es nicht mehr Putin sein, der zum Jahr 2024 den Machttransfer vorbereitet, sondern das System wird den Putin-Transfer übernehmen.~~~Единственный источник легитимности нынешнего режима – Владимир Путин. Но сейчас впервые он становится одновременно и источником делегитимации – неаккуратное отношение к партии власти, федеральному и законодательным парламентам, региональным элитам при продавливании пенсионной реформы, к которой Путин публично якобы не имеет никакого отношения, крайне рискованная игра, способная нанести удар по системе в целом. Отыграть назад (смягчить законопроект), безусловно, можно (и это будет сделано осенью). Однако гораздо сложнее будет убедить общество, что путинский режим продолжает существовать, несмотря на странное принятие непутинского решения (законопроекта в первом чтении). «Где президент?» – вопрос, который все чаще звучит в кулуарах, формулируя встречный: «Может ли режим, в котором критично значимая реформа стартует без президента, называться путинским?» Если тенденция депутинизации режима продолжится, то уже не Путин будет заниматься подготовкой транзита власти к 2024 г., а система займется транзитом Путина.[/bilingbox]


    In ganzer Länge erschien der Artikel am 29.07.2018 unter dem Titel Tschem pensionnaja Reforma opasna dlja Putina (dt. „Weswegen die Rentenreform gefährlich für Putin ist). Das russische Original lesen Sie hier.

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  • Foltervideo: Einmaliger Störfall?

    Foltervideo: Einmaliger Störfall?

    Ein Gefangener, der von mehreren Wärtern grausam gequält wird: Sie schlagen ihn, als er das Bewusstsein verliert, kippen sie ihm Wasser ins Gesicht. Dann geht die Folter weiter.

    Das Video aus der Jaroslawler Haftkolonie IK-1, das die Novaya Gazeta vergangene Woche veröffentlicht hatte, löste bei vielen Entsetzen aus. Der Film ist von 2017, er zeigt den Häftling Jewgeni Makarow. Im selben Jaroslawler Gefängnis befanden sich auch zwei nach den Bolotnaja-Protesten Verurteilte. Sie hatten ebenfalls Foltervorwürfe erhoben.

    Am Montag nach der Veröffentlichung waren bereits sechs Wärter verhaftet und 17 Mitarbeiter der Haftkolonie vom Dienst suspendiert worden. Unterdessen berichtet die Rechtsanwältin Irina Birjukowa, die der Novaya Gazeta die Aufzeichnung übergeben hatte, im Exilmedium Meduza von Morddrohungen. Sie hat Russland inzwischen verlassen. 

    Auf Republic kommentiert Oleg Kaschin den Fall – und die Frage, ob nun alles besser wird im russischen Strafvollzug.

    Das Video aus der Haftkolonie IK-1 in Jaroslawl ist ein Markstein der landesweiten Bürgerrechtsbewegung, ein technischer Durchbruch, der ganz von allein zum historischen Wendepunkt wird. Mit mündlichen und schriftlichen Zeugnissen über Gefängnisterror haben alle gelernt umzugehen, und das schon vor ziemlich langer Zeit. Der Föderale Dienst für Strafvollzug FSIN, die Staatsanwaltschaft, staatliche Menschenrechtsbeauftragte – alle haben Gewohnheiten und Reflexe entwickelt, haben feste Rollen inne. Und wenn von jener Seite der Gefängnismauer der soundsovielte schockierende Brief eintrifft, haben alle eine ungefähre Vorstellung davon, wem gegenüber sie sagen „Ach, wie schrecklich, was für eine Alptraum“ und wem gegenüber „Wir werden eine Überprüfung veranlassen“.
    Die lautesten öffentlichen Beschwerden an den FSIN sind die Briefe von Nadeshda Tolokonnikowa und Ildar Dadin – und die haben, ehrlich gesagt, nur die Menschen beeindruckt, die es auch schon vorher waren. Doch die, die sich nicht beeindrucken lassen wollten, konnten einfach sagen, dass sich hier politische Aktivisten beschweren, die sich mutwillig fragwürdig benommen hätten und jetzt wahrscheinlich irgendwie übertreiben und herumeiern. 

    Eine prinzipiell neue Situation

    Diese Industrie des Laberns und medialen Verwässerns der schockierendsten Berichte, von denen in anderen Ländern jeder für sich genommen mindestens zu einer Regierungskrise führen würde – diese Industrie ist in Russland unwahrscheinlich hoch entwickelt.

    Die Folter von Jaroslawl jedoch lässt diese Gewohnheiten zerbrechen und schafft eine prinzipiell neue Situation.

