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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Reise nach Tuwa

    Reise nach Tuwa

    Tuwa (oder Tywa, beide Namen exististieren parallel) gelang es über mehrere Jahrhunderte, sowohl Teil von China als auch – als unabhängige Republik – ein Teil der Sowjetunion zu sein. Sie trat als eine der letzten 1944 in die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) ein.

    Heute ist Tuwa eine der ärmsten und unzugänglichsten Regionen Russlands: Die turksprachige Republik ist mit dem übrigen Russland im Grunde nur über eine Autostraße verbunden, laut Rosstat lebten hier im Jahr 2017 40 Prozent der Einwohner unter dem Existenzminium.

    Wie die turbulente politische Geschichte sich auf den Alltag der Tuwinen ausgewirkt hat, zeigt der Fotograf Max Sher auf Zapovednik.

    Die Turkstämme, die auf dem Gebiet des modernen Tuwa lebten, gerieten im 13. Jahrhundert unter mongolische Herrschaft. Als die Mongolei im 17. und 18. Jahrhundert langsam der chinesischen Qing-Dynastie unterworfen wurde, kam auch das Gebiet des heutigen Tuwa unter chinesische Herrschaft.
    Während der chinesischen Revolution im Jahre 1911 und 1912 zerfiel das Reich. Tuwa (damals trug es den mongolischen Namen Uranchai) wurde von China abgespalten und dann zum russischen Protektorat namens Urjanchaiski Krai. Als solches existierte es nur einige Jahre, denn das Russische Reich zerfiel ebenfalls. 
    Im Jahr 1921 wurde die Unabhängigkeit der Tuwinischen Volksrepublik ausgerufen. In Tuwa existiert bis heute die Meinung, dass die hinter den Kulissen getroffene Entscheidung der Regierungsclique, Teil der UdSSR zu werden, gesetzeswidrig gewesen sei, denn es gab kein Referendum, ja nicht einmal eine parlamentarische Abstimmung.

    Anerkannt wurde die Sowjetrepublik allerdings nur von der UdSSR und der benachbarten Mongolei; die wiederum wurde in diesem Moment nur von der Sowjetunion als unabhängiger Staat anerkannt. Für die übrigen blieb Tuwa, wie auch vorher, eine chinesische Provinz. Die Mongolei machte sich derweil für ein Referendum in Tuwa stark, bei dem es um den Beitritt zur Mongolei gehen sollte. Dabei berief man sich auf Gemeinsamkeiten bei Bräuchen und Glauben, wie auch darauf, dass das chinesische Qing-Imperium Tuwa nicht direkt, sondern über einen mongolischen Statthalter verwaltet hatte.
    China, das die Unabhängigkeit der Äußeren Mongolei, seiner ehemaligen Provinz, im Jahr 1949 anerkannt hatte, sagte sich nie offiziell von seiner Oberhoheit über Tuwa los.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Der Blick vom Gebirgspass Noljowka im Sajangebirge auf die Turan-Ujuk-Senke – dieser Blick eröffnet sich als Erstes, wenn man über den historischen Us-Trakt nach Tuwa hineinfährt. Die Berge des Sajangebirges dienen als natürliche Grenze, die Tuwa eine relativ isolierte Lage gewährleistet. Im rechten Teil des Bildes ist der Ussinski Trakt zu sehen, die Autostraße Jenissei R257. Es ist die einzige Transport-Ader, die Tuwa mit dem übrigen Russland verbindet.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Die Stadt Turan wurde 1885 von russischen Umsiedlern gegründet, als Tuwa noch zu China gehörte.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Das Zentrum von Kysyl, der Hauptstadt von Tuwa, mit ungefähr 117.000 Einwohnern

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Buddhistischer Stupa Dupten-Scheduplin in der Nähe der Siedlung Sug-Aksy im Westen von Tuwa, erbaut 2010. Ein Stupa entspricht einer Kapelle, gewöhnlich markiert er einen bedeutenden Gedenkort. Im Hintergrund das Alasch-Hochland

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Boris Erentschinowitsch Sodunam, oder einfach Baschky (tuwinisch für Lehrer), gründete 1990 die erste buddhistische Gemeinde in Tuwa

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Das Portrait des Dalai Lama, geschmückt mit Gebetsbändchen und -fahnen (Chadak), aufgestellt in der Ruine des Ustuu-Churee-Klosters in der Nähe der Stadt Tschadan im Westen Tuwas.

    Nach einem Umsturz durch die Stalinisten wurde das Kloster zerstört und die Mönche verfolgt. Im Jahr 2008 wurde das Kloster mit Unterstützung des gebürtigen Tschadaners Sergej Schoigu wiederaufgebaut.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Owaa-Khoomeishi: Der Platz für Riten und Feierlichkeiten mit dem Tuwinischen Kehlkopfgesang (Khoomej) am Ufer des Jenissei im Zentrum von Tuwa

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    „Schamanismus ist keine Religion, sondern die Grundlage aller Religionen“, sagt der Schamane Dugar-Sjurjun Oorshak. „Gott ist eine allumfassende Energie. Buddha, Jesus und alle anderen sind nur Bilder.“ Einst künstlerischer Leiter am Theater von Tuwa, gründete er 1990 nach der Einführung von Glaubens- und Religionsfreiheit die erste schamanische Gemeinschaft in Tuwa.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    2014 wurde am Zusammenfluss von Großem und Kleinem Jenissei im Zentrum von Kysyl das Denkmal „Mittelpunkt Asiens“ mit skytischen und chinesischen Motiven errichtet. Warum ausgerechnet dieser Ort das Zentrum Asiens sein soll, ist allerdings nicht bekannt.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Nach dem Bau des Sajano-Schuschensker Wasserkraftwerks am Jenissei in den 1980er Jahren hat sich das Klima laut Bewohnern und Umweltschützern drastisch verändert: Es wurde wärmer und feuchter mit häufigen Starkregen.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Schimizi Chumbun (in der Mitte mit roter Jacke, auf dem Schoß sitzt ihre Urenkelin Santschira) wurde in dem schwer zugänglichen Tal des Flusses Katschyk geboren und hat dort ihr ganzes Leben lang gelebt. Sie hat 16 Kinder, 90 Enkel und 19 Urenkel.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Valentina Kenden melkt ein Yak auf der Nomaden-Weide ihrer Eltern im Flusstal des Katschyk. Valentina lebt in dem 120 Kilometer entfernten Ersin und arbeitet dort als Krankenschwester. Nach Katschyk kommt sie in den Ferien, um Eltern und Bruder in der Landwirtschaft zu helfen. 

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Bajyr-Kys Bantschyk (links) und Valentina Sambyr zeigen das traditionelle Gerben von Kuhhaut, aus der anschließend Schuhe gemacht werden.

    Der Ort Katschyk liegt 3 Kilometer von der mongolischen Grenze entfernt, bis zur nächsten Bezirksstadt sind es 120 Kilometer über Bergwege, die im Winter oft unbefahrbar sind. Die Bewohner, die Tuwinisch, Mongolisch und Russisch sprechen, erzählen, dass die Grenze bis in die 2000er Jahre nicht markiert war, weswegen sich die Bewohner der grenznahen Gebiete problemlos besuchen konnten und sich gegenseitig Vieh klauten. In dem Gebiet wohnen knapp über 300 Menschen, teils im Ort, teils auf nomadischen Weiden in den angrenzenden Tälern. Es gibt hier weder Polizei noch Ärzte noch Läden noch eine stabile Telefonverbindung. Strom gibt es nur abends über einen tragbaren Generator, dafür aber eine Schule und Internet. 

    In den 1960er Jahren wurden mehrere ländliche Ortschaften zusammengelegt, alle Bewohner Katschyks wurden 100 Kilometer westlich nach Naryn umgesiedelt. Doch über die letzten 30 Jahre ist Katschyk wiederauferstanden. Kürzlich wurde ein eigener Sumon (dt. Gebiet) Katschyk gegründet.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Die Teilnehmer des jährlichen Fests Naadym bauen eine Jurte für den traditionellen Wettbewerb um das schönste Interieur. Naadym ist ein wichtiges Element der modernen tuwinischen Identität; bei dem Fest finden vielerlei Wettbewerbe statt.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Sieger-Jurte beim Wettbewerb um das schönste Interieur

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Start des 15-Kilometer-Wettritts. Zum Wettkampf werden Jockeys ab 6 Jahren zugelassen.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Autos von Zuschauern und Teilnehmern an den Wettkämpfen des Naadym

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Junge Einwohner von Kysyl vor dem städtischen Theater. Von den 322.000 Einwohnern bezeichneten sich bei der Volkszählung von 2010 82 Prozent als Tuwinen und 16 Prozent als Russen.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Das Portrait von Sergej Schoigu am Ortseingang der Stadt Tschadan im Westen von Tuwa. Schoigu wurde 1955 in Tuwa geboren als Sohn der Viehzucht-Spezialistin Alexandra Kudrjawzewa aus Luhansk und des Parteifunktionärs Kushuget Schoigu.

    Sergej Schoigu ist der erste gebürtige Tuwiner, der eine politische Karriere jenseits der Grenzen der Republik gemacht hat. Nachdem Schoigu zum Verteidigungsminister ernannt worden war, begann in Tuwa ein Persönlichkeitskult um ihn: In Tschadan gibt es eine Sergej-Schoigu-Straße, in seinem Elternhaus wurde ein Museum eröffnet.

    Ein Bewohner Tschadans, der einige Jahre in Moskau studiert hat, erzählt, welch einzigartige Schutzfunktion seine Meldeadresse in der Sergej-Schoigu-Straße für ihn hatte: Die Polizei hielt ihn einmal an, um „die Dokumente zu prüfen“. Als sie seine Adresse sahen, gaben sie ihm den Pass sofort zurück und ließen ihn weiterfahren.

    Text und Fotos: Max Sher
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 24.07.2019

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  • Der Moskauer, den es nicht gibt

    Der Moskauer, den es nicht gibt

    Jemand musste Grigori J. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens nicht-existent. Genauso wie tausende andere Menschen aus der Stadt M.

