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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • 10 Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird

    10 Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird

    Wird Russland in Belarus eingreifen? Und wenn ja: wie? Diese Fragen wurden in den vergangenen Tagen immer wieder diskutiert. Während Lukaschenko im Wahlkampf selbst vor einem ukrainischen Szenario in Belarus gewarnt hatte und sogar russische Söldner verhaften ließ, hat er inzwischen zwei Mal mit Putin telefoniert und um Beistand gebeten. Vermehrt versucht die Staatspropaganda, die Demonstranten, die gegen Wahlbetrug und für die Freilassung der Festgenommenen auf die Straße gehen, in die Nähe der vermeintlich vom Ausland gesteuerten Farbrevolutionen im postsowjetischen Raum zu rücken. Margarita Simonjan, Chefredakteurin des russischen Auslandssenders RT, twitterte, es sei an der Zeit, dass „höfliche Menschen“ für Ordnung sorgten in Belarus.

    In sozialen Netzwerken tauchten unterdessen Videos von schweren Lastwagen ohne Nummernschilder auf, die mutmaßlich zur russischen Rosgwardija gehören und in der Oblast Smolensk auf der Strecke von Moskau in Richtung belarussische Grenze unterwegs waren. Solche Nachrichten sorgten sogleich für Unruhe – doch Beobachter wiegeln ab: Das unabhängige belarussische Portal tut.by etwa wies darauf hin, dass es unlogisch sei, eine russische Invasion in Belarus mittels Lastwagen statt mit Hubschraubern durchzuführen. Zudem seien Truppen der Rosgwardija vor allem für den Einsatz im Inneren bestimmt. Der Journalist und Politologe Kirill Rogow geht davon aus, dass solche Bilder weniger die Demonstranten abschrecken, als den Machtapparat um Lukaschenko stärken sollten – indem sie ihn in dem Glauben wiegten, dass es zu früh sei, den Diktator abzuschreiben. Gleichzeitig weisen einzelne Experten – wie Jens Siegert, der ehemalige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau – darauf hin, dass Belarus in Russland nicht die gleiche mythisch aufgeladene Bedeutung habe wie Kiew, Odessa oder Charkiw. 

    Dennoch zeigt die Debatte, wie groß die Unsicherheiten und Ängste sind vor einem analogen Szenario wie auf der Krim 2014. Der bekannte belarussische Journalist und Carnegie-Autor Artyom Shraibman nennt auf Telegram zehn Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird.

    Eine Anfrage an Moskau genüge, so Lukaschenko, und er bekomme „vollumfängliche Hilfe, um die Sicherheit der Republik Belarus zu garantieren“. Er nannte in diesem Zusammenhang den Vertrag über die kollektive Sicherheit (OKVS). Im Folgenden genauer dazu, warum ich nicht an dieses Schreckgespenst glaube:

    1. Russland rettet kein zusammenbrechendes Regime mit Hilfe von Soldaten. Den Staatschef außer Landes bringen – ja, ein Regime retten, das keine Unterstützung im Volk hat – nein.
    Die einzige Ausnahme ist Syrien. Dort herrschte allerdings schon ein Bürgerkrieg, und die russischen Truppen haben keine Gebiete besetzt, sondern vorwiegend Luftangriffe geflogen. Wen sollte man bei uns bombardieren? Die Werkhallen des Minsker Traktorenwerks MTZ oder des belarussischen Automobilwerks BelAZ? Oder die streikenden Mitarbeiter der staatlichen Rundfunkanstalt Belteleradiokampanija

    2. Die Belarussen wollen keine Einmischung von außen und wollen auch nicht Teil Russlands werden. Hier die jüngste Umfrage der Akademie der Wissenschaften: Für einen Beitritt zur  Russischen Föderation sind weniger als sieben Prozent. Für eine engere Union unter 25 Prozent. Alle anderen sprechen sich für freundschaftliche Beziehungen unabhängiger Staaten aus. Belarus ist nicht die Krim, die angeblich irgendwie um Befreiung von den Faschisten gebeten habe. Hier wird keiner Rosen verteilen.

    3. Ein Volk, das nicht um Befreiung bittet, muss man mit massivem Truppeneinsatz im Zaum halten. Mit zehntausenden Besatzungssoldaten. Und wenn sich dann noch Partisanengruppen bilden – was in dem Fall und bei derartigem gesellschaftlichem Aufbegehren wohl unausweichlich wäre – mit hunderttausenden. Und tausenden Opfern. Eine sanftere Lösung gäbe es einfach nicht.

    4. Mit einer solchen Intervention würde Russland das belarussische Volk auf noch längere Zeit verlieren als das ukrainische. Ein Volk, das aktuell Russland gegenüber freundschaftlich eingestellt ist. Nach Umfragen des Wardomazki-Labors sind über 70 Prozent für den Erhalt der Beziehungen in ihrer jetzigen Form, ohne Grenz- und Zollkontrollen. Nur fünf bis sieben Prozent sind für einen Abbruch der Beziehungen.

    5. Dazu kommen noch Massen von Särgen Richtung Heimat und die Vorbehalte des eigenen Volkes, dem man zuvor nicht erklärt hat, dass in Minsk Bandera-Faschisten an die Macht drängen würden, plus Sanktionen des Westens in beispielloser Härte. 

    6. Und all das wozu? Um einen belarussischen EU-Beitritt zu verhindern? Die heutige Opposition wirbt gar nicht für einen solchen. Und es wäre auch absurd angesichts der derzeitigen belarussischen Abhängigkeit von Moskau. Ein Austritt aus der Eurasischen Wirtschaftsunion mit Verlust des Zugangs zum russischen Markt würde einen wirtschaftlichen Stillstand binnen eines Monats bedeuten. Mehr als 70 Prozent unserer Auslandsschulden haben wir gegenüber Russland.

    7. Eine Invasion löst auch nicht das Problem der inneren Stabilität. Die Arbeiter kehren deswegen nicht zurück in die Fabriken, ein Absturz des Bankensystems wäre die Folge, zig Milliarden müssten für humanitäre Bedürfnisse fließen. Und Belarus hat fünf Mal so viele Einwohner wie die Krim. Außerdem hat sich die russische Wirtschaft nach dem Coronavirus selbst noch nicht berappelt.  

    8. Die Demonstranten rufen keine anti-russischen oder pro-westlichen Losungen. Das steht überhaupt nicht zur Debatte. Der Kreml ist nicht blind und sieht das. Russland hat die Folgen der Revolutionen in Kirgisistan und Armenien akzeptiert, wo es auch keine außenpolitischen Ziele gab.
    Moskau orientiert sich immer an der gerade gewinnenden Seite. Und versteht vor allem, dass diese Seite nicht feindlicher ist als jene Regierung, die russische Staatsbürger zu Geiseln ihres Wahlkampfes gemacht hat.  

    9. Lest die Pressemitteilung des Kreml nach dem morgendlichen Gespräch mit Lukaschenko [am Samstag, 15. August – dek]. Da steht viel über Völkerfreundschaft und Feinde, aber kein einziges Wort der Unterstützung für den amtierenden belarussischen Präsidenten. Der Kreml hat eine abwartende Position eingenommen.

    10. Für Juristen. Die Satzung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) sieht keine militärische Hilfe vor ohne eine äußere Aggression auf ein Mitgliedsland (ein bewaffneter Angriff, der die Sicherheit, Stabilität, territoriale Integrität und Souveränität bedroht). Lukaschenko hat während seines ganzen Wahlkampfs die Russen einer solchen Aggression bezichtigt und jetzt versucht er, eine Bedrohung durch den Westen zu inszenieren.
    Aber eine solche ist in der gegenwärtigen Situation gar nicht so leicht auszudenken. Den Gerüchten zufolge machen sich hochrangige Beamte aus Russland und Europa bereits untereinander lustig über solche Äußerungen. Ein hybrider Angriff, ausgehend vom Telegram-Kanal Nexta, ist nicht in der OVKS-Satzung erwähnt.

    PS: Um ein solches Szenario auch in Zukunft auszuschließen, sollte eine belarussische Übergangsregierung im Falle eines Sieges nicht sofort vor lauter Euphorie die sowjetischen Denkmäler antasten, die staatliche Symbolik ändern oder den Status des Russischen als Amtssprache annullieren. Aber: Es gibt viel zu tun und eine Mehrheit ist (allen verfügbaren Umfragen zufolge) gegen solche Maßnahmen – und so sehe ich keinen Grund zur Annahme, dass die Übergangsregierung austickt und solche Sachen überhaupt anfängt. Alles zu seiner Zeit.

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    Weiß-Rot-Weiß ist der Protest

    Die Flagge des belarussischen Protests ist weiß-rot-weiß. Warum? Woher kommt sie? Ein Überblick von Dmitry Kartsev, Meduza.


    Foto © tut.by

    Woher kommt die weiß-rot-weiße Flagge?

    Die weiße Flagge mit dem roten Streifen in der Mitte war einige Jahre die offizielle Flagge von Belarus. Anfang des 20. Jahrhunderts verwendeten die ersten belarussischen nationalen Kreise und Vereinigungen ein Fahnentuch mit ähnlicher Farbgebung. Einige zeitgenössische Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass belarussische Einheiten schon zu Zeiten des Großfürstentums Litauen und Polen-Litauens unter Bannern mit derartigen Farben gekämpft hätten.

