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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Video #29: Kisseljow rappt Majakowski

    Video #29: Kisseljow rappt Majakowski

    Konzertverbote für Rapper – und nicht nur: Wochenlang haben russische Behörden Konzerte von Rappern und anderen Musikern abgesagt und verboten. Meduza hat eine Überblicksliste abgesagter Konzerte erstellt. Im Staatssender Rossija-1 griff Dimitri Kisseljow das Thema Anfang Dezember auf – und trat für die Rapper und für den Rap als „alternative Musikkultur“ ein. Er sagte: „Ein Vorreiter des Rap in unserer russischen Lyriktradition ist natürlich Wladimir Majakowski“, und gab selbst auch gleich ein paar Majakowski-Bars zum Besten (siehe Video unten).
    Kurz zuvor war der Rapper Husky wegen einer Rap-Performance auf einem Autodach zunächst zu zwölf Tagen Haft verurteilt, dann aber vorzeitig wieder aus der Haft entlassen worden. Während Beobachter über die staatsnahe Unterstützung für die Rapper rätselten, kommentierte Huskys Manager in der russischen BBC

    „Für mich ist das [Eintreten Kisseljows für Husky] so zu werten, dass zunächst von oben die Gegenrichtung vorgegeben wurde, dass jetzt konkret über Husky nur Gutes gesagt werden darf – und alle staatlichen Fernsehsender haben dann nur noch Gutes gesagt. Die Krönung des Ganzen war der Beitrag von Kisseljow. Schon klar, warum das so läuft, wir wissen alle ganz genau, wie Content in Staatssendern gemacht wird und wer der Auftraggeber ist.“

    Kurz darauf wurde in Woronesh ein Auftritt des Experimental-Duos IC3PEAK nach wenigen Minuten abgebrochen. Am selben Tag hatte die Duma einige Rapper zum Runden Tisch eingeladen. Dort hieß es unter anderem, sie hätten „die Werte eines würdigen, wertvollen und gesunden Lebens zu pflegen, das dem Land und der Gesellschaft diene“. Der bekannte Rapper Shigan verließ schließlich den Saal und sagte: „Das bringt nichts.“ 
    Dabei gab es beim Parteitag der Regierungspartei Einiges Russland von höchster Ebene Unterstützung für die Musiker. Sergej Kirijenko, Vizechef des Präsidialamtes, kritisierte die Behörden: „Wenn es mit Konzertverboten endet, ist das eine Dummheit.“ 

    Das Original-Video finden Sie hier.


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    Wladimir Medinski

    Video #6: Poklonskaja: Ein deutscher Pornodarsteller als russischer Zar?

    Debattenschau № 54: Nurejew

    Debattenschau № 57: Regisseur Kirill Serebrennikow unter Hausarrest 

    Angstfreiheit als Kunst

    erschienen am 14.12.2018

    Dieses Video wird gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Kirill Serebrennikow

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    Loveless – die verlassene Gesellschaft

    Leviathan gegen Leviathan

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  • Video #28: Kein Kant in Kaliningrad

    Video #28: Kein Kant in Kaliningrad

    Im Oktober 2018 ist von der russischen Gesellschaftskammer der landesweite Wettbewerb Große Namen Russlands organisiert worden. 45 wichtige Flughäfen Russlands sollten nach bedeutenden historischen Persönlichkeiten benannt werden. Zur Abstimmung, bei der praktisch jeder teilnehmen konnte, wurden Persönlichkeiten vorgeschlagen, die jeweils mit einer Stadt oder Region verbunden und für diese von großer Bedeutung sind. Wie das Ganze ausging, hat Meduza hier zusammengefasst.

    In vielen Städten kam es zu heftigen Debatten, zwei davon – Omsk und Kaliningrad – sorgten für Schlagzeilen. In Omsk machten Aktivisten eine breite Kampagne für den in der Stadt geborenen und 2008 verstorbenen Jegor Letow, Frontmann der Punk-Rockband Grashdanskaja Oborona. Die Initiative kommentierte sogar der Kulturminister Wladimir Medinski, der die Aktivisten als „marginales Publikum“ bezeichnete. Trotz seiner führenden Position in vorläufigen Umfragen hat es Letow jedoch letztlich nicht mal auf die Shortlist geschafft – was zu Protestaktionen in Moskau und Omsk führte.

    In Kaliningrad (bis 1946 Königsberg) konkurrierten die Zarin Jelisaweta Petrowna (1709–1762), der Philosoph Immanuel Kant, der Marschall Wassiljewski (1895–1977) und der General Tschernjachowski (1907–1945) miteinander. Kant lag zunächst an der Spitze, aber etwas ist schiefgelaufen. Der Duma-Abgeordnete Marat Barijew sagte, selbst die Anwesenheit dieses deutschen Namens auf der Shortlist beleidige die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges. Kurz danach wurden Kants Denkmal, sein Grab und die Gedenktafel in Kaliningrad mit Farbe übergossen. Gestern wurde das Ergebnis der Abstimmung mitgeteilt: Der Kaliningrader Flughafen heißt nun nach der Zarin Jelisaweta Petrowna, der Tochter von Peter dem Großen.          

    Kurz vor Ende der Abstimmung ist im Runet ein Video aufgetaucht, in dem der Stabschef der Ostseeflotte, Igor Muchametschin, vor angetretener Truppe seine Einschätzung über das Werk Immanuel Kants abgibt: 

    Das Originalvideo finden Sie hier.


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    erschienen am 05.12.2018
     

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  • Droht ein Winterkrieg?

    Droht ein Winterkrieg?

