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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Verfassungsstreich im Eiltempo

    Verfassungsstreich im Eiltempo

    Nur fünf Tage nachdem Wladimir Putin die Verfassungsreform verkündet hat, präsentierte die dafür eiligst einberufene Arbeitsgruppe am Montag ihre Vorschläge: 14 Artikel der Verfassung sollen demnach geändert werden. Ebenfalls im Eiltempo wird nun auch die für den 12. April 2020 angepeilte Volksabstimmung durchgezogen. 

    Abgestimmt wird wohl über ein „Paket“ an Fragen, dessen Zusammensetzung allerdings noch nicht klar ist. Einige Beobachter in Russland witzeln, dass es folgendermaßen lauten könnte: „Sind Sie für kostenloses Schulessen an allen Grundschulen des Landes (und für die Verfassungsänderung)?“

    Ähnlich galgenhumorig nimmt es auch der oppositionelle Politiker und Journalist Fjodor Krascheninnikow. Für The New Times geht er der Frage nach, wie die künftige Verfassung Russlands aussehen wird – und warum das System Putin damit womöglich sein eigenes Grab schaufelt.

    Wladimir Putin, der die ersten 20 Jahre seiner Regierungszeit nicht müde wurde, die Sicherheit der geltenden Verfassung zu beteuern, hat nun entschieden, sie abzuändern. Und auf diese Weise zu ermöglichen, selber weiter zu regieren: nicht als ein vom Volk gewählter Präsident, sondern als ein von der Notwendigkeit irgendwelcher Wahlen losgelöster Autokrat, der einen wie auch immer gearteten, in der Verfassung verankerten Schlüsselposten einnehmen wird. So und nur so sind die am 15. Januar verlautbarten Thesen zu einer Verfassungsreform zu verstehen. Faktisch geht es um einen Verfassungsstreich, der in den nächsten Monaten in rasender Geschwindigkeit mit Hilfe des handgesteuerten Parlaments und aller übrigen Machtorgane durchgeführt werden wird. Die Änderungen werden eine vollkommen neue Verfassung schaffen, die eine prinzipiell andere Machtstruktur beschreibt.

    Faktisch geht es um einen Verfassungsstreich

    Bezeichnend ist, dass eine wirkliche Beteiligung der Bürger Russlands an diesem Prozess in keiner Weise vorgesehen ist – Putin selbst hat das Wort Referendum nicht erwähnt, nur die Verlautbarungen anderer Vertreter der Machtelite lassen auf nichts anderes schließen. Doch selbst wenn Wahlen den Austausch der geltenden Verfassung gegen ein grundlegend neues Dokument begleiten, so kann Status, Ehrlichkeit und Transparenz der Abstimmung schon jetzt bezweifelt werden – insbesondere wenn man berücksichtigt, auf welchem Ehrlichkeitsniveau und mit welcher Transparenz Wahlen und Wahlkämpfe in Russland normalerweise ablaufen.

    Um den Verfassungsstreich zu ermöglichen, wurde als Nebelkerze eine Hammerdosis Sozialpopulismus gezündet: Erziehungsgeld, kostenloses Schulessen, in der Verfassung verankerter Mindestlohn und Rentenausgleich und so weiter. Es ist keineswegs Fakt, dass all das im Endeffekt umgesetzt und das Leben der Menschen besser wird, doch einen Bonus und einen Zuwachs auf der Beliebtheitsskala wird Putin in jedem Fall davon haben. 

    Während die von den Staatsalmosen abhängigsten Bürger ihre zukünftigen Gewinne zusammenzählen, wird die Umstrukturierung des Machtsystems in ungeheurem Tempo durchgezogen – und danach wird alles egal sein: Man kann die Regierung einfach wieder für unfähig erklären, Sozialprogramme umzusetzen, und sie absetzen. Man kann die Duma auflösen und eine neue wählen und diese Tricks dann ein paar mal wiederholen. Wenn dann die Erwartungen schrittweiser sozialer Verbesserungen sowie die Verbesserungen selbst schwinden, wird alles getan sein: Die Bürger werden es mit einem völlig neuen Staat zu tun haben, bei dem nicht mal klar ist, ob in seinem Namen weiterhin das Wort „Föderation“ zu finden sein wird.

    Die Verfassung von 1993 ist schlecht – und alle, die das jahrelang bestritten haben, sollten еs zumindest jetzt einsehen. Sie war weder imstande die realen Rechte der Bürger noch sich selbst zu schützen.

    Erst jetzt ist klar geworden, dass der ganze Liberalismus und das Demokratische der Verfassung nur von einem garantiert wurde – dem guten Willen des ersten Mannes im Staat, ihres Garanten, des Präsidenten Russlands. Sobald ein anderer Präsident nicht mehr ihr Garant sein wollte und entschied, sich von ihrem Geist zu lösen, zeigte sich, dass dem nichts im Wege steht. Nachdem der liberale Geist der Verfassung vernichtet war, war auch ihr Wort verdammt.

    Die Verfassung wurde nur von einem garantiert: dem guten Willen des Präsidenten

    Die Verfassung von 1993 sollte den Präsidenten vor dem Parlament schützen. Doch die Autoren der Verfassung fürchteten nicht nur das Parlament, sondern auch die Bürger Russlands. Aus irgendeinem Grund schien ihnen, wenn man den Gemeinden und Regionen und – vor allem – den Bürgern zu viele Vollmachten gibt, dass dann automatisch die Rot-Braunen an die Macht kommen, die sowjetischen Revanchisten.

    Und sie sind tatsächlich gekommen, allerdings nicht von unten und nicht durch einen Sieg bei der Dumawahl, sondern von oben: aus der Masse des Beamten- und Silowiki-Apparates, aus den Eliten der 1990er Jahre. Und es hat sich gezeigt, dass die Verfassung keinen Schutz davor bieten kann.

    Die Vollmachten der regionalen Selbstverwaltung waren in der Verfassung nur sehr allgemein festgeschrieben, genauso die Verfahren zur Gouverneurswahl und zur Bildung solch wichtiger Institutionen wie dem Föderationsrat. Kurz: Es gab niemanden, der den von oben kommenden Impulsen etwas entgegensetzen konnte. 

    Schließlich sind wir da gelandet, wo wir gelandet sind: Ohne jegliche Verfassungsänderung wurde die regionale Selbstverwaltung praktisch vernichtet und der Föderalismus demontiert. Und es gab keine Mechanismen, um das aufzuhalten. 
    Die Gewaltenteilung erwies sich als Fiktion, die schwülstigen Worte über die unveräußerlichen Rechte und Freiheiten des Menschen erwiesen sich als Fiktion, die Stabilität der Verfassung erwies sich als Fiktion. Alles, dessen sich die gegenwärtige Verfassung rühmte, erwies sich als Fiktion. 
    Ihr eigentlicher Inhalt bestand letztendlich in den großen, unermesslichen, unveräußerlichen und unbestreitbaren Machtbefugnissen des Präsidenten. Nur hat noch der letzte Schritt gefehlt, das allmächtige Amt durch eine konkrete Persönlichkeit zu ersetzen – und der wurde nun vollzogen. Nach Putins Reform wird es völlig unerheblich sein, wer der Präsident ist, denn solange Putin an der Macht ist, wird Putin auch das Sagen haben.

    Nach der Reform wird es völlig unerheblich sein, wer der Präsident ist, denn solange Putin an der Macht ist, wird Putin auch das Sagen haben

    Bedauerlicherweise gibt es keinen Zweifel daran, dass Putin die Verfassung so umschreiben wird, wie er sich das vorstellt, und dass er sie letztendlich zu einer Garantie seiner lebenslangen Herrschaft machen wird. Die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe für die schnellen Verfassungsänderungen lässt keinen Raum für Illusionen: Den juristischen Kern der Gruppe bilden genau die Leute, die persönlich verantwortlich sind für alle restriktiven Gesetze der letzten Zeit. Eiskunstläufer, Pianisten, Kosaken, Schauspieler und betagte Kosmonauten leisten ihnen Gesellschaft. Besonders wichtig ist zu bemerken, dass in der Arbeitsgruppe auch Personen sind, die ganz offen die ominösesten und menschenfeindlichsten Ideen vertreten und unterstützen. Allein schon der Donbass-Veteran Prilepin, der auch zu den Vätern der neuen Verfassung zählt!

    Wirkliche Checks and Balances wird es in der Verfassung per Definition nicht geben. Allein der Gedanke daran, dass man Putin beschränken oder ihm etwas entgegensetzen könnte, ist blasphemisch für die, die den Text des neuen Gesetzes ausarbeiten.

    Im Übrigen ist es denkbar, dass Putin gerade mit seinem Wunsch nach Erhalt der Stabilität die ihn dermaßen beängstigenden Veränderungen nur herbeiführt: Er selbst hat das Herrschaftssystem destabilisiert – und angesichts des vorgegebenen Tempos der Neuordnung kann es durchaus sein, dass viele wichtige Details versäumt werden. Dass viele unbedachte und irreparable Fehler gemacht werden, die schneller nach hinten losgehen, als man meint.

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  • „Geh hin, ich weiß nicht wohin“

    „Geh hin, ich weiß nicht wohin“

    „Staunend sieht er, über Nacht / auf dem weiten öden Strand / eine große Stadt erstand …“ Fotograf Andrey Ivanov entführt den Betrachter in die surreale Bildwelt russischer Märchen. Dabei entstehen seine Fotos mitten im Hier und Jetzt. Sein Fotobuch Geh hin, ich weiß nicht, wohin («Poidi tuda, ne snaju kuda») gewann den Hauptpreis beim Photobookfest 2018.

    Über das Fotoprojekt, das zwischen 2014 und 2018 entstand, schreibt der Fotograf:

    „Als ich Vater wurde, hatte ich die Idee ein Fotobuch für Kinder zu machen. Ich habe dann angefangen, Motive aus russischen Märchen zu fotografieren. Zunächst eine Serie von inszenierten Bildern, aber dann merkte ich, dass auch einige andere Sujets und Dokumentarfotos gut in diese Märchenreihe passen. Die bei der vorigen Arbeit Identitäts-Index (2012–2015) begonnene Suche nach nationaler Identität entfaltet sich in dem Spielraum zwischen Dokumentar- und inszenierter Fotografie. Das Märchen als authentischste Quelle russischer Archetypen. Nur ein Märchen war’s, nicht mehr – doch sei’s manchem eine Lehr.“ (Das Märchen vom goldenen Hahn von Alexander Puschkin)

    Plötzlich, flammend wie Gewitter, / springen dreiunddreißig Ritter / aus der Flut, in blankem Stahl, / junge Riesen allzumal, / hochgemut, von stolzer Schöne, / auserwählte Heldensöhne, / ein gewalt’ger Reckenchor.