    Statt schriftlicher oder mündlicher Zeugnisse von Gefangenen, Anwälten oder Bürgerrechtlern findet sich hier ein ausführliches Video, das nicht nur einfach Entsetzen und Grauen hervorruft, sondern auf dem man die Namen und Gesichter der Folterer erkennen kann. Man kann sie sogar in Sozialen Medien finden und feststellen, dass vor unseren Augen ganz normale russische Durchschnittsbürger mit Schulterstücken zu sehen sind, die genau das gleiche Leben führen wie Millionen andere – mit Familien, Ferien, Angelspaß, blöden Witzen, Glückwünschen; in einer mit allen Wassern gewaschenen Gesellschaft kann Schock-Realismus auch nur genau so funktionieren: Wenn das Verbrechen auf Video in guter Qualität aufgenommen und festgehalten wird.

    Tolokonnikowa und Dadin haben über das Gefängnisgrauen geschrieben – und wenn schon nicht nur für Gleichgesinnte, so doch für Menschen, die in demselben Informationsraum wie sie existieren, grob gesagt dort, wo Nawalnys Blog schwerer wiegt und überzeugender ist als die Fernsehsendung Wremja.
    Die Videoaufzeichnung funktioniert anders, sie teilt das Publikum nicht, sie ist an alle gerichtet und spricht eine Sprache, die alle verstehen.

    Die Videoaufzeichnung spricht eine Sprache, die alle verstehen

    Ein solches Video lässt sich nicht mehr mit einem „Wir werden eine Überprüfung veranlassen“ abtun, und die Kommunikationsabteilung schreibt nichts von wegen „Die Fakten sind bisher nicht bestätigt“ – denn alle haben diese Fakten gesehen, was gibt’s da also zu deuteln.

    Doch zu sagen, das Video von Jaroslawl teile das gesellschaftliche Leben in ein Vorher und Nachher, oder es versetze dem System zumindest auf dem Gebiet des Strafvollzugs einen vernichtenden Schlag, oder der Skandal von Jaroslawl bilde den Anfang eines großen Stoffes von historischem Ausmaß, und der werde zu etwas Wichtigem und Schicksalträchtigen führen – jede derartige Prognose klänge gutmenschenhaft und naiv.

    Jaroslawl – ein Einzelfall?

    Das Video aus Jaroslawl verschiebt den Erzählstrang eines „So eindeutig ist das alles nicht“ weg vom eigentlichen Fakt des Verbrechens, den man nicht bestreiten kann, hin zu der Frage: Wie exemplarisch ist dieses Video? Dies kann man aber mit einem Video allein weder beweisen noch widerlegen. Siebzehn Sadisten in einer beliebig herausgepickten Anstalt – diese Nachricht ist für das System zwar nicht besonders gut, aber insgesamt doch verdaulich.
    Ein lokaler Auswuchs, ein einmaliger Störfall, ein Exzess. Ein Strafverfahren ist eingeleitet, die Menschen aus dem Video wurden wohl schon von ihren Posten entfernt, und irgendjemand wurde wohl schon verhaftet. Der Skandal von Jaroslawl hat ein kleines Schlaglicht auf ein riesiges dunkles Feld geworfen. Und alles auf dem restlichen – nicht beleuchteten – Teil des Feldes, das wird nun der Diskussionsgegenstand sein zum Thema „So eindeutig ist das alles nicht“.

    Die selektive Rechtsanwendung ist für das russische System zwar nicht die Grundlage, aber zumindest das wichtigste und wesentlichste Prinzip. Sie erlaubt dem System, Gesetze nur zu eigenem Nutzen anzuwenden und dabei unangreifbar zu bleiben.

    Jewgeni Makarow, der auf dem Video gefoltert wird, widerfährt nun durch die Strafe für seine Peiniger Gerechtigkeit. Das ist für russische Verhältnisse eine sehr gute Nachricht. Doch Gerechtigkeit, die wie ein Sechser im Lotto daherkommt, wird niemals zu einer guten Nachricht für alle. Das Video aus der Jaroslawler Haftkolonie IK-1 wird nur die Leben der Gefilmten in ein Vorher und ein Nachher einteilen. Sonst keine. 