    Schon lange schwelt der Konflikt im Asowschen Meer, am vergangenen Sonntag ist die Lage eskaliert: Russische Grenzboote haben ukrainische Marineschiffe gerammt und beschossen. 
    Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, die Ukraine wirft Russland Aggression vor, Russland beschuldigt die Ukraine der Provokation. Kiew hat unterdessen ein 30-tägiges Kriegsrecht verhängt.

    Der renommierte russische Militärexperte Pawel Felgengauer jedenfalls hält in seinem Kommentar in der Novaya Gazeta die Begründung Moskaus, die ukrainischen Schiffe hätten nicht die benötigte Genehmigung gehabt, für vorgeschoben. Denn dann hätte man sie beispielsweise einfach nach Odessa zurückschicken können. 

    Felgengauer wirft deshalb eine Reihe weiterer Fragen auf – und vermutet andere Hintergründe.

    Warum wählt die ukrainische Militärflotte solche Routen? Die Ukrainer bauen in Berdjansk einen Marinestützpunkt, zu dessen Schutz sie in Mykolajiw gebaute Schiffe überführen.
    In Moskau fürchtet man ernsthaft, dass nach Berdjansk – sollte der dortige Ausbau zu einer Militärbasis gelingen – NATO-Schiffe auf Freundschaftsbesuch kommen könnten, die in der Flachwasserzone des Asowschen Küstenbereichs einsetzbar und mit Lenkwaffen großer Reichweite ausgestattet sind, geschützt durch moderne Raketen- und Luftabwehrsysteme.



    Militärische Strukturen im Kaukasus, auf der Krim, dem Schwarzen Meer und am Bosporus sind mit Stützpunkten in Syrien und einem Marineverband im Mittelmeer derzeit in einer höchst wichtigen strategischen Süd-West-Ausrichtung konzentriert. Dies soll vor allem den verlässlichen Schutz Sotschis großräumig gewährleisten – das zweite und häufig auch das erste politische Zentrum von Land und Militär. Und ausgerechnet da ist der vermeintliche Gegner nun auf die Idee gekommen, einen Keil in die Grundfesten dieser ganzen Strategie zu treiben und einen Stützpunkt in Berdjansk zu errichten.

    Die Ukraine hat als Reaktion auf die Ereignisse in mehreren Regionen für 30 Tage das Kriegsrecht eingeführt. Präsident Petro Poroschenko bezieht sich dabei nicht nur auf den Vorfall von Kertsch, sondern vor allem auf geheimdienstliche Erkenntnisse, wonach ein Angriff der russischen (prorussischen) Kräfte an der südlichen Flanke der Donezker Front möglich ist. Dessen Ziel sei es, Mariupol und Berdjansk einzunehmen.

    Seit Sommer 2015 gab es im NATO-Hauptquartier und im Pentagon recht viele Diskussionen über einen solchen Vorstoß, um einen sogenannten „Landkorridor zur Krim“ durchzubrechen. Nach Eröffnung der Krim-Brücke schien dieser Korridor nicht mehr aktuell zu sein, aber nun ist plötzlich unklar, ob entweder der Marinestützpunkt in Berdjansk Moskau so sehr in Schrecken versetzt hat, oder ob an der Krim-Brücke ernsthafte Probleme aufgetaucht sind, die man vorerst geheim hält, oder ob vielleicht das eine wie das andere zutrifft.

    Es ist nicht auszuschließen, dass in naher Zukunft ein Winterfeldzug beginnen könnte, um die Ukraine endgültig von der Asowschen Küste zu verdrängen.

    Das Ziel einer solchen Operation könnte sich auf den Küstenabschnitt bis Berdjansk beschränken. Oder bis Melitopol, Henitschesk und Tschonhar ausdehnen, falls der „Landkorridor zur Krim“ tatsächlich benötigt wird. In jedem Fall müssten, wenn denn – Gott bewahre! – eine solche Entscheidung überhaupt getroffen würde, massenhaft reguläre russische Truppen herangezogen werden. Insbesondere, wenn man wie 2014/2015 vorgibt, dass da Donezker Aufständische selbst angreifen und es daher keine aktive Luftunterstützung gibt.

    Natürlich würde der Westen protestieren und weitere Sanktionen verhängen, aber das würde [in Russland – dek] vor allem den wirtschaftsliberalen Block des gegenwärtigen Regimes erzürnen, die sogenannte „Friedenspartei“. Ein weiterer Misserfolg für diese wäre ein zusätzlicher Bonus für ihre Gegner aus der sogenannten „Kriegspartei“. Auch würden die westlichen Staatsoberhäupter kein vernichtendes Totalembargo auf russisches Gas und Öl verhängen. Erst recht nicht im Winter, wo man auch zu Sowjetzeiten aus den gleichen Gründen kein solches Embargo verhängt hat – den Preisschock und einen wirtschaftlichen Abschwung vor den Wahlen kann niemand im Westen gebrauchen.

    Die Ukrainer müssten sich da alleine verteidigen oder darauf hoffen, dass sich der Generalstab des ukrainischen Militärs geirrt hat, oder dass Moskau es sich anders überlegt und es keinen Winterkrieg geben wird. Oder im Extremfall darauf hoffen, dass nachdem [russische – dek] Truppen die wichtigsten Aufgaben erledigt haben werden (wie nach Debalzewe 2015) westliche Mittelsmänner dabei helfen, eine weitere Waffenruhe zu vereinbaren, eine Art drittes Minsker Abkommen

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  • The New Times: Crowd vs. Willkür

    The New Times: Crowd vs. Willkür

    „Ihr habt sie doch nicht mehr alle“ – das war das Signal, so meint der russische Journalist Alexander Pljuschtschew, das die Bürger an die Staatsmacht senden wollten, als sie bei einem Blitz-Crowdfunding mehrere Millionen Rubel für The New Times sammelten.