     

    Märchen vom Zaren Saltan von Alexander Puschkin | Projekt Gutenberg /  Foto © Andrey Ivanov

    Nun machte sich Zarewitsch Iwan auf, den Pfeil zu suchen. Er wanderte und wanderte und gelangte schließlich an einen Sumpf. Dort sah er einen Frosch sitzen, der seinen Pfeil hielt. Zarewitsch Iwan sprach: „Fröschlein, Fröschlein, gib mir meinen Pfeil zurück.“ Der Frosch aber antwortete: „Nur wenn du mich heiratest!“ „Wo denkst du hin! Wie kann ich einen Frosch zur Frau nehmen?“ „Nimm mich, so will es dein Schicksal.“

     

    Foto © Andrey Ivanov

    Staunend sieht er, über Nacht / auf dem weiten öden Strand / eine große Stadt erstand, / um das weite Häusermeer / laufen weiße Mauern her, / goldne Kuppeln sieht er blitzen, / Klöster, Kirchen, Turmesspitzen.

     

    Märchen vom Zaren Saltan von Alexander Puschkin | Projekt Gutenberg / Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    Geh hin – ich weiß nicht wohin – bring das, ich weiß nicht was.

     

    Alexander Afanassjew (2010): Russische Volksmärchen, Wien, S. 29-55 / Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    Weht der Wind vom Meere her, / treibt ein Schifflein auf dem Meer, / das, die Segel ausgebreitet, / leicht und schnell die Flut durchgleitet. / Plötzlich ruft das Schiffsvolk laut: / „Welch ein Wunder! Kommt und schaut! / Auf dem alten Inselland / Eine neue Stadt erstand.“

     

    Märchen vom Zaren Saltan von Alexander Puschkin | Projekt Gutenberg / Fotos © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    „Wer bist du, wackerer Bursche?“, fragte sie.
    „Mach das Fenster auf, ich will es dir erzählen.“ (…)
    Nun saßen sie da und konnten sich aneinander nicht sattsehen. Dann fragte der Zarewitsch die Zarentochter, ob sie seine Frau werden wolle.
    „Ich wäre schon einverstanden”, antwortete sie, „doch ich fürchte, meine Eltern werden es nicht erlauben.“

     

    Der Holzadler
    Russische Volksmärchen, St. Petersburg, 2016 (aus dem Russischen übertragen von Roman Eiwadis) / Foto © Andrey Ivanov

    Ein Mäuschen kam gelaufen und wedelte mit dem Schwanz. Das Ei fiel zu Boden und zerbrach.

     

    Das buntscheckige Hühnchen, Moskau, 1978 (aus dem Russischen übertragen von L. Majorowa) / Fotos © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    Gerade als er heimkehren wollte, begegnete ihm ein fremdes altes Männchen, das trug ein rotes Blümchen in der Hand.
    „Alterchen, verkauf mir die Blume!“
    „Die Blume ist nicht käuflich, es ist eine Zauberblume und du mußt geloben, daß deine jüngste Tochter meinen Sohn, den hellen Falken Finist, heiratet; dann bekommst du sie umsonst.“

     

    Das Federchen vom hellen Falken Finist / Fotos © Andrey Ivanov

    Die Hexe führte Aljonuschka zum Fluß. Dort aber stürzte sie sich auf sie, band ihr einen Stein an den Hals und stieß sie ins Wasser. (…) Nur das Böckchen wusste alles. Es ließ den Kopf hängen, aß nicht und trank nicht. Morgens und abends lief es am Ufer entlang und rief: 
    „Aljonuschka, lieb Schwesterlein!
    Steig herauf, komm heraus ans Ufer geschwind …“

     
    Schwesterlein Aljonuschka und Brüderlein Iwanuschka
    Russische Volksmärchen, St. Petersburg, 2016 (aus dem Russischen übertragen von Margarete Spady) / Foto © Andrey Ivanov

    Iwan-Zarewitsch dankte dem Alten und warf das Knäuel vor sich hin. Das Knäuel rollte dahin, Iwan-Zarewitsch ging hinter ihm drein… Im freien Feld draußen trifft er auf einen Bären … 

     

    Zarewna-Frosch
    Russische Volksmärchen, St. Petersburg, 2016 (aus dem Russischen übertragen von Margarete Spady) / Fotos © Andrey Ivanov

    Der Wolf ging zum Fluss, steckte den Schwanz ins Eisloch. Es war sehr kalt. Der Wolf saß und saß am Fluss, bis zum nächsten Morgen. Doch als er da aufstehen wollte, hatte der Frost seinen Schwanz bereits im Eis gefangen.

     


    Der Fuchs und der Wolf / Foto © Andrey Ivanov

     

    Fotos: Andrey Ivanov
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 23.12.2019

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  • Der Krieg, den es nicht gab

    Der Krieg, den es nicht gab

    Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Streitkräfte in Tschetschenien ein, um die Unabhängigkeitsbestrebungen der Teilrepublik zu beenden. Aus dem geplant schnellen Sieg wurde für die schlecht ausgerüstete Wehrpflichtigenarmee Russlands ein Fiasko: Allein in den ersten zwei Monaten starben rund 2000 russische Soldaten. Insgesamt haben die Tschetschenienkriege mehr als 100.000 Zivilisten und über 10.000 russischen Armeeangehörigen das Leben gekostet.

    25 Jahre nach dem Beginn des Ersten Tschetschenienkriegs macht sich der russische Künstler Slawa PTRK an dessen Aufarbeitung. Dazu hat er ein Projekt gestartet, in dem unter anderem Interviews mit den Teilnehmern beider Tschetschenienkriege veröffentlicht werden. Takie Dela zeigt Teile davon: Fotos und Interviews mit Soldaten, die über die Gräuel des Krieges erzählen und darüber, wie man es schafft, daran nicht zu zerbrechen. 

    „Als ich ankam, war da fieser Matsch, der an den Stiefeln klebte. Dieser tschetschenische Matsch klebt immer weiter fest und wird immer mehr. Das ist ein Gefühl, als hättest du gusseiserne Gewichte an den Füßen.“ / Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

    Georgi, Feldwebel

    „Die Veteranen beider Tschetschenien-Feldzüge sind Veteranen eines Krieges, den es nicht gab. In sämtlichen Informationsquellen wird dieser Krieg als Antiterror-Operation bezeichnet.

    Den ersten Krieg verloren wir in jeder Hinsicht mit Schande, als Versager auf der ganzen Linie, sowohl medial als auch real. Eine riesige Menge junger Kerle wurde niedergemetzelt – sie könnten jetzt noch am Leben sein, herumlaufen, sich amüsieren, Kinder kriegen und ihren Sachen nachgehen.

    Den Zweiten Krieg haben wir damals in einem gewissen Maß gewonnen. Die Streitkräfte hatten die Aufgabe erfüllt, die ihnen abverlangt wurde, und der Gegner war niedergestreckt und vernichtet. Doch die politischen Folgen waren derart, dass die Frage aufkommt: Warum haben wir so viele Menschen begraben, so viele Leben und Psychen zerstört?

    Ich hatte mein Studium an der Philologischen Fakultät in Petersburg abgebrochen, nach einem halben Jahr. Eigentlich hatte ich damals vor, nach Los Angeles zu gehen, auf eine Filmhochschule. Aber bevor es soweit war, wurde ich eingezogen, völlig zufällig bin ich da gelandet.

    Ich glaube, ich habe die Armee schon als Kind geliebt. Das war spannend, ich hab gern Krieg gespielt, wie alle Kinder in den 1980ern, Ende der 1970er. Warum soll man nicht seine Kräfte messen, das ist noch so eine Challenge – was wohl geht. Irgendwann dann wurden die Jungs losgeschickt in den Nordkaukasus, in verschiedene Einheiten, und mir war plötzlich klar: Wenn Kerle losgeschickt werden, die jünger sind als ich, warum dann nicht auch ich? Zumal ich immer sehen wollte, was Krieg ist.“

    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

    „Ins Eingemachte der Hölle bin ich nicht vorgedrungen. Nur in kleinere Feuergefechte, so, wenn du eben den Schwanz einziehst, die Zähne zusammenbeißt und zusieht, dass sie dich nicht totschießen. 
    Außerdem ist die Zahl der Toten immer erheblich kleiner, als man denkt, denn die Kugeln treffen nicht so oft lebenswichtige Organe und bringen dich nicht immer gleich um. Das sind gewöhnlich extrem starke Verletzungen, wenn jemand entweder an einem Schock stirbt oder am Blutverlust, doch bis dahin vergeht einige Zeit. 
    Wenn du dem Menschen [einem sterbenden Gegner – Takie Dela] in die Augen schaust, der eben noch warm war und jetzt schon kalt wird, dann wird dir klar, dass der dir genauso gut den Hals hätte aufschlitzen oder ein Messer in den Rücken hätte jagen können, dich hochnehmen oder vergewaltigen … Die Gegner sind ungewaschen, behaart, stinken, in dreckigen Uniformen oder dreckiger Kleidung … In den Momenten kriegst du Angst, weil dir klar wird, was mit dir passiert wäre, wenn du kein Glück gehabt hättest.“

    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

    „Wenn du mit Leuten zusammen dienst, kommst du ihnen nah und du begreifst sie als Menschen, wer auch immer sie sind. Wenn die Zeit sich hinzieht, dann wird der Begriff von Freundschaft plötzlich sehr eng: ‚Ich halte dir den Rücken frei und du mir, und kein Keil wird zwischen uns geraten.‘

    Der Krieg nimmt einem die Gefühle. Sehr lange, viel Zeit ist nach der Armee vergangen, bevor ich wieder gelernt habe, jemanden zu lieben. Und ich weiß nicht, ob es mir noch einmal gelingt.
    Wenn du einen Lastwagen mit verbrannten Soldaten siehst, dann riecht es nach gebratenem Speck. Heute esse ich kein Schweinefleisch mehr.

    Noch ein Minuspunkt, den der Krieg für mich mit sich brachte, ist, dass ich wahrscheinlich ein Ziel verloren habe, für das ich lebe. Alles, was nach dem Krieg passiert, passiert eher mechanisch. Ja, ich bin auf der Suche nach Gefühlen, Emotionen und so, aber … Wenn alles plötzlich zu Ende geht … Ich sehne mich nicht nach dem Ende, aber ich hab auch keine besondere Angst davor.“

    Sergej, Militärchirurg

    „Ich war in einer Einheit mit 70 Kämpfern – und mir, als Arzt.

    Medikamente gab es gar keine, die Versorgung … naja. Einiges konnte ich hinzukaufen, aber sie gaben einem nur einzelne Verbandskästen, Erste-Hilfe-Sets und Staubinden. Das war’s. Darin [in den Erste-Hilfe-Sets] gab es Promedol. Eine Droge. Das einzig Wertvolle. Bei Verletzungen, bei Prellungen – eine Spritze rein, fertig. Erste-Hilfe-Sets gab es für jeden eins, beim Ausrücken gab ich immer nur ein paar raus, die waren schließlich alle dokumentiert.“

    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

    „In den Kampfzonen: menschliche Fäulnis. Die ist wie Schaum, löst sich auf, und weg ist sie. Man erkennt das gleich. Wenn ein Mensch ein Arsch ist, sieht man das gleich. Die bleiben dann meist im Hinterland. Dort machen sie einen auf dicke Hose, die Brust voller Orden … Der Mensch ändert sich [im Krieg] nicht. Bloß wird das Verborgene sichtbar. Wenn ein Mensch gut ist, dann wird sich sein Gutsein weiterentwickeln. Aber wenn ein Mensch scheiße ist, dann dringt die Scheiße an die Oberfläche. Darum sag ich auch, dass es mir dort leichter fällt: Du siehst gleich, wer zu dir gehört und wer dir fremd ist, wer gut ist und wer schlecht, mit wem du dich einlässt und mit wem nicht.“ 

    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

    „Patriotismus bedeutet für mich: „Wenn nicht ich, wer dann?“ Das heißt nicht, mit Flaggen rumrennen und rufen: ‚Ich bin ein Patriot!‘ Sondern etwas tun. Alles soll für die Kinder erhalten bleiben. Denn: Du hast was bekommen – gib es weiter in unversehrtem oder gar noch besserem Zustand, als du es vorgefunden hast.