    Die Parabel des Soziologen Grigori Judin handelt vom Zulassungsprozess zu den Moskauer Regionalwahlen. Um am 8. September als unabhängiger Kandidat antreten zu können, müssen die Anwärter Unterstützer-Unterschriften von mindestens drei Prozent aller Wähler aus ihrem Wahlkreis vorlegen. Laut Moskauer Wahlkommission sollen 13 dieser Anwärter einen zu hohen Anteil nicht-nachvollziehbarer oder gefälschter Unterschriften eingereicht haben. Kommissionschef Valentin Gorbunow erklärte vergangene Woche, dass manche der Unterschriften von Toten Seelen stammten oder von Menschen, die nicht existieren. 

    Zu letzteren gehört Grigori Judin. Bevor es in Moskau zu massiven Protesten gegen die Nichtzulassung von rund 20 Oppositionskandidaten kam, schrieb er auf Facebook einen offenen Brief an den Bürgermeister Sergej Sobjanin. Im Namen der Bewegung „Moskauer Phantome“.

    „Ich dachte, das auf diesem Foto wäre ich. Nun hat sich aber herausgestellt, dass all das nicht passiert ist.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Schtab Nawalnogo w Moskwe/Facebook
    „Ich dachte, das auf diesem Foto wäre ich. Nun hat sich aber herausgestellt, dass all das nicht passiert ist.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Schtab Nawalnogo w Moskwe/Facebook

    Liebe Freunde!

    Mir ist etwas Schlimmes passiert.

    Die Sache ist die: Mich gibt es nicht.

    Ich dachte, das auf diesem Foto wäre ich. Dass ich hier für Elena Russakowa unterschreibe, die Kandidatin für die Moskauer Stadtduma aus dem 37. Wahlkreis. Trage Datum und Unterschrift ein unter dem strengen Blick des Ehrenamtlichen, der kontrolliert, dass ich nicht aus dem Formularkästchen rutsche.

    Jetzt hat sich aber herausgestellt, dass all das nicht passiert ist.

    Die Wahlkommission hat bekanntgegeben, dass auf diesem Foto nicht ich abgebildet bin, sondern irgendein Typ, der eine Straftat begeht, indem er meine Unterschrift fälscht. In den letzten 35 Jahren war ich sicher, dass dieser Mensch ich bin, jetzt stellt sich aber raus, dass es mich nicht gibt. Mehr noch: Vielleicht werden sie sich wundern, aber es gibt keine Möglichkeit, zur Kommission zu gehen und ihr zu beweisen, dass alles in Ordnung ist, und dass diese Unterschrift wirklich von mir stammt. Wenn die Kommission entschieden hat, dass es mich nicht gibt, dann weiß sie das besser als ich. 

    Die Sache ist die: Mich gibt es nicht

    Im Übrigen ist alles noch viel schlimmer. Es wäre schon irgendwie möglich, mich mit meiner Nichtexistenz anzufreunden: Ich hätte mich allmählich daran gewöhnt, dass alle durch mich hindurchsehen und theatralisch durch mich hindurchsteigen, wenn ich meine Hand reiche.
    Allerdings gibt es neben mir auch meine Mutter nicht, hunderte meiner Nachbarn aus dem Wahlkreis sowie zehntausende andere Moskauer. Wir alle sind Phantome. We are the nobodies.

    Also, als ein Moskauer Phantom möchte ich sagen, dass dies alles nur aus einem Grund passieren konnte. Weil irgendjemand von Oben gesagt hat: „Diese Kandidaten wird es bei der Wahl nicht geben. Und es interessiert mich nicht, wie ihr das jetzt löst, lasst mich mit diesem Thema in Ruhe.“ Und wie immer in solchen Fällen wurde dieser Befehl bis auf die Ebene der lokalen Wahlkommissionen hinuntergereicht, die ihn im letzten Moment bekamen und entschieden, es so zu machen, wie es halt kommt. Und da alle Unterschriften nun mal echt waren, mussten sie den lebendigen Leuten erklären, dass es sie nicht gibt.

    We are the nobodies

    In Moskau gibt es nur einen Menschen, der einen solchen Befehl erteilen konnte. Er heißt Sergej Sobjanin. Warum er in den vergangenen Tagen schweigt, das kann ich verstehen: Es ist klar, dass er lieber mit Radwegen und Parks in Verbindung gebracht werden möchte, und nicht mit dem Wahnsinn bei den Wahlen. In Moskau aber gibt es nichts und kann es nichts Wichtigeres geben, als die Leugnung der Existenz tausender Moskauer.

    Im Namen der Bewegung „Moskauer Phantome“ rufe ich Sergej Sobjanin dazu auf, seinen Mut zusammenzunehmen und sich mit uns zu treffen, um uns eine einzige Frage zu beantworten: wie er dazu steht, dass massenweise Moskauer zu Personen erklärt werden, die nicht existieren und was er in dieser Angelegenheit zu tun gedenkt. Wenn er so viel Angst vor uns hat, dann sind wir sogar bereit, uns mit ihm bei Tageslicht zu treffen.

    Ich weiß ganz genau, dass die Antwort bei Sobjanin zu suchen ist. Und wenn Journalisten es wollen, dann werden sie schon eine Antwort erzwingen – sie haben es nicht nur einmal bewiesen.
     

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    „Ein Fehler historischen Ausmaßes“

    An jedem Tag der vergangenen Woche haben hunderte Moskauer gegen die Nichtzulassung von Oppositionskandidaten zur Regionalwahl protestiert. Am Samstag versammelten sich laut Nichtregierungsorganisation Bely Stschottschik 22.500 Demonstranten auf dem Sacharow-Prospekt. Bei der größten Protestaktion der vergangenen Monate forderten sie eine freie und faire Regionalwahl, zu einem wiederkehrenden Motiv der Demonstration gehörte der Slogan Ljubow (dt. Liebe).

    Ljubow Sobol ist eine von rund 20 OppositionskandidatInnen, die die Moskauer Wahlkommission von der Wahl zum Stadtparlament ausgeschlossen hatte. Wie auch die anderen unabhängigen Kandidaten musste die junge Juristin und Mitstreiterin von Alexej Nawalny Unterstützer-Unterschriften von mindestens drei Prozent aller Wähler aus ihrem Wahlkreis sammeln, um antreten zu dürfen. Laut Moskauer Wahlkommission sei ein Teil dieser Unterschriften jedoch gefälscht, deshalb dürfe Sobol per Gesetz nun nicht zugelassen werden.

    Sobol sowie andere Oppositionskandidaten sehen darin eine politisch-motivierte Entscheidung. Die Regierungspartei Einiges Russland sei in der russischen Gesellschaft derzeit so unbeliebt, dass sie ihre Kandidaten als unbefleckte Unabhängige ins Rennen schicke. Um eine Schlappe bei der Wahl am Einheitlichen Wahltag am 8. September abzuwenden, würden die Behörden nun auch unfaire Zulassungshürden konstruieren – und damit die Teilnahme der Opposition verhindern. 

    Viele Beobachter vergleichen diese Entscheidung mit der letzten Wahl zum Moskauer Stadtparlament vor fünf Jahren. Auch damals sei sie weder frei gewesen noch fair, auch damals habe es ähnliche Zulassungshürden gegeben. Diesmal, so der Tenor, sei aber Eines anders: Die Opposition, die damals gespalten war, ziehe jetzt an einem Strang. Tatsächlich kam es bisher noch nie vor, dass Ljubow Sobol, Ilja Jaschin, Dimitri Gudkow und andere Oppositionelle gemeinsame Forderungen erheben und gemeinsam auf die Straße gehen. Wlad Dokschin hat sie begleitet und die Proteste in einer Fotoreportage für die Novaya Gazeta festgehalten.

    Unabhängige Kandidaten unterschiedlicher politischer Bewegungen für die Wahl der Moskauer Stadtduma. Eine Sache verbindet sie: der Ausschluss von der Wahl aus formalen Gründen / Foto © Wlad Dokschin

    Der Politiker Alexej Nawalny vor dem Beginn der Kundgebung bei seinen Anhängern / Foto © Wlad Dokschin

    Auf dem Sacharow-Prospekt vor Beginn der Kundgebung / Foto © Wlad Dokschin

    Rede des Politikers Dimitri Gudkow. Er wurde von der Wahl ausgeschlossen, weil er nach Angaben der Wahlkommission die gestatteten zehn Prozent „Ausschuss“ an  Unterstützer-Unterschriften überschritten hat / Foto © Wlad Dokschin

    Teilnehmer der Kundgebung mit einem Plakat: „Ein Fehler historischen Ausmaßes“ / Foto © Wlad Dokschin

    Ljubow Sobol, der die Registrierung zur Wahl der Moskauer Stadtduma verweigert wurde, kommt von der Bühne. Ihr hilft Iwan Shdanow, dem ebenfalls die Registrierung verweigert wurde / Foto © Wlad Dokschin

    Politiker Alexej Nawalny beschwört die Teilnehmer der Kundgebung, keine Angst vor Festnahmen zu haben im Kampf für ein besseres zukünftiges Russland / Foto © Wlad Dokschin

    Eine Teilnehmerin der Kundgebung. Aufschrift auf den Plakaten: „Ich habe ein Recht auf Wahl“ sowie die Namen der Kandidaten Iwan Shdanow und Ljubow Sobol / Foto © Wlad Dokschin

    Michail Swetow, Vertreter der Libertären Partei. Mitglieder der Partei hatten die Kundgebung organisiert / Foto © Wlad Dokschin

    Am Eingang bekamen die Teilnehmer Trillerpfeifen. Laut Plan der Organisatoren sollten sie damit die Machthaber auspfeifen / Foto © Wlad Dokschin

    Ilja Jaschin während seines Auftritts. Auch ihm wurde die Registrierung verweigert. Im Hintergrund zu lesen: „Wir haben das Recht auf eigene Kandidaten“ / Foto © Wlad Dokschin

    Teilnehmerin der Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt. Auf ihrem Plakat steht: „Sie nahmen die Liebe – es blieb nur Hass“, Anspielung auf den Vornamen der Kandidatin Ljubow Sobol, der übersetzt „Liebe“ bedeutet / Foto © Wlad Dokschin

    Laut Zählung der NGO Bely Stschottschik nahmen an der Kundgebung rund 22.000 Menschen teil / Foto © Wlad Dokschin

    Nach dem Ende der Kundgebung / Foto © Wlad Dokschin

    Angehörige der Russischen Nationalgarde drängen die nach der Demo Gebliebenen auf dem Sacharow-Prospekt zurück. Insgesamt wurden bei der Protestaktion sechs Menschen verhaftet / Foto © Wlad Dokschin

    Fotos: Wlad Dokschin
    Übersetzung und Anlauf: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 22.07.2019

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    Städte-Trips: Wetten, da waren Sie noch nie!