    Dem kremlkritischen Onlinemagazin war Ende Oktober eine Strafe in Höhe von 22,25 Millionen Rubel (rund 290.000 Euro) auferlegt worden – die höchste Strafe, die je gegen ein russisches Medium verhängt wurde. Begründet wurde die Entscheidung mit nicht vorschriftsgemäßer Deklaration von ausländischen Einkünften. Chefredakteurin Yevgenia Albats bezeichnete den Fall als ohnehin verjährt und sieht eine politische Motivation. Die Zeitung kündigte Berufung an.

    Dank des Crowdfundings muss The New Times nun keine Schließung befürchten. Pawel Aptekar kommentiert die Soli-Aktion auf Vedomosti.
     

    Die erfolgreiche und rasante Spendenaktion, die gestartet wurde, damit das Magazin The New Times die auferlegte Geldstrafe bezahlen kann, zeigt eine enorme Solidarität der Bürger. Für die ist der Kampf gegen staatliche Ungerechtigkeit offensichtlich wichtiger als politische oder persönliche Divergenzen mit den Opfern der Staatsmacht.

    Die Unterstützung von bestimmten Menschen oder Organisationen ist im heutigen Russland für viele Bürger eine Art freiwillige Steuerzahlung, ihr persönlicher Beitrag im Kampf gegen bürokratische Willkür. 

    Eine freiwillige Steuerzahlung

    Das Onlinemagazin The New Times hat innerhalb von nur vier Tagen 26,8 Millionen Rubel [rund 350.000 Euro – dek] an Spenden gesammelt. Das ist eine erheblich höhere Summe als die geforderte Strafe von 22,25 Millionen Rubel [rund 290.000 Euro – dek].
    Die Spendensumme ist ein Rekord, sowohl was die Höhe als auch die Zeit betrifft, innerhalb der sie gesammelt wurde – die Entscheidung des Gerichts ist noch nicht einmal rechtskräftig (die Berufungsprüfung ist für den 20. November angesetzt). 

    Der Unternehmer und Mäzen Boris Simin, Sohn des Gründers des Fonds Dinastija Dimitri Simin, nannte das gesammelte Geld ein „Lösegeld für einen Banditen, der einem das Messer noch gar nicht an die Gurgel hält“.

    20.000 Groß- und Kleinspender, die sich nicht scheuten, ihre Namen zu nennen – das sind mehr als alle Abonnenten des Magazins. Der Wunsch, dass das Oppositionsmedium seine Arbeit weitermachen  kann, trifft sich dabei mit dem Bestreben, die Staatsmacht zu ärgern: Die Erzürnten haben buchstäblich mit dem Rubel abgestimmt. 

    Mit dem Rubel abgestimmt

    Der Erfolg der Kampagne kann natürlich umschlagen in neue hohe Geldstrafen für Aktivisten, oppositionelle Medien und Non-Profit-Organisationen. Aber allein die Tatsache des Erfolgs eines solchen politischen Crowdfundings, nach all den Charity-Aktionen, lässt hoffen. Denn die Geschichte des Magazins, das – bildlich gesprochen – Geld für eine dringende OP benötigt, ist wichtig, aber nicht einzigartig. Die Organisation Transparency International Russia hat kürzlich innerhalb von acht Tagen eine Million Rubel gesammelt – eine Summe, die die Organisation nach einem Gerichtsentscheid aufbringen musste, als Entschädigungszahlung an den Rektor der Bergbauuniversität Wladimir Litwinenko. 
    Doch es gelingt nicht nur bei dringenden Zahlungsforderungen, Geld zu sammeln, sondern auch für die alltägliche Arbeit von Organisationen – unter anderem für den Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny, die Gefangenenorganisation Rus Sidjaschtschaja (dt. „Einsitzende Rus“) und für Mediazona.

    Die Spender stehen nicht immer voll hinter denen, denen sie helfen, aber der Wunsch nach Gerechtigkeit und Solidarität mit denen, die vom Staat verfolgt werden, ist stärker als die unterschiedlichen Ansichten. 
     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Raketensammler im hohen Norden

    Raketensammler im hohen Norden

    Polja Padenija (dt. „Absturzfelder“) ist eine Geschichte über die Bewohner des Mesen-Flussbeckens. Seit den 1960er Jahren dienen die dortigen Wälder als Deponie für unterschiedliche Raketenstufen. Die stürzen nach jedem Start vom Kosmodrom in Plessezk unweit der umliegenden Dörfer in die Wälder. 
    Die Waldgebiete, die das Militär für das Kosmodrom nutzt, galten als dünnbesiedelt. Doch für die Einheimischen waren diese Wälder Teil ihres Jagdreviers, des Fischfangs und einfach ein persönlicher, vertrauter Ort. 
    Das ist eine Geschichte darüber, wie sich die Dorfbewohner in den 1990er Jahren an die neuen Gegebenheiten angepasst und ein Gewerbe aufgebaut haben: Grundlage dafür war das Metall des Raketen-Schrotts.

    Das Fotoprojekt auf Colta nutzt Bilder aus Privatarchiven aus der Oblast Archangelsk und der Republik Komi.