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  • Live dabei

    Live dabei

    Nach dem sensationellen Sieg im Elfmeterschießen gegen Spanien erreichte die russische Nationalmannschaft das Viertelfinale der Fußball-WM 2018. Dieser Sieg war der größte Erfolg einer russischen Nationalelf in der modernen Fußballgeschichte und er weckte große Hoffnungen: „Die WM fängt jetzt erst an“, kommentierte der russische Nationaltrainer Stanislaw Tschertschesow das Ereignis.
    Am 7. Juli spielte die Nationalelf schließlich im Viertelfinale gegen Kroatien. Landesweit hingen die Fans vor dem Fernseher und verfolgten live das spektakuläre und hochdramatische Spiel, in dem Russland nach dem Elfmeterschießen (2:2; 3:4) aus der WM ausschied.

    Die Novaya Gazeta zeigt Fotos von Dokumentarfotografen aus zehn russischen Regionen, von Archangelsk über Irkutsk bis Wladiwostok. Auf Hochzeitsfeiern, in Wohnzimmern, Kneipen, Krankenhäusern schauten die Leute Fußball, „fieberten für ihre Mannschaft“ und waren trotz der Niederlage glücklich.

    Familie Maslow (Nikolaj ist Physiker, Anna Fotografin). Akademgorodok, Nowosibirsk. Foto: Anton Unizyn
    Gäste auf der Hochzeit der Familie Nowinskije im Restaurant Prag. Kotlas, Oblast Archangelsk. Foto: Anna Schuljatjewa
    Im Zug St. Petersburg ­­– Murmansk. Foto: Dimitri Markow
    Walentina Nikolajewna, Patientin im Ersten Moskauer Hospiz. Foto: Viktoria Odissonova
    Familie Pautow. Priwodino, Oblast Archangelsk. Foto: Aljona Trawkina
    Public Viewing auf dem Driftsportplatz, Irkutsk. Foto: Anton Klimow
    Irina Kulina mit Töchtern und Freunden, St. Petersburg. Irina arbeitet als Therapeutin in einer psychiatrischen Einrichtung. Foto: Oleg Ponomarev
    Der Künstler Oleksandr Petljura zu Gast in der Familie des Künstlers Lawrenti Bruni, Tarusa. Foto: Anna Artemeva
    Parkplatz vor dem Supermarkt, Wladiwostok. Foto: Iwan Beloserow
    Notaufnahme, Kotlas, Oblast Archangelsk. Foto: Anna Schuljatjewa
    Bewohner der Siedlung Jelowy in ihrem Hof, Oblast Irkutsk. Foto: Anton Klimow
    Die Brüder Kamilow, Seiltänzer aus Usbekistan, in ihrem Haus, Souranda, Oblast Leningrad. Foto: Jelena Lukjanowa
    Bar Leningrad. Magadan. Foto: Evgeny Serov
    Familie Tschernikow in ihrer Einzimmerwohnung, Jekaterinburg. Foto: Fyodor Telkov

    Erschienen am 13.07.2018
    Quelle: Novaya Gazeta
    dekoder-Redaktion

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  • Stört die Rente den WM-Frieden?

    Stört die Rente den WM-Frieden?

    Am Eröffnungstag der Fußball-WM in Russland wurde es verkündet: Die Regierung plant, das Rentenalter anzuheben. Für Frauen soll es bis 2034 schrittweise auf 63 Jahre steigen, für Männer bis 2028 auf 65 Jahre – bei einer derzeitigen Lebenserwartung von 67,5 Jahren für Männer. Seit 1932 gehen Frauen in Russland mit 55, Männer mit 60 Jahren in Rente. Sozialpolitische Maßnahmen hatte Putin bereits bei seiner Antrittsrede im Mai angekündigt. 

    Die geplante Reform findet im Volk nur wenig Anklang und stößt auch bei Gewerkschaften auf viel Unmut. Der Oppositionelle Alexej Nawalny hat für kommenden Sonntag, 1. Juli, Proteste in mehreren russischen Städten angekündigt – allerdings nicht in den WM-Austragungsorten, wo während der Fußball-Weltmeisterschaft ein Versammlungs- und Protestverbot gilt. Einzelne Oppositionsparteien, die liberale Jabloko-Partei und die linksradikale Lewy Front, kündeten trotz des Verbots für den 3. und 4. Juli Proteste auch in Moskau an.

    Oleg Kaschin kommentiert auf Republic, warum es allerdings sein kann, dass der wirkmächtigste Protest gegen die Rentenreform aus dem Machtzirkel selbst kommt.

    Was die Wortverbindung „menschlicher Faktor“ eigentlich bedeutet, das hat uns das Leben innerhalb weniger Tage auf verblüffende Weise neu vor Augen geführt. Klar, dieser Faktor muss stets beachtet werden: Hinter allen Maschinen, Lenkrädern, Computern, überall stehen und sitzen lebendige Menschen, die Menschen haben Nerven, die Nerven können versagen, der Mensch kann alles vermurksen. Darüber wurden Hunderte von Büchern geschrieben, das ist nichts Neues.