    Nach Moskau?! Neeee, Blogger Michail Drabkin bereist lieber das unbekannte Russland. Auf der Plattform discours stellt er sein Best-of der schönsten kleinen Städte vor: subjektiv, geschichtsträchtig und fernab der Touristenrouten.

    Keine kleine Stadt: Moskau mit den Wolkenkratzern von Moskwa-City im Hintergrund / Fotos: Michail Drabkin
    Keine kleine Stadt: Moskau mit den Wolkenkratzern von Moskwa-City im Hintergrund / Fotos: Michail Drabkin

    Die meisten meiner kleinen Lieblingsstädte liegen merkwürdigerweise nicht auf dem Goldenen Ring, der eine der wenigen echten Kultur-Tourismus-Routen Russlands darstellt.
    Vielleicht ist das aber auch gar nicht merkwürdig – denn touristische Beliebtheit schadet oft der ursprünglichen Atmosphäre einer Stadt. Insbesondere in unserem Land, wo der Massentourist noch nicht gelernt hat, Aspekte wie Authentizität zu schätzen. Und dann oft etwas Grelleres oder Effektvolleres möchte als das Alltagsleben einer kleinen altehrwürdigen Stadt und die Überreste ihres langen Lebens mit ihrem wahren Antlitz.

    Vor hundert Jahren – zu dem Zeitpunkt, als sich das architekturhistorische Gesicht der russischen Städte im Großen und Ganzen herausgebildet hatte – waren die Städte im Westen des Landes insgesamt größer, wohlhabender und bevölkerungsreicher als die Städte östlich von Moskau. Trotz alledem liegen mittlerweile alle gut erhaltenen historischen Städte auf dem Längengrad der Hauptstadt oder östlich davon – denn westlich davon verlief der Große Vaterländische Krieg.

    Die kleineren Städte hatten besonders stark unter dem Krieg gelitten – sie wurden weniger erbittert verteidigt und später weniger achtsam wiederaufgebaut; das Leben dort war einfacher, aber auch prekärer, die Menschen kehrten nach der Zerstörung und Verwüstung weniger gern dorthin zurück.

    Hier nun die drei authentischsten, besterhaltenen, mir herzensliebsten kleinen Städte Russlands. Das Ergebnis von dutzenden Reisen durch Zentralrussland. Wundervolle kleine Städte gibt es mehr als ein Dutzend, die drei, die hier vorgestellt werden, sind die aller-, allertollsten.

    Torshok

    Torshok ist die schönste Stadt in der Oblast Twer, die insgesamt reich ist an schönen kleine Städten: Kaschin, Beshezk, Stariza, Toropez gibt es da auch noch.

    Von den zehn vollständig erhaltenen vorrevolutionären Stadtvierteln, hier der pittoreske Fluss Twerza.

    Gebäude, die vor dem 17. Jahrhundert errichtet wurden, gibt es in Torshok nicht. Doch Bauten aus dem 18. und 19. Jahrhundert in dieser Konzentration sind genauso beeindruckend wie altrussische Kirchen und Wohnhäuser.

    Praktisch direkt durch die Stadt verläuft die Autostraße Moskau – Sankt Petersburg. Insofern könnte es hier theoretisch mehr als genug Touristen geben. Man müsste sie nur mal herholen.

    Kassimow

    Kassimow ist eine der wenigen Dutzend Flussstädte, an steilem Ufer über großem Wasser.
    Solche Städte gibt es gar nicht mal so sehr im Zentrum des Landes, sondern eher an der Wolga und den großen Flüssen des Wolgabeckens.

    Da ist der quadratische Hauptplatz mit Kirche und Handelsreihen und noch die Kaufmannsvillen, doch in Kassimow hat alles auch eine asiatische Note: Im 15. Jahrhundert wurden die Stadt und die umliegenden Ländereien dem tatarischen Zarensohn Kassim geschenkt, als Auszeichnung für wichtige, dem Moskauer Fürsten erwiesene Dienste. So entstanden in der Stadt tatarische Siedlungen und die älteste Moschee in einer nicht-muslimischen Region.

    Die Atmosphäre in Kassimow ist auch insofern so besonders, als es weit abgelegen ist von den wichtigen Zentren und Hauptstraßen des Landes. 

    Die Abgelegenheit in Verbindung mit einer recht guten wirtschaftlichen Lage ließ Kassimow zu einem lokalen Zentrum werden, zu einem Anziehungspunkt für die nord-östlichen Gebiete der Oblast Rjasan.

    Gorochowez

    Gorochowez ist eine wenig bekannte Stadt zwischen Wladimir und Nishni Nowgorod. Wladimir ist ein traditionelles Zentrum auf dem Goldenen Ring, und Nishni Nowgorod ein in den letzten Jahren an Fahrt aufnehmendes Zentrum des Massentourismus.

    Gorochowez dagegen bleibt ein eher lokales touristisches Zentrum, das mehr von Menschen aus Nishni Nowgorod besucht wird. Gorochowez liegt praktisch am östlichen Rand von Zentralrussland. Was die Zahl an altrussischen Bürgerhäusern und Palästen angeht, liegt es mit Moskau und Pskow jedoch ganz weit vorn.
    Es ist insgesamt eine recht kleine Stadt, kleiner als Torshok und Kassimow. 

    Bei den städtebaulichen Umgestaltungen unter Katharina der Großen erhielten praktisch alle russischen Provinz- und Gouvernementsstädtchen ein in Rechtecken angelegtes Straßennetz.
    Es gibt sehr wenige Orte, wo die verwinkelte pittoreske mittelalterliche Stadtstruktur erhalten geblieben ist. Einer dieser Orte ist Gorochowez.
    Das historische Zentrum unterscheidet sich hier durch extreme Kompaktheit, die Altstadt misst nur 500 mal 500 Meter.
    Die Stadt befindet sich genau an dem Ort, wo die Hochebene von Wladimir und Susdal auf den Fluss Kljasma zuläuft. Für die Altstadt blieb nur eine kleine Terrasse zwischen Hügeln und Fluss.

    Daher kommt auch eine andere Besonderheit der Stadt: Das Zentrum liegt hier nicht auf einer Anhöhe, wie das in der Rus üblich war, sondern vor allem in einer Niederung, und nur die Ränder laufen den Hang der Hügel hinauf. Die Hügel werden hier natürlich Berge genannt.

    Die verhältnismäßig wohlhabende Oblast Wladimir in Verbindung mit der Nähe zu Nishni Nowgorod plus der Lage an der M7 mit ihrem regen Verkehr lassen Gorochowez gepflegter aussehen als Torshok und sogar Kassimow.

    Interessant ist, dass alle drei Städte am Rand von Zentralrussland liegen.

    Die Lieblingsstädte des Bloggers Michail Drabkin liegen am Rand von Zentralrussland
    Die Lieblingsstädte des Bloggers Michail Drabkin liegen am Rand von Zentralrussland

    Torshok – an der vormaligen Grenze des Nowgoroder Gebiets zu den südlich davon gelegenen Fürstentümern war ein Schlüsselpunkt der historischen Korntransporte in den Norden. 

    Kassimow war die südöstliche Festung der Wladimirer Rus, zwischen den Wäldern der Meschora am rechten Ufer der Oka und den Mordwinischen Wäldern am linken.

    Gorochowez ist auch eine Grenzfestung, und zwar des Fürstentums Wladimir-Susdal, östlich und südöstlich davon lagen bulgarische, mongolisch-tatarische und tatarische Besitzungen.

    Alle drei Städte entstanden ungefähr Mitte des 12. Jahrhunderts – damals erlebte die nord-östliche Rus eine Blüteperiode, alle paar Jahre wurden neue Städte gegründet, und schließlich wurde die Hauptstadt der Rus von Kiew nach Wladimir verlegt.

    Text und Fotos: Michail Drabkin/discours
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 04.07.2019

     

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  • „Die Stimmung in Seweromorsk ist aufgeheizt“

    „Die Stimmung in Seweromorsk ist aufgeheizt“

    Bei einem Brand auf einem russischen U-Boot der Nordmeerflotte sind 14 Seeleute ums Leben gekommen. Wer sind die Toten? Gibt es Verletzte und wie viele? Um welches U-Boot handelt es sich?
    Derzeit gibt es viele offene Fragen, aber kaum Antworten. Nur tröpfchenweise fließt die Information: Präsident Putin gab bekannt, dass unter den Toten sieben Kapitäne ersten Ranges gewesen seien. Das Schiff sei ein Forschungsschiff. Es wurde nach dem Unglück zu einer Militärbasis in Seweromorsk, im hohen Norden Russlands, gebracht. 
    Russische Medien wie RBC und Novaya Gazeta berichten unterdessen, dass es sich dabei um das nuklearbetriebene U-Boot AS-12 handele. Über dieses U-Boot ist nur wenig bekannt, es unterliegt strenger Geheimhaltung. Eine Theorie ist, dass es nicht zu Forschungszwecken, sondern zu anderen Arbeiten auf dem Meeresgrund verwendet werden könnte, etwa zur Sabotage von Unterseekabeln.