    Bis zum Zerfall der Sowjetunion beschränkte sich die Bekanntschaft der örtlichen Bewohner mit der Weltraumtechnik darauf, dass Jäger zufällig auf herabgefallene Raketenstufen stießen. Das Militär räumte das Metall nicht aus dem Wald ab, aber die Anwesenheit des Staates hinderte die örtlichen Bewohner daran, einfach selbst darüber zu verfügen. / Fotos © Makar Tereschin

     

    Ein wirkliches Interesse am Weltraumschrott zeigte sich erst nach dem Zerfall der Sowjetunion.

     

    Seit den 1960er Jahren, als das Kosmodrom Plessezk in Betrieb genommen wurde, türmten sich in jeder der Absturzzonen mehrere Dutzend und manchmal Hunderte von Raketenteilen.

     

    Die Raketenteile, die jahrzehntelang als Schrott in den umliegenden Wäldern und Sümpfen gelandet waren, entpuppten sich als gute Einnahmequelle.

     

    Viele Dörfer, die in der Nähe der Absturzgebiete liegen, sind weit entfernt von den nächsten regionalen Zentren. Teilweise sind diese Dörfer nur per Flugzeug oder eigenem Boot zu erreichen.

     

    Seit Mitte der 1990er Jahre verfielen in der Gegend viele Kolchosen. Die Dorfbewohner, die arbeitslos wurden, blieben sich selbst überlassen.

     

    Die Dorfbewohner aus der Nähe der Absturzgebiete organisierten sich in Gruppen, um das Altmetall zu sammeln. So verdienten sie Geld, was auf andere Art und Weise viel schwerer gewesen wäre.

     

    Der Großteil der Jugend zog in die Städte, wo es mehr Chancen gab, Geld zu verdienen. Die Dörfer entvölkerten sich zusehends.

     

    Gleichzeitig kam es in den Städten zu einem Handelsboom. In Archangelsk und Syktywkar öffneten Altmetallannahmestellen, die das Interesse am Raketenschrott merklich steigen ließen.

     

    Wer nicht wegziehen wollte, dem ermöglichte das Schrottsammeln einen Zuverdienst zum ständig zu spät ausgezahlten Lohn. Die Eifrigsten verdienten damit so viel Geld, dass sie damit die Familie ernähren konnten.

     

    Ein paar Arbeitsplätze blieben in den Kolchosen an der Küste des Weißen Meeres bestehen, wo heute noch Fischereiboote aus Sowjetzeiten im Einsatz sind.

     

    Diejenigen Dorfbewohner, die weit weg vom Meer und Zufahrtswegen leben, sind in Krisenzeiten zur Selbstversorgung übergegangen. Die Fischerei und die Jagd sind hierbei grundlegend für die Lebensmittelversorgung.

     

    Mit dem Schrottsammeln haben als erstes die erfahrenen Jäger angefangen, die die umliegenden Wälder gut kennen. Sie haben Teile der Raketenstufen herausgetrennt und daraus Schlitten gebaut.

     

    Im Winter wurde der gefundene Raketenschrott in einzelne Stücke gesägt. Es gab kein geeignetes Werkzeug dafür, deshalb musste jeder sein eigenes erfinden – das gängigste war die Säge Freundschaft.

     

    Die zugeschnittenen Metallteile brachten sie im Frühjahr aus dem Wald, als der Schnee fester war.

     

    Der Sommer dagegen war der landwirtschaftlichen Arbeit gewidmet, der Jagd, dem Fischfang und der Suche nach Raketenschrott.

     

    Wenn man in den 1990er Jahren in einigen Gegenden über den Sumpf blickte, konnte man in Sichtweite dutzende Raketen ausmachen.

     

    Jede gefundene Raketenstufe enthält einige Tonnen Aluminium, Titan, Kupfer und einen bedeutenden Anteil an Silber und Gold.

     

    Die Raketenteile wurden nicht immer komplett verschrottet. Einige Teile fanden ihre Verwendung im Alltagsleben. Brennstoffleitungen wurden für die Samogon-Apparatur verwendet, innere Konstruktionselemente wurden zu Dachrinnen auf den Häusern der Dörfer. Und ein Bootsbauer hat aus Metallteilen – die noch übrig waren von Schiffen, die er zunächst daraus gebaut hatte – den Zaun seines Hauses und seines eigenen Grabs geschmiedet.

     

    Irgendwann hat dieses Gewerbe einen solchen Umsatz gebracht, dass man in fast jedem beliebigen Dorf unweit des Absturzgebietes Schrotthaufen sah, die man aus dem Wald getragen hatte.

     

    Die örtlichen Bootsbauer haben gelernt, aus dem oberen Teil der Raketenstufen längliche Flachboote herzustellen, gut geeignet für den flachen Fluss. Die aus solchem Metall gefertigten Boote bekamen den Namen „Rakete“.

     

    Da die „Raketen” so bequem und langlebig sind, werden sie von vielen Bewohnern der umliegenden Dörfer genutzt. Die Herstellung eines solches Bootes bringt viel Geld. Ein Exemplar kostet 120.000 Rubel (derzeit ca. 1600 Euro – dek): 80.000 zahlt der Kunde fürs Metall, und 40.000 gehen an den Handwerker.

     

    In den 2000ern begannen die Bewohner dagegen zu protestieren, dass die umliegenden Wälder als Schrotthalden genutzt werden. Hauptgrund war Hepytl, giftiger Treibstoff einer Reihe von Raketenträgern. Damit verbunden ist nicht nur die Verunreinigung des Bodens, sondern auch ein erhöhtes Krebsrisiko.
    Heute hat das Militär das Absturzgebiet verlegt und die Raketen stürzen deutlich weiter nördlich ab. Es gibt nur noch wenige komplette Raketenstufen im Wald, sie zu finden ist viel schwieriger und der Transport wesentlich arbeitsintensiver. 
    Das Gewerbe ist praktisch auf Null gesunken. Nur die vielen „Raketen” in den Flüssen der Gegend erinnern noch daran.