    Nach meinem ersten Einsatz hing ich ein halbes Jahr an der Flasche. Bei vielen war das so. Nicht einen nüchternen Kopf habe ich nach dem Krieg gesehen. Keinen. Gibt es nicht. Oder man darf gar kein Herz haben. Denn allen geht das ans Eingemachte. Ein Rehabilitations-Programm hat es nicht gegeben, gibt es nicht und wird es vermutlich auch nie geben.“ 

    Jewgeni, Sergeant der Luftlandetruppen

    „Ich habe von 1999 bis 2000 gekämpft. Ich wusste, dass ich zu den Luftlandetruppen komme. Alle in meiner Familie waren entweder Fallschirmjäger oder bei den Spezialeinheiten.

    Das erste Mal war im Botlichski Rajon. Sie haben uns aus dem Hubschrauber abgesetzt. Ich schaue von da oben: Von rechts schießt eine Haubitzen-Division, oben fliegen die Jagdbomber, die Berge werden niedergewalzt, entlang der Startbahn liegen die Leichen in Plastikfolie. Keine Ahnung, bestimmt 30 oder 40. Die Bergschlucht, durch die kein Wind geht – und dann der Geruch: faulendes Fleisch. Da hab ich kapiert, dass ich besser hätte studieren sollen. Und dann die Hitze. In den Bergen ist es tagsüber sehr heiß und nachts sehr kalt. Über mehrere Tage gab es kein Wasser. Die Sonne verbrennt alles mögliche, wir hatten weder Cremes noch Salben, nichts. Es gab auch nicht wie heute diese modernen Schlafsäcke, Matten – all das gab es nicht. Wir hatten ein Maschinengewehr, einen Rucksack, einen Haufen Patronen, etwas Essen, ein Funkgerät. Und irgendwann, das weiß ich noch, verlassen dich einfach die Kräfte, dir kommt der Gedanke in den Kopf: Wenn mich jetzt ein Scharfschütze erledigt, wär das okay.“ 

    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

    „Krieg ist eine Sache der jungen Leute. Solange man Energie hat. Jetzt erinnerst du dich, wie du im Schnee schläfst, Wasser aus Pfützen trinkst. Ich habe den Dienst beendet, als ich nach Hause gekommen bin – habe Wasser aus dem Hahn getrunken, da hat’s mir den Magen umgedreht. Dort gehst du einfach und trinkst aus der Pfütze, pustest einmal drauf, um das Benzin, den Diesel wegzumachen.

    Patriotismus ist Liebe zu seinem eigenen Volk, und nicht Hass gegenüber anderen. So sieht’s aus.“

    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)
    Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

    Fotos: Wladimir Swarzewitsch, mit freundlicher Genehmigung von Anastasia Swarzewitsch
    Quelle: Takie Dela
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    veröffentlicht am 11.12.2019

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  • „Je schlimmer meine Zukunft, desto breiter mein Lächeln“

    „Je schlimmer meine Zukunft, desto breiter mein Lächeln“

    „Je schlimmer meine Zukunft, desto breiter mein Lächeln“, so hat der 21-jährige Jegor Shukow am 4. Dezember 2019 sein Schlusswort vor Gericht in Moskau beendet. Heute wurde sein Urteil gefällt: Schuldig, drei Jahre Haft auf Bewährung. Er kommt aus dem Hausarrest, seinen Youtube-Kanal Blog Shukowa darf er allerdings nicht mehr betreiben, die Administratoren-Rechte wurden ihm entzogen. [Redaktioneller Hinweis: Die Information, dass er das Internet zwei Jahre lang nicht nutzen dürfe, hatte sich in vielen Medien verbreitet und war auch von dekoder aufgegriffen worden. Shukow hat dies inzwischen auf Twitter berichtigt: Richtig sei, dass er keine eigenen Seiten erstellen und verwalten darf — dek]
    Das Urteil wird in Sozialen Medien als „Präzedenzfall“ bewertet: „Das freie intellektuelle Beurteilen von Politik in Russland ist wieder strafbar“, kommentiert etwa Gleb Morew, Literatur-Chef beim unabhängigen Kulturportal Colta.
    Shukow ist einer von zehn Demonstranten, die nach den Protesten vor der Wahl der Stadtduma im Sommer nun in dem sogenannten Moskowskoje Delo verurteilt wurden, gegen 13 weitere Protestteilnehmer laufen Ermittlungen oder Strafverfahren [Stand Redaktionsschluss, 6.12., 10 Uhr]. 
    Shukow wurde wegen „Aufruf zum Extremismus“ verurteilt. Als Beweis diente dabei unter anderem ein Video des Bloggers auf Youtube – sein Kanal hatte damals rund 10.000 Abonnenten –, in dem er zu Protest aufgerufen habe mit dem Satz „tut nushno chwatatsja sa ljubyje formy protesta“ (dt. „Es ist nötig, zu allen möglichen Protestformen zu greifen“). Damit habe er, so die Anklage, „politischen Hass und Feindseligkeit gegenüber der bestehenden Verfassungsordnung in der Russischen Föderation“ gezeigt, sein Ziel sei, „die sozialpolitische Situation im Land zu destabilisieren“. 

    Mit dem Studenten der renommierten Higher School of Economics hatten sich zahlreiche Menschen in Einzelpikets solidarisch gezeigt, die Vizerektorin seiner Hochschule hatte angeboten, für ihn zu bürgen, was jedoch abgelehnt wurde.

    Vor Gericht hielt der Angeklagte Shukow am 4. Dezember 2019 nun sein Schlusswort. Solche Schlussworte richten sich in Russland meist nicht unbedingt an die Richter – das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit ist sehr gering –, sondern an eine breite Öffentlichkeit und ähneln manchmal auch kleinen Manifesten. So wurde etwa auch das Schlusswort von Maria Aljochina von Pussy Riot 2013 weit verbreitet. Das Schlusswort Shukows wurde mehrfach abgedruckt, auch von Meduza, und in den Sozialen Medien tausendfach geteilt. 

    Bei der Gerichtsverhandlung, die jetzt gerade läuft, geht es vor allem um Worte und ihre Bedeutung. Wir haben über konkrete Sätze, Formulierungsnuancen, Interpretationsarten gesprochen, und ich hoffe, dass wir dem verehrten Gericht beweisen konnten, dass ich kein Extremist bin – sowohl nach linguistischen Kriterien als nach gesundem Menschenverstand.  

    Nun komme ich zu fundamentaleren Dingen als dem Sinn von Worten. Ich möchte über meine Handlungsmotive sprechen, zumal auch der Sachverständige sich dazu geäußert hat. Meine Motive sind aufrichtig und tiefgründig. Sie bringen mich dazu, mich mit Politik zu beschäftigen. Es sind Motive, aufgrund derer ich unter anderem das Video für den Kanal Blog Shukowa aufgezeichnet habe.

    Beginnen möchte ich mit Folgendem: Der russische Staat positioniert sich heute als letzter Verteidiger traditioneller Werte. Viel Aufmerksamkeit, so sagt man uns, liegt dabei auf der Institution Familie und dem Patriotismus. Als zentraler traditioneller Wert wird der christliche Glaube genannt. Euer Ehren, mir scheint, das ist vielleicht sogar gut. Die christliche Ethik umfasst Werte, die mir wahrhaft nahe sind. 

    Die christliche Ethik umfasst Werte, die mir wahrhaft nahe sind

    Da ist erstens die Verantwortung. Dem Christentum zugrunde liegt die Geschichte eines Menschen, der sich dazu entschloss, das Leid der ganzen Welt auf sich zu nehmen. Die Geschichte eines Menschen, der Verantwortung übernahm, im größtmöglichen Sinne dieses Wortes. Im Kern nämlich ist die zentrale Idee der gesamten christlichen Religion die Idee von persönlicher Verantwortung.

    Zweitens, die Liebe. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, das ist der wichtigste Satz der christlichen Religion. Liebe ist Vertrauen, Mitgefühl, Humanismus, gegenseitige Hilfe und Sorge füreinander. Eine Gesellschaft, die auf einer solchen Liebe gründet, ist eine starke Gesellschaft, womöglich die stärkste überhaupt mögliche.

    Doch um die Motive meiner Handlungen zu verstehen, genügt es, einen Blick darauf zu werfen, wie unser heutiger russischer Staat – der sich stolz als Beschützer des Christentums und somit seiner Werte hervortut – diese Werte tatsächlich schützt. 
    Bevor wir beginnen, über Verantwortung zu sprechen, muss zunächst die Frage beantwortet werden, was die Ethik eines verantwortlichen Menschen an und für sich ist, welche Worte er sich im Leben immer wieder sagt. Es könnten vielleicht die folgenden sein: „Siehe, dein ganzer Weg wird voller Schwierigkeiten sein, mitunter unerträglichen. Alle dir Nahestehenden werden sterben. Alle deine Pläne werden scheitern. Du wirst betrogen und verlassen. Und dem Tod wirst du nicht entkommen. Leben ist Leiden. Finde deinen Frieden damit. Doch wenn du deinen Frieden damit gefunden hast, mit der Unausweichlichkeit des Leidens, lade dennoch das Kreuz auf deine Schultern und folge deinem Traum, denn sonst wird alles nur schlimmer. Werde zu einem Beispiel, werde einer, auf den man sich verlassen kann, unterwirf dich keinem Despoten, kämpfe für die Freiheit des Körpers und des Geistes und bau ein Land auf, in dem deine Kinder glücklich werden können.“

    Bringt man uns das etwa bei? Lernen die Kinder bei uns in der Schule etwa eine solche Ethik? Ehren wir etwa solche Helden? Nein. Die Situation im Land, wie sie ist, vernichtet jegliche Möglichkeiten des menschlichen Aufblühens. 10 Prozent der wohlhabendsten Russen halten 90 Prozent des Vermögens des Landes in ihren Händen. Unter ihnen gibt es natürlich höchst ehrenwerte Bürger, aber der Großteil dieses Vermögens stammt nicht aus ehrlicher Arbeit zum Wohle der Menschen, sondern aus banaler Korruption.