    Das Unglück ereignete sich am 1. Juli, die Nachricht darüber war zuerst tags darauf auf der russischen Website severlife.ru erschienen. Diese lokale Infoplattform aus Seweromorsk hat der Website similarweb zufolge durchschnittlich rund 150.000 Aufrufe im Monat. 

    Wie severlife.ru-Blogger Jewgeni Karpow als einer der Ersten von dem Unglück erfahren hat und weshalb er seine Meldung kurz nach der Veröffentlichung wieder von der Seite nahm, das erzählt er im Interview mit Meduza – und gibt ganz nebenbei einen Einblick, welche Hürden unabhängige, regionale Onlinemedien im heutigen Russland mitunter nehmen müssen.

    Blogger Jewgeni Karpow berichtete als Erster über das U-Boot-Unglück der Nordmeerflotte / Foto © Privatarchiv
    Blogger Jewgeni Karpow berichtete als Erster über das U-Boot-Unglück der Nordmeerflotte / Foto © Privatarchiv

    Am 1. Juli ist so gegen 23 Uhr die Nachricht aufgetaucht, dass sich das Krankenhaus auf die Aufnahme einer großen Zahl Verletzter vorbereitet. Die Info kam von meinen Quellen bei der Nordmeerflotte. Um was genau es sich handelt, das haben sie nicht gesagt. In diese Sachen stecken wir unsere Nase normalerweise nicht rein, da es um strategische Geschichten geht.

    Die Informationen über Todesopfer und Verwundete änderten sich ständig. In der allerersten Meldung wies ich darauf hin, dass meine Informanten unterschiedliche Auskünfte geben und dass es schwer sei, aus ihren Worten die genaue Anzahl [Toter und Verwundeter – dek] zu bestimmen. 

    Die Informationen über Todesopfer und Verwundete änderten sich ständig

    Interessant war, dass vom Katastrophenschutzministerium keinerlei Informationen kamen. Meine Informanten dort sagten, dass sie von nichts gehört hätten. Da stiegen Zweifel in mir auf [an der Richtigkeit der Informationen aus erster Quelle], deswegen wartete ich ab bis zum Morgen und begann, die Information mit anderen Quellen abzugleichen.

    Nach der Veröffentlichung [am 2. Juli, vormittags – dek] hab ich bei der Pressestelle angerufen und um eine Stellungnahme gebeten. Danach hat mich einer angerufen, der mit der Nordmeerflotte zu tun hat, und bat mich, die Info wieder von der Seite zu nehmen: Es gäbe bald eine offizielle Meldung dazu.
    Ich hab Informationen darüber, dass derzeit zwei Menschen auf der Intensivstation sind, aber ich kann das nicht garantieren, denn ich bin nicht in der Stadt. Genausowenig kann ich sicher sein, dass die Informationen der Pressestelle der Wahrheit entsprechen.

    Wahrscheinlich wird es niemals irgendwelche Informationen geben – es geht hier schließlich um die Nordmeerflotte

    Die Namen der Toten haben mir meine Quellen nicht genannt. Das Krankenhaus geht auf meine Anfragen nicht ein. 
    Wahrscheinlich wird es niemals irgendwelche Informationen geben – es geht hier schließlich um die Nordmeerflotte. Sie sprechen überhaupt wenig mit Zivilisten, erst recht nicht über Dienstliches – wenn, dann nur zuhause in der Küche.

    Nach der Veröffentlichung wurde Karpow telefonisch gebeten, die Info wieder von seiner Seite zu nehmen
    Nach der Veröffentlichung wurde Karpow telefonisch gebeten, die Info wieder von seiner Seite zu nehmen

    Ich weiß, dass die Stimmung in der Stadt jetzt ziemlich aufgeheizt ist. Es sind hochrangige Leute angekommen, wer sich mit denen trifft, hat Geheimhaltungserklärungen unterzeichnet. Das verlangen sie womöglich auch von den Familien der Toten und Verwundeten. 

    Wahrscheinlich erfahren wir in den nächsten Tagen nicht mal ansatzweise etwas über die Opfer [am 3. Juli bestätigte der Sankt Petersburger Interims-Gouverneur Alexander Beglow, dass sie zu den Streitkräften gehörten, die in Sankt Petersburg stationiert sind – dek|, nicht mal ihr ungefähres Alter. Aber ich denk mal, bei ihnen kann es sich kaum um einfache Soldaten auf Zeit handeln.

    Die Stimmung in der Stadt ist ziemlich aufgeheizt

    In der Stadt wird man wohl kaum etwas mitbekommen. Kursk hat man mitbekommen, denn wir haben aus den Fenstern beobachtet, wie man das U-Boot herauszog, die Situation war schwierig. Alle haben alles kapiert, die Stadt war grau, trüb, schweigsam, als ob man die Anspannung spüren konnte. Weinende Menschen gab es in der Stadt aber keine.

    Es gibt keine Journalisten in Seweromorsk. Hier arbeite ich, und da sind noch die Medien, die die Stadtverwaltung eingerichtet hat. Niemand wird sie informieren. Und mir kommt meine Tätigkeit manchmal quer. 

    Von 2008 bis 2011 habe ich im Einsatz- und Streifendienst der Seweromorsker Miliz gearbeitet. Dann aber wurde ich nach Paragraph 228.2 zu drei Jahren Haft verurteilt, vor Gericht saß ich als Mitarbeiter [der Polizei – dek]. Aus Seweromorsk wurde ich nach Kirow gebracht, wo ich einsaß. Dann war ich in einer Strafkolonie in Irkutsk und kam nach einem Jahr und neun Monaten vorzeitig auf Bewährung raus. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse um Golunow könnte man bei mir eine halbe Tonne Kokain finden und mich wieder ins Gefängnis schicken.

    Vor Kurzem tauchte im Internet ein anonymer Artikel auf, dass ein ehemaliger Häftling (also ich) Nachrichten aus Seweromorsk schreibe. Da steht, dass ich auf meiner Website manchmal glaubwürdige Informationen verbreite und manchmal ein wenig lüge. Und dass man sich nicht wundern solle, falls Jewgeni Karpow bald Förderung von ausländischen Medien erhält [das sogenannte Ausländische-Agenten-Gesetz gilt seit November 2017 auch für Medien – dek].

    Ich finde es interessant, mich damit zu beschäftigen. Noch in Haft habe ich realisiert, dass ich das machen werde. Und nun gibt es meine Website und einige Gruppen in sozialen Medien schon seit fünf Jahren. Ich trete aber als Blogger auf, eine Registrierung als Medium habe ich nicht.

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  • Moos und Öl

    Moos und Öl

    Fotograf Igor Tereschkow war auf den Erdölfeldern im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen unterwegs. 50 Prozent des russischen Erdöls, so schreibt der Fotograf, würden dort gefördert. Tereschkow hat die Chanten in ihrem Alltag begleitet – ganz plastisch erzählen seine Fotos dabei auch von Zerstörung: „Das Öl wirkt auf das Filmmaterial wie auf die Umwelt: es dringt ein, brennt sich ein und zerlegt es.“

    Zu seiner Fotoreportage schreibt der Fotograf auf Takie Dela:

    Jedes Jahr gibt es in Russland mehr als 18.000 Unfälle, die zu Ölverschmutzungen führen. 1,5 Millionen Tonnen Öl gelangen so in die Umwelt. Das ist ungefähr doppelt so viel wie bei der Ölpest 2010 auf der Plattform Deepwater Horizon. Damals hatte sich im Golf von Mexiko eine der größten technogenen Katastrophen ereignet.
    Die Ursachen für die Ölverschmutzungen in Russland liegen vor allem in der Abnutzung und Korrosion der Rohrleitungen: Einige Rohre sind mehr als 30 Jahre alt, obwohl die Haltbarkeit nur zehn bis 20 Jahre garantiert ist.

    Rentiere, die vor einem Lasso Reißaus nehmen, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Rentiere, die vor einem Lasso Reißaus nehmen, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow

    Im Sommer 2018 habe ich mich – mit Unterstützung der Freiwilligenbewegung #НеЗаливайМнеТут (#NeSaliwajMneTut, #StopOilSpills), Greenpeace Russland und dem Projekt 7×7 Gorisontalnaja Rossija (Horizontal Russia) –
    in die Jugra, den Autonomen Kreis der Chanten und Mansen aufgemacht, um die Folgen der Ölverschmutzung zu fotografieren.

    Eingesandete Erdölleitungen, Mamontowskoje-Erdöllager, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Eingesandete Erdölleitungen, Mamontowskoje-Erdöllager, Jugra / Foto © Igor Tereschkow

    Havarien dieser Art beeinflussen dort die gesamte Umwelt und bedrohen die Lebensweise der indigenen Bevölkerung. In der Nähe der Großstadt Surgut, in der ländlichen Siedlung Russkinskaja, lebt Antonina Tewlina aus dem Volk der Chanten. Ihre Eltern führen bis heute ein traditionelles Nomadenleben und hüten auf ihrem Land Rentiere. Insgesamt besitzt die Familie circa 600 Hektar Land, was für hiesige Verhältnisse eine stattliche Fläche ist. Laut Antonina hielten die Eltern in ihrer Kindheit einige hundert Rentiere, jetzt sind es zusammen mit den Jungtieren nicht mehr als 60.

    Frauen in traditioneller Kleidung der Chanten, Russkinskaja, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Frauen in traditioneller Kleidung der Chanten, Russkinskaja, Jugra / Foto © Igor Tereschkow

    Insgesamt werden im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen ungefähr 50 Prozent des russischen Erdöls gefördert. Die Erdölfelder überschneiden sich teilweise mit den Lebensräumen der Urbevölkerung. Hier ansässige Erdölarbeiter scherzen, dass das gesamte Territorium ein einziges großes Lizenzgebiet sei. Mittlerweile führt der Weg zum Territorium der Tewlins über einen Kontrollpunkt. Um Gäste zu empfangen, greifen die Bewohner manchmal zu dem Trick, ihnen traditionelle Kleider anzuziehen. Sonst musst du, wenn du nicht in den Listen des TschOP  aufgeführt bist, zur Umgehung des Kontrollpunktes einige Kilometer durch Moor und Sumpf zurücklegen. Weiter dann im Auto über unbefestigte Straßen, die nicht auf Karten verzeichnet sind, dann noch ungefähr zehn Kilometer zu Fuß durch Minidörfchen [Wohnplätze der halbnomadisch lebenden Rentierzüchter – dek], durch Moor, in das du bis zur Hüfte einsinkst, über Flechten und Moos, das unter den Füßen federt wie ein Trampolin.  