    Text und Fotos: Makar Tereschin/Colta.ru
    Übersetzung: dekoder-Team
    Veröffentlicht am 01.11.2018

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  • Video #25: Dimitri Kisseljow über Ethik im Journalismus

    Video #25: Dimitri Kisseljow über Ethik im Journalismus

    Dimitri Kisseljow, Moderator und Leiter der staatlichen Fernsehagentur Rossija Sewodnja gilt seinen Kritikern als Scharfmacher und „Kreml-Chefpropagandist“. In den 1990er Jahren war er jedoch ein Liberaler und galt als Sprachrohr der Post-Perestroika-Bewegung. In einem Lehrfilm, den unter anderem die BBC und Internews produzierten, spricht er 1999 über Ethik im Journalismus – und was passiert, wenn diese fehlt. Letzteres klingt heute fast prophetisch …

    Den Link zum Originalvideo finden Sie hier.


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    erschienen am 16.10.2018

    Dieses Video wird gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Im Dorf des Skripal-Verdächtigen

    Im Dorf des Skripal-Verdächtigen

    Ruslan Boschirow, Tatverdächtiger im Fall Skripal, soll ein Agent des Geheimdienst GRU sein und mit bürgerlichem Namen Anatoli Wladimirowitsch Tschepiga heißen. Das ergaben Recherchen von Bellingcat und The Insider. Demnach ist Tschepiga ein hoher GRU-Offizier und sogar als „Held der Russländischen Föderation“ ausgezeichnet worden. Er soll am 5. April 1979 in Nikolajewka, in der Oblast Amur im Fernen Osten Russlands geboren sein, die Militärhochschule in Blagoweschtschensk besucht und in Chabarowsk in einer der Elitebrigade einer GRU-Sondereinheit gedient haben. Den Decknamen Ruslan Boschirow hat er demnach bei seiner Versetzung nach Moskau erhalten, 2014 soll er möglicherweise auch in der Ukraine eingesetzt gewesen sein.

    Die russische Regierung beharrt trotz der neuesten Recherchen darauf, dass es sich bei Ruslan Boschirow um einen zivilen Touristen handle, der Salisbury rein privat besucht habe.

    Kommersant dagegen nahm diese Untersuchungen zum Anlass, im Dorf Berjosowka, wo die Familie Tschepiga lange lebte, nach Bekannten der Familie zu suchen. Die Dorfbewohner baten darum, anonym zu bleiben, auch aus Angst vor Problemen mit dem FSB. Kommersant veröffentlichte den Text bislang nur online, nicht in der Printausgabe.

    V. l. n. r. - Anatoli Tschepiga (russische Passdatenbank 2003), Ruslan Boschirow (russische Passdatenbank 2012) und Ruslan Boschirow (Fahndungsfoto der britischen Polizei 2018) / Quelle: The Insider/Bellingcat
    V. l. n. r. – Anatoli Tschepiga (russische Passdatenbank 2003), Ruslan Boschirow (russische Passdatenbank 2012) und Ruslan Boschirow (Fahndungsfoto der britischen Polizei 2018) / Quelle: The Insider/Bellingcat

    „Das ist er, Tolja!“, bekräftigt eine Gesprächspartnerin, die zu Schulzeiten engen Kontakt mit Herrn Tschepiga hatte. „Das ist er hundertprozentig. Die fast schwarzen Haare und die Stimme sind seine“, bestätigt sie Kommersant. „Im Jahr 1996 hat er in Berjosowka die Schule abgeschlossen und ist dann an die Militärhochschule DWOKU gegangen. Ein sehr kluger, guter Junge, scharfsinnig, wortgewandt, war ein guter Schüler. Über ihn können alle nur Positives berichten. Hat nicht getrunken, nicht geraucht, war nie in irgendwelche schlechten Kreise geraten. Ich erinnere mich genau, dass er Anfang April Geburtstag hat. Seine Schwester Galja war etwas älter.“ Die Gesprächspartnerin des Kommersant gibt an, dass sie Anatoli Tschepiga in allen veröffentlichten Materialien wiedererkennt.

    Anatoli Tschepigas Vater, Wladimir Maximowitsch, war in den 1990ern Direktor der Baufirma Iwanowskaja in Berjosowka, danach arbeitete er für die Armee. Nach Angaben von kartoteka.ru war Wladimir Maximowitsch Tschepiga Mitbegründer der Baufirma Iwanowskaja in der Oblast Amur mit einem Anteil von 5,61 Prozent (sein Anteil am Stammkapital: 3.300 Rubel). Tschepigas Mutter arbeitete als Buchhalterin in einem der Unternehmen.  

    An die Familie Tschepiga erinnert man sich gut im Dorf, obwohl sie vor einigen Jahren nach Blagoweschtschensk gezogen ist. Anatoli Tschepiga wurde nach Abschluss der Militärhochschule neuen Standortеn zugewiesen. Den Dorfbewohnern zufolge ist er verheiratet und hat zwei Kinder. Vor nicht allzu langer Zeit wurde im Dorf die Neuigkeit diskutiert, seine Familie habe angeblich eine Vierzimmerwohnung in Moskau bekommen.