    Unsere Gesellschaft ist durch eine undurchdringliche Schranke in zwei Ebenen unterteilt. Das gesamte Geld ist oben konzentriert, und von dort gibt niemand etwas ab

    Unsere Gesellschaft ist durch eine undurchdringliche Schranke in zwei Ebenen unterteilt.
    Das gesamte Geld ist oben konzentriert, und von dort gibt niemand etwas ab. Unten hingegen – und das ist nicht übertrieben – herrscht nur noch Ausweglosigkeit. In dem Bewusstsein, dass sie mit nichts mehr rechnen können, in dem Bewusstsein, dass sie sich abstrampeln können, wie sie wollen und dass sie sich und ihren Familien trotzdem nicht zu Glück verhelfen können, lassen russische Männer ihren ganzen Zorn an den Frauen aus und saufen, oder bringen sich um. 
    Bei der Selbstmordrate von Männern pro 100.000 Einwohner steht Russland an erster Stelle. Das Ergebnis ist, dass ein Drittel aller Familien in Russland alleinerziehende Mütter mit Kindern sind. So also, möchte man fragen, schützen wir die traditionelle Institution Familie? 

    Miron Fjodorow [alias Oxxxymiron] war öfter bei meiner Verhandlung anwesend und hat sehr ehrlich und zu Recht gesagt: Bei uns ist Alkohol billiger als ein Lehrbuch. Der Staat schafft alle Voraussetzungen dafür, dass ein Russe, der die Wahl hat zwischen Verantwortung und Verantwortungslosigkeit, sich immer für Letzteres entscheiden wird.

    Und nun zur Liebe. Liebe ist nicht möglich ohne Vertrauen. Echtes Vertrauen entsteht aus gemeinsamem Handeln. Aber erstens ist gemeinsames Handeln in einem Land, in dem Verantwortungsbewusstsein nicht entwickelt ist, eine Seltenheit. Und zweitens: Wenn es doch irgendwo zu gemeinsamen Handlungen kommt, so wird das von den Gesetzeshütern gleich als Gefahr aufgefasst. Ganz gleich, was du tust: ob du Inhaftierten hilfst, für Menschenrechte eintrittst, die Umwelt schützt – früher oder später wirst du entweder zum „ausländischen Agenten“ erklärt, oder man sperrt dich einfach so weg.

    Ganz gleich, was du tust – früher oder später wirst du entweder zum „ausländischen Agenten“ erklärt, oder man sperrt dich einfach so weg

    Der Staat gibt klar zu verstehen: „Leute, verkriecht euch in eure Löcher, aber fangt nicht an, gemeinsam zu handeln. Mehr als zwei Leute dürfen sich nicht auf der Straße treffen, sonst buchten wir euch fürs Demonstrieren ein. Zusammenarbeit bei sozialen Themen ist verboten, sonst erklären wir euch zu ,ausländischen Agenten‘.“ 
    Woher sollen in einer solchen Umgebung Vertrauen und letztlich Liebe kommen? Keine romantische, sondern eine humanistische Liebe von Mensch zu Mensch.

    Woher sollen in einer solchen Umgebung Vertrauen und letztlich Liebe kommen? Keine romantische, sondern eine humanistische Liebe von Mensch zu Mensch

    Die einzige Sozialpolitik, die der russische Staat konsequent betreibt, ist die Politik der Atomisierung. So entmenschlicht uns der Staat in den Augen der jeweils anderen. In den Augen des Staates sind wir sowieso schon längst entmenschlicht. Wie soll man sonst sein barbarisches Verhältnis zu den Menschen erklären? Ein Verhältnis, das jeden Tag unterstrichen wird mit Gummiknüppel-Prügeln, Folter in den Strafkolonien, dem Ignorieren der HIV-Epidemie, der Schließung von Schulen und Krankenhäusern und so weiter.

    Lasst uns in den Spiegel schauen. Wer sind wir geworden? Wie konnten wir es zulassen, dass es so weit mit uns kommt? Wir sind eine Nation geworden, die verlernt hat, Verantwortung zu übernehmen. Wir sind eine Nation geworden, die verlernt hat, zu lieben. Vor über 200 Jahren schrieb Alexander Radischtschew auf seiner Fahrt zwischen Petersburg und Moskau: „Ich blickte um mich, und meine Seele wurde wund unter den Leiden der Menschheit. Ich wandte den Blick in mein Inneres, und ich erkannte, dass die Not des Menschen vom Menschen kommt.“[1]

    Wo sind heute solche Menschen? Menschen, deren Seele derart leidet wegen der Geschehnisse im eigenen Land? Warum gibt es solche Menschen kaum noch?

    Die Sache ist die, dass der heutige russische Staat nur eine einzige traditionelle Institution wahrhaft in Ehren hält und stärkt – und das ist die Autokratie. Eine Autokratie, die es darauf anlegt, einem jeden das Leben zu zerstören, der aufrichtig das Gute für seine Heimat will, der sich nicht schämt zu lieben und Verantwortung zu übernehmen. 
    Schließlich mussten die Bürger unseres leidgeprüften [Landes] gründlich lernen, dass Initiative bestraft wird, dass die Obrigkeit immer recht hat, einfach weil sie die Obrigkeit ist, und dass Glück vielleicht auch hier möglich ist, aber leider nicht für sie. Und nachdem sie das begriffen hatten, begannen sie nach und nach zu gehen. Laut einer Statistik von Rosstat verschwindet Russland allmählich – mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa minus 400.000 Menschen im Jahr. 
    Hinter den Statistiken sind die Menschen nicht zu sehen. Aber schaut sie doch mal an! Vor Kraftlosigkeit saufen sie sich zu Tode, in ungeheizten Krankenhäusern erfrieren sie, werden umgebracht von irgendwem, bringen sich selbst um, Menschen … solche wie du und ich. 

    Schließlich mussten die Bürger gründlich lernen, dass Initiative bestraft wird, dass die Obrigkeit immer recht hat, einfach weil sie die Obrigkeit ist, und dass Glück vielleicht auch hier möglich ist, aber leider nicht für sie

    Die Motive meines Handelns sind inzwischen wohl klar geworden. Ich wünsche mir wirklich, bei meinen Mitbürgern diese zwei Eigenschaften zu sehen: Verantwortung und Liebe. Verantwortung für sich selbst, für die Menschen um einen herum, für das ganze Land. Liebe zu den Schwachen, zum Nächsten, zur Menschheit. Dies ist mein Wunsch – und ein weiterer Grund, Euer Ehren, warum ich nicht zur Gewalt hätte aufrufen können. Gewalt, entfesselt, führt zu Straflosigkeit und damit auch zur Verantwortungslosigkeit. Und genauso führt Gewalt auch nicht zu Liebe. 
    Und dennoch, trotz aller Hindernisse, zweifle ich nicht eine Sekunde daran, dass mein Wunsch in Erfüllung geht. Ich blicke nach vorn, hinter den Horizont der Jahre, und sehe ein Russland voll verantwortungsvoller und liebender Menschen. Das wird ein wahrhaft glücklicher Ort sein. Möge sich jeder ein solches Russland vorstellen. Und möge dieses Bild Sie in Ihrem Handeln leiten, wie es auch mich leitet.  

    Zum Abschluss möchte ich Folgendes sagen: Wenn das Gericht heute dennoch entscheidet, dass ein wirklich gefährlicher Verbrecher diese Worte vorträgt, dann werden die nächsten Jahre meines Lebens voller Entbehrungen und Mühsal sein. Aber ich schaue auf die Menschen, mit denen mich Moskwoskoje Delo zusammengebracht hat, auf Kostja Kotow, auf Samariddin Radshabow, und sehe das Lächeln auf ihren Gesichtern. Ljoscha Minjailo und Danja Konon haben sich während unseres kurzen Kontaktes in Untersuchungshaft nie erlaubt, über das Leben zu klagen. Ich bemühe mich, ihrem Beispiel zu folgen. Ich bemühe mich, mich darüber zu freuen, dass mir die Chance zugefallen ist, durch diese Prüfung zu gehen im Namen der mir nahestehenden Werte. Im Endeffekt, Euer Ehren: Je schlimmer meine Zukunft, desto breiter mein Lächeln, mit dem ich ihr entgegen gehe. Danke! 


    1.Radischtschew, Alexander Nikolajewitsch: Reise von Petersburg nach Moskau, Übersetzung von Günter Dalitz/Versübertragung von Bruno Gutenberg (Verlag Philipp Reclam jun,, Leipzig 1982) 

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    Star Wars und die Frauenfrage

  • Star Wars und die Frauenfrage

    Star Wars und die Frauenfrage

    Immer wieder kritisieren Opferverbände und Menschenrechtsaktivisten, dass Frauen in Russland nicht genug vor häuslicher Gewalt geschützt werden. Erst 2017 trat ein Gesetz in Kraft, wonach häusliche Gewalt als Ordnungswidrigkeit mit entsprechend geringem Strafmaß geahndet wird. Nur, wenn jemand binnen eines Jahres wiederholt tätlich wird, droht ihm eine Haftstrafe – von bis zu drei Monaten.

    Derzeit sorgt eine geplante Gesetzesänderung wieder für Proteste. Der Entwurf sieht einen besseren Opferschutz vor, etwa ein Kontaktverbot für Täter. Aktivistinnen und Menschenrechtlerinnen wie der Rechtsanwältin Olga Gnesdilowa gehen die Änderungen jedoch nicht weit genug. Im Gespräch mit RBC kritisierte sie etwa, dass der Abstand, den ein Täter zum Opfer einhalte müsse, von den vorgesehenen 50 Metern wieder auf Null zurückgenommen worden sei.

    In der Debatte gibt es zum einen die konservative Position, die vor allem seitens der Kirche vorgetragen wird, wonach die hierarchische Familienstruktur schützenswert und Privatangelegenheit sei, und zum anderen die liberale, die einen größeren Schutz für die Opfer und härtere Strafen für die Täter verlangt. 

    Generell polarisieren Fragen wie Feminismus und Frauenrechte sehr stark, dabei verlaufen die Meinungs-Grenzen quer durch unterschiedliche Lager. „Es ist möglich ein Liberaler zu sein, der die Gleichstellung der Geschlechter leugnet“, kommentiert Wladislaw Inosemzew im Blog auf Echo Moskwy. „Wer sie aber verteidigt, der kann nur Liberaler und Demokrat sein.“ 

    Anna Narinskaja geht in der Novaya Gazeta noch einen Schritt weiter und meint, in der Frauenfrage habe sie sich endgültig vom „Paketdenken“ verabschiedet. 

    Noch vor ein paar Jahren schien mir, den meisten denkenden Menschen in Russland sei das sogenannte Paketdenken eigen.

    Hinter diesem Begriff steht der Gedanke, dass unsere Werte weltanschaulich miteinander verknüpft sind. Um also zu wissen, welche Gesinnungs- und somit auch Wahl-Präferenzen ein bestimmter Mensch hat, muss man sich keineswegs tiefgehend mit ihm beschäftigen. Man muss über ihn nur irgendetwas, jedoch etwas möglichst Symptomatisches, wissen. Beispielsweise kann man aus dem, wie jemand auf die Frage antwortet, ob sowohl Väter als auch Mütter Elternzeit nehmen können, auch auf vieles andere schließen: was er über das Verbot von Gay-Paraden denkt, was er von radikaler moderner Kunst hält. Und wen er bei den nächsten Wahlen wählen wird.