    Aber so anschaulich und klar wie diesmal, das ist doch sehr selten und sucht seinesgleichen. Da sitzen sie, in ihren Ministerien, in Instituten, im Kreml, und offenbar hat Kudrin kluge Köpfe um sich – Ökonomen, Finanzanalysten, Soziologen, PR-Leute. Sie sitzen, bereiten die Rentenreform vor, kalkulieren, was sich gehört, analysieren Risiken, zeichnen Tabellen und Grafiken. Alles durchdacht, alles fertig, kann losgehen.

    Der menschliche Faktor

    Und im entscheidenden Moment setzt er ein, der menschliche Faktor: Ein konkreter lebendiger Mensch, der 18 Jahre an seinem Image so sehr gefeilt hat, dass alle denken, von diesem Menschen würde im Land buchstäblich alles abhängen. Und der will plötzlich, dass diese offenkundig unpopuläre und sozial gefährliche Reform unter keinen Umständen mit ihm in Verbindung gebracht wird – mit Wladimir Putin.

    Beim Direkten Draht wurde eine sichtlich vorab vorbereitete Frage nach dem Rentenalter gestellt. Hier hätte Putin sagen können, ja, sie werden es erhöhen, doch stattdessen antwortete er: „Welche Maßnahmen die Regierung zur Lösung dieser Schlüsselaufgabe vorschlagen wird, das müssten wir in Kürze erfahren.“

    „Müssten wir erfahren“ – also auch er, Putin, weiß nicht, was sich die Regierung ausgedacht hat. Das ist seine offizielle Position: nichts zu wissen. Und eine Woche später, als Dimitri Medwedew das Reformprojekt verkündet, sagt Dimitri Peskow, Putin nehme nicht Teil an der Debatte über diese Reform, alle Fragen würden an die Regierung gehen. Das Prinzip „sie sind da nicht“ kann Putin offenbar auch auf sich selbst anwenden: Ich bin da nicht (obwohl alle wissen, dass er es ist). 

    Die Hauptnachricht ist nicht die Erhöhung des Rentenalters, sondern, dass Putin dafür keine Verantwortung übernimmt

    Insofern alle Macht auf Putin konzentriert ist, wird sein Unwille, mit der Rentenreform in Verbindung gebracht zu werden, zu deren wichtigster Eigenschaft. Das heißt wörtlich: Die Hauptnachricht ist nicht, dass das Rentenalter erhöht wird, sondern dass Putin keine Kraft gefunden hat, die Verantwortung dafür zu übernehmen.

    Eine anonyme, hinter dem Profilbild von Dimitri Medwedew versteckte Reform ist ein deutlich riskanteres Unterfangen, als wenn Putin beim Direkten Draht mit ruhiger Stimme gesagt hätte, ja, wir erhöhen das Alter, anders geht es nicht.

    Es gibt eine Palette von Argumenten für die Reform, die deren Befürworter verbreiten. (Ideal war in diesem Sinne ein Beitrag in der Sendung von Dimitri Kisseljow: „Ein munterer Schritt, ideale Körperhaltung. Und das mit 91 Jahren! Der dienstälteste Dozent des Stawropoler DOSAAF Dimitri Skorobogatsch eilt zum Unterricht.“) Diese hätten sogar überzeugend klingen können, wenn zu den Fragen nach Geld und Menschen nicht im letzten Moment noch die Frage nach Putin gekommen wäre, auf die es in keinem Methodik-Lehrbuch eine Antwort gibt.

    Die geleakte Info in Vedomosti, dass je nach möglichen Protesten die Reform abgemildert werden könnte, die gilt es durchaus ernstzunehmen. Dass in der seriösen Presse mit anonymen Quellen der Regierung gearbeitet wird, ist eine schon seit langem herrschende Praxis. Und wenn in Vedomosti von einem „der Präsidialadministration nahestehenden Gesprächspartner“ die Rede ist, dann ist der Name des Gesprächspartners sowohl dem Redakteur als auch dem Kreml bekannt, der nichts dagegen einzuwenden hat, dass dieser Gesprächspartner, ohne dass sein Name genannt wird, der Zeitung erzählt, was der Kreml denkt.