    „Wir wussten, dass er in geheimer Mission an Brennpunkten eingesetzt ist. Seine Mutter weinte: Selbst die Familie war nicht darüber informiert, wo genau er sich befindet“, erzählt eine Einwohnerin aus Berjosowka. „Seine Frau wohnte in Chabarowsk, wartete. Ich hab ihn das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen, als er seine Verwandten besuchte.“

    „Er war schon fast kahl, nicht so wie auf dem Foto, er hatte einen offenen Blick, aber der auf dem Foto sieht finster drein. Obwohl, die Augen sind auch braun“, sagt sie.

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  • Zitat #6: Protest macht Gouverneure

    Zitat #6: Protest macht Gouverneure

    Bewegung unter den russischen Gouverneuren: Bei den Gouverneurswahlen am Einheitlichen Wahltag Anfang September konnte in mehreren russischen Föderationssubjekten kein Kandidat eine absolute Mehrheit erzielen, weshalb dort Stichwahlen angesetzt wurden. Am Sonntag fanden diese im Chabarowski Krai sowie in der Oblast Wladimir statt. In beiden Fällen gewannen überraschend die Kandidaten der LDPR und nicht die Amtsinhaber der Regierungspartei Einiges Russland, die traditionsgemäß die überwältigende Mehrheit aller Gouverneure in Russland stellt.

    Bereits in der vergangenen Woche entschied im Primorski Krai der Kandidat der systemoppositionellen KPRF die Mehrzahl der Wahlbezirke für sich – die Ergebnisse wurden jedoch später wegen massiver Wahlmanipulationen zugunsten des Gegenkandidaten von Einiges Russland annulliert.

    Was ist da los? Woher kommen die plötzlichen Erfolge von LDPR und KPRF? dekoder hat drei Statements von kremlkritischen Politologen und Journalisten übersetzt.

    Ekaterina Schulmann (Echo Moskwy): Nicht aus Liebe 

    Politologin Ekaterina Schulmann hat bereits im Wahlergebnis des Primorski Krai vor allem einen Ausdruck des Protests gesehen, wie sie im Interview auf Echo Moskwy äußerte: 

    [bilingbox]Die heutigen Wähler stimmen für den Kandidaten aus der Opposition nicht aus Liebe zu dem Kandidaten aus der Opposition. Sie wissen oft nicht einmal, wie er heißt, wer das überhaupt ist. Sie wollen gegen die Amtsinhaber, gegen die herrschende Regierung stimmen. Es ist genau, was der von mir bereits zitierte Alexander Kynew folgendermaßen nannte: „Wähl einen Teufel mit Glatze, aber ja nicht den Kandidaten von Einiges Russland.“~~~Нынешний избиратель не голосует за оппозиционного кандидата из любви к этому оппозиционному кандидату. Он вообще не знает часто, как его зовут, кто он такой. Он хочет голосовать против инкумбента, против действующей власти. Это вот ровно то, что уже цитировавшийся мной Александр Кынев, называет «за черта лысого, только бы не а «Единую Россию».[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2018

    Kirill Rogow (Facebook): Das wird ein grausamer Kampf

    Der Politologe und Journalist Kirill Rogow spricht auf Facebook gar von einer „Anti-Kreml-Rallye“ und wittert nach den Ergebnissen aus der Oblast Wladimir neue Machtkämpfe im Kreml selbst:

    [bilingbox]Eine solch vernichtende Niederlage hätte ich, wie wohl alle, nicht erwartet. Beeindruckend ist Folgendes: Sobald die Menschen im ersten Wahlgang gesehen haben, dass es möglich ist, sind sie in den kleinen Spalt, der da entstanden war, hineingesprungen, um zu sagen, was sie wirklich denken. Gute Nacht und träumt schön.
    Das Spannendste liegt noch vor uns: Wenn es an die schonungslose Aufarbeitung des Themas innerhalb der Kremlmauern geht. Das wird ein grausamer Kampf mit unerwarteten Opfern. ~~~В принципе, такого разгрома я, конечно, как и все, не ожидал. Впечатляет вот это: как только люди увидели в первом туре, что это можно, они просто рванули в образовавшуюся расщелину, чтобы сказать, что они на самом деле думают.
    Спокойной ночи и хороших снов.
    Главная интрига впереди – это суровая разборка внутри кремлевских. Борьба будет жесткой и с неожиданными жертвами.[/bilingbox]

    erschienen am 24.09.2018

    Alexander Morosow (Facebook): Kluge Vorschläge der Polittechnologen

    Der kremlkritische Journalist Alexander Morosow lenkt in einem Kommentar auf Facebook sein Augenmerk darauf, was sich nun insgesamt in der politischen Landschaft Russlands ändern könnte:

    [bilingbox]Als Ergebnis der Gouverneurswahlen […] gab es von Seiten der Experten, die für Kirijenko arbeiten, bislang zwei äußerst kluge Vorschläge: Matweitschew schlug vor, dass die Gouverneure wieder ohne jegliche Demokratiespielchen direkt ernannt werden sollen; Gleb Kusnezow sprach sich für eine harte Bestrafung der drei im Parlament vertretenen Parteien aus, die als Juniorpartner von Einiges Russland auftreten – aufgrund unwürdigen Verhaltens und Erpressung.
    Gewiss, betrachtet man die Tränen der Pamfilowa, dann ist es schwierig, etwas noch Klügeres zu fordern als die Zerschlagung von KPRF-LDPR-SR und das Einstellen des idiotischen Zensus-Systems zur Vergabe von Vollmachten für die Statthalter in der Provinz.~~~по итогам губернаторских выборов, – омраченных вторыми турами (т.е. де-факто "невыполненными договоренностями") со стороны экспертов, работающих на Кириенко, пока поступили два разумных предложения: от Матвейчева – вернуться к практике прямого назначения губернаторов без всякой "игры в демократию", от Глеба Кузнецова – жестоко наказать три парламентские партии, выступающие "младшими партнерами" ЕР, за недостойное поведение и шантаж.
    Действительно, глядя на "слезы Памфиловой" трудно предложить, что-то более разумное, чем устроить разгром КПРФ-ЛДПР-СР и перестать дурачиться со сложной цензовой системой выдачи "ярлыков" наместникам в провинции.[/bilingbox]

    Vorläufiges Ergebnis der Stichwahl vom 23.9. in der Oblast Wladimir im Vergleich zum ersten Wahlgang am 9.9.