    Tschum und Rentierherde, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Tschum und Rentierherde, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow

    Antonina Tewlina sagt: „Rentierflechten sind für die Tiere wie Brot, wenn sie beschädigt werden, braucht es 30 Jahre, damit sie sich regenerieren.“

    Junges Rentier mit Bastgeweih, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Junges Rentier mit Bastgeweih, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow

    Die Fotos für das Projekt Moos und Öl wurden auf Schwarzweißfilm gemacht und vor dem Entwickeln in eine Flüssigkeit mit Öl getunkt, das aus den Verschmutzungen im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen stammt. Bei all seiner Organik wirkt das Öl auf die gelatinehaltige Filmschicht wie auf die Umwelt – es dringt ein, brennt sich ein und zerlegt sie.

    Eine Ökologin neben einer ölgefüllten Grube  / Foto © Igor Tereschkow
    Eine Ökologin neben einer ölgefüllten Grube / Foto © Igor Tereschkow

     

    Abgebrannter Wald in der Nähe der Erdölverschmutzungen, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Abgebrannter Wald in der Nähe der Erdölverschmutzungen, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Antonina Tewlina, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Antonina Tewlina, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Rentierhaut. Für die Chanten ist das Rentier alles: Freund, Transportmittel, Nahrung. Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Rentierhaut. Für die Chanten ist das Rentier alles: Freund, Transportmittel, Nahrung. Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Swetlana Stanislawowna Tewlina vor ihrem Tschum. Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Swetlana Stanislawowna Tewlina vor ihrem Tschum. Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
     Das Schneemobil Buran kommt auch im Sommer zum Einsatz, in Notfällen kommt man damit in Sumpf und Moor schnell voran, Jugra  / Foto © Igor Tereschkow
    Das Schneemobil Buran kommt auch im Sommer zum Einsatz, in Notfällen kommt man damit in Sumpf und Moor schnell voran, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Erdölverschmutzung am Ölfeld Mamontowskoje / Foto © Igor Tereschkow
    Erdölverschmutzung am Ölfeld Mamontowskoje / Foto © Igor Tereschkow
    Rentiergeweihe kommen bei der Verzierung von Kleidung und sogar für Details der Rentier-Geschirre zum Einsatz / Foto © Igor Tereschkow
    Rentiergeweihe kommen bei der Verzierung von Kleidung und sogar für Details der Rentier-Geschirre zum Einsatz / Foto © Igor Tereschkow
    Swetlana Stanislawowna Tewlina / Foto © Igor Tereschkow
    Swetlana Stanislawowna Tewlina / Foto © Igor Tereschkow
    Junge Rentiere am Sanky-Lor-See / Foto © Igor Tereschkow
    Junge Rentiere am Sanky-Lor-See / Foto © Igor Tereschkow

    Fotos und Text: Igor Tereschkow/ Takie dela
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am: 27.06.2019


    Der Autonome Kreis der Chanten und Mansen liegt etwa 3000 Kilometer nordöstlich von Moskau im Föderationskreis Ural
    Der Autonome Kreis der Chanten und Mansen liegt etwa 3000 Kilometer nordöstlich von Moskau im Föderationskreis Ural

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  • Demonstrativ beleidigt

    Demonstrativ beleidigt

    Nach dem Besuch des Duma-Abgeordneten Sergej Gawrilow im georgischen Parlament vergangenen Donnerstag war es in der Hauptstadt Tbilissi zu heftigen Protesten gekommen. Die Demonstranten hielten unter anderem Schilder hoch mit englischsprachigen Aufschriften wie „Stop Russia!“ oder „Russia is occupant“. Die Polizei ging mit alle Härte gegen die Demonstranten vor. 
    Nun kriselt es auch in den georgisch-russischen Beziehungen: Wegen der angeblich „russlandfeindlichen Provokation“ während der Proteste verhängte Russlands Präsident Putin am Tag darauf ein Flugverbot, russische Airlines dürfen ab dem 8. Juli keine Flüge nach Georgien mehr anbieten. Dies sei nötig, um die „nationale Sicherheit zu gewährleisten“. 
    Dabei sehen Beobachter in der Einladung Gawrilows und im brutalen Vorgehen gegen die Demonstranten vor allem eine Führungsschwäche der georgischen Regierung. Die Einladung stößt auf Unverständnis, zumal der Georgienkrieg von 2008 sowie die starke russische Militärpräsenz in Abchasien und Südossetien im medialen wie öffentlichen Bewusstsein Georgiens sehr präsent sind. 

    Doch weshalb reagiert Russland nun so scharf? Was bedeutet das Flugverbot zur Hochsaison tatsächlich für den Tourismus und für die Beziehungen der beiden Länder untereinander? Wjatscheslaw Polowinko und Arnold Chatschaturow haben für die Novaya Gazeta russisches Staatsfernsehen geschaut und unterschiedliche Politologen befragt.

    Die Proteste in Tbilissi, die am 20. Juni begonnen haben, wurden zum gefundenen Fressen für die Propagandamacher des russischen Fernsehens. Bis dato hatten sie noch rund zehn Mal täglich jedwede Neuigkeit aus der Ukraine wiedergekäut. „Neuer Majdan in Tbilissi“ titelte die Sendung 60 Minuten im Fernsehsender Rossija. Artjom Schejnin brachte das georgische Thema in seiner Sendung Wremja pokashet sehr ausführlich und genau, aber mit Standard-Einsprecher: „Die Menschen sind bestimmt nicht von allein auf die Straße gegangen, jemand hat sie instruiert.“

    In beiden Sendungen trat der russisch-orthodoxe Kommunist Sergej Gawrilow auf. Während der Interparlamentarischen Versammlung für Orthodoxie hatte er [im Plenarsaal des georgischen Parlaments – dek] auf dem Stuhl des Parlamentspräsidenten Georgiens Platz genommen, was der formale Auslöser für die Proteste war. 
    Wie ein Mantra wiederholte Gawrilow, dass die Schuld „auf Seiten der Gastgeber“ liege – alle anderen, angefangen bei  Alexander Chinschtein bis zu Maria Sacharowa, stimmten mit ein: Es sei eine „große zurechtgebastelte Provokation“.
    Zu einem gewissen Zeitpunkt schien es, der Kreml selbst glaube die Geschichten, dass die Proteste auf Befehl „englischsprachiger Instrukteure“ begonnen hätten und habe daraufhin entschieden, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Traditionell griff man zu Bomben auf Woronesh: Präsident Wladimir Putin erließ ein Verbot, das russischen Flugzeugen ab dem 8. Juli nicht mehr erlaubt nach Georgien zu fliegen. Bürgern, die schon dort sind, soll die Möglichkeit offen stehen, nach Hause zurückzukehren. 

    „Vom Sicherheits-Standpunkt her ist diese Maßnahme womöglich plausibel, aber sie schießt über das Ziel hinaus“, so der Polittechnologe Witali Schkljarow, der auch ein Jahr in Georgien gelebt hat. „Eine andere Frage ist, inwieweit es auch für einen Präsidenten juristisch überhaupt zulässig ist, privaten Airlines zu verbieten, in ein anderes Land zu fliegen.“
    Bei den Fluglinien allerdings wurden diesbezüglich keine Fragen laut: Sie murrten zwar ein wenig, stellten aber allesamt am 22. Juni den Verkauf von Flugtickets nach Georgien ein. Doch für die in Tbilissi lebenden Russen war die Entscheidung über die „Evakuierung“ ein echter Schock.  
    Aus Sicht des Kreml gibt es hier jedoch keinerlei Unstimmigkeiten, stellt der Polittechnologe Gleb Pawlowski klar: „Die Staatsmacht glaubt aufrichtig, dass sie Gutes tut, wenn all diese Menschen beispielsweise auf die Krim fahren können.“

    Viele Wege führen nach Tbilissi

    Das Verbot von Flügen nach Georgien ist ein Schlag für die Tourismusbranche des Landes. Nach Angaben russischer Reiseanbieter kommen jährlich im Durchschnitt  5 Millionen Touristen nach Georgien (im vergangenen Jahr waren es insgesamt 8,7 Millionen). Davon sind 1,4 Millionen russische Staatsbürger, mehr Menschen kommen nur aus Aserbaidschan. Im Jahr 2018 stieg die Zahl der russischen Besucher um 24 Prozent.
    Allerdings wird durch das Einstellen von Flügen russischer Airlines der Reisebetrieb nach Georgien nicht insgesamt lahmgelegt. Man muss nun Umwege nehmen, aber eine vollständige Blockade gibt es nicht.

    „Der Druck auf Georgien ist die Folge einer Kränkung der russischen Machthaber“, meint der Polittechnologe Alexej Makarkin. „Dabei geht es nicht einmal darum, dass der Abgeordnete Gawrilow beleidigt wurde, sondern dass sich die georgischen Machthaber nicht entschuldigt haben.
    Regierung und Opposition in Tbilissi sind zerstritten, ihr Problem ist nicht gelöst, aber einen offensichtlichen Konsens gibt es: Gawrilow ist selber schuld. In Russland schmerzt eine solche Position, darum hat man sich überlegt, wie man [zurück]schlägt.“

    Georgischen Wein zu verbieten ist sinnlos, das hat schon vor gut zehn Jahren nicht sonderlich gut funktioniert. Also hat man sich jetzt auf die Touristen fokussiert, die sich, vorwiegend wegen der russischen Staatspolitik gegenüber Ägypten und der Türkei in den vergangenen Jahren, nach Tbilissi umorientiert haben: Dort ist es günstig und lecker. 