    Die russische Februarrevolution 1917 gab der belarussischen Nationalbewegung einen enormen Schub. Erstmals tagten nationale Organisationen legal unter dieser Fahne.

    Im März 1918 wurde die Belarussische Volksrepublik ausgerufen, das weiß-rot-weiße Banner wurde zur Staatsflagge. Die Volksrepublik existierte nur wenige Monate, ein Großteil des Staates wurde von Deutschen okkupiert, doch die Fahne etablierte sich endgültig als nationales Symbol. Die danach entstehende Belarussische Sowjetrepublik hatte offiziell zunächst eine rote Flagge, später eine rot-grüne mit einem Ornament auf der linken Seite. Doch in Emigranten-Kreisen wurde die weiß-rot-weiße Flagge weiter verwendet.

    Nach dem Zerfall der UdSSR wurde die weiß-rot-weiße Flagge erneut zur Staatsflagge des unabhängigen Belarus. Im Referendum von 1995 stimmte jedoch eine Mehrheit für die Wiedereinführung der Flagge der Belarussischen Sowjetrepublik, allerdings ohne Hammer und Sichel und mit anderen kleineren Veränderungen.

    Warum wählt die Opposition diese Flagge?

    Das Referendum von 1995 war für Alexander Lukaschenko, der gerade ein Jahr im Amt war,  ein wichtiger Schritt zur Festigung seiner Alleinherrschaft. Neben der Flaggenfrage und der Festschreibung des Russischen als zweite Amtssprache stimmten die Bürger auch für das Recht des Präsidenten, das Parlament aufzulösen, und für eine angestrebte Integration mit Russland. Lukaschenko nutzte aktiv die damalige Sowjetnostalgie und sah die größte Bedrohung für sich im belarussischen Nationalismus. Mit einem weiteren Referendum im Folgejahr wurde Belarus praktisch zur superpräsidentiellen Republik (die EU und andere westliche Länder haben die Ergebnisse des Referendums nicht anerkannt).  
    Seitdem wird die weiß-rot-weiße Flagge von der Opposition verwendet, zunächst aus der national-patriotischen Richtung, mit der Zeit jedoch von allen, die sich gegen Lukaschenko positionieren. Nach der Wahl 2020 ist die Opposition auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit seit dem Amtsantritt von Lukaschenko. Daher ist es kein Wunder, dass die Flagge zum Symbol des Protests wurde. Interessanterweise sieht man – anders als bei den beiden ukrainischen Maidanprotesten oder den Protesten nach der belarussischen Präsidentschaftswahl 2010 – in diesen Tagen neben den weiß-rot-weißen Flaggen keine EU-Fahnen.

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    „Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

  • „Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

    „Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

    Während der anhaltenden landesweiten Proteste in Belarus sind mehr als 6000 Menschen verhaftet worden. In sozialen Medien tauchten zahlreiche Fotos von großen Menschenmengen vor Gefängnissen auf, die Leute waren auf der Suche nach ihren Angehörigen. Derzeit häufen sich Berichte, wonach zahlreiche Festgenommene wieder aus den überfüllten Gefängnissen entlassen werden, viele davon mit Verletzungen. Hunderte Frauen, teilweise in Weiß gekleidet und mit Blumensträußen, bildeten in zahlreichen Städten Ketten, um ihre Solidarität mit Verhafteten und Verwundeten auszudrücken. Landesweit haben außerdem Mitarbeiter von Fabriken gestreikt und unter anderem faire Wahlen und die Freilassung der Festgenommenen gefordert. Auch Krankenhauspersonal versammelte sich und forderte ein Ende der Gewalt.

    Unterdessen häufen sich in unterschiedlichen Medien Augenzeugenberichte von grausamer Polizeigewalt, auch Folter. Auch der russische Znak-Korrespondent Nikita Telishenko war am 10. August in Minsk festgenommen worden. Sein Bericht über die Gewalt, die er danach gesehen und erfahren hat, wird derzeit in sozialen Netzwerken zehntausendfach geteilt und gelesen.

    Am Abend des 10. August wurde der Znak-Korrespondent Nikita Telishenko in Minsk festgenommen, ehe eine Protestaktion gegen die Wahlfälschungen losging. Er kam beruflich nach Belarus, im Auftrag seiner Redaktion. Nach der Festnahme gab es 24 Stunden keinen Kontakt zu ihm. Nikita wurde erst am Dienstagabend freigelassen.

    Inhaftierung 

    Ich wurde am 10. August festgenommen, als ganz Minsk an der zweiten Protestaktion gegen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl in Belarus teilnahm. Die Aktion war in der Uliza Nemiga geplant, wo bereits Kampffahrzeuge und Lastwagen aufgefahren waren. In den Durchgängen und zwischen den Häusern waren viele Soldaten, Spezialkräfte der OMON und die Polizei. Ich bin da einfach langgelaufen und habe mir die Vorbereitungen für die Demonstration angeschaut. Ich sah Wasserwerfer, schrieb das an das Redaktionsbüro, und eine Minute später kamen Polizeibeamte auf mich zu, sie trugen normale Uniform. Sie baten mich, zu zeigen, was denn in meiner Tasche sei, sie erschien ihnen verdächtig. Ich zeigte ihnen, dass ich darin einen Pulli hatte. Danach ließen sie mich gehen.


    Dann sah ich an der Haltestelle Sportpalast, wie sich die OMON-Kräfte alle schnappten, die aus einem Bus ausstiegen, und sie in einen Gefangenentransporter steckten. Ich fotografierte das mit meinem Telefon und schrieb der Redaktion, berichtete über die ersten Verhaftungen bei der zweiten Protestaktion. Dann ging ich in Richtung des Heldenstadt-Obelisken [beim Museum des Großen Vaterländischen Kriegs – dek], wo sich am Tag zuvor Demonstranten und Ordnungskräfte eine regelrechte Schlacht geliefert hatten, und wollte sehen, wie der Ort nun aussah. Aber auf halbem Weg kam ein Minivan auf mich zu. Und schon waren bewaffnete OMON-Leute herausgesprungen. Sie rannten auf mich zu und fragten, was ich hier mache. Später wurde mir klar, dass sie die Koordinatoren der Aktion suchten, sie wussten, dass die Demonstranten per Telegram Informationen über die Bewegung der Polizei austauschten und über Hinterhalte berichteten. Sie haben mich wohl für einen von denen gehalten. Ich sagte ihnen: „Ich habe nicht einmal Telegram auf meinem Telefon, ich schreibe eine SMS, ich bin Journalist, ich schreibe an die Redaktion.“ Sie schnappten mein Telefon, lasen die Nachrichten und setzten mich dann ins Auto. Ich sagte ihnen, dass ich gegen nichts verstoßen, nicht an der Protestaktion teilgenommen habe, dass ich Journalist sei, worauf ich die Antwort bekam: „Setzen Sie sich, gleich kommen die Chefs und klären die Sache.“

    Bald kam eine GAZelle, die zum Gefangenentransporter umgerüstet war. Sie verdrehten mir die Arme und steckten mich da rein. Ich bat um ein Telefon, um die Redaktion darüber zu informieren, dass ich nun doch festgenommen wurde. 

    „Wir haben dich nicht festgenommen“, sagte mir einer der OMON-Männer. 

    „Nun, ich bin hinter Gittern“, antwortete ich.

    „Halt die Klappe“, parierte er. 

    Dann nahmen sie meinen Pass und sahen, dass ich russischer Staatsbürger bin. 

    „Und … was machst du [obszönes Wort für männliches GeschlechtsorganZnak] hier?“

    „Ich bin Journalist“, antwortete ich.

    An diesem Punkt war der Dialog mit den OMON-Leuten beendet. Ich saß in der GAZelle und wartete darauf, dass sie mit genau solchen Nicht-Festgenommenen wie mir gefüllt würde. Es dauerte eine halbe Stunde. Neben mir saß dann ein 62-jähriger Rentner. Sein Name war Nikolaj Arkadjewitsch. Er erzählte mir, dass er auf dem Weg zum Einkaufen festgenommen worden war: Er hatte gesehen, dass sich die OMON-Leute einen Jungen gegriffen hatten. „Ich bin für ihn eingetreten, habe versucht, ihn freizukriegen. Ich sagte ihnen: ,Er ist ein Kind, was tun Sie da?‘“ Schließlich rannte der Junge weg, und er wurde festgenommen. 

    Nikolaj Arkadjewitsch hatten sie seinen Angaben zufolge heftig in die Leber geschlagen. Er bat darum, einen Krankenwagen zu rufen, doch niemand reagierte auf seine Bitte. 

    16 Stunden Hölle bei der Polizei im Moskowski Bezirk

    Und so fuhren wir irgendwohin. Wohin, das wusste ich da noch nicht. Doch dann stellte sich heraus, dass es zur örtlichen Polizei im Moskowski Bezirk ging – 16 Stunden, die für uns alle die Hölle sein würden. Wir sind etwa 20 bis 30 Minuten gefahren. 

    Kaum hielten wir an, ertönte ein Schrei von OMON-Leuten in kugelsicheren Westen: „Gesicht auf den Boden!“

    Polizisten stürmten in den Transporter, banden uns die Hände so hinter den Rücken, dass wir fast nicht laufen konnten. 