    Und das Leck darüber, dass „negative Reaktionen zu verringern“ seien, ist ein Zeichen von Unsicherheit des gesamten Machtapparates, denn so ist die Vertikale geschaffen: Wenn Putin diffus ist, dann verschwimmt und wackelt sowieso alles. Die Erwartung von massenweiser Unzufriedenheit kann man als Grund für dieses fehlende Selbstvertrauen erachten – oder auch als Folge. Denn schon jetzt hat insbesondere das Verhalten der Regierung die Reform als umstritten markiert (und nicht durch sie ausgelöste Massenproteste, die es ja noch gar nicht gab).

    Destabilisierung von oben

    Man kann es auch als Destabilisierung von oben bezeichnen, wenn die Regierung selbst den Anlass für die Proteste liefert. Aber die Frage ist – wer da wem was liefert. Öffentliche politische Kräfte, für die die Rentenreform ein Geschenk hätte darstellen können, gibt es im Land nicht. Eine soziale Protestkultur hat sich in Putins Russland schon vor längerer Zeit herausgebildet. Ihr zugrunde liegt folgender Konsens: Wenn man keine politischen Forderungen stellt, aber beharrlich bleibt, dann kann die Regierung in einen Dialog treten und Zugeständnisse machen.

    Dieses Prinzip ist mittlerweile mythologisiert und wird in der Praxis weiter gefestigt, im besten Fall in der Hälfte der laut gewordenen Themen. Doch wie auch immer, die Fernfahrer mit dem Platon-System, die Stadtsanierung, die Mülldeponien um Moskau in diesem Frühjahr, die ewigen Probleme betrogener Baukapitalgeber – nie kam es dazu, dass es den Moskauer Oppositionellen (solchen wie den ehemaligen Bolotnaja-Demonstranten)  gelungen wäre, sich in den sozialen Protest einzuklinken und sich an seine Spitze zu stellen. Wache geschoben wird bei den apolitischen sozialen Protesten vor allem von den Protestierenden selbst, die aufrichtig glauben, dass ein Bitten und Niederknien vor der Regierung effektiver ist als Politisierung und Zuspitzung.

    Bitten und Knien statt Politisieren

    Als eine Art Eichmaß dient bei der Geschichte fast schon seit anderthalb Jahrzehnten der damalige Versuch, staatliche Vergünstigungen durch Geldleistungen zu ersetzen. Als die Regierung, wie es heißt, nach einigen Monaten der Proteste, Zugeständnisse machte und die Reform soweit abmilderte, dass die Proteste aufhörten.

    An den Kundgebungen der Vergünstigungs-Befürworter nahm die Nicht-Systemopposition jener Zeit nicht teil. Dafür gab es in vielen Fällen Anlass für die Vermutung, dass lokale Machthaber den Protestierenden loyal oder zumindest neutral gegenüberstanden. Einen offenen Streit mit dem föderalen Zentrum konnten die Gouverneure damals schon nicht mehr führen. Kurz vor den geplanten Geldleistungen waren die Gouverneurswahlen abgeschafft worden. 
    Unter anderem die Unzufriedenheit im Volk war zu dieser Zeit eine neue Form des Feedbacks zwischen den Regionen und Moskau, und ein Druckmittel innerhalb der Machtvertikale. Und obwohl sich die Vertikale des Jahres 2018 selbstverständlich von der Vertikale 2005 unterscheidet, so hat auch jetzt jeder Gouverneur das Bedürfnis nach Verhandlungen mit dem Zentrum und nach Druck auf das Zentrum, selbst wenn er ein dem Kreml maximal treuer junger Technokrat der neuesten Generation ist.

    Für die Medwedew-Gegner auf föderaler Ebene eröffnen sich naheliegende Möglichkeiten – es wäre merkwürdig, wenn sie diese quasi laut verkündete Angreifbarkeit der Regierung nicht nutzen würden. Die Destabilisierung von oben, die durch die Unsicherheit Putins provoziert wurde, eröffnet vor allem Kampfmöglichkeiten innerhalb des Systems. Und alle realen Teilnehmer des zukünftigen öffentlichen Kampfes um die Rentenreform sitzen im Machtzirkel.

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  • Die sprechenden Grabsteine

    Die sprechenden Grabsteine

    Im August 2014 hat die Beerdigung mehrerer Soldaten in Pskow für mediales Aufsehen gesorgt: Die Lokalzeitung Pskowskaja Gubernija, die damals von dem dortigen oppositionellen Politiker Lew Schlossberg herausgegeben wurde, berichtete über das Begräbnis zweier Soldaten der Luftlandetruppen. Sie seien in der Ostukraine ums Leben gekommen. Die 76. Gardedivision der russischen Luftlandetruppen ist in Pskow stationiert, sie gilt als Eliteeinheit.