     


    Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbildmodus wechseln. Viele der Wahlbezirke, die im ersten Wahlgang noch an die Amtsinhaberin und Kandidatin von Einiges Russland Swetlana Orlowa (blau) gegangen sind, konnte der LDPR-Kandidat Wladimir Sipjagin (gelb) in der Stichwahl für sich entscheiden. Quelle: ZIK

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Bystro #4: 6 Fragen an die Verdächtigen im Fall Skripal

    Bystro #4: 6 Fragen an die Verdächtigen im Fall Skripal

    Sind die beiden Verdächtigen im Fall Skripal nur Touristen, die die „englische Gotik genießen“ wollten? Nachdem britische Ermittler Fotos und Namen veröffentlicht hatten, haben Ruslan Boschirow und Alexander Petrow der Chefredakteurin des russischen Auslandssenders RT, Margarita Simonjan, ein Interview gegeben. 
    Ihre Version der Geschichte: Petrow und Boschirow seien ihre richtigen Namen (die britischen Ermittler hatten dies angezweifelt), sie seien keine Geheimdienstmitarbeiter, sondern als Touristen in London gewesen. Nach Salisbury seien sie gefahren, um die „berühmte Kathedrale“ dort zu besichtigen. Wegen des extrem schlechten Wetters seien sie aber zunächst wieder nach London zurückgekehrt, um am nächsten Tag wiederum nach Salisbury zu fahren. 

    Nach dem Interview wurde vielerorts im russischen Internet gemutmaßt, ob es sich bei den beiden um ein schwules Pärchen handele. Der von Simonjan selbst ins Spiel gebrachte Verdacht um die sexuelle Orientierung der beiden wurde mitunter als geschickter Schachzug gewertet, da nach traditioneller Auffassung russische Agenten generell nicht schwul sind. Der britische Geheimdienst hatte Fotos ihres Hotelzimmers veröffentlicht, auf denen ein Doppelbett zu sehen war.
    Sie geben indem Interview außerdem an, im Fitnessbusiness tätig zu sein. Den Namen ihrer Firma aber wollen sie nicht nennen, um ihre Geschäftspartner zu schützen.
    Als Beweis ihrer Unschuld führen sie unter anderem an, dass man an der Grenze ja auf sie aufmerksam geworden wäre, hätten sie als Männer tatsächlich Frauenparfüm bei sich gehabt (das Nowitschok, mit dem die beiden Skripals vergiftet worden waren, befand sich laut britischen Ermittlungen in einem solchen Parfümflakon).

    Meduza hat nach dem Interview sechs offene Fragen gesammelt.

    1. 1. Warum haben Petrow und Boschirow keine Fotos der Kathedrale von Salisbury gezeigt?

      Die Russen erklären ihre Reise nach Salisbury damit, dass sie örtliche Sehenswürdigkeiten und insbesondere die Kathedrale von Salisbury sehen wollten. Ihren Angaben zufolge sei es ihnen am 4. März gelungen, die Kathedrale zu besichtigen, und sie hätten dort sogar Fotos gemacht. 

      Im Interview wundern sich Petrow und Boschirow, warum die britische Polizei keine Aufnahmen von Überwachungskameras nahe der Kathedrale veröffentlicht hat (wobei Scotland Yard auch nicht behauptet hat, dass die Russen dort nie gewesen wären). Dabei haben sie aus irgendwelchen Gründen keine eigenen Fotos von der Sehenswürdigkeit gezeigt, die ihre Version über die Absicht der Reise nach Salisbury belegt hätten. Auf das direkte Angebot von Simonjan, das zu tun, sind sie kein bisschen eingegangen. 


    2. 2. Warum haben Boschirow und Petrow so wenig über sich erzählt?

      Das Hauptziel des Interviews war für Boschirow und Petrow, ihren eigenen Worten zufolge, zu zeigen, dass sie ganz gewöhnliche Russen sind. Allerdings haben sie dafür nur minimale Anstrengungen unternommen: Zum Beispiel waren sie nicht bereit, auch nur irgendwelche Details aus ihrem persönlichen Leben zu erzählen. So wirft das Gespräch nur neue Fragen auf. Wenn sie wenigstens den Namen der Firma genannt hätten, in der sie arbeiten, dann hätte man prüfen können, wann sie registriert wurde, ob sie wirklich Geschäfte machen – und ob sie mit dem Staat verbunden ist.


    3. 3. Boschirow und Petrow sind nach London gefahren, um „zu relaxen“. Zwei von drei Tagen haben sie in Salisbury verbracht. Ist das ihre Vorstellung von „Relaxen“?

      Das ruhige 45.000-Einwohner-Städtchen Salisbury liegt über 100 Kilometer von der britischen Hauptstadt London entfernt. Zu Beginn des Interviews sagen Boschirow und Petrow, dass sie nach Großbritannien nicht zum Arbeiten gekommen seien, sondern zum „Relaxen“. Anscheinend bedeutet „Relaxen“ für sie, zwei von drei Urlaubstagen auf dem Weg nach Salisbury und zurück zu verbringen.