    Ich bekam meinen ersten Hieb, weil ich mich nicht tief genug gebückt hatte

    Ein junger Mann vor mir wurde mit dem Kopf gegen die Eingangstür des Polizeireviers geschlagen. Er schrie vor Schmerzen. Daraufhin schlugen sie ihm auf den Kopf schrien ihn an: „Halt's Maul, Hurensohn!“ Ich bekam meinen ersten Hieb, als ich aus dem Auto stieg: Ich hatte mich nicht tief genug gebückt und bekam einen Schlag mit der Hand auf den Kopf und dann mit dem Knie ins Gesicht.


    Im Polizeigebäude wurden wir zunächst in einen Raum im vierten Stock gebracht.

    Die Leute dort lagen als lebender Teppich auf dem Boden, und wir mussten direkt auf ihnen entlang laufen. Es war ein schreckliches Gefühl, war ich doch jemandem auf die Hand getreten, aber ich konnte überhaupt nicht sehen, wohin ich ging, weil mein Kopf stark nach unten geneigt war. 

    „Alle auf den Boden, Gesicht nach unten“, schrien sie uns an. Und mir war klar, dass man sich nirgendwo hinlegen konnte, rundherum lagen Menschen in Blutlachen. 
    Es gelang mir, einen Platz zu finden, wo ich mich nicht als zweite Schicht auf Menschen legen musste, sondern neben sie. Auf den Bauch, Gesicht nach unten. Auch hier hatte ich Glück: Ich trug eine Maske, die mir den schmutzigen Boden erträglich machte. 
    Um mich herum wurde derbe geprügelt: Von überall hörte man dumpfe Schläge, Schreie, Wimmern. Mir schien es, dass einige der Gefangenen Arme, Beine oder Wirbelsäule gebrochen hatten, denn bei der geringsten Bewegung schrien sie auf vor Schmerzen.

    Werden die Schläge von heute wohl auch als besondere Verdienste gewertet?

    Die neuen Häftlinge wurden gezwungen, sich als zweite Schicht auf die anderen zu legen. Nach einer Weile müssen sie jedoch kapiert haben, dass das eine schlechte Idee ist, und jemand befahl, Bänke zu bringen. Ich gehörte zu denen, die darauf sitzen durften. Aber man durfte nur mit gesenktem Kopf sitzen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Und erst dann sah ich, wo wir waren – es war die Aula der Polizeiwache im Moskowski Bezirk. Ich konnte einen Blick erhaschen und sah, dass an der Wand gegenüber Fotos von Polizisten mit besonderen Verdiensten hingen. Für mich war das böse Ironie: Werden die Schläge von heute wohl auch als besondere Verdienste gewertet?

    So haben wir 16 Stunden verbracht.

    Wer auf die Toilette wollte, musste die Hand heben. Einige der Wächter erlaubten es und brachten die Leute dorthin. Andere sagten: „Mach doch auf den Boden!“

    Ich spürte meine Arme und Beine kaum noch, der Nacken schmerzte schwer. Hin und wieder wurden die Plätze getauscht. Hin und wieder kamen neue Mitarbeiter und nahmen erneut all unsere Daten auf, den Namen, wann festgenommen … und so weiter.

    Wir hörten, wie Menschen in den Stockwerken unter und über uns geschlagen wurden

    Gegen zwei Uhr morgens wurden weitere Gefangene auf die Wache gebracht. Und da begann die echte Hölle. Die Polizisten zwangen die Festgenommenen, das Vater Unser zu beten. Wer sich weigerte, wurde mit allem, was nicht niet- und nagelfest war, verprügelt. Während wir in der Aula saßen, hörten wir, wie Menschen in den Stockwerken unter und über uns geschlagen wurden. Es fühlte sich an, als würden die Menschen praktisch in den Beton getrampelt. 

    Gleichzeitig konnten wir hören, wie Blendgranaten vor dem Fenster explodierten. Die Fenster und sogar Türen unserer Aula wackelten. Die Kämpfe fanden also direkt vor dem Polizeirevier statt. Mit jeder Stunde, mit jeder weiteren Charge von Gefangenen, die zur Polizei gebracht wurde, wurden die Vollzugsbeamten wütender und brutaler. 

    Die Polizisten waren von der Aktivität der Demonstranten tatsächlich überrascht. Ich hörte sie per Funk miteinander reden, dass zur Unterdrückung der Proteste Reserveeinheiten eingesetzt würden. Sie waren wütend, dass die Menschen nicht von der Straße verschwanden, trotz der brutalen Schläge, dass die Menschen keine Angst vor ihnen hatten, dass die Leute Barrikaden errichteten und Widerstand leisteten. 

    Du Wichser! Willst du Krieg?

    „Du Wichser, gegen wen hast du Barrikaden errichtet? Willst du gegen mich kämpfen? Krieg willst du?“, schrie ein Polizist während er einen Festgenommenen verprügelte. 
    Was mich wirklich fertig gemacht hat, ist, dass all diese Schläge vor zwei Frauen stattfanden, vor Mitarbeiterinnen des Polizeireviers, die die Festgenommenen und deren Eigentum dokumentierten. Vor den Augen der Frauen schlugen sie 15, 16-jährige Jugendliche und Kinder. Die zu schlagen ist das gleiche wie Mädchen zu verprügeln! Und die Polizeibeamtinnen reagierten nicht einmal …


    Fairerweise muss man sagen, dass nicht alle Mitarbeiter bei den sadistischen Gewaltexzessen mitgemacht haben. Es gab einen, der zu uns kam und fragte, wer Wasser brauche und wer auf die Toilette müsse. Aber er unternahm auch nichts gegen das, was seine jungen Kollegen auf dem Flur mit den Gefangenen machten. 

    In jeder Schicht fragten die neuen Mitarbeiter jeden von uns, wer wir sind, woher wir kommen und wann wir festgenommen wurden. Nachdem sie meinen russischen Pass gesehen hatten, wurden die Schläge schwächer als die, die ich erhielt, als sie dachten, ich sei Belarusse.
     
    Keiner von uns durfte auch nur einen einzigen Anruf tätigen, und ich bin sicher, dass viele Angehörige derjenigen, die in jener Nacht neben mir saßen, immer noch nicht wissen, wo sie sind.

    Sie kamen von den Minsker Straßen, wo Krieg herrschte

    Gegen sieben oder acht Uhr morgens trafen die Vorgesetzten ein. Man sah, dass sie nicht von zu Hause gekommen waren, sondern von den Minsker Straßen, wo Krieg herrschte.
    Sie begannen die Gefangenen durchzuzählen. Es stellte sich heraus, dass zwei fehlten. Die Leute liefen hektisch zwischen den Büros hin und her, sie versuchten herauszufinden, wohin die zwei verschwunden waren. Sie konnten es nicht herausfinden. 

    Als ich auf dem Boden lag, sah ich am Rande meines Blickfeldes eine Person, ich weiß nicht, ob Mann oder Frau, die auf einer Bahre weggetragen wurde. Die Person bewegte sich nicht, ich weiß nicht, ob sie noch am Leben war. 

    Danach wurden wir alle ins Erdgeschoss verlegt und in Zellen gesteckt. Die sind für zwei Personen konzipiert, bei uns haben sie 30 Personen in eine Zelle gestopft. Der Vorgang wurde von heftigen Mat-Flüchen und Prügeln begleitet. Man schrie uns an: „Enger zusammen! Noch enger!“ Unter meinen Zellengenossen waren sowohl Rentner als auch junge Leute. Ich traf dort Nikolaj Arkadjewitsch wieder. Er stand eine halbe Stunde lang bei uns, dann wurde er hinausgeführt und in eine leere Zelle nebenan gesteckt. 

    Es gab überhaupt keine Luft, Leute wurden ohnmächtig

    Nach einer Stunde waren Wände und Decke der Zelle mit Kondenswasser bedeckt. Jemand konnte nicht mehr stehen und setzte sich auf den Boden, aber es gab überhaupt keine Luft, Leute wurden ohnmächtig. Diejenigen, die standen, verzweifelten an der Hitze. So verbrachten wir dort zwei oder drei Stunden und warteten darauf, verlegt zu werden – wohin, wusste keiner … 

    Die Türen öffneten sich. „Gesicht zur Wand!“, schrien sie. Dann stürmten Vollzugsbeamte rein, drückten uns die Arme hinter den Rücken und schleiften uns über den Boden durch die ganze Polizeistation. Im Gefangenentransporter wurden wir wieder aufeinander gestapelt, als lebendiger Teppich. Sie schrien: „Das Gefängnis ist euer Zuhause!“ Diejenigen, die auf dem Boden lagen, rangen unter dem Gewicht der Körper nach Luft: Es lagen noch drei weitere Menschen-Schichten über ihnen.

    Der Weg von Schmerz und Blut 

    In dem Gefangenentransporter wurden die Leute weiter geschlagen: wegen Tätowierungen, wegen langer Haare. „Du alte Schwuchtel, im Gefängnis wird sich einer nach dem anderen dich vornehmen“, riefen sie.

    Menschen, die auf den Stufen lagen, baten darum, ihre Position ändern zu dürfen, doch stattdessen schlug man ihnen mit dem Gummiknüppel auf den Kopf. 

    In diesem Zustand verbrachten wir in dem Transporter eine Stunde. Ich erklärte mir die lange Zeit damit, dass sie wahrscheinlich nicht wussten, wohin mit uns, da es viele Häftlinge gab und alle Zellen der Polizeiwachen und Untersuchungsgefängnisse überfüllt waren. 