    In Russland waren noch vor rund sieben Jahren diese Pakete enger geschnürt als in den USA, wo dieses Phänomen erstmals benannt wurde. Im Grunde gab es genau zwei: Das archaische Denken und das progressive Denken.

    Sag mir, was du von Pawlenskis Performances hältst und ich sage dir, was du über den russischen „Sonderweg“ denkst

    Sag mir, was du von Pawlenskis Performances hältst und ich sage dir, was du über den russischen „Sonderweg“ denkst und vom verfaulten beziehungsweise nicht verfaulten Westen. Ja, und wen du wählst, das sage ich dir auch.

    Heute muss ich zugeben, dass diese Theorie nicht mehr funktioniert. Und nicht nur, weil die heutige Regierung ganz offensichtlich untauglich ist für die sogenannte Rolle des Bewahrers, sodass die Kette „Ihre Installationen sind keine Kunst; die Redefreiheit kann nur bis zu einem bestimmten Punkt gelten; man muss doch seine sexuelle Orientierung nicht offen vor sich hertragen“ bei weitem nicht immer endet bei „Putin ist unser Steuermann“.  

    Die Krise der werteorientierten Regierungspolitik fällt zusammen mit einem Wertewandel auf der ganzen Welt in einer Zeit, in der neue ethische Regeln aufgestellt werden (versuchen Sie nur mal auf die Frage zu antworten, wofür jemand einsteht, der den Putinismus unterstützt – außer dem russischen Anrecht auf die berühmte Halbinsel). Das Ergebnis ist, dass das Bündel progressiver Werte, wie es vor zehn Jahren geschnürt war, dem von heute in keiner Weise mehr gleicht.

    Es geht doch nicht, dass die Heldin des neuen Star Wars-Films eine junge Frau ist! 

    Die Pakete lösen sich auf, logische Ketten fallen auseinander. Wie viele derer, die die Redefreiheit verfechten, verzweifeln daran, dass die Hauptheldin des neuen Star Wars-Films eine junge Frau ist! Das geht doch nicht, das kann man doch nicht gutheißen! Das schwache Geschlecht kann doch bitte nicht unseren Luke Skywalker ersetzen. Auf gar keinen Fall.
    Und wie viele übereifrige Gegner der aggressiven russischen Außenpolitik teilen in den sozialen Medien Tag für Tag Ansichten wie „Nun, wenn sie mit in sein Hotelzimmer gegangen ist, dann heißt das, dass sie verantwortlich ist für das, was dann kam“.

    Wichtig ist: Der wesentliche Schnittpunkt zwischen konservativem und progressivem Paket – der Punkt, an dem sich alle treffen, an dem es keinen Unterschied gibt –  ist mittlerweile die Frauenfrage. Bei den unterschiedlichsten damit verbundenen Themen (ob man jungen Müttern verbieten soll, im Schutze eines Museumssaals zu stillen, bis hin zu all den Variationen von „selbst Schuld”) vereinen sich die Vertreter diametral entgegengesetzter Ansichten. (Das Geschlecht hat hierbei keine Bedeutung – bei weitem nicht alle Frauen sind Verfechterinnen der Gleichberechtigung.)

    Der Schnittpunkt zwischen konservativem und progressivem Denken ist die Frauenfrage

    Ich möchte die beiden für mich offensichtlichsten Gründe dafür anführen.

    Erstens: Für die ältere Generation klingt „Gleichberechtigung der Frau“ wie ein Echo sowjetischer Heuchelei, als sich eben jene Gleichberechtigung ausdrückte in der bis zur Erschöpfung getriebenen, die Kräfte übersteigenden Arbeit einer Eisenbahnarbeiterin und Vollzeit-Parteisekretärin mit fester Hochsteckfrisur.

    Zweitens: Das Internet und andere Technologien machen uns alle zu Bewohnern der großen weiten Welt. US-amerikanische Themen, von eben jener Heldin aus Star Wars bis zum Ende vieler Karrieren aufgrund von Belästigung, werden gleichsam auch zu unseren Themen.

    Und so entsteht die irreführende, aber überzeugende Vorstellung, wir würden in einer Welt leben, in der Metoo gesiegt hat und in der es in den unterschiedlichsten Organisationen Frauenquoten gibt. Und nicht in einem ganz konkreten Land, in dem der Abgeordnete Leonid Sluzki junge Interviewerinnen begrapscht und nicht nur seinen Posten behält, sondern auch noch ausgezeichnet wird. In einem Land, in dem in einer der besten Schulen der Hauptstadt im Unterricht den Jungen Hammer und den Mädchen Lappen in die Hand gedrückt werden mit den Worten „Ihr werdet doch Hausfrauchen“, gleichsam zur Programmierung ihrer Rolle. In einem Land, in dem häusliche Gewalt entkriminalisiert wird.

    Genau deswegen ist die Frage, welches Verhältnis wir zur Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Sicherheit für Frauen in Russland haben, eine ausschlaggebende Frage. Ausschlaggebend für das Land und für uns, die wir hier leben.
    In vielem ist das eine Frage der Bewusstmachung und des Begreifens der Wirklichkeit, also dessen, was Veränderungen überhaupt erst möglich macht.
    Nein, wir leben nicht in der sowjetischen Simulation von Gleichberechtigung und nicht in der US-amerikanischen unbedingt zu erfüllenden Politcorrectness. Wir leben in diesem Hier und in diesem Jetzt.
       

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  • Ausländische Agenten – Krieg in den Köpfen

    Ausländische Agenten – Krieg in den Köpfen

    Die Aufregung war groß, als die Duma vergangene Woche in dritter Lesung dafür gestimmt hat, dass künftig auch einzelne Personen als „ausländische Agenten“ eingestuft werden können. Bislang waren davon nur NGOs und Medien betroffen – als „ausländischer Agent“ sind derzeit zehn Auslandsmedien gelistet, darunter etwa Radio Swoboda (Radio Liberty) und Voice of America. Das neue Gesetz ist so breit formuliert, dass theoretisch jeder, der Inhalte von solchen als „ausländische Agenten“ registrierten Medien öffentlich repostet und außerdem Geld aus dem Ausland erhält – und sei es von seiner Tante –, als „ausländischer Agent“ eingestuft werden kann. Duma-Abgeordnete beeilten sich zu erklären, dass das Gesetz als Antwort auf US-amerikanische Gesetze zu verstehen sei. 

    Nun müssen sich Mitarbeiter derjeniger Auslandsmedien sorgen, die bereits als „ausländische Agenten“ gelistet sind. Leonid Lewin, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Informationspolitik und Ko-Autor des Gesetzes, erklärte zudem, wer über Sport oder Musik schreibe, habe nichts zu befürchten – und russische Blogger schon gar nicht. 

    Solche mündlichen Einschränkungen sind jedoch rechtlich nicht bindend, sie sorgen vielmehr für Unruhe: Es wäre nicht das erste Mediengesetz, das, unklar formuliert, selektiv und willkürlich angewandt wird und gerade so Angst und Selbstzensur schürt. Das Gesetz wurde von der Duma Ende November in dritter Lesung ohne Gegenstimme beschlossen. Damit es in Kraft tritt, fehlt nun noch die Unterschrift Putins, in der Regel eine Formalie.

    Maxim Trudoljubow fragt auf Vedomosti, was hinter der Rhetorik und den neuen Maßnahmen eigentlich steht.

    In öffentlichen Auftritten russischer Staatsbeamter, Duma-Abgeordneter sowie TV-Moderatoren und selbst in den Gesetzestexten, die die Duma verabschiedet, geht es immer um dasselbe. Alles, was der Staat der Gesellschaft vermitteln will, lässt sich in einem Gedanken zusammenfassen: dass Russland äußere Feinde hat und dass die Feinde Helfershelfer haben innerhalb der Landesgrenzen. Anfangs, mit dem ersten Gesetz über ausländische Agenten, wurden die Feinde als kollektive Gruppe erfasst – es ging um [Nicht-Regierungs-] Organisationen. Nun kann der Staat auch einzelne Bürger als ausländische Agenten einstufen.

    Die Gesetze über ausländische Agenten können zivilgesellschaftlichen Organisationen und konkreten Personen unmittelbar Schaden zufügen. Doch die Hauptaufgabe dieser Bestimmungen und überhaupt der gesamten TV-Rhetorik besteht darin, Format und Ton des gesellschaftlichen Diskurses festzulegen oder dessen, was man darunter versteht. Die Repressalien selbst sollen laut Absicht derer, die sie sich ausdenken, nur minimal sein. Doch die Ideen, die über solche Repressalien der Gesellschaft vermittelt werden sollen, sollen Allgemeingut werden. Der Einsatz von Gewalt ist also punktuell, wird aber geistig-gedanklich massenhaft Wirkung haben.

    In diesem modellierten Diskurs muss man für bestimmte Ziele nicht mehr kämpferisch aufmarschieren, man muss sie nicht unterschreiben, ja, nicht einmal laut aussprechen. Nirgends wird gesagt, dass Russland einen Krieg führt, aber ausländische Feinde – und ihre Agenten – gibt es. Es ist nicht so ganz klar, wo genau die Front verläuft, aber ein wehrhaftes Hinterland gibt es ganz sicher. Und für jenes Hinterland muss man Einheit demonstrieren und Agenten entlarven. In Friedenszeiten stellen Agenten keine Gefahr dar.

    Niemand glaubt in Russland ernsthaft, dass das, was öffentlich ‚Wahlen‘ genannt wird, tatsächlich Wahlen sind. Es ist Dekoration, aber sie wird gebraucht, solange der Feind vor den Toren steht

    In Friedenszeiten wäre das anders, aber aktuell ist – zumindest vorübergehend, angesichts der rauen Kriegszeit – Wachsamkeit gefragt. Darum lasst doch die Wahlen vorerst ruhig Formsache sein – jetzt gerade ist nicht die Zeit für politischen Wettbewerb. Ein nicht zugelassener Kandidat bei den Wahlen ist ein Helfer des Feindes. Niemand glaubt in Russland ernsthaft, dass das, was öffentlich „Wahlen“ genannt wird, tatsächlich Wahlen sind. Sie sind Dekoration, aber sie werden gebraucht, solange der Feind vor den Toren steht. Soll doch ruhig auch die Wirtschaft eher Formsache sein – jetzt gerade ist nicht die Zeit für echte Konkurrenz. Niemand glaubt, dass Russlands Wirtschaft ungestüm wächst, aber es gibt dieses schön dekorierte Schaufenster – das Zentrum von Moskau –, das aussieht, als befände sich Russland im Wirtschaftsboom.
     
    Es bleibt die Frage, wo jene Frontlinie verläuft, wegen der all das geschieht und um die der Kreml den gesellschaftlichen Konsens konstruiert. Sie wurde aus dem Diskurs verdrängt, wie auch das Wort „Krieg“. Es ist interessant, dass ausländische Experten (aus jenen Ländern, deren Agenten für Russland so gefährlich sind) in letzter Zeit die Außenpolitik des Kreml loben, vor allem die Erfolge im Nahen Osten. Doch in der Innenpolitik konzentriert sich der Kreml nicht auf diese Siege. Die Politmanager sehen, dass es nicht gut ankommt, den Fokus auf die Außenpolitik zu legen. Zudem kann man auch nicht ernsthaft die gegenwärtige Innenpolitik mit Erfolgen im Nahen Osten rechtfertigen. So wird die Frontlinie zu einer virtuellen. Das große allgemeine Ziel, das die Politik des Kreml rechtfertigen soll, wird nicht laut geäußert. Vielleicht, weil es gar keins gibt.