    Ein Major der Einheit, Vater eines Getöteten, behauptete damals, sein Sohn sei im Kampf bei Luhansk ums Leben gekommen. Auf Anfrage von Lew Schlossberg antwortete die Obermilitärstaatsanwaltschaft schlicht, die Soldaten seien außerhalb des Dienstortes, also außerhalb der Oblast Pskow, ums Leben gekommen. Im Weiteren sollen Verwandte der Getöteten laut unterschiedlichen Medienberichten eingeschüchtert worden sein, einzelne hätten bereits gemachte Aussagen wieder zurückgezogen. Lew Schlossberg wurde nur vier Tage nach der Veröffentlichung in Psowskaja Gubernija brutal zusammengeschlagen, erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. 

    Vier Jahre später hat Irina Tumakowa von der Novaya Gazeta die Gräber nun noch einmal besucht. Und nicht schlecht gestaunt.

    Als würde niemand mehr irgendwas verbergen / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta
    Als würde niemand mehr irgendwas verbergen / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

    Der Friedhof im Dorf Wybuty bei Pskow hat sich verändert. Im August 2014 war ich öfter dort. Damals fielen einem die frischen namenlosen Gräber ins Auge, als lägen sie jenseits der Friedhofsmauern (so werden Selbstmörder bestattet). Wortkarge Menschen in Camouflage und blauen Baretts nahmen auf Befehl des Kommandeurs die Schilder mit Namen und Daten von den Kreuzen und rissen die Schleifen von den Kränzen [die zum Teil mit Kondolenzbekundungen der Luftlandetruppen beschriftet waren – dek]. Damit niemand darauf kommt, dass sie unter diesen Sandhügeln heimlich ihre Regimentskameraden begraben. „Wir sind da nicht.“ Und Punkt.

    „In unserer Fallschirmjägerbrigade sind alle wohlauf und am Leben“, bestätigte der Kommandierende der Luftlandetruppen und heutige Duma-Abgeordnete General Wladimir Schamanow.

    Die Fallschirmjäger knirschten mit den Zähnen, tranken Wodka, aßen dazu Weißbrot und Tomaten, aber führten den Befehl aus – gruben, rissen die Schleifen ab und versteckten die „gesunden und munteren“ erschossenen Freunde.

    Soldaten, die im August/September 2014 gestorben sind, konnten posthume Militärehrungen erhalten und ihre Familien zumindest irgendwelche Entschädigungen / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta
    Soldaten, die im August/September 2014 gestorben sind, konnten posthume Militärehrungen erhalten und ihre Familien zumindest irgendwelche Entschädigungen / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

    „Wir waren alle fest davon überzeugt gewesen, dass die Fallschirmjäger auf dem großen Friedhof in Orlezy feierlich bestattet würden“, erinnert sich der Korrespondent der Pskowskaja Gubernija Alexej Semjonow. „Dort gibt es eine Allee der Fallschirmjäger, in der die Angehörigen der berühmten 6. Kompanie [die im Tschetschenienkrieg gekämpft hatte – dek] begraben wurden. Aber wir bekamen heraus, dass die Bestattung nicht dort stattfinden würde.“

    Als würde niemand mehr irgendwas verstecken

    Nun sind fast vier Jahre vergangen, und ich komme wieder auf den Friedhof in Wybuty.

    An Stelle der einstigen Sandhügel und namenlosen Kreuze stehen monumentale Stelen aus schwarzem Granit mit schwülstiger Gravur: Namen, Daten, Portraits in Lebensgröße, Gedichte, Fallschirmjägersymbolik. Als würde niemand mehr irgendwas verstecken.

    Das größte Denkmal steht auf dem Grab von Leonid Kitschatkin.

    Die Familie Kitschatkin hätte ein Symbol für den Wahnsinn werden können, den die Regierung vor vier Jahren um den Tod der Fallschirmjäger gestartet hat. Und den Alptraum, den ihre Familien durchleben mussten.
    Von der Beerdigung ihres Mannes schrieb Oxana Kitschatkina damals auf ihrer Social-Media-Profilseite. Sie nannte das Datum, den Ort und ihre Telefonnummer. Den Post machte sie am 23. August 2014. Und schon am nächsten Tag antwortete mir unter Oxanas Nummer eine laut lachende Frauenstimme: „Leonid Juritsch lebt, neben mir sitzt er und trinkt Kaffee. Zum Mittag gibt’s Buletten mit Kartoffelpüree. Wir feiern die Taufe unserer Tochter. Meine Seite wurde gehackt.“
    Ohne aufzuhören fröhlich zu lachen, gab „Oxana“ den Hörer freudig weiter an „ihren Mann“. Eine nicht mehr ganz nüchterne Männerstimme bestätigte, ja er sei Ljonja Kitschatkin, gesund und munter und am Leben …

    Zwei Tage später stand ich auf dem Friedhof in Wybuty, wo sie noch nicht geschafft hatten, die Schilder zu entfernen, und schaute auf das Todesdatum von Kitschatkin: der 20. August.