    Die Georgier unterscheiden stets zwischen der russischen Regierung und den russischen Bürgern

    In Tbilissi selbst nimmt man die Taktik des Kreml mit Ironie auf: „Es gibt einen ökonomischen Aspekt dabei, ja, der mag unangenehm sein, aber auch nicht wirklich gravierend“, erklärt Jegor Kuroptew, ein russischer Medienmanager, der in Tbilissi arbeitet. „Russische Touristen sind hier sehr beliebt. Die kommen sogar und beobachten die Proteste, finden das interessant, alles ist in bester Ordnung. Daher wirkt es merkwürdig, den eigenen Leuten zu verbieten, irgendwohin zu fliegen. Schade, dass der Kreml mit einer solchen Entscheidung versucht, die Beziehung zwischen den Völkern zu verschlechtern.“  

    „Die Georgier unterscheiden stets zwischen der russischen Regierung und den russischen Bürgern. Gegenüber dem Kreml hat das Land sehr klare Vorbehalte: Gespräche mit Politikern darf es nur über eine ,Deokkupation der Gebiete’ [von Abchasien und Südossetien – Novaya] geben“, meint Kuroptew. „Dass sich Gawrilow auf den Stuhl des Parlamentspräsidenten gesetzt hat, das war bloß der Auslöser. Dass überhaupt eine offizielle russische Delegation mit Duma-Abgeordneten kommt, konnte nur so aufgenommen werden“, schließt Kuroptew.

    Der Kreml bietet den Menschen wieder das Thema Kampf mit dem äußeren Feind an

    Die Idee des Kreml bestehe darin, den Abgeordneten Gawrilow pars pro toto mit den Bürgern Russlands gleichzusetzen, sagt Alexej Makarkin. Georgien sei für den Kreml in vielerlei Hinsicht nebensächlich. Diese Proteste könnten [dem Kreml] aber dazu dienen, neues Leben in die Beziehungen mit einem ganz anderen, einem loyalen, aber mittlerweile unzufriedenen Gegenüber einzuhauchen: „Dieses Verbot und die Informationskampagne zielt auf solche Menschen ab, die sowieso nicht nach Georgien reisen. Die Logik dahinter: Sie schikanieren uns, und wir sollen auch noch dorthin fahren? Wir helfen sowieso allen, uns sind sowieso alle zu Dank verpflichtet. Das Verbot soll gerade die Menschen zusammenschweißen, die so denken“, betont Makarkin. „Früher haben sie traditionsgemäß den Staat unterstützt, dann aber kam die Rentenreform, und die Menschen wollten Gerechtigkeit. Nun bietet man ihnen wieder das Thema Kampf mit dem äußeren Feind an.“

    Für den Kreml sei der ganze Vorfall ein unerwartetes Geschenk, meint auch Gleb Pawlowski: „Ein Flugverbot ist in diesem Fall zwar übertrieben, Moskau aber will diese Geschichte aufbauschen. Rein praktisch sind diese Proteste für den Kreml ungünstig, aber gleichzeitig eine passende Gelegenheit, um sich demonstrativ beleidigt zu zeigen und nach Bedarf die Eskalation fortzusetzen“, so Pawlowski. 

    Die Beziehungen des Kreml mit den georgischen Machthabern waren in den letzten Jahren durchaus sachlich (soweit das überhaupt möglich ist, wenn die diplomatischen Beziehungen abgebrochen sind). Angesichts der Ergebnisse des ersten Protesttages schrieb aber die georgische Präsidentin Salome Surabischwili auf Facebook, dass die Massenproteste ausschließlich Russland zupass kämen, das „Feind und Besatzer“ sei. Interessant, dass Surabischwili, die die Protestierenden de-facto des Spiels auf der Seite der „Besatzer“ beschuldigt, dabei die Rhetorik der Demonstranten aufgreift.
    Solche Slogans wurden übrigens zu einem zusätzlichen Reizfaktor für die russischen Machthaber. Eine Version legt nahe, dass das Verbot gerade dann durchgesetzt wurde, als die Banner-Sprüche gegen Russland und Putin durch die Welt gegangen waren.

    Laut Experten wäre es logisch gewesen, bei einer neuerlichen Eskalation im Konflikt zwischen Russland und Georgien gleich am Anfang auf die Bremse zu treten. Nun aber sei das schon sehr schwierig: Jetzt sei der Moment, alle Vorteile aus der aufgeheizten Stimmung bis zum Ende „auszuschöpfen“, meint Gleb Pawlowski.
    Außerdem „muss einer den ersten Schritt machen“ zur Versöhnung, ergänzt Witali Schkljarow. Den aber will keiner machen. Und vielleicht kann es auch keiner.  

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  • Golunow ist frei – und jetzt?!

    Golunow ist frei – und jetzt?!

    99,64 Prozent – so hoch war 2017 laut Oberstem Gericht Russlands die Wahrscheinlichkeit, dass ein russisches Gericht den Schuldspruch fällt. Dass der Investigativreporter Iwan Golunow nun freigesprochen wurde, ist damit eine große Ausnahme. Für die Behörden steht fest, dass dem Journalisten Drogen untergejubelt wurden, um ihn nach Paragraph 228 wegen Drogenhandels zu verurteilen. Rund ein Drittel aller derzeitigen Gefängnisinsassen in Russland wurde nach Paragraph 228 des Russischen Strafgesetzbuchs verurteilt. Viele von ihnen sind unschuldig, meinen Beobachter – ihnen seien Drogen untergejubelt worden, um sie aus dem Weg zu räumen.

    Nun wurden zwei hochrangige Moskauer Polizeichefs entlassen. Die Duma kündigte außerdem neue Drogengesetze an. Gleichzeitig wurden bei der nichtgenehmigten Protestaktion im Moskauer Stadtzentrum am gestrigen Mittwoch nach Angaben von OWD-Info 549 Personen zumindest kurzzeitig festgenommen. 

    Was kommt nach dem Fall Golunow? Änderungen im System? Ein breiter Protest für eine unabhängige Rechtsprechung? Oder doch nur business as usual? Michail Schewtschuk kommentiert auf Republic

    Die Strafsache gegen den Journalisten von Meduza Iwan Golunow ist beendet, kaum dass sie begonnen hat. Sie endete völlig überraschend mit seiner Freilassung, die der Innenminister Wladimir Kolokolzew persönlich verkündete. Ein solcher Ausgang ist völlig untypisch für Russland und doppelt untypisch, wenn es um Drogen geht. 

    Nach der Nachricht über die Freilassung kam als erstes die Frage nach der Verantwortung der zuständigen Mitarbeiter, die Golunow Mephedron in den Rucksack und Kokain in die Wohnung untergeschoben haben. Die Antwort auf diese Frage ist jedoch im Grunde offensichtlich: Wir sehen ja, dass Innenminister Kolokolzew sehr entschieden ist, wahrscheinlich wird er uns schon bald die Halunken zeigen, die die Offiziersehre befleckt haben. Womöglich wird ihnen dieses Mal ausnahmsweise nicht schon im Vorfeld [der Tat – dek] gekündigt worden sein, wie das schon öfter der Fall war.  

    Die Gerechtigkeit hat triumphiert, die Medien und sozialen Netzwerke sind von Euphorie gepackt und begeistert voneinander. Die Oppositionellen – eh klar, aber ab einem bestimmten Moment traten auch Propagandamacher aus dem Fernsehen für Golunow ein, und sogar eine Maria Sacharowa war zu Tränen gerührt – geradezu ein Krim-Konsens der Intelligenzija zeichnet sich ab. 

    Einen Anlass gibt es zweifelsohne – und wir sind sogar bereit nicht zu bemerken, dass die Entscheidung, Golunow freizulassen, offensichtlich eine politische ist. Das heißt, sie wurde nicht getroffen, weil es den Anwälten gelang, etwas zu beweisen, sondern weil der Kreml aus dem einen oder anderen Grund den Skandal beenden wollte. 

    Wir sind sogar bereit, nicht zu bemerken, dass die Entscheidung, Golunow freizulassen, offensichtlich eine politische ist

    Bei all seiner Unschuld hatte Iwan Golunow alle Chancen in einen langen und ermüdenden Prozess zu geraten. Selbst wenn dieser ebenfalls mit einer Aufhebung des Verfahrens geendet hätte, so hätte es doch Monate oder gar Jahre gedauert, und die ganze Zeit hätte Golunow in Untersuchungshaft verbracht.

    Nein, dieser Umstand schmälert den Sieg nicht – früher hätte der Kreml so etwas niemals gewollt und vielen schien jetzt sogar, dass die Zivilgesellschaft dem Staat letztendlich einen neuen Gesellschaftsvertrag mit verbesserten Bedingungen abgerungen habe. Einigen wurde womöglich sogar warm ums Herz, angesichts des verwandelten Ministers Kolokolzew.

    Die Illusion zerbrach jedoch umgehend. Die öffentliche Demütigung ärgert den Staat: Unmittelbar nach der Nachricht über die Freilassung weigerte er sich, den für den 12. Juni angesetzten friedlichen Demonstrationszug zur Unterstützung Golunows zu genehmigen, und erklärte, dieser stelle eine Sicherheitsbedrohung dar. Zähneknirschend genehmigte die Verwaltung „angesichts der großen öffentlichen Resonanz“ eine halboffizielle, vom Journalistenverband organisierte Demo am 16. Juni auf dem Sacharow-Prospekt. 

    Die Illusion zerbrach umgehend

    Die Organisatoren der Versammlung am 12. Juni stahlen sich aus der Verantwortung, auch die Meduza-Redaktion nahm Abstand von der Aktion, und sogar Iwan Golunow bat nach seiner Freilassung, von Protestaktionen abzusehen (war das eine Bedingung für die Freilassung? Wohl kaum, versteht sich).