    Das große allgemeine Ziel, das die Politik des Kreml rechtfertigen soll, wird nicht laut geäußert. Vielleicht, weil es gar keins gibt

    Die Aufgabe der russischen Politmanager ist keine leichte: Sie müssen in einer Situation arbeiten, in der Krieg abgelehnt wird, in der die Nachfrage wächst nach individuellen Rechten, nach einer tatsächlich funktionierenden Wirtschaft, nach steigenden Einkommen und Wohlstand der Bürger. Russland lebt in derselben Zeit wie die ganze übrige Welt: in einer Moderne, in der Grenzen durchlässig und Verhältnisse von Dominanz und Unterwerfung instabil sind. Ein realer, heißer Krieg mit einem richtigen Hinterland – mit dem dazugehörigen Einheitsgefühl und Sonderschichten in den Fabriken – lässt sich in einer solchen Situation nicht durchführen. Darum versucht man, einen imaginären Krieg und ein starkes Hinterland in den Köpfen der Bürger zu formieren.

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  • Großmacht im Abseits

    Großmacht im Abseits

    Unerwartete Schützenhilfe für den Kreml: In einem Interview mit dem Economist hat Emmanuel Macron Anfang November 2019 die NATO für „hirntot“ erklärt. Auch mit seiner Charmeoffensive gegenüber Moskau sorgt der französische Präsident derzeit für Unmut unter vielen seiner europäischen Kollegen. So warnte der scheidende Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk seinen „lieben Freund“ Emmanuel: „Unser harter und konsequenter Kurs gegenüber Russland war der erste klare und unmissverständliche Ausdruck unserer Souveränität. Wir müssen dies weiterverfolgen.“ 

    Es ist jedenfalls nicht nur das Interview von Macron, sondern vor allem auch Russlands Eingreifen in den Syrien-Krieg, das dem Kreml auf der internationalen Bühne derzeit wieder mehr Gewicht zu verleihen scheint. Manche russischen Analysten gehen vor diesem Hintergrund bereits so weit, Russland eine Schlüsselrolle in der globalen Sicherheitsarchitektur zuzuschreiben. Die Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa nimmt all dies zum Anlass, um in The New Times zu fragen, um welche Art von Comeback es sich dabei überhaupt handelt.

    Russland hat sich erneut den Weg auf die Vorbühne der globalisierten Welt gebahnt. Hat sich mit Erdogan Syrien geteilt. Hat Kiew dazu gebracht, den Friedensbedingungen des Kreml zuzustimmen. Afrika wurde Putin frei Haus nach Sotschi geliefert. Doch das Wichtigste: Europa, repräsentiert von Macron, empfängt uns mit offenen Armen. 

    „Russland wird ein Garant für Stabilität“, so die Heerscharen aus dem Kreml

    Ist es etwa kein Grund zum Jubel, wenn die russische Regierung durch Großmachtgebahren ihre Selbstbestätigung findet?!  Andere Wege gibt es ja nicht mehr. Die begeisterte Heerschar aus dem Kreml hat laut aufgejault: „Russland wird ein fundamentaler Garant für Stabilität und Sicherheit in der Welt.“

    Doch warum hat dann der US-amerikanische Außenminister Mike Pompeo in seiner programmatischen Rede in New York (anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Herman Kahn Award), als er von den Prioritäten in der US-amerikanischen Außenpolitik sprach, Russland kein einziges Mal erwähnt – weder als Dialogpartner noch als Gefahr? Nur über China hat Pompeo gesprochen. 
    Übrigens sieht auch der Rest der Welt nicht ganz ein, wieso es so wichtig sein soll, dass Russland wieder als Garant positiver Werte auftritt. Vielmehr wirken die russischen Erfolge wie dräuender Ärger. Sogar kremlfreundliche Beobachter geben das zu: „Russland hat einige prominente Gipfel in der internationalen Politik eingenommen und wird nun darum ringen, sie zu halten, besser gesagt: Es wird in einem Knäuel äußerst komplizierter Konstellationen versumpfen. Und es wird bereuen, sich darin verstrickt zu haben.“ 

    Russland als Verkörperung des Fremden und Gefährlichen 

    Und in der Tat: Sich im Nahen Osten – von wo die Amerikaner reißaus nehmen – in den Blutbrei einzumischen, das spricht eher für Torheit denn für strategische Kalkulation.
    Und was bedeutet bitte die Bereitschaft Selenskys, die russische Interpretation der Steinmeier-Formel anzunehmen? Die bittere Ironie besteht darin, dass Selensky zur sicheren Beute seines eigenen Maidans wird, wenn er das riskiert. Und die offenen Arme des schönen Macron? Auch nicht sehr vielversprechend: Der französische Präsident versucht, Moskau zu benutzen, um die Führungsrolle auf dem verwaisten Feld der Europapolitik einzunehmen. Womit er übrigens den Deutschen und dem restlichen Europa auf die Nerven geht. Und was bekommt Russland dafür, wenn es erstmal Sprungbrett für Macron geworden ist?
    Kann man überhaupt darauf hoffen, dass Russland den Dialog mit dem Westen wieder aufnimmt, wenn es für den Westen zu einer Verkörperung des Fremden und Gefährlichen geworden ist?
    […]  Wie kann man vor diesem Hintergrund zu dem Schluss kommen, dass Russland eine Schlüsselrolle für die globale Sicherheit und Stabilität einnimmt? 

    Inzwischen verliert die Weltgemeinschaft das Interesse an Russland

    Inzwischen verliert die Weltgemeinschaft das Interesse an Russland. Die, die über Russland schreiben, quälen sich im Bemühen, die Aufmerksamkeit an ihrem Thema zu halten. Selbst Putin regt die Phantasien nicht mehr an.
    Russlandexperten rackern sich ab, um die Bedeutung Russlands (und damit gleichzeitig ihre eigene) zu steigern. Während es früher Mode war, die Integration Russlands in die westliche Welt zu beweisen, so heißt es nun, seine Gefahr für die Welt zu begründen. Ende der Themenliste. Die ewige Leier der russischen Forderungen und das endlose russische Gejammer zum Thema „Wo bleibt denn da der Respekt!“ geht allen gehörig auf den Geist.

    Erniedrigend ist nicht, dass man uns nicht mehr respektiert und uns nicht glaubt. 
    Erniedrigend ist, dass man uns für einen hoffnungslosen Fall hält. Erniedrigend ist, dass die Welt unserer müde ist.
    Es gibt nicht mal mehr gesteigertes Interesse daran, sich mit uns auseinanderzusetzen. Eher im Gegenteil. Die westlichen Pragmatiker sagen: Die Russen kann man nicht ändern, doch es lohnt nicht, sich mit ihnen zu streiten. Wir tun einfach so, als würden sie uns interessieren, besprechen Pläne, die nie umgesetzt werden. Einfach, damit sie uns nicht ans Bein pinkeln.

    Die angewiderte Gleichgültigkeit ist das Erniedrigendste für den russischen Stolz

    Das Erniedrigendste für den russischen Stolz ist die angewiderte Gleichgültigkeit und dass man uns behandelt wie einen verdammten Anachronismus.
    Übrigens kann Russland den Westen sehr wohl beeinflussen. Wie? Indem es versucht, das eine oder andere westliche Staatsoberhaupt mit seiner Freundschaft zu beglücken. Wenn die liberale Welt Russland als genuin Böses betrachtet, ist das ein verlässliches politisches Mordinstrument. Ein erneutes Gipfeltreffen zwischen Putin und Trump könnte für Letzteren durchaus zum Anlass für ein Impeachment werden.
    Insofern: Wir können uns rächen. Rächen für die Nicht-Liebe, die Nicht-Wertschätzung, für die Gleichgültigkeit. Doch inwiefern wird diese Rache ein gerechter Preis sein für das verlorene Interesse an uns?

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  • Zweckentfremdet

    Zweckentfremdet

    Dokumentarfotografin Oksana Ozgur kommt aus Nadym in Russlands hohem Norden. Normalerweise verbindet man Nadym mit Erdgasförderung – Ozgur aber stellt in ihren Bildern, die sie dort fotografiert hat, Garagen ins Zentrum. Genauer gesagt: Garagen, die gar keine Garagen mehr sind. Sondern Wohnzimmer, Musikstudio oder Taubenhaus. 

    Das Projekt Inoje Nasnatschenije (dt. Zweckentfremdet) ist während ihres Studiums an der renommierten Petersburger Schule für zeitgenössische Fotografie Dokdokdok entstanden.

    Die Garage eines Designers, alles von Hand gemacht. Das Souterrain soll auch noch eine neue Funktion bekommen und umgestaltet werden / Foto © Oksana Ozgur
    Die Garage eines Designers, alles von Hand gemacht. Das Souterrain soll auch noch eine neue Funktion bekommen und umgestaltet werden / Foto © Oksana Ozgur

    Mitte der 1960er Jahre, Sowjetunion: Industrialisierung und Entwicklung der Autoindustrie verschaffen auch in Russland immer mehr Menschen Zugang zu dem liebsten Kind, dem Auto. Und das soll nicht frieren. Dafür entstehen nun Garagen – speziell im Norden überlebensnotwendig für die Instandhaltung der Gefährten, da niedrige Temperaturen und Permafrostböden eine Herausforderung sind.

    Gerade der Norden wird in den 1970er Jahren aktiv besiedelt. Das führt zu einem ungestümen Wachstum neuer Wohnorte – und nicht wegzudenken aus dem Städtebau ist ein Meer von Garagen.

    Und weil es keine Klubs oder Bars gibt, suchen sich junge Menschen eigene Wege zur Freizeitgestaltung, dazu braucht es einen Raum. Erst wurde dafür nur ein kleiner Teil der Garage abgetrennt. Bis irgendwann die ganze Garage Erholungszweck war und der Garagen-Umbau das Auto als Hobby ersetzte. Die umfunktionierte Garage ist eine Möglichkeit, dem einförmigen Alltag zu entkommen. Jedem Garagenbesitzer Raum für seine Phantasie.

    Viele sprechen von der Garage als ihrer Datscha. Anstelle des Gemüsegartens gibt es dort ein Betonquadrat für schöpferisches Tun. Aber ist die Garage wirklich zweckentfremdet – oder hat man in Russlands hohem Norden ihren wahren Zweck entdeckt? 

    Fotografin Oksana Ozgur hat die Garagen in ihrer Heimatstadt Nadym besucht und in ihrem Projekt Inoje Nasnatschenije (dt. Zweckentfremdet) dokumentiert.