    Oxana Kitschatkina hat in den letzten vier Jahren ihre Telefonnummer nicht geändert. Nur antwortete mir jetzt eine völlig andere Stimme. Tief, leicht brüchig.

    „Rufen Sie mich bitte nicht mehr an, ich möchte nicht mehr darüber sprechen“, sagte Oxana langsam und legte auf.

    Rufen Sie mich bitte nicht mehr an, ich möchte nicht mehr darüber sprechen

    Sie hat vor vier Jahren nicht gelogen oder sich verstellt. Da haben ihr einfach Leute das Telefon abgenommen, damit statt der Witwe eine kreuzfidele Frau mit ihrem betrunkenen Mann den Anruf entgegennehmen konnte.

    Laut der Pskower Abteilung für Kriegsopfer wurde der Grabstein, der inzwischen auf dem Grab ihres Mannes steht, vom Verteidigungsministerium bezahlt. Erstattet werden den Familien ehemaliger Soldaten gewöhnlich nicht mehr als 32.000 Rubel [etwa 450 Euro – dek] , doch eine solche Riesenwand mit Gravuren von beiden Seiten kostet laut den Mitarbeitern des Bestattungsinstituts ungefähr 100.000 Rubel [etwa 1360 Euro – dek].

    Aber eines bestätigt die Beteiligung des Verteidigungsministeriums indirekt auf jeden Fall: Leonid Kitschatkin, gefallen im August 2014, ist von der Behörde als „einer von ihnen“ anerkannt. Denn Versorgungsgelder stehen nur Veteranen mit 20-jähriger Berufszugehörigkeit und Teilnehmern an Kampfhandlungen zu. Kitschatkin ist 1984 geboren. An welchen Kampfhandlungen er auf Befehl des Vaterlandes teilnehmen konnte, das kann man nur raten.

    Ein Himmel mit Fallschirmen

    Auch auf den Gräbern von Alexander Ossipow und Sergej Wolkow, die in Wybuty neben Leonid Kitschatkin begraben liegen, stehen keine namenlosen Kreuze mehr, sondern Grabsteine aus Granit. Mit Portraits, auf denen akkurat ihre Dienstabzeichen eingraviert sind.

    Auf den Gräbern stehen keine namenlose Kreuze mehr, sondern Grabsteine aus Granit / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta
    Auf den Gräbern stehen keine namenlose Kreuze mehr, sondern Grabsteine aus Granit / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

    Ossipows Todesdatum ist das gleiche wie Kitschatkins: der 20. August 2014. Er war 20 Jahre alt. Auf dem Porträt ist er ebenfalls in Fallschirmjäger-Uniform vor einem Himmel mit Fallschirmen. Auf einem Steinbrocken liegt das blaue Barett.

    An welchen Kampfhandlungen, wenn nicht im Donbass, hätte dieser Junge beteiligt sein können, sodass seine Familie eine Entschädigung vom Verteidigungsministerium erhielt?

    Sowohl in Wybuty als auch auf dem Krestowski-Friedhof sind inzwischen neue Soldatengräber aufgetaucht: Wsewolod Smirnow starb im Dezember 2016, er war 26 Jahre alt. Auf dem Foto ist er in Camouflage vor einem dunkelblauen Meer. Und was ist im Januar 2017 mit Wladimir Stezenko passiert? Es gibt vorerst nur ein Foto des Soldaten, in einer Klarsichthülle und mit blauen Reißzwecken an ein Holzkreuz gepinnt.

    Auf einem dritten Kreuz ist die Aufschrift zur Hälfte verblichen, auch wenn diese ganz frisch ist: „Grigorow Nikolaj Michailowitsch, 10.01.1985–06.03.2018“. Und wieder ein Foto des Fallschirmjägers, oben drauf wieder ein blaues Barett.

    Wo sind Pskower Fallschirmjäger im März diesen Jahres umgekommen?