    Dann gab es wieder Gebrüll von OMON-Leuten mit dem Befehl: „Raus mit euch und in die Hocke!“ Die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Man durfte sich weder am Sitz abstützen noch aufrichten. Wer gegen diese Vorschrift verstieß, wurde gnadenlos geschlagen. Man durfte nur ab und zu das Gewicht verlagern: Dazu musste man die Hände heben, seinen Namen nennen, sagen, woher man kommt und wo man festgenommen worden war.

    Später haben sie gesagt, dass jeder Versuch, die Haltung zu ändern, einem Fluchtversuch gleichkomme – das bedeutet Erschießen auf der Stelle

    Wenn der Wache (damals dachte ich noch, dass wir von OMON eskortiert wurden, aber erst am Ende des Weges erfuhr ich, dass es sich um die belarussische Spezialeinheit SOBR handelte) deine Nase nicht gefiel, wurde dir verboten, die Haltung zu wechseln, und du wurdest wegen wiederholter Bitten geschlagen. Später haben sie gesagt, dass jeder Versuch, die Haltung zu ändern, einem Fluchtversuch gleichkomme – das bedeutet Erschießen auf der Stelle.

    Aufforderungen zum Anhalten, um zur Toilette zu gehen, wurden ignoriert. Wir sollen einfach auf den Boden machen, schlug man uns vor. Einige konnten es nicht aushalten, machten sogar großes Geschäft. Und so sind wir im matschigen Kot herumgefahren. Wenn unseren Begleitern langweilig wurde, zwangen sie uns Lieder zu singen, meist die belarussische Hymne, und nahmen alles auf Handy auf. Wenn ihnen die Interpretation nicht gefiel, schlugen sie wieder zu. Wenn jemand schlecht sang, ließen sie ihn wieder singen, und sie bewerteten, wer wie sang. „Wenn ihr glaubt, dass ihr Schmerzen habt: Das sind noch keine Schmerzen! Die bekommt ihr jetzt im Gefängnis. Eure Liebsten werden euch nicht mehr wiedersehen!“, sagten uns die Wächter.

    Ihr werdet nicht mehr lange leben

    „Ihr … [obszönes Wort für Vollidioten – Znak] sitzt jetzt hier, eure Tichanowskaja … hat sich aus dem Land verpisst. Und ihr werdet nicht mehr lange leben“, sagte einer der Begleiter. 

    Die Fahrt dauerte zweieinhalb Stunden. Das waren zwei Stunden voll Schmerz und Blut. 
    Während der Fahrt gelang es mir tatsächlich, einen unserer Wächter zum Sprechen zu bringen (irgendwann dann hatte ich erfahren, dass es SOBR-Leute sind). Natürlich habe ich dafür ordentlich kassiert, aber ich bereue es nicht, schließlich ließ er mich später eine bequemere Pose einnehmen. 

    Ich fragte ihn, weswegen ich festgenommen wurde, weswegen ich eins mit dem Schild in den Nacken bekam, weswegen mir in die Nieren geschlagen wurde. „Wir warten nur darauf, dass ihr auf der Straße irgendwas in Brand setzt“, sagte er mir. „Dann werden wir auf euch schießen, wir haben einen Befehl. Die Sowjetunion war ein großartiges Land, aber wegen solcher Schwuchteln wie euch, ist sie untergegangen. Denn niemand hat euch rechtzeitig in die Schranken gewiesen. Wenn ihr [Russen] glaubt, dass ihr hier eure Tichanowsjaka eingeschleust habt, dann hat sie euch einen Bären aufgebunden. Ihr sollt wissen, dass es hier keine zweite Ukraine geben wird, wir werden es nicht zulassen, dass Belarus ein Teil von Russland wird.“

     „Warum [obszönes Wort für Vollidioten – Znak] bist du hierher gekommen?“, fragte er mich.

    „Ich bin Journalist, ich bin gekommen, um über das zu schreiben, was bei euch los ist.“
    „Na und was hast du geschrieben, du Wichser? Das Material wird dir noch lange in Erinnerung bleiben.“

    Hört auf uns zu quälen, bringt uns einfach raus und erschießt uns

    „Hört auf uns zu quälen, bringt uns einfach raus und erschießt uns“, rief währenddessen ein junger Mann, der durch die Schläge und Schmerzen bereits die Nerven verloren hatte.

    „Fick dich! So leicht kommt ihr nicht davon“, antwortete einer der Begleiter. 

    Auf dieser langen Reise durch die Hölle wurde mir klar, dass unter den SOBR-Leuten, die uns begleiteten, sowohl offene Sadisten als auch Ideologen waren, die glaubten, dass sie ihr Heimatland wirklich vor äußeren und inneren Feinden retten würden. Mit denen kann man also durchaus reden.


    Auf dem ganzen Weg wussten wir nicht, wohin sie uns brachten: in ein Revier, in Untersuchtungshaft, in ein Gefängnis oder vielleicht auch nur in den nächsten Wald, wo wir entweder zu Tode geprügelt oder einfach getötet würden. Ich übertreibe in keiner Weise bei der letzten Option: Ich hatte das Gefühl, dass alles möglich ist. 

    Wir wurden auf allen Vieren in einen Keller mit Wachhunden gebracht

    Als wir an der Endstation ankamen (ich nenne es so, weil ich bis zum Schluss nicht wusste, wo wir waren), standen wir dort noch anderthalb oder zwei Stunden, denn es waren noch sieben weitere Lastwagen gekommen, wir standen Schlange. Als wir den Befehl bekamen, aus dem Transporter auszusteigen, wurden wir auf allen Vieren in einen Keller gebracht, da standen Leute, und es gab Wachhunde. 

    Davon wurde die Angst vor dem, was kommt, stärker, aber am Ende war nicht alles so schrecklich wie bei der Polizei im Moskowski Bezirk. 

    Wir wurden lange Zeit durch Korridore geführt, dann brachte man uns in den Gefängnishof – in Filmen sieht man immer, wie Gefangene an solchen Orten spazieren gehen. Für uns war es fast wie im Himmel. 

    Seine Kniescheibe war herausgesprungen und baumelte herum

    Zum ersten Mal seit 24 Stunden konnten wir die Arme hängen lassen, aufrecht gehen, uns hinlegen, und, was am wichtigsten war: Wir wurden erstmals nicht geschlagen. Einen Typen hatten sie an der Wirbelsäule verletzt, OMON-Leute waren draufgesprungen, und seine Kniescheibe war herausgeschlagen und baumelte herum. Er kam in diesen Hof und fiel um.

    Zum ersten Mal wurden wir wie Menschen behandelt: Sie brachten einen Eimer, damit wir endlich auf Toilette gehen konnten. Sie brachten uns eine 1,5-Liter-Flasche Wasser. Natürlich war das für 25 Leute nicht genug, aber trotzdem …

    „Wird heute nicht mehr geprügelt?“, fragte einer der Gefangenen den Mann, der den Eimer und das Wasser gebracht hatte.

    „Nein“, sagte der Aufseher. „Jetzt bringen wir euch nur noch in die Zellen, das ist alles.“

    Da waren Unternehmer, IT-Spezialisten, Schlosser, Ingenieure, …

    Zum ersten Mal seit 24 Stunden konnten wir miteinander sprechen. Außer mir waren da Unternehmer, IT-Spezialisten, Schlosser, zwei Ingenieure, ein Bauarbeiter und auch ehemalige Häftlinge. Einer von denen sagte, dies sei die Strafkolonie in Shodino, er wisse das, weil er hier gesessen habe. Bald wurde auch mein Freund Nikolaj Arkadjewitsch in den Hof gebracht. 
    Ein Mann in Uniform trat auf die Brücke über dem Gefängnishof. 

    „Telishenko?! Ist Nikita Telishenko hier?“, rief er. „Ja“, antwortete ich. Der Mann in Uniform sprach mit dem Mann, der neben ihm stand, und dann schrie er: „Nikita, komm zur Tür. Du wirst gleich abgeholt.“

    Meine Zellengenossen freuten sich sehr für mich. „Nun, holen sie dich endlich“, verabschiedete sich Nikolaj Arkadjewitsch von mir. 

    Der Heimweg

    Der Mann in Uniform entpuppte sich als Oberst des belarussischen Strafvollzugs namens Iljuschkewitsch. Er sagte, dass nun ich und ein anderer Russe (es stellte sich heraus, dass es ein Korrespondent von RIA Nowosti war) mitgenommen würden. Ich wusste nicht, wer uns abholen würde. „Jemand vom KGB oder von der Botschaft“, dachte ich. Sie gaben mir alle meine Sachen, und wir gingen durch die Gefängnistore hinaus. 

    Dort standen viele Menschen: Leute, die nach den Festnahmen ihre vermissten Angehörigen suchten, Menschenrechtler. Wir wurden von einer Frau empfangen, die sich als Mitarbeiterin des Migrationsamtes von Belarus vorstellte, sie brachte uns in die Stadt, wo unsere Fingerabdrücke genommen wurden und wir einen Abschiebebefehl erhielten, demzufolge ich und der Korrespondent von RIA Nowosti das Territorium von Belarus bis 24:00 Uhr dieses Tages verlassen sollten. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits 22:30 Uhr. 