     

    Die Garage ist zu einer Bar mit Heimkino umgebaut. Im Souterrain befindet sich ein weiterer Aufenthaltsraum. Das Auto parkt jetzt woanders / Foto © Oksana Ozgur
    Die Garage ist zu einer Bar mit Heimkino umgebaut. Im Souterrain befindet sich ein weiterer Aufenthaltsraum. Das Auto parkt jetzt woanders / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich im Souterrain mit Ofen und Bar. Oben steht das Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich im Souterrain mit Ofen und Bar. Oben steht das Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Garagen-Panorama / Foto © Oksana Ozgur
    Garagen-Panorama / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich im ersten Stock, unten steht das Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich im ersten Stock, unten steht das Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich in einer Standardgarage, 5 x 6 Meter / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich in einer Standardgarage, 5 x 6 Meter / Foto © Oksana Ozgur
    Garage in der Standardgröße 5 x 6 Meter, mit Aufenthaltsbereich / Foto © Oksana Ozgur
    Garage in der Standardgröße 5 x 6 Meter, mit Aufenthaltsbereich / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum im Souterrain / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum im Souterrain / Foto © Oksana Ozgur
    Außenansicht / Foto © Oksana Ozgur
    Außenansicht / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum in einer dreistöckigen Garage, 5 x 12 Meter. Außerdem gibt es eine Banja und zwei Etagen mit Autostellplätzen / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum in einer dreistöckigen Garage, 5 x 12 Meter. Außerdem gibt es eine Banja und zwei Etagen mit Autostellplätzen / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich mit Kamin / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich mit Kamin / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum mit Kamin und Banja im Souterrain. Oben ein Stellplatz für ein Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum mit Kamin und Banja im Souterrain. Oben ein Stellplatz für ein Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Schlafzimmer in dreistöckiger Garage / Foto © Oksana Ozgur
    Schlafzimmer in dreistöckiger Garage / Foto © Oksana Ozgur
    Außenansicht einer zweistöckigen Garage / Foto © Oksana Ozgur
    Außenansicht einer zweistöckigen Garage / Foto © Oksana Ozgur
    In dieser Garage trifft sich der Motorclub des Ortes. Hier werden die technischen Geräte aufbewahrt und die Klubmitglieder verbringen hier auch ihre Freizeit / Foto © Oksana Ozgur
    In dieser Garage trifft sich der Motorclub des Ortes. Hier werden die technischen Geräte aufbewahrt und die Klubmitglieder verbringen hier auch ihre Freizeit / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich für Treffen mit Freunden. Die Garage ist circa 50 Quadratmeter groß. Ein Teil des Raums ist abgetrennt und zu einem Zimmer umgebaut / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich für Treffen mit Freunden. Die Garage ist circa 50 Quadratmeter groß. Ein Teil des Raums ist abgetrennt und zu einem Zimmer umgebaut / Foto © Oksana Ozgur
    Garagen, nicht neu / Foto © Oksana Ozgur
    Garagen, nicht neu / Foto © Oksana Ozgur
    Proberaum für Hobbymusiker im Obergeschoss einer Garage. Es gibt auch einen Aufenthaltsbereich mit Kamin und Bar. Der Bau einer Banja ist in Planung. Im Untergeschoss stehen die Autos / Foto © Oksana Ozgur
    Proberaum für Hobbymusiker im Obergeschoss einer Garage. Es gibt auch einen Aufenthaltsbereich mit Kamin und Bar. Der Bau einer Banja ist in Planung. Im Untergeschoss stehen die Autos / Foto © Oksana Ozgur
    Mini-Sporthalle in einer zweistöckigen Garage / Foto © Oksana Ozgur
    Mini-Sporthalle in einer zweistöckigen Garage / Foto © Oksana Ozgur
    Standardgarage, umgebaut zum Proberaum für die im Ort ansässige Rockgruppe / Foto © Oksana Ozgur
    Standardgarage, umgebaut zum Proberaum für die im Ort ansässige Rockgruppe / Foto © Oksana Ozgur
    Raum mit Billardtisch in einer dreistöckigen Garage. Neben dem Stellplatz fürs Auto gibt es noch eine Banja, eine Küche und ein Schlafzimmer. Ein Zugang zum Dach ist in Planung / Foto © Oksana Ozgur
    Raum mit Billardtisch in einer dreistöckigen Garage. Neben dem Stellplatz fürs Auto gibt es noch eine Banja, eine Küche und ein Schlafzimmer. Ein Zugang zum Dach ist in Planung / Foto © Oksana Ozgur
    Die Garage ist zu einem Tonstudio umgebaut. Oben ist der Stellplatz für das Auto, im Souterrain ist das Studio / Foto © Oksana Ozgur
    Die Garage ist zu einem Tonstudio umgebaut. Oben ist der Stellplatz für das Auto, im Souterrain ist das Studio / Foto © Oksana Ozgur
    Laden für Motorenöle in zwei umgebauten Garagen / Foto © Oksana Ozgur
    Laden für Motorenöle in zwei umgebauten Garagen / Foto © Oksana Ozgur
    Standardgarage, umgebaut zu einem Taubenschlag. Im Erdgeschoss befinden sich die Vogelkäfige für die Quarantäne, im selbst eingezogenen ersten Stockwerk sind die Räume für die Vögel. Es gibt einen Zugang zum Dach. / Foto © Oksana Ozgur
    Standardgarage, umgebaut zu einem Taubenschlag. Im Erdgeschoss befinden sich die Vogelkäfige für die Quarantäne, im selbst eingezogenen ersten Stockwerk sind die Räume für die Vögel. Es gibt einen Zugang zum Dach. / Foto © Oksana Ozgur
    Die Druckerei der städtischen Zeitung befindet sich in zwei nebeneinanderliegenden eingeschossigen Garagen / Foto © Oksana Ozgur
    Die Druckerei der städtischen Zeitung befindet sich in zwei nebeneinanderliegenden eingeschossigen Garagen / Foto © Oksana Ozgur
    Arbeitsplatz des Vorsitzenden der Garagen-Kooperative im ersten Stock einer zweistöckigen Garage – die Gesamtfläche beträgt 180 Quadratmeter / Foto © Oksana Ozgur
    Arbeitsplatz des Vorsitzenden der Garagen-Kooperative im ersten Stock einer zweistöckigen Garage – die Gesamtfläche beträgt 180 Quadratmeter / Foto © Oksana Ozgur
    Garage als Raum für Kreativität / Foto © Oksana Ozgur
    Garage als Raum für Kreativität / Foto © Oksana Ozgur
    Typische Garagenanlage im Norden Russlands / Foto © Oksana Ozgur
    Typische Garagenanlage im Norden Russlands / Foto © Oksana Ozgur

    Fotos und Text: Oksana Ozgur
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 31.10.2019

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  • Wie Raketen den Protest antreiben können

    Wie Raketen den Protest antreiben können

    Regen und Einlasskontrollen hielten sie nicht auf: Zehntausende haben am Samstag an der genehmigten Demonstration im Moskauer Stadtzentrum teilgenommen. Die Polizei spricht von 20.000 Teilnehmern, die NGO OWD-Info berichtet von 60.000 Demonstranten, 256 seien allein in Moskau festgenommen worden. In Moskau traten auch bekannte russische Musiker wie IC3PEAK und Face auf, die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja trug ein Gedicht vor. Die Menschen in der Hauptstadt protestieren seit Mitte Juli: Auslöser war, dass oppositionelle Kandidaten unter fadenscheinigen Begründungen nicht zur Regionalwahl zugelassen worden waren.

    Gleichzeitig drangen am Wochenende immer mehr Einzelheiten über einen atomaren Unfall auf einem Militärstützpunkt am Weißen Meer ans Licht der Öffentlichkeit. Dieser hatte sich am Donnerstag ereignet. Die Behörden informierten die Bevölkerung jedoch nur spärlich darüber, viele Fragen sind immer noch offen.

    In seinem Meinungsstück auf Republic macht Andrej Sinizyn eine Art Tschernobyl-Effekt aus und beschreibt, wie das Verschweigen und Belügen Proteste nur anheizt.

    Am 1. März 2018 hat Wladimir Putin in seiner Botschaft an die Föderationsversammlung 45 Minuten lang über die Erfolge Russlands in der Entwicklung neuer Waffen berichtet (darunter auch Atomwaffen), begleitet wurde das alles mit durchaus aggressiven Animationsfilmen. Experten äußerten umgehend Zweifel an der Echtheit (und dem Sinn) der höchst fantastisch anmutenden Projekte, wie zum Beispiel nuklear betriebener Raketen oder einer Unterwasser-Atom-Drohne. Die Propaganda-Funktion der Präsentation indes war klar: Es galt, das westliche Publikum zu erschrecken und – ebenso – die eigene Bevölkerung.

    Nun sind fast anderthalb Jahre vergangen und wir werden Zeugen, dass die Trickfilme floppen. Die Atomstolz-Propaganda funktioniert nicht.

    Am 1. Juli 2019 hat es in der Barentssee während Testläufen mit einem geheimen Unterwasser-Gerät (inoffizieller Name: Loscharik) einen Unfall gegeben, bei dem 14 U-Boot-Offiziere, darunter sieben Kapitäne 1. Ranges und zwei Helden Russlands, ums Leben kamen. Beerdigt wurden sie unter strengster Geheimhaltung in Sankt Petersburg.

    Die Atomstolz-Propaganda funktioniert nicht

    Am 8. August kam es auf dem Raketen-Testgelände Njonoksa in der Nähe von Sewerodwinsk аm Weißen Meer zu einer Explosion, anschließend erschien (und verschwand nach 24 Stunden) auf der Website der Stadtverwaltung eine Mitteilung über einen kurzzeitigen,  sprunghaften Anstieg radioaktiver Strahlung. Der Telegram-Kanal Baza berichtete von sechs Verletzten eines Strahlungsunfalls. Das Verteidigungsministerium teilte mit, dass es auf dem Militärgelände während Versuchen mit einem Flüssigkeitsraketentriebwerk zu einer Explosion gekommen sei, bei dem zwei Menschen ums Leben gekommen und sechs weitere verletzt worden seien. Knapp 48 Stunden später veröffentlichte die Atombehörde Rosatom eine Pressemitteilung, wonach fünf Mitarbeiter ums Leben gekommen seien und drei weitere Verletzungen erlitten hätten: „Die Tragödie ereignete sich während der Arbeiten und steht in Zusammenhang mit ingenieurtechnischen Wartungen von Isotopenquellen am Flüssigkeitsantrieb.“

    Wiederum verläuft alles streng geheim, die Bewohner von Sewerodwinsk kaufen für alle Fälle die Jod-Vorräte in den Apotheken auf. Es gibt die Vermutung, dass der nuklearbetriebene Marschflugkörper namens Burewestnik (eine der von Putin präsentierten Wunderwaffen) explodiert sei. Doch mit Sicherheit kann bislang nur gesagt werden, dass es mit den neuen Waffen Probleme gibt und dass diese Probleme sogar das Leben und die Gesundheit friedlicher Menschen bedrohen.

    Natürlich passieren Unfälle immer und überall. Und selbstverständlich fallen militärische Tests unter Geheimhaltung. Die Einwohner von Sewerodwinsk fühlen sich aber nicht ohne Grund an Tschernobyl erinnert: Die Angewohnheit der Machthaber sogar dann zu schweigen oder zu lügen, wenn Gefahr für die Bürger besteht, gibt es nach wie vor (Sewerodwinsk war zu sowjetischen Zeiten eine geschlossene militärische Stadt; die Menschen dort wissen gut Bescheid über solche Verhaltensweisen der Machthaber). 