    Die Aktivisten, die nicht so schnell auf die Bremse treten konnten, gingen am 12. Juni auf die Straße, wo sie auf vertraute Gefangenentransporter, OMON-Ketten und Festnahmen stießen. Nach Angaben von OWD-Info landeten schließlich rund 500 Personen auf Polizeirevieren [die aktuelle Zahl liegt bei 549 – dek], darunter viele Journalisten, die auf der Versammlung ihrer Arbeit nachgegangen waren. Ebenfalls festgenommen wurde der Oppositionelle Alexej Nawalny. Die OMON-Polizisten gingen recht brutal vor, es kam zu Schlägen und Gewaltanwendungen, Anwälte wurden beim Versuch, in die Polizeireviere zu gelangen, behindert. 
    Der Staat hat den Protestierenden zugezwinkert – um kurz darauf zu zeigen, dass die Freilassung von Iwan Golunow eine einmalige Aktion war, eine situative Entscheidung. Mit mehr ist nicht zu rechnen, abgesehen von Kreml-Anweisungen ändern sich die Regeln nicht. Da helfen auch keine Freudentränen von Maria Sacharowa, die ohnehin schon getrocknet sind.

    Der Moral-Code in uns 

    In der Debatte um den Fall Golunow schwappten nicht wenige ähnliche, vergleichbare Fälle in die Öffentlichkeit: Was soll nun mit ihnen passieren? Vergessen im Freudentaumel? 

    Die Geschichte – natürlich ist sie noch nicht vorbei – hat zu viel Aufmerksamkeit erregt, als dass man aus ihr keine Schlüsse ziehen könnte. Welche Schlüsse der Staat ziehen wird, wissen wir noch nicht. Womöglich wird man beschließen, sich künftig besser vorzubereiten: lieber einen guten alten Extremismus-Fall stricken wie bei Pjotr Milosserdow, ohne diese idiotischen Drogenlabors (wer denkt sich sowas aus?), und Festnahmen sollten vielleicht nicht während des Petersburger Wirtschaftsforums durchgeführt werden. Wenn dann beim nächsten Mal ein Investigativjournalist oder ein Menschenrechtler festgenommen wird, wird es mit der Empörung schon deutlich schwerer.

    Die Opposition hat den Staat auf Robustheit getestet. Doch auch der Staat testet die Opposition auf Kompromissbereitschaft und prüft die Grenze möglicher Zugeständnisse.

    Eine andere Frage ist, welche Schlüsse die Gesellschaft nun ziehen muss, wie man auf das Rechtssystem schauen soll.

    Eigentlich müsste sich ja jeder einfache Polizist darüber klar sein, dass das Unterschieben von Drogen illegal ist. Aber hier handelt er in der Logik des Moral-Codes von Gleb Sheglow: „Ein Dieb muss im Gefängnis sitzen – doch wie ich ihn einbuchte, interessiert die Leute nicht.“ 
    Dass etwa Iwan Golunow kein Verbrecher ist, das ist zwar für Journalisten offensichtlich, doch für einen Fahndungsbeamten ist das keineswegs ein Fakt – ihm ist es einerlei, ob das nun Golunow, Michael Calvey, Gouverneur Choroschawin oder Minister Uljukajew ist. 

    Doch dieser Moral-Code gilt nicht nur im Innenministerium und bei anderen Organen der Silowiki – in Russland findet er sich in breiten Teilen der Bevölkerung. 

    Der Fall Golunow konnte – und kann derzeit immer noch – Anlass werden, um eine konsequente Reform der Rechtsschutzorgane zu fordern und eine endgültige Diskreditierung der Sheglowschen Maxime zu erreichen. Gerade jetzt, auf der Welle der kurzfristigen Solidarität, könnten auch ganz offizielle, kreml-loyale Strukturen hierzu aufrufen. 

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  • Fall Golunow – hinter den Kulissen

    Fall Golunow – hinter den Kulissen

    Die Nachricht kam Dienstagnachmittag für viele völlig überraschend – umso größer war die Freude: Iwan Golunow ist frei!
    Der Investigativjournalist von Meduza stand seit Samstag unter Hausarrest, ihm war versuchter Drogenverkauf vorgeworfen worden. Sein Fall schlug hohe Wellen: So solidarisierten sich russische liberale wie staatsnahe Medien mit Golunow, außerdem Künstler wie der Regisseur Andrej Swjaginzew und die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, und auch die Zivilgesellschaft reagierte sofort, für den heutigen 12. Juni war ein Protestmarsch geplant. Die dekoder-Redaktion hatte noch am Dienstag einen offenen Brief veröffentlicht.

    Seine plötzliche Freilassung und das Fallenlassen der Anschuldigungen gegen ihn sorgten für großen Jubel. Hatten die Behörden dem Druck der Öffentlichkeit nachgegeben? 
    Auf The Bell erschien nun ein Text, der informiert, was seit dem Tag der Festnahme Golunows, dem 6. Juni, hinter den Kulissen geschah. Darin erzählt Dmitri Muratow, ehemaliger Chefredakteur der unabhängigen Novaya Gazeta, der an den Verhandlungen beteiligt war. Seine Schilderungen zeigen einmal mehr, dass es in Russland nicht unbedingt die Gerichte sind, die über eine Freilassung oder Verurteilung entscheiden.

    Im Fall Golunow hat es am Samstag ein Treffen in der Moskauer Stadtverwaltung gegeben – noch vor der eigentlichen Gerichtsverhandlung. Das berichtet Dmitri Muratow, Aufsichtsratschef der Novaya Gazeta.   

    Muratow zufolge waren [neben Muratow und Alexej Wenediktow, Chefredakteur des kritischen Radiosenders Echo Moskwydek] auch Natalja Sergunina (Leiterin des politischen Bereichs) und Alexander Gorbenko (Verantwortlicher für  Informationspolitik und Sicherheit) dabei, die beiden Stellvertreter von Bürgermeister Sergej Sobjanin.

    „Auf unsere Bitte hin war zu dem Treffen [der Moskauer Polizeichef] Generalleutnant Oleg Baranow eingeladen. 
    Wir haben lange Zeit Fragen gestellt, danach wurde den verschiedenen Seiten klar, dass die Argumente der Anklage völlig unhaltbar sind“, so Dmitri Muratow. „Genau dort in der Stadtverwaltung begann dann auch der Dialog, und es entstand die Idee, das Wanja freigelassen, ja zumindest in Hausarrest überführt werden muss. Die Anwälte stellten entsprechende Anträge und händigten unsere Bürgschaften aus. 
    Das Gericht hörte ihre Argumente an und bezog selbstverständlich in seine Überlegungen mit ein, dass die Öffentlichkeit nicht einfach nur kochte, sondern immer neue Unstimmigkeiten in der offiziellen Version aufgedeckt wurden. So traf das Gericht schließlich die erste richtige Entscheidung: Unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustands und der Situation insgesamt wurde Golunow nicht inhaftiert.“ 
    Was mit ihm geschehen wäre, wenn er inhaftiert worden wäre, sei völlig unklar – denn niemand wisse, ob die Auftraggeber dieses Falls Kontrolle über die Untersuchungsgefängnisse hätten, fügt er noch hinzu. 

    Die politische Führung des Landes hat die richtige Entscheidung getroffen

    Den nächsten Schritt, fährt Muratow fort, habe man ab Montag besprochen. An der Entscheidung sei Wladimir Putin beteiligt gewesen. Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa habe Putin die Situation „ausführlichst“ dargelegt. Beim Rausgehen habe sie die Vermutung geäußert, dass womöglich mehrere zehntausend Urteile in Drogendelikten fingiert seien. 
    „Die politische Führung des Landes hat die richtige Entscheidung getroffen; sie hat richtig eingeschätzt, dass die Geheimdienste, so meine Vermutung, ihren Vertrauensbonus ausgenutzt haben, um bei der Führung Moskaus und der Staatsführung eine für sie [die Geheimdienste – dek] nützliche Sichtweise zu etablieren“, so Muratow.

    Im Grunde sei die Entscheidung schon am Vorabend getroffen worden, doch alles sollte auf gesetzlicher Grundlage vonstatten gehen, also habe man auf die Auswertungen der DNA-Proben gewartet. Diese seien am 11. Juni tagsüber gekommen, an dem beschlagnahmten Gut habe es keinerlei Spuren von Golunow gegeben. 
    „Es blieb nur eine Möglichkeit: Golunow in seinen Beruf zurückzulassen und den Journalisten und der Öffentlichkeit zu danken für ihre beispielhafte Solidarität“, sagt Muratow. Er glaubt, der Brief mit der Aufforderung, Golunow freizulassen, sowie die Bereitschaft tausender Menschen, am 12. Juni am Solidaritätsmarsch teilzunehmen, hätten die Situation entscheidend beeinflusst.

    Feiern statt Protestieren – ein Deal mit der Stadtverwaltung?

    Am Dienstag veröffentlichten Muratow, Meduza-Gründerin Galina Timtschenko, Meduza-Chefredakteur Iwan Kolpakow und The Bell-Gründerin Jelisaweta Ossetinskaja eine gemeinsame Erklärung, in der sie schrieben, dass die Verhandlungen mit der Stadtverwaltung über den Marsch am 12. Juni in eine Sackgasse geraten sei. „Unser Vorschlag: morgen ein bisschen was trinken, und dann in den nächsten Tagen die Genehmigung für eine Aktion im Zentrum von Moskau erreichen“, heißt es in der Erklärung. Jedoch zählen diese Vier nicht zu den Organisatoren des Marsches.  

    Wir [The Bell] haben Muratow und Timtschenko gefragt, ob ihre Gesprächspartner in der Moskauer Stadtverwaltung den Wunsch geäußert hätten, den Marsch nach der Freilassung Golunows abzusagen. Muratow hat bislang noch nicht darauf geantwortet. Timtschenko sagte, sie habe überhaupt nicht mit der Stadtverwaltung gesprochen, sondern lediglich mit dem Anwalt Golunows, Sergej Badamschin, der sie gebeten habe, sich in den nächsten Tagen Gedanken um die Sicherheit und Gesundheit Golunows zu machen.  
    „Ich bin weder Initiatorin noch Organisatorin. Ich hatte eine andere Aufgabe: Wanja mit Hilfe von Anwälten rauszuholen. Aber ich danke allen zum hundertsten Mal für die Unterstützung und wünsche mir sehr, dass wir nicht vergessen, wie viel heller, besser und wirksamer Solidarität ist als Streitigkeiten und Skandale“, sagte Timtschenko The Bell.