    Ihr zufolge sollte ich morgen vor Gericht gestellt werden, aufgrund welcher Anklage konnte sie nicht erklären (ich bekam keine Dokumente zu Gesicht, die mich zur administrativen oder strafrechtlichen Verantwortung zogen, es wurde keine Anklage gegen mich erhoben), sagte aber, ich könnte zwischen 15 Tagen und sechs Monaten ins Gefängnis gesteckt werden. 


    Dann kam ein Mitarbeiter der russischen Botschaft in Belarus. Er sagte, um uns zu finden, habe der russische Botschafter persönlich den belarussischen Außenminister angerufen. Der Diplomat setzte uns ins Auto und brachte uns nach Smolensk. 

    In den verbleibenden anderthalb Stunden schafften wir es, die Grenze zu Russland zu überqueren und kamen um 2:30 Uhr in Smolensk an. Der Konsul kaufte uns einen Burger, weil weder ich noch mein Kollege russisches Geld hatten, fuhr uns ins Hotel und ging.  
    Jetzt fliege ich nach Moskau, um von dort nach Jekaterinburg nach Hause zu fliegen.

    Die Redaktion von Znak dankt für die Hilfe bei der Freilassung von Nikita Telishenko dem russischen Außenministerium, der russischen Botschaft in Belarus, der Vertretung des russischen Außenministeriums in Jekaterinburg und dem Ministerium für Internationale und Außenwirtschaftliche Beziehungen der Region Swerdlowsk.

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  • Zitat #8: Sanktionen gegen Lukaschenko?

    Zitat #8: Sanktionen gegen Lukaschenko?

    Aus Belarus dringen immer mehr Meldungen über die zunehmende Brutalität der OMON-Kräfte gegen Demonstranten im ganzen Land. Offiziell gab es schon mehr als 6000 Festnahmen, aus belarussischen Gefängnissen wird über massive Misshandlungen und Folter berichtet. Trotz dieser Drohkulisse gehen immer noch zahlreiche Menschen auf die Straße: Offenbar sind sie trotz steigender Brutalität entschlossen, gegen die massiven Wahlfälschungen zu protestieren.

    Vor diesem Hintergrund wollen die EU-Außenminister am Freitag Krisengespräche über Belarus führen. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen fordern Sanktionen gegen das Regime Lukaschenko, auch weil sie sich dadurch ein Ende des Blutvergießens erhoffen. Auch einige Abgeordnete des Europaparlaments drängen auf einen Sanktionsbeschluss der EU-Außenminister. Ernsthafte Sanktionen sind jedoch unwahrscheinlich, argumentiert der stellvertretende Chefredakteur von Carnegie Maxim Samorukow. Denn die EU stecke in einem unauflösbaren Dilemma.

    [bilingbox]Weder die Europäische Union noch die Vereinigten Staaten haben Belarus derzeit etwas zu bieten, was seine Abhängigkeit von Russland zumindest irgendwie verringern könnte. Angesichts der gegenwärtigen Uneinigkeiten und Krisen ist dem Westen derzeit überhaupt nicht nach kühnen Projekten im postsowjetischen Raum. Das wichtigste Ziel ist, dass es nicht noch schlimmer wird. Doch noch Schlimmeres könnte der Sturz von Lukaschenko durchaus provozieren – zum Beispiel in Form einer russischen Intervention nach ukrainischem Vorbild von 2014

    Lukaschenko nährt diese Befürchtungen nicht besonders elegant, dafür aber fleißig. Noch nie zuvor hat er so scharf und so oft über die russische Bedrohung gesprochen wie in diesem Wahlkampf. Und die Verhaftung von Angehörigen der weltberühmten Firma Wagner dürfte die schlimmsten Befürchtungen des Westens bestätigt haben.

    Nach so etwas wäre es ungünstig, Sanktionen gegen das belarussische Regime zu verhängen, selbst als Reaktion auf die brutalste Unterdrückung von Protesten. Denn weiß der Kuckuck, wo Lukaschenko Menschenrechte verletzt, und wo er zu der gemeinsamen Sache beiträgt, die hybride russische Bedrohung zu bekämpfen.~~~Ни Евросоюзу, ни США сейчас нечего предложить Белоруссии, что могло бы хоть как-то уравновесить ее зависимость от России. С нынешними разладами и кризисами Западу вообще не до смелых проектов на постсоветском пространстве. Главная цель – не стало бы хуже. А свержение Лукашенко вполне может это хуже спровоцировать – например, в виде российской интервенции по украинской модели 2014 года. 
    Лукашенко эти страхи не особенно изящно, но старательно поддерживает. Никогда раньше он не говорил о российской угрозе так жестко и так часто, как в эту кампанию. А уж арест людей под всемирно известным брендом «Вагнер» должен был подтвердить самые мрачные опасения Запада.

    После такого накладывать санкции на белорусский режим будет неудобно даже в ответ на жэстачайшый разгон протестов. Потому что поди разбери, где тут Лукашенко нарушает права человека, а где вносит посильный вклад в общее дело борьбы с гибридной российской угрозой.[/bilingbox]

    In ganzer Länge erschien der Artikel am 10.08.2020 auf carnegie.ru unter dem Titel Dosrotschno spissanny. Schto shdjot reshim Lukaschenko posle wyborow (dt.„Verfrüht abgeschrieben. Was dem Regime Lukaschenko nach der Wahl droht“). Das russische Original lesen Sie hier.

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  • „Ich hoffe, wir werden das nie verzeihen“

    „Ich hoffe, wir werden das nie verzeihen“

    Schon in der Nacht nach dem Wahlsonntag gingen die Menschen in ganz Belarus auf die Straße. Am gestrigen Abend und in der Nacht hielten die Proteste an. Tausende demonstrierten im ganzen Land gegen Wahlfälschung, sie riefen „Geh weg“, „Wandel“ und „Es lebe Belarus!“. Das Regime reagierte mit Härte, erneut kamen Gummigeschosse und Blendgranaten zum Einsatz. Es gab zahlreiche Festnahmen, staatlichen Angaben zufolge kam ein Demonstrant ums Leben, als er einen Sprengkörper auf die OMON-Truppen habe werfen wollen.

    Unterdessen hat die oppositionelle Präsidenschaftschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja das Land verlassen und ist in Litauen. Beobachter gehen davon aus, dass sie zu diesem Schritt gezwungen wurde. Der Protestbewegung fehlt ein politischer wie organisatorischer „Kopf“, vielmehr sind es viele kleine und dezentrale Protestaktionen. Da das Internet größtenteils blockiert ist und auch Messengerdienste nicht funktionieren, bekommen die Menschen in Belarus kaum Informationen über Ausmaß und Ablauf der Proteste. So stimmen sich die Protestierenden – die aus ganz unterschiedlichen Altersklassen und sozialen Gruppen kommen – über Mund-zu-Mund-Propaganda oder das Telefon ab.

    Nach der ersten Protestnacht hat Meduza mit Demonstranten im ganzen Land gesprochen: darüber, wie sie den Wahltag und die anschließenden Proteste erlebt haben, über ihre Wut und ihre Hoffnung.

    Maxim Solopow, Meduza-Korrespondent in Minsk, wird unterdessen vermisst. Die Redaktion hatte zuletzt am Montagmittag Kontakt zu ihm. Augenzeugen berichten, dass er am Montag von der Polizei angegriffen, zusammengeschlagen und festgenommen worden sei. Die Redaktion hat derzeit keinen Kontakt mehr zu ihrem Mitarbeiter und keine Nachricht über seinen Verbleib.

    „Das Furchtbarste ist die Gesetzlosigkeit“

    Elisaweta aus Minsk

    Ich bin in das Wahllokal in dem Gymnasium gegangen, in dem ich vor 20 Jahren selbst zur Schule ging. Ich war mit meiner Schwester da. Es war schon gegen 16 Uhr, mit uns ging eine weitere Person rein, dann sah ich noch eine … war nicht voll.

    Nachdem ich gewählt hatte, fuhr ich in eine Wohnung direkt im Zentrum in der Uliza Saslawskaja, um mich mit Freundinnen von der Uni zu treffen. Wir tauschten uns aus, wer wie wo gewählt hatte. Gewonnen hat die Geschichte, wo der Wahlzettel schon angekreuzt war – ratet mal, wo das Kreuz war? Gegen 20 Uhr gingen wir zum Wahllokal einer Freundin und warteten auf die Bekanntmachung des Wahlprotokolls. 

    Gegen 22 Uhr traten drei Menschen aus der Schultür und brummelten, dass es „kein Protokoll geben wird!“. Jemand der Wartenden sagte, dass die Wahlzettel schon aus dem Hintereingang rausgebracht worden seien. Später las ich auf [der unabhängigen belarussischen Internetseite – dek] tut.by über dieses Wahllokal, dass das wirklich so abgelaufen ist … 

    Gegen 22 Uhr gingen wir dann weiter, hinunter ins Zentrum zu dem Obelisken, um zu schauen, was in der Stadt los ist. Es wurden immer mehr Menschen, die meisten liefen in dieselbe Richtung, den Prospekt Mascherow entlang. Bald stießen wir auf die erste Menschenansammlung, die in die andere Richtung rannte, weg von dem Obelisken. Instinktiv wollten wir ihnen folgen und fragten einen Jugendlichen: „Warum rennt ihr weg?“ Er antwortete: „Die haben gesagt: Rennt!“ So eine Panikwelle gegen den Strom gab es dann später nochmal. 