    Loyalität ist wichtiger als Kompetenz

    Geheimhaltung und Sicherheitsstrukturen gehen bekanntermaßen miteinander einher. Der Einfluss dieser Institutionen in Russland wächst, er ist nur durch interne Konkurrenz begrenzt. Die Gesellschaft kann hier praktisch nichts kontrollieren. Diese fehlende Kontrolle verstärkt die negative Selektion, die sowieso jeder Kaderpolitik eines jeden autoritären Staates eigen ist: Loyalität ist wichtiger als Kompetenz. Im Endeffekt werden wir von amoralischen Nichtsnutzen regiert, die zwar Studenten auf den Straßen niederzwingen können, aber nicht wissen, wie man einen funktionierenden Weltraumbahnhof oder eine Rakete baut.

    Deshalb sind die Vertrauenswerte für die  Machthaber niedrig und fallen weiter. Und die Machthaber selbst tun alles dafür, dass das so weitergeht. Die Wirtschaftskrise, das sinkende Realeinkommen, die Erhöhung des Rentenalters, die Steuererhöhung, eine Müllreform, fehlende politische Repräsentation und politische Repressionen – das sind die Themen, die die Menschen in Russland heute beschäftigen. Sie haben die Trickfilme mit den Wunderwaffen sowieso nicht ganz so ernst genommen (obwohl die anfangs ja doch ganz ansprechend wirkten, das kann man nicht leugnen). Und nun stellt sich heraus, dass die Wunderwaffe nicht geeignet ist, den Feind zu schlagen, dafür aber, um in der Nähe zu explodieren und die eigenen Leute zu töten und dabei  auch noch das heimische Territorium zu verseuchen.

    Wladimir Putin muss enttäuscht sein. Russland und die USA treten aus Abrüstungsverträgen aus, ein neues Wettrüsten hat begonnen – und bei uns gibt es einen Unfall nach dem anderen. Das Wichtigste daran ist – der Propagandaeffekt schwindet dahin. Die Bürger beginnen zu protestieren, in unterschiedlichen Regionen aus unterschiedlichen Gründen. Einige versuchen sogar, einen Regimewechsel zu erreichen.

    Was soll’s, es bleibt also nur, Urlaub auf der Krim zu machen und die anderen Silowiki zu beauftragen, auf den Straßen von Moskau die Bürger verprügeln. Wenn schon die eingangs erwähnten Silowiki [beim Militär] es nicht hinkriegen, die Wunderwaffe zu bauen.   

    PS
    Der Direktor sowie der wissenschaftliche Leiter des Russischen Föderalen Nuklearzentrums –  das Allrussische wissenschaftliche Forschungsinstitut für experimentelle Physik – haben berichtet, dass in der Nähe von Sewerodwinsk ein kleinformatiger Atomreaktor explodiert sei, der ein Teil des Motors eines Rüstungsguts ist. Mitarbeiter des Zentrums seien bei den laufenden Tests ums Leben gekommen. Die Forschung und Entwicklung im Auftrag des Verteidigungsministeriums läuft im Rahmen des wissenschaftlichen Programms des Zentrums.  

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    Seit über zwei Wochen gehen Menschen in Moskau wegen der Nichtzulassung von Oppositionskandidaten zur Regionalwahl auf die Straße. Nachdem die letzte große Kundgebung am 20. Juli weitgehend friedlich verlief, ist der Protest am vergangenen Samstag eskaliert: Die Polizei und die Nationalgarde griffen hart durch, zumal die Demonstration nicht von den örtlichen Behörden genehmigt worden war. Laut Menschenrechtlern gab es viele Verletzte, mehr als 1300 Menschen wurden verhaftet.

    Schon im Vorfeld haben Sicherheitskräfte einige der Oppositionskandidaten festgenommen, Mitarbeiter des unabhängigen Fernsehsenders Doshd sprachen genauso von Einschüchterungsversuchen wie einige Mitstreiter von Alexej Nawalny. Nawalny selbst sitzt seit Mittwoch eine 30-tägige Haftstrafe ab; am Sonntag wurde nun bekannt, dass er mit dicken Schwellungen im Gesicht ins Krankenhaus eingeliefert wurde, mit Verdacht auf eine allergische Reaktion. Nawalnys Umfeld behauptet demgegenüber, dass der 43-jährige Politiker noch nie Allergien hatte.

    Warum setzen die Behörden nun auf Gewalt, und welche Folgen wird die Eskalation haben? Diese Fragen stellt Kirill Martynow in der Novaya Gazeta

     

    Die unabhängigen Kandidaten, von denen viele bis vergangene Woche vergleichsweise unbekannt waren, punkten derzeit kräftig und zeigen, dass sie im Unterschied zu den Jedinorossy bereit sind, die Rechte ihrer Wähler zu verteidigen. Folgendes Signal ging an die Regionen: In Moskau sind die Bürger schon auf der Straße, um für ihre Rechte zu kämpfen. Schließt euch an. 

    Für die Regionalregierungen wird es nun wahrlich kein Leichtes sein, sich der Taktik der Moskauer Stadtregierung anzuschließen, die für einen Teil der Bürger von einem politischen Opponenten zu einer Struktur wurde, die sich mit Hilfe einer Phalanx aus Polizisten von den Bürgern abschirmt. Das Vorgehen der Silowiki hat die Opposition einerseits geeint, andererseits den Wahlen im September jeglichen Sinn geraubt: Mit gleichem Erfolg hätte man als regierungsnahe Kandidaten auch eine Kompanie der russischen Nationalgarde aufstellen können.

    Das Auseinanderklaffen von politischen Zielen und Ergebnissen ist beeindruckend: Aus ganz normalen Wahlen zum Stadtparlament hat die Regierung ein Problem von landesweitem Ausmaß gemacht. 

    „Wir sind unbewaffnet!“, rufen die Demonstranten der Polizei zu / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
    „Wir sind unbewaffnet!“, rufen die Demonstranten der Polizei zu / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    Allen Anzeichen zufolge steht hinter der Logik der aktuellen Entscheidungen ein spezifisches Weltbild, in dem die Politik nach einem Kasernenmodell funktioniert. Die Moskauer Bürger jedoch wechseln bislang nicht überstürzt in den Kriegsmodus. 

    Die Regierung handelt also nur folgerichtig, wenn sie entscheidet, politische Probleme mit Schlagstöcken zu lösen. Und so haben sie im Vorfeld der Demonstration vor dem Rathaus statt sie zu genehmigen (und damit die Unzufriedenheit der Menschen zu zerschlagen) eine fiktive Strafsache zur „Behinderung der Arbeit der Wahlkommissionen“ eingeleitet. Wie diese Sache ausgeht, wissen die Silowiki bislang selbst nicht. Aber erst einmal wird diese Nachricht breit in den Medien diskutiert und dann gibt es massenweise nächtliche Hausdurchsuchungen bei den Kandidaten. Bei diesen Durchsuchungen wird nichts Konkretes beschlagnahmt, ihr Ziel ist es, allen Angst zu machen. 

    Mit eben diesem Ziel wurde die Mehrheit der Kandidaten im Vorfeld der Demonstration verhaftet: Der Protest hat auf diese Weise seine Köpfe verloren, und so wird nun ganz bestimmt nichts passieren. Das bedeutet, dass diejenigen Figuren, die an der Macht sind und Entscheidungen auf derartigem Niveau getroffen haben, berauscht sind von der eigenen Propaganda und tatsächlich glauben, dass die Bürger auf die Straße gehen, weil sie von Provokateuren aufgehetzt werden. 

    Obwohl kein einziger bekannter Oppositionsführer auf der Straße ist, befindet sich das Moskauer Rathaus am 27. Juli im Belagerungszustand / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
    Obwohl kein einziger bekannter Oppositionsführer auf der Straße ist, befindet sich das Moskauer Rathaus am 27. Juli im Belagerungszustand / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    So befindet sich das Moskauer Rathaus den gesamten 27. Juli im Belagerungszustand, obwohl kein einziger bekannter Oppositionsführer auf der Straße ist.

    Das Büro von Nawalny streamt auf Youtube live von der Demo, im Laufe des Tages versuchen Polizisten die Tür zu öffnen und in das Studio einzudringen. Gegen 16 Uhr ist die Tür aufgebrochen, und die Polizisten verlesen gegenüber den FBK-Mitarbeitern in entschuldigendem Ton den strafrechtlichen Beschluss. Über 40.000 Menschen verfolgen diese Farce im Livestream, noch weitaus mehr schauen sich die Aufzeichnung an. Später dringt die Polizei während der Liveübertragung ins Studio des Fernsehsenders Doshd ein, wahrscheinlich in der Annahme, dass hierher die „Steuerzentrale des Protests“ verlegt worden sei. Die Chefredakteurin des Senders, Alexandra Perepelowa, erhält eine Vorladung in derselben  Strafsache – wegen Behinderung der Wahlen.

    Die Silowiki knobeln den ganzen Tag: Wer muss festgenommen werden, damit alles aufhört? Es geht ihnen nicht in den Kopf, dass die Leute einen freien Willen haben.

    Das Vorgehen von Polizei und Nationalgarde gegen die Protestierenden ist kein bisschen abgestimmt, die an der Auflösung der friedlichen Demo Beteiligten verstehen nicht, warum sie hier sind, und behindern einander gegenseitig. Die Silowiki auf den Straßen agieren ebenso professionell wie ihre Kollegen, die dem Journalisten Golunow Drogen untergeschoben haben: Sie können der Masse nicht folgen, haben keine klaren Anweisungen, schnappen und verprügeln zufällige Passanten.

    Die Kommunalabgeordnete Alexandra Paruschina wurde bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei verletzt / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
    Die Kommunalabgeordnete Alexandra Paruschina wurde bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei verletzt / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    Hinter all diesen hauptstädtischen Sommerlandschaften öffnet sich der Horizont des russischen politischen Dramas mit dem Titel Organisation der Machtübergabe bis 2024. Die Zustimmungswerte fallen, das Geld wird immer knapper, Leute werden wegen Beamtenbeleidigung verfolgt, die Teilnahme an Wahlen wird zur Straftat erklärt, als Silowiki dienen die Taugenichtse von gestern mit entsprechender Weitsicht, neue Gesichter gibt es in der regierungstreuen Politik keine, und die aktuellen sind samt all ihrer Projekte diskreditiert. Bitte, übergebt die Macht. Aber wie bitte wollt ihr das anstellen, wenn sogar gewöhnliche Regionalwahlen in Moskau zur untragbaren politischen Last werden? 

    Prognosen anstellen ist eine undankbare Beschäftigung. Aber eines lässt sich sicher nach den Ereignissen vom 27. Juli in der Hauptstadt sagen: Den Moskauer Wahlkampf haben die Amtsträger schon verloren. Was auch immer für Ergebnisse sie da in ihre Wahlprotokolle kritzeln mögen.

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