      Vielleicht sind Boschirow und Petrow große Architektur-Liebhaber und beschäftigen sich tatsächlich mit Gotik. Aber dennoch, aus dem Interview wird ein solch besonderes Interesse nicht erkenntlich.


    4. 4. Hat das Wetter Petrow und Boschirow wirklich gestört?

      Die britische Polizei sagt, dass Petrow und Boschirow an zwei Tagen in Salisbury waren: Am ersten Tag „zur Erkundung“, am zweiten, um das Verbrechen zu begehen. Im RT-Interview betonen Petrow und Boschirow, dass sie die Stadt beide Male als Touristen besucht hätten: Am 3. März fuhren sie nach Salisbury, aber dort sei alles „voller Schneematsch“ und sie selbst völlig durchnässt gewesen, so seien sie wieder gefahren, um am nächsten Tag wiederzukommen. 
      Fotos in Sozialen Medien belegen, dass am 3. März durchaus Touristen in Salisbury waren, die nichts daran hinderte, die Kirche zu besichtigen. Hier ein Beispiel:


       
      „So sah die Kathedrale von Salisbury am 3. März aus. Wie man sieht, das Wetter ist nicht zu ertragen.“


    5. 5. Wie haben Boschirow und Petrow Kontakt zu Margarita Simonjan hergestellt?

      Wie die Chefredakteurin von RT sagte, haben die mutmaßlichen Vergifter sie selbst um ein Interview gebeten, indem sie sie auf ihrem Mobiltelefon anriefen. Dabei, so Simonjan, kennen ihre Nummer „alle, sogar Kuriere, die Blumen zum 8. März ausfahren“. In Wirklichkeit ist Simonjans Telefonnummer auf keiner ihrer Profilseiten in Sozialen Netzwerken zu finden, auch auf der Website von RT steht sie nicht. Standardanfragen auf Suchmaschinen spucken ihre Nummer ebenfalls nicht aus. Die Männer haben sich laut eigenen Angaben erst nach dem Vorschlag von Wladimir Putin zu einem Gespräch mit den Medien entschlossen: „Ich möchte mich an sie wenden, damit sie uns heute zuhören. Sie sollen kommen […] zu den Medien“, erklärte Putin tagsüber am 12. September, und abends war das Interview schon gedreht. Sie müssen die Nummer Simonjans also buchstäblich innerhalb von ein paar Stunden herausgefunden haben.

      [Ergänzung von Meduza: Am Abend des 13. September verlinkte die Yandex-Suche unter den ersten Rängen einen Eintrag aus dem Steuerregister, wo tatsächlich Simonjans Telefonnummer steht. Google gibt diese Seite unter analogen Suchanfragen nach wie vor auf den ersten Seiten nicht aus. Simonjan selbst sagte, dass sie nicht ausschließe, dass Putin ihre Nummer an Baschirow und Petrow gegeben habe.] 


    6. 6. Warum hat Simonjan ihnen einige wichtige Fragen nicht gestellt?

      Warum unterscheiden sich ihre Reisepassnummern nur um eine Ziffer? Warum sind sie sich so sicher, dass sie an der Grenze angehalten worden wären, wenn man Frauenparfüm bei ihnen entdeckt hätte? Wie reagieren ihre Verwandten, Nahestehende, Bekannte und Geschäftspartner auf das Aufsehen um sie? 
      Wladimir Putin sagte: „Wir haben uns natürlich angeschaut, was es für Leute sind. Wir wissen, wer sie sind, wir haben sie gefunden.“ Wer hat sie denn genau gefunden? Haben sich die beiden mit Geheimdiensten unterhalten?
      Und zuletzt ganz banale Fragen: Wo haben sie ihre Ausbildung gemacht? Wer sind ihre Eltern? Was für einen Lebenslauf haben sie? 
      Im Grunde weiß man nach dem Interview nicht mehr über sie, als davor.



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Russisches Original: Meduza
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    veröffentlicht am 14.09.2018

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    Auf YouTube hat der Chef der russischen Nationalgarde Viktor Solotow ordentlich Dampf abgelassen: „Ich fordere Sie zum Duell“, wandte sich der General und einstige Leibwächter Putins in einem siebenminütigen Video an Oppositionspolitiker Alexej Nawalny
    Dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung hatte zuvor Recherchen über Korruption bei der Nationalgarde vorgelegt. Dabei wird Solotow beschuldigt, dass er sich persönlich bereichert habe. Dies weist er im Video weit von sich, wenn er auch „korruptionsbedingte Mängel“ in seiner Behörde eingesteht.
    Nawalny sitzt unterdessen eine 30-tägige Haftstrafe ab, wegen Organisation nicht genehmigten öffentlichen Protests. Nichtsdestotrotz hatten seine Anhänger am vergangenen Wochenende erneut in mehreren Städten Russlands Proteste gegen die geplante Rentenreform durchgeführt, dabei waren mehr als 1000 Menschen festgenommen worden.
     
    Solotows virtuelle Kampfansage an „Gospodin Nawalny“ (dt. „Herr Nawalny“) , wie er ihn anspricht, ging im RUnet schnell viral. Kreml-Sprecher Peskow sagte, die Äußerungen Solotows über den offiziellen YouTube-Kanal der Nationalgarde seien mit Putin nicht abgesprochen gewesen. Zugleich äußerte er Verständnis für Solotow und meinte, man müsse Verleumdungen bisweilen im Keim ersticken.


    Das Originalvideo finden Sie hier.


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    dekoder-Redaktion
    erschienen am 12.09.2018

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