    Wir liefen in die andere Richtung, den Hügel hinauf, um zu sehen, was bei dem Obelisken los war. Wir trafen Freunde auf Fahrrädern … die erzählten auch, dass sie weggerannt seien … Langsam ergab sich ein Bild: Menschen gingen Richtung Zentrum und bekamen Angst eingejagt. Wir sahen Gefangenentransporter und Leuchtfeuer – als gäbe es ein Feuerwerk mit Knallkörpern, die die Leute unweigerlich in die andere Richtung laufen ließen, eine mehr oder weniger große Anzahl von Menschen. Einen Schritt vor, zwei zurück … Das erinnerte alles mehr und mehr an das Treiben von Vieh, es wurde ekelig. Wir beschlossen abzuhauen und am nächsten Tag wiederzukommen [10. August].

    Das Furchtbarste ist die Gesetzlosigkeit. Dass man sich auf nichts verlassen kann, dass die einzig sinnvolle Taktik mittlerweile die Flucht aus dem Land ist. Meine Verwandten und Freunde haben entweder selber vor, mit der ganzen Familie auszureisen oder zumindest die Kinder zum Studium wegzuschicken. Das sind kluge, friedliche, arbeitsame Menschen. 


    „Wir saßen einfach alle da, alle unter Schock“

    Juri aus Mogiljow (belarus. Mahiljou)
     
    So etwas wie in Minsk hatten wir hier nicht. Sondern bei uns waren etwa tausend friedliche Menschen auf dem Platz in der Nähe des Einkaufszentrums Atrium, aber sie waren da nicht zur selben Zeit, und es haben auch nicht alle Tausend „Es lebe Belarus“ skandiert. Richtig aktiv waren nur so 500 von diesen Leuten. Von Seiten der staatlichen Organe kamen immer mehr und mehr, aber ich würde sagen, am Ende waren es 200 bis 300. Das war genug, denn die Menschen waren nicht auf Zusammenstöße mit der Polizei aus, sie sind einfach nur deswegen rausgegangen, um friedlich für ihre Wählerstimme einzutreten. 

    Dann gingen die Fangspiele los: Diejenigen, die Flaggen hatten, wurden zuallererst in die Gefangenentransporter gebracht – rund zehn Menschen haben die verhaftet. Wenn du ein weißes Bändchen trägst oder ein weißes Armband, dann kommen die einfach mit einem Schlagstock auf dich zu, quasi um klar zu machen, dass du nach Hause gehen sollst. Du rennst dann weg vor denen. Dann haben sich die Menschen in Cafés und Einkaufszentren versteckt. Zwischen neun und zehn Uhr abends haben sie alle vertrieben. Wie es weiterging, weiß ich nicht, wir sind alle nach Hause gefahren. Es ist nur so, dass die Medien von 120 Menschen schreiben, die in Mogiljow festgenommen wurden. Ehrlich gesagt, so viele festgenommene Menschen hab ich nicht gesehen. Vielleicht ging das aber nach 22 Uhr noch weiter.

    Dass die einen so mit Schlagstöcken verprügeln wie in Minsk, das hab ich nicht gesehen. Manche wurden geschnappt – solche die am aktivsten waren, laut skandiert haben oder die mit Flaggen – die haben sie einfach in den Gefangenentransporter gesteckt. Ich glaub, irgendwann wird es Videos davon geben, die Leute haben sich schon VPN eingerichtet. 

    Zwischen fünf Uhr abends und zehn Uhr morgens hatten wir einen kompletten Internet-Ausfall. Im Jahr 2020! Nichts ging, wir konnten nur rätseln, was gerade in Minsk los war. Die gewöhnlichen VPNs funktionierten nicht, da braucht man schon was Solideres. Die Leute haben sich dann gegenseitig mit Anwendungen über Bluetooth versorgt, Download geht ja nicht – weder aus dem AppStore noch aus dem PlayMarket. Wenn du das dann installiert hast, dann hast du Internet: Die Leute gucken dann auf Telegram, auf YouTube. Als ich das gesehen habe, war’s echt ein Schock, voll krass. 

    Es gibt keine Möglichkeit, nach Minsk reinzukommen: Gestern ab vier Uhr standen die da am Stadteingang mit Schusswaffen und haben entschieden, ob sie einen in die Stadt lassen oder nicht. Wenn du nicht in Minsk registriert bist, dann kommst du nicht rein. Keine Ahnung, ob man mit der Bahn oder in Marschrutkas reinkommt. Noch sind nicht alle wieder online, ich schätze so zehn Prozent: nämlich die, die schon vorher VPN hatten, sich darauf vorbereitet haben. 

    Unsere Clique hier ist echt im Schock, ich hab keine Ahnung, was ich tun soll. Wir haben uns gestern kurzgeschlossen, sind ins Schulstadion gegangen, da gibt es Bänke. Um nicht zu lügen, es waren so 200 Menschen im Stadion, die sind mit Autos gekommen. Haben Musik gehört, Zoi und so, und saßen da einfach, alle unter Schock.


    „Wer diese Menschenmassen gesehen hat, wird nie den offiziellen Zahlen glauben“

    Andrej aus Minsk

    Ich bin erst gegen 22 Uhr demonstrieren gegangen, bis dahin hatte ich versucht durch die abgeriegelte Stadt zu meiner Freundin zu gelangen. Einen Teil des Wegs konnte ich noch per Metro zurückzulegen, aber die Umsteigestation war geschlossen. Später machten sie noch mehr Stationen dicht. Sogar zu Fuß kam man nicht überall voran: Die Polizei sperrte Kreuzungen und ließ die Menschen nur in eine Richtung laufen. Wobei die Beamten freundlich waren, einer erklärte mir, welchen Umweg ich nehmen sollte. 

    Meine Freundin und ich gingen dann zu zweit los und hörten schon von weitem Lärm. Das war das Wahllokal in einer Schule, in der Tichanowskaja mehr Stimmen als Lukaschenko bekommen hatte, und alle freuten sich sehr darüber. An allen Wahllokalen hielten Leute Wache und forderten eine ehrliche Stimmauszählung – hier hatte das offensichtlich geklappt.

    Auf der Storoshowskaja Uliza waren schon viele Menschen und vor allem: ein Hupen von allen Seiten. Autos mit Belarus-Flaggen fuhren vorbei, Menschen zeigten das Victory-Zeichen und eine Faust. Dann zogen wir weiter zum Starostinski Slobida Park. Hier war eine kleine Brücke, die die OMON-Kräfte blockiert hatten, daneben noch eine, die von Menschen blockiert war, in Richtung Obelisk. 

    Die OMON stand uns zugewandt, aber als die Demonstranten die Taschenlampen ihrer Smartphones anschalteten, wurde klar, dass wir mehr sind als wir dachten und dass wir sie von allen Seiten umstellen. Die Menschen riefen „Es lebe Belarus“, „Polizei beim Volk dabei“, „Schande“ und Standartslogans mit Klatschkonzert.

    Immer wieder wurden wir mit Leuchtgranaten beworfen, so Schreckschussgeschosse, nicht gefährlich, wie mir schien. Erst am nächsten Tag sah ich auf einem Foto einen Jugendlichen, der durch so eine Granate seine Ferse verloren hatte.

    In der Menge traf ich zwei ältere Leute, die ihren Sohn suchten. Der war ohne Telefon aus dem Haus gegangen, damit man nichts bei ihm findet, sollte er gefasst werden. Ich hoffe, da ist alles gutgegangen.

    Dann begannen sie, die Protestierenden zurückzudrängen, es kam wohl ein Wasserwerfer zum Einsatz: Ich sah spritzendes Wasser, als alle wegliefen. Auf der Straße sahen wir, wie die Autofahrer mit den Verkehrspolizisten stritten, die die Straße absperrten. Die Polizisten zogen sich unter Applaus nach einer Weile zurück. 

    An der Ecke Dauman und Mascherow stießen wir wieder auf den Protestzug. Die Menschen versuchten die OMON-Einheiten davon zu überzeugen, die Schilde niederzulegen. Wir waren zahlenmäßig erheblich im Vorteil, regelmäßig verteidigten wir unsere Leute, wenn sie versuchten, sie sich zu schnappen. 

    Die OMON-Truppen setzten Granaten ein, ich glaube, auch mit Reizgas: Ich stand in der Nähe des Epizentrums und musste husten, neben mir haben mehrere andere Menschen gehustet. Das Gas schien aber keine ernsthaften Folgen zu hinterlassen. Nach einer der Explosionen wurde ein Mann verletzt, wir haben seine Wunde mit Wasserstoffperoxid gespült. Er weigerte sich, einen Verband anzulegen, weil die Wunde oberflächlich war. Bei den Protesten helfen sich die Menschen gegenseitig: Sie geben einem etwas zu Trinken, erzählen, was sie über andere [Protest-]Orte wissen.

    Nach einer Weile haben die angefangen, auch diesen Platz zu räumen, höchstwahrscheinlich weil da immer mehr Menschen hingeströmt sind. Die Miliz kam gleichzeitig aus drei Richtungen auf uns zu. Alle haben dann schnell die Flucht ergriffen. Wir trafen eine Gruppe im Park, sie gaben uns Wasser mit, weil sie mehrere Flaschen hatten. Wir haben mit allen, die wir getroffen haben, Informationen ausgetauscht. Alle waren bereit, morgen auf die Straße zurückzukehren.