    Erlaubnis, solidarisch zu sein

    Das Online-Journal Projekt hatte am Montag mit Verweis auf zwei Kremlbeamte berichtet, dass die Präsidialadministration bestrebt sei, das Strafverfahren gegen Golunow bis zum 20. Juni zu schließen – wenn Putins Direkter Draht stattfindet. Den Quellen von Projekt zufolge war es der Vorsitzende der Präsidialadministration Anton Waino, der am 8. Juni die Entscheidung getroffen hatte, Golunow unter Hausarrest zu stellen. Und Wainos Stellvertreter Alexej Gromow habe schließlich den Fernsehsendern erlaubt, den Journalisten öffentlich zu unterstützen.

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    Warum der Fall Golunow alles zum Kochen brachte

    Viele Menschen in Russland wähnen sich derzeit in einem Traum: Iwan Golunow, der am Donnerstag noch wegen angeblichen Drogenhandels festgenommen wurde, ist frei. Wie ist das möglich? Eine gezielte Volte des Kreml? Oder gab er schlicht dem Druck der Straße nach? Die Ereignisse überschlagen sich, und die Gerüchteküche zu den schon zuvor gemutmaßten Gründen für die mögliche Freilassung brodelt nun noch mehr.

    Der Name Golunow ist seit vergangener Woche in aller Munde, eine bislang nie dagewesene Welle der Solidarität hat seitdem das Land erfasst. Tausende Menschen demonstrierten, sogar staatsnahe Stimmen stellten sich auf die Seite der Protestierenden. Sie waren von Anfang an überzeugt, dass die Vorwürfe gegen Golunow vorgeschoben sind und eigentlich darauf abzielen, seine journalistische Tätigkeit zu unterbinden. Auch im Ausland war der Fall Golunow Thema: Reporter ohne Grenzen forderte die Freilassung des Journalisten, in Berlin demonstrierten am Samstag dutzende Menschen vor der Russischen Botschaft und auch die dekoder-Redaktion schrieb einen offenen Brief zur Unterstützung von Iwan Golunow.

    Vergleichbare Fälle von Festnahmen und Verhaftungen aus fadenscheinigen Gründen gab es in Russland schon vor der Causa Golunow. Doch warum gab es damals keine derartigen Proteste? Warum schwappte die Solidaritätswelle gerade jetzt so hoch? Diese Fragen stellt Katerina Gordejewa auf Colta.

    Seit dem Morgen sind an den Zeitungskiosks im ganzen Land die Zeitungen Vedomosti, Kommersant und RBC ausverkauft, die Fluggäste von Aeroflot und Fahrgäste im Sapsan reißen einander die kostenlosen Exemplare aus der Hand – auf der Titelseite das Portrait des Investigativ-Ressort-Journalisten von Meduza Iwan Golunow mit dem Slogan Ich bin/Wir sind Iwan Golunow

    Dutzende großer und kleiner Medien im ganzen Land ändern ebenfalls ihre Titelseite und drücken so ihre Solidarität mit dem wegen Verdacht auf Drogenbesitz und -handel festgenommenen Kollegen aus.

    Der Schauspieler Konstantin Chabenski erklärt bei der Jubiläums-Eröffnung des 30. Kinotaur Festivals, dass gerade „versucht wird, einen Journalisten auszuschalten“; im Saal bricht tosender Applaus los, der Fernsehsender Kultura überträgt die Szene ungekürzt, im Vordergrund des Bildes: Kulturminister Wladimir Medinski.

    Die, die früher bei anderen himmelschreienden Anlässen vorgezogen haben, vieldeutig zu schweigen oder „den weisen Schluss zu ziehen“, es gebe „kein Rauch ohne Feuer“, diese demonstrativ apolitischen Schauspieler und Musiker, vorsichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Designer, Kuratoren, Regisseure, Moderatoren des staatlichen Fernsehens – diesmal war es, als könnten sie nicht mehr: Sie haben den Mund aufgemacht und gesprochen.

    Die Causa Golunow ist zum Referenzpunkt für eine nie dagewesene Solidarität geworden. Erstmals in einem relativ langen historischen Zeitraum ist die vor den Augen grassierende Ungerechtigkeit wichtiger als Meinungsverschiedenheiten. Es ist ein Präzedenzfall in der neuesten Geschichte.

    Kein Peskow kann mehr sagen: „Der Präsident hat davon noch keine Kenntnis.“ Schon jetzt – und das wird nur noch mehr – pfeifen die Spatzen von allen Dächern die Ungereimtheiten des Falles, die polizeiliche Willkür, den Auftragscharakter der ganzen Sache.

    Einige tausend Menschen protestierten und protestieren immer noch landesweit in Einzelpikets: Sie nehmen Videos auf, mit denen sie den Journalisten unterstützen, schicken Anfragen und wollen am Tag Russlands zum Protestmarsch gehen. Als ob all diese Menschen gemeinsam das Ventil umgedreht hätten: Und damit den Lügenstrahl ab- und den der Wahrheit aufgedreht haben.

     
    Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens zeigen in Videobotschaften ihre Solidarität mit Iwan Golunow. Hier: Wladimir Posner, Ljudmila Ulitzkaja, Andrej Swjaginzew, Andrej Loschak, Olga Romanowa und Boris Grebenschtschikow

    Warum bringt gerade der Fall Golunow alles zum Kochen? Warum nicht Ojub Titijew, Chef des tschetschenischen Memorial? Warum nicht Kirill Serebrennikow, Juri Dmitrijew, Alexander Kalinin? Und warum nicht dutzende junge Leute aus ausgedachten terroristischen Vereinigungen? Wahrscheinlich werden Politologen und Soziologen eines Tages eine schöne und elegante Erklärung dafür liefern. Bislang weiß es aber ganz bestimmt noch keiner.

    Die Initiatoren des Ganzen waren Kollegen von Golunow – Journalisten. Es ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass der Großteil der Menschen vor dem Gerichtsgebäude oder in den Einzelpikets aus Journalisten besteht, die gegangen wurden oder ihren Beruf aufgegeben haben, weil sie sich darin nicht verwirklichen konnten. Ein Teil der Redaktionen wurde liquidiert, ein anderer überlebt nur dank übermenschlichen Anstrengungen. Bis zu dem Fall Golunow schien es, dass der Beruf quasi ausgestorben sei. Golunow aber hatte weiterhin Journalismus gemacht. Im wahrsten Sinne des Wortes. 

    Aber es geht nicht allein darum. Vielleicht hat es auch mit dem kollektiven Schauen der Serie Chernobyl zu tun, deren Hauptgedanke darin besteht, den fatalen physischen und moralischen Schaden zu verdeutlichen, den Lügen auf allen Ebenen hervorrufen.

    Oder vielleicht geht es darum, dass Iwan Golunow ein guter, einfacher, bescheidener junger Mann ist, der in einer 30-Quadratmeter-Einzimmerbude wohnt. Vor seiner Verhaftung war er vor allem für seinen tadellosen Ruf und seine einwandfreie Professionalität bekannt. Menschen, die Iwan etwas näher kannten, wissen, dass er im Leben mit größter Leidenschaft verstehen wollte, wie die Dinge funktionieren. Seine Lieblingslektüre war die SPARK-Datenbank, eine Webseite über Staatsverträge, staatliche Register und Datenbanken. Seine Analysen und Schlussfolgerungen legten die Affären und Betrügereien offen, in denen das Land versank.

    Der [im Fall Golunow zur Diskussion stehende – dek] Paragraph 228 ist in Russland als „Volksparagraph“ bekannt – auf ihm beruht der Löwenanteil der Urteile, wobei die Rolle der Polizei hier kaum zu überschätzen ist. 
    In einem Land, in dem eine AIDS-Epidemie wütet und Drogen jedem zugänglich sind, der danach sucht, bietet dieser Paragraph eine sehr bequeme Gelegenheit, bei einer beliebigen Person auf der Straße im Rucksack einfach das zu finden, was gesucht – oder besser: was benötigt wird. Genau deswegen sind jetzt in der Causa Golunow jene Stimmen unangebracht, die behaupten, dass sich die Journalisten nur deswegen so ins Zeug legen, da es sich um einen der ihren handelt, während viele andere unter den gleichen Vorwürfen im Gefängnis vor sich hin gammeln. Niemand, egal ob bekannt oder unbekannt, sollte im Gefängnis sitzen, nur weil Polizisten, um ihre Bilanzen zu schönen, offene Fälle zu schließen und einen Stern zu bekommen, jeden ausschalten, um den man sie bittet.

    Nun wurde im Fall Golunows ein Teilerfolg erzielt. Am Samstagabend beschloss das Nikulinski-Gericht in Moskau, Golunow unter Hausarrest zu stellen – eine vergleichsweise weiche Maßnahme, jedoch ist das weder ein vollständiger Freispruch im Gerichtssaal noch ist der Angeklagte auf freien Fuß gesetzt.

     

    Hausarrest statt Untersuchungshaft: Freude bei den Versammelten vor dem Moskauer Nikulinski Bezirksgericht am 8. Juni

    Der Slogan Freiheit für Iwan Golunow, der derzeit wohl überall zu sehen ist, kann erst dann als eingelöst gelten, wenn nicht nur der Investigativjournalist von Meduza freigelassen wurde, sondern alle, die die Anklage gegen ihn bestellt, fabriziert und ausgeführt haben namentlich benannt und bestraft worden sind. Dann können wir den Slogan umformulieren: Statt Freiheit für Iwan Golunow hieße es dann Danke Iwan Golunow.

    Denn schließlich war er es, war es sein Fall, der uns geholfen hat die in Chernobyl so treffend formulierte Maxime zu begreifen: „Wenn die Wahrheit uns kränkt, dann lügen wir, lügen, bis wir uns nicht mehr daran erinnern, dass es die Wahrheit gibt. Aber es gibt sie.“

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