    Wo sind Pskower Fallschirmjäger im März diesen Jahres umgekommen? Am Grab lehnen Kränze mit Wappen, Sternen und schwarzen Bändern. Auf einem steht: „Fähnrich Grigorow Nikolaj Michailowitsch, heldenhaft gestorben beim Flugzeugunglück vom 6. März 2018“. An diesem Tag stürzte der Frachter An-26 über der russischen Militärbasis in Hmeimim in Syrien ab. 39 Menschen kamen ums Leben.

    Doch im August 2015 gab es noch keine russischen Soldaten in Syrien. Jedenfalls offiziell nicht. Auf dem Grab von Roman Michailow [Todesdatum 15.08.2015 – dek] ist ein Gedicht eingraviert: „Du starbst für die Heimat, darum bist du ein Held. Wir lieben dich, gedenken deiner und sind stolz auf dich.“

    „Du starbst für die Heimat, darum bist du ein Held. Wir lieben dich, gedenken deiner und sind stolz auf dich.“ / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta
    „Du starbst für die Heimat, darum bist du ein Held. Wir lieben dich, gedenken deiner und sind stolz auf dich.“ / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

    Im Forum für Einberufene findet sich Michailow als Befehlshaber des zweiten Sturmlandungsbataillons der Luftlandetruppen. Er war 38 Jahre alt.

    Tod unter falschem Namen

    Leonid Kitschatkin, Sergej Wolkow, Alexander Ossipow, Wassili Gerassimtschuk und andere Soldaten, die im August/September 2014 gestorben sind, konnten posthume Militärehrungen erhalten und ihre Familien zumindest irgendwelche Entschädigungen vom Verteidigungsministerium. Aber über die, die danach im Donbass umgekommen sind, können wir gar nichts in Erfahrung bringen. Ihre Angehörigen erhalten selbst die „Beerdigungs“-Summe von 32.000 Rubel [etwa 450 Euro – dek] nicht.

    Ab Herbst 2014 änderte die Regierung ihre Taktik: Aus offiziellen Militärangehörigen wurden sogenannte DNR– und LNR-Streitkräfte und Kosakeneinheiten gebildet, die Noworossija verteidigten. Russland ist diesen Menschen und ihren Familien nichts schuldig, formal sind sie Freiwillige und unterstehen nicht dem Verteidigungsministerium.

    Der Jabloko-Abgeordnete Lew Schlossberg ist fast der Einzige in dieser militärpatriotischen Stadt, der versucht, für die Rechte der Familien von Verstorbenen einzutreten. „Die Verträge mit militärischem Personal wurden auf unterschiedliche Weise, entweder bei Ablauf ihrer Laufzeit oder vorfristig ausgesetzt“, erzählt Lew Schlossberg. „Das war alles gesetzeskonform. Aber im Weiteren überschritten die Militärs gleichzeitig die Landes-  und die Gesetzesgrenzen und begannen, sich an Kampfhandlungen außerhalb der Russischen Föderation zu beteiligen. Das heißt, sie verübten Verbrechen, das nach dem Strafrechtsparagraphen zum Söldnerdienst geahndet wird.“

    Um mehr Sicherheit und Geheimhaltung zu erreichen, mussten die Identitäten dieser Soldaten geschreddert werden.

    Identitäten geschreddert

    „Verträge wurden unter Pseudonymen geschlossen, die Namen dieser Menschen waren fiktiv“, erklärt Schlossberg. „Der einzige materielle Beweis der Identität des Menschen war seine Erkennungsmarke. Der echte Name des Menschen, der mit der Erkennungsmarke verbunden ist – das ist Verschlusssache, die sich in den Händen der wirklichen Truppenführung befindet. Das heißt, dieser Mensch hat eine Erkennungsmarke und zwei Namen: einen echten und einen fiktiven.“

    Unter den fiktiven Namen ließen sich diese Menschen in Militärkrankenhäusern behandeln, sowohl in Sankt Petersburg als auch in Rostow am Don. Wenn sich jemand plötzlich für die Verzeichnisse von den Militärangehörigen interessierte, die in Behandlung waren in konkreten Militärkrankenhäusern, dann findet er dort keine Namen von echten Bürgern der Russischen Föderation. Er findet dort das Geburtsdatum und die Art der Verletzung, die man nicht verheimlichen kann. Der Mensch selbst ist in diesem Verzeichnis aber ein Phantom.



    Unbekannte greifen Journalisten von TV Doshd und anderen Medien an, als diese im August 2014 versucht hatten, über die Soldatengräber in Wybuty bei Pskow zu berichten

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