    Wir haben dann keine weiteren Protestgruppen mehr gefunden. Einige Leute sagten, es sei schon vorbei, es war auch schon so gegen zwei, drei Uhr morgens. Ich hab eine SMS gekriegt, dass die OMON-Einheiten nun hinter kleineren Gruppen her sind. Uns wurde klar, dass es auf der Straße nichts mehr zu holen gibt, also haben wir versucht, nach Hause zu kommen.

    Da hatte ich schon den Verdacht, zu Hause war es mir dann aber ganz klar, dass die OMON-Einheiten einfach den Macker raushängen ließen, dass sie jeden verprügelten, der ihnen über den Weg lief. Sie wurden von der Kette gelassen und durften tun und lassen, was sie wollten. Ich hatte echt Angst um die Frau, mit der ich dort war. Ohne Internet kann man kein Taxi rufen, der öffentliche Nahverkehr ging nicht mehr. Wir sind dann zu Fuß nach Hause, über die Höfe, haben uns vor den Autos versteckt. Alle, die wir auf dem Weg getroffen haben, haben wir vor der Gefahr gewarnt. 

    Ich bin echt maximal beeindruckt vom Protest. Wer auf der Straße war, diese Menschenmengen gesehen hat, das Autogehupe gehört – als würde die Welt untergehen –, der wird nie den Zahlen glauben, die die Zentrale Wahlkommission erdichtet hat. Er wird nie glauben, dass die Belarussen sich das gefallen lassen werden. Das ist jetzt die wichtigste Etappe auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis der Belarussen: Wir haben Initiativen, um denjenigen zu helfen, die wegen ihres bürgerschaftlichen Engagements ihre Arbeit verloren haben, wir retten die Menschen buchstäblich aus den Fängen des Staates, die Bürger wissen, dass es jemanden gibt, der sie unterstützt. Wir zerstören keine Geschäfte und plündern nicht wie unsere Freunde und Nachbarn. Unser Hauptfeind aber – der saugt den Lebenssaft unseres Landes aus. Ich habe kein Mitgefühl mehr für die OMON-Einheiten, die Lukaschenko beschützen. Das sind Verräter ihres eigenen Volkes, ich hoffe, wir werden das nie verzeihen.

    Ich werde auf jeden Fall zu Protesten gehen, es ist sehr wichtig dort zu sein – dann sind die Menschen mutiger und spüren die Stärke und Unterstützung. Sie halten jetzt Geiseln fest, die sie zu Prügelknaben machen werden – deshalb haben wir kein Recht aufzugeben. Lukaschenko hasst definitiv dieses Land und sein Volk, ich bin sicher, dass er in den Bürgerkrieg ziehen wird, um auf dem Thron zu bleiben.

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    Belarus hat gewählt. Es waren keine OSZE-Wahlbeobachter zugelassen, wie jedes Mal hat der autoritär regierende Amtsinhaber Alexander Lukaschenko, seit 26 Jahren an der Macht, laut offiziellen Zahlen die meisten Stimmen geholt, nämlich 80,23 Prozent. Und doch scheint diese Wahl noch längst nicht entschieden: „Lukaschenko mag zum Wahlsieger erklärt werden“, schreibt die belarussische Journalistin Hanna Liubakova, „aber dieser Sieg wird nicht lange dauern.“

    Schon im Vorfeld der Wahl hatte sich erstmals seit vielen Jahren landesweiter Protest geregt: Swetlana Tichanowskaja, Ehefrau des inhaftierten Präsidenschaftskandidaten Sergej Tichanowski, hatte die Kandidatur ihres Mannes übernommen. Tichanowskajas Wahlversprechen: Die Freilassung der politischen Gefangenen und faire Neuwahlen. Zu ihren Ansprachen in der Hauptstadt Minsk und in kleineren Städten des Landes strömten Zehntausende zusammen – ein Novum in der Geschichte von Belarus. 

    Am Wahltag machten in Sozialen Netzwerken Videos von Wahlfälschungen die Runde. Erste offizielle Zahlen sahen Lukaschenko deutlich vorne, es tauchten jedoch zahlreiche Fotos von Auszählprotokollen „ehrlicher“ Wahllokale auf, wonach Tichanowskaja deutlich mehr Stimmen als der Amtsinhaber bekommen hat. Noch in der Nacht kam es zu heftigen Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei, in Minsk wurden teils sogar Barrikaden errichtet, die Polizei setzte Gummigeschosse und Blendgranaten ein. Es gab Dutzende Schwerverletzte, nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Viasna sogar einen Toten. Laut offiziellen Zahlen wurden 3000 Menschen festgenommen, darunter auch drei Journalisten des unabhängigen russischen TV-Senders Doshd. Unterdessen hat sich Swetlana Tichanowskaja zur Wahlsiegerin erklärt und bot Lukaschenko Gespräche an.

    In Russland kommentieren zahlreiche Oppositionelle und Liberale das Geschehen im Nachbarland – und diskutieren vor allem, inwiefern es eine Blaupause für die Entwicklung in Russland sein könnte: Nimmt Belarus derzeit die Ereignisse im Russland von 2024 vorweg? Wir bringen Ausschnitte aus den Analysen und Kommentaren, die gleich in der Nacht unmittelbar nach der Wahl in Sozialen Medien gepostet wurden.

    Sergej Parchomenko: Schlüssel zum Erfolg liegt in den Regionen

    Journalist Sergej Parchomenko meint, dass den Regionen derzeit eine besondere Rolle zukomme:

    [bilingbox]Beim belarussischen Protest scheint der Schlüssel zum Erfolg jetzt nicht in Minsk zu liegen, sondern gerade in den kleinen Provinzstädten. Von dort wurden Miliz und OMON abgezogen, um Minsk abzusichern.
    Dort, in den kleinen Städten, wo alles übersichtlich ist und jeder jeden kennt, können die Menschen Druck ausüben auf die örtlichen Wahlkommissionen und Verwaltungen, sie können die Veröffentlichung der echten Wahlergebnisse fordern.
    Es müssten nur zwei, drei Städte auftauchen (ja, ganze Städte und nicht einzelne Wahlbezirke), in denen Tichanowskaja gewonnen hat und wo dieses Ergebnis offiziell festgehalten wird – und sofort würde eine Welle von Forderungen folgen, das echte Ergebnis im ganzen Land anzuerkennen. Das wird sich kaum unterdrücken lassen: Für die Verwaltungsleute und Offiziere ist es in der Provinz deutlich schwerer, das Plattmachen der eigenen Nachbarn zu befehligen, von Menschen, die man oft persönlich und beim Namen kennt.~~~Складывается такое впечатление, что ключ от успеха белорусского протеста сейчас оказался не в Минске, а наоборот, в небольших провинциальных городах. Оттуда забрали милицию и ОМОН […] и бросили на укрепление Минска.
    В такой ситуации люди там – в небольших городах, где все как на ладони, все друг друга знают, – могут надавить на местные избиркомы и на местные администрации и потребовать публикации реальных итогов голосования. 
    Если обнаружится хотя бы два-три города – именно не отдельных участка, а города, – где выиграла Тихановская, и результат этой победы будет зафиксирован официально, поднимется волна требований признать реальный результат по всей стране. Задавить его будет нечем и некому: администрациям и офицерам на местах гораздо труднее отдавать приказы жестко расправляться со своими соседями, с людьми, которых они часто знают по именам и в лицо.
    […] 
    Таким образом, судьба этой "льняной революции" в руках не столичной молодежи, а спокойных, простых, рассудительных, терпеливых людей в Лиде, Молодечно, Полоцке, Орше, Могилеве, Жлобине, Мозыре, Пинске и Гродно. 
    Пожелаем им успеха и будем надеяться на их храбрость и их терпение.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original



    Tian'anmen von Brest

    Andrej Loschak: Die Angst besiegt

    Was unterscheidet die Demonstranten in Belarus von denen in Moskau im vergangenen Sommer? Journalist Andrej Loschak macht vor allem einen wesentlichen Unterschied aus, den die belarussischen den russischen Demonstranten (noch) voraus hätten:

    [bilingbox]Wissen Sie, was einem sofort auffällt in den zahlreichen Videos aus Belarus, die diese Nacht alle gucken? Die Menschen haben keine Angst mehr. Wenn der OMON aus jemandem Kleinholz machen will, dann laufen die Demonstranten zusammen und verteidigen ihre Leute. Letzten Sommer in Moskau hat die Bestie in Uniform ebenfalls Demonstranten zusammengeschlagen, aber niemand kam ihnen zu Hilfe. Einer warf einen Abfallkübel in Richtung der Bestie, und bekam dreieinhalb Jahre Gefängnis. Ein Zweiter hat gar nichts geworfen, und bekam dennoch eine Haftstrafe, damit die anderen gar nicht erst auf den Gedanken kommen irgendetwas zu tun. Sie bekamen ihre Strafen, weil alle dort nur rumstanden und zusahen. Ich stand auch rum und schaute zu.
    Vielleicht entwickelt sich dieser Mut, wenn du weißt, dass hinter dir nicht nur ein Häuflein Politaktivisten aus der Hauptstadt steht, sondern das ganze Land. Ich denke, genau so empfinden das die Belarussen, die heute auf die Straße gehen. Letzten Endes werden das auch die Jungs auf der anderen Seite der Barrikade spüren – und das war’s für den Schnauzbärtigen. Aber alles gut, wir haben noch vier Jahre, um so zu werden wie die Belarussen. Ich bin sicher, die Partei und die Regierung werden uns dabei helfen. Und bei den Belarussen ist wirklich alles möglich, denn sie haben die Angst besiegt.~~~Знаете, что бросается в глаза в многочисленных видео из Беларуси, которые все смотрят этой ночью? У людей пропал страх. Если ОМОН кого-то начинает пиздить, демонстранты бросаются скопом и отбивают своих. Прошлым летом в Москве зверье в униформе тоже избивало демонстрантов, но никто им на помощь не приходил. Один бросил в сторону зверья мусорную урну, не попал и получил 3,5 года. А кто-то ничего не бросал, но все равно получил – чтоб другим неповадно было. Они и получили, потому что все вокруг стояли и смотрели. Я тоже стоял и смотрел. Возможно, эта смелость приходит, когда ты знаешь, что за тобой – не кучка столичных политактивистов, а вся страна. Думаю, именно так ощущают себя беларусы, вышедшие сегодня на улицы. В конце концов, это почувствуют и парни по другую сторону баррикад – и тогда все, конец усатому. Но ничего, у нас еще есть 4 года, чтобы дойти до состояния беларусов. Уверен, партия и правительство помогут нам в этом. А у беларусов и вправду все может получиться, потому что они победили страх.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Olga Tschurakowa: Viele, unterschiedliche Leute vereint

    Einen ähnlichen Zusammenhalt vieler, sehr unterschiedlicher Menschen empfindet auch Journalistin Olga Tschurakowa von Projekt, die in der Nacht in Minsk vor Ort war und auf Facebook von ihren Eindrücken berichtet:

    [bilingbox]Ich habe NIE erlebt, dass Leute derart solidarisch in ihrer Haltung gegenüber dem Staat waren. Das sieht man auch gut daran, wer alles auf die Straße geht: Sogar in den Randbezirken von Minsk gehen die Leute auf die Straße, spontan organisiert, per Mund-zu-Mund-Propaganda statt Internet [das teilweise blockiert wurde – dek], ganze Familien, Mamas, Papas, alte Leute. […]
    Alle, die wir auf dem Heimweg getroffen haben, versicherten sich gegenseitig und uns, dass sie [wieder] auf die Straße gehen, anders ginge es nicht. Das waren völlig unterschiedliche Leute, die sich für mich in keiner sozialen Gruppen vereinen ließen. Viele haben den Montag vorab freigenommen, viele Cafés werden deswegen geschlossen sein. Das Internet funktioniert heute morgen überraschenderweise. Mir scheint, jetzt wachen alle auf und sind wahnsinnig wütend angesichts der nächtlichen Nachrichten, der Brutalität und Gemeinheit. Und sie werden wieder auf die Straße gehen, ja. ~~~я НИКОДА не видела, чтобы все были настолько солидарны в своём отношении к власти и это очень сильно видно по составу людей на улицах, выходят даже окраины Минска, по интуитивной организации и сарафанному радио вместо интернета. выходят семьями, мамами, папами, пожилые люди 
    […]
    Все, кого мы встречали по дороге домой, говорили друг другу и нам, что сегодня выйдут и иначе нельзя. Это были абсолютно разные люди и ни в какую соц группу они у меня не объединяются. Многие заранее брали на понедельник выходной, многие кафе будут сегодня из-за этого закрыты. Интернет на удивление утром работает, мне кажется, что сейчас все просыпаются и охереневают от ночных новостей, от жестокости и наглости. И снова пойдут на улицы, да. [/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Ekaterina Schulmann: Das belarussische 2020 ist unser 2024

    Es wurden zahlreiche Vorwürfe laut, dass bei der vorzeitigen Stimmabgabe zusätzliche Wahlzettel in die Urnen geworfen wurden. Politologin Ekaterina Schulmann sieht allein in den Zahlen deutliche Anzeichen von Wahlfälschung und fragt außerdem: Was bedeutet die belarussische Wahl für Russland? 

    [bilingbox]Abgesehen von allem anderen kommt auf Belarus nun das Problem zu, dass die Wahlbeteiligung auf über 100 Prozent steigt. Die haben schon bei der vorzeitigen Stimmabgabe eine Wahlbeteiligung von 40 Prozent verzeichnet (die vorzeitige Stimmabgabe ist das wichtigste Instrument der Wahlfälschung). Am eigentlichen Wahltag sind die Menschen aber tatsächlich in Massen an die Wahlurnen geströmt. Übrigens, man hört gar nichts davon, dass eine hohe Wahlbeteiligung die unehrlichen Wahlen ja nur legitimiert. […] Warum ist das aber für uns so wichtig? Weil das belarussische 2020 unser 2024 ist. ~~~Кроме всего прочего, в Беларуси сейчас будет та проблема, что явка начнет превышать 100%. Они сперва на своей досрочке (основной инструмент фальсификаций) 40% набросали, а в собственно день голосования народ взял да и пошел. Кстати, что-то не слышно разговоров, как высокая явка легитимизирует нечестные выборы. […] А нам почему всё это важно: потому что белорусский 2020-ый – это наш 2024-ый.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original

    Konstantin Eggert: Vorletztes Kapitel des postsowjetischen Zeitalters

    Der Zerfall der Sowjetunion war einerseits eine einschneidende Zäsur, ist aber andererseits auch ein langanhaltender Prozess, der immer noch andauert – auf diese Formel haben es schon viele Beobachter in Russland gebracht. Wie weit ist es aber nun mit diesem Zerfallsprozess? Der Journalist und politische Analyst Konstantin Eggert kommentiert:

    [bilingbox]In Belarus schreiben sie gerade das vorletzte Kapitel des postsowjetischen Zeitalters. Das letzte wird in Moskau geschrieben werden.~~~В Беларуси прямо сейчас пишут предпоследнюю главу летописи «постсоветского» времени. Последнюю напишут в Москве.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original

    Sergej Medwedew: Kartoffelrepublik?

    Manche Russen (gerade auch die liberal-demokratisch eingestellten) belächeln Belarus als eine Art Freakshow. Diese Arroganz ist jedoch blind, schreibt der Politologe Sergej Medwedew:

    [bilingbox]Wenn wir uns jetzt anschauen, was in den Straßen von Minsk und anderen Städten geschieht, sollten wir uns daran erinnern, dass Belarus, das viele hier von oben herab (ich würde sogar sagen kolonialistisch) als Kartoffelrepublik belächelt haben und als Freilichtmuseum der Sowjetzeit –, dass genau dieses Belarus seit zwanzig Jahren Modell steht für Russland. Alle Formen des reifen Autoritarismus sind dort einige Jahre vorher schon aufgetaucht: physische Ausschaltung der Gegner, Vertreibung der westlichen Organisationen, Säuberung der Medien, faktische Verstaatlichung der Wirtschaft durch den herrschenden Clan, Verdrängung von Protesten an die Stadtränder, gepaart mit der Forderung an die Organisatoren, selbst für die Polizei-Begleitung und Auflösung zu zahlen, Umschreiben der Verfassung, Stalins Comeback, totaler Wahlbetrug … außer, dass wir mit der Todesstrafe vorerst in Verzug sind. Und jetzt zeigen uns diese Straßenproteste wahrscheinlich unsere Zukunft – 2024 oder sogar noch früher –, deshalb sind die Ereignisse dieser Nacht und von morgen äußerst wichtig: nicht nur für Belarus, sondern für den gesamten postsowjetischen Raum, für die Schicksalsprognose von Resten des Imperiums.~~~Глядя сейчас на то, что происходит на улицах Минска и других городов, следует помнить, что Беларусь, на которую многие здесь снисходительно (я бы даже сказал колониально) смотрели как на картофельную республику и парк советского периода, […] а — эта самая Беларусь на протяжении двадцати лет была предиктивной моделью происходящего в России. Все формы зрелого авторитаризма появлялись там с опережением на несколько лет: физическое устранение оппонентов, изгнание западных организаций, зачистка СМИ, фактическая национализация экономики правящим кланом, отправка митингов на окраины с требованием организаторам оплачивать их сопровождение и разгон милицией, переписывание конституции, возвращение Сталина, тотальная фальсификация выборов… вот только со смертной казнью мы пока задержались. И вот теперь эти уличные протесты, возможно, показывают нам наше будущее — 2024 или даже ранее — поэтому события этой ночи и завтрашнего дня крайне важны: не только для Беларуси, но для всего постсоветского пространства, для предсказания судьбы остатков Империи.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Ilja Jaschin: Lukaschenko steht alleine da

    Der Oppositionpolitiker Ilja Jaschin glaubt, Lukaschenko habe es sich inzwischen mit zu vielen Leuten verscherzt: 

    [bilingbox]Außer den Silowiki hat Lukaschenko keine Verbündeten mehr und kann auch keine mehr haben. Für die westlichen Staatschefs wird er immer ein toxischer Abfall sein, mit dem man nichts zu tun haben sollte. Aber auch für Putin ist er inzwischen ein unberechenbarer Unmensch. Nicht nur wegen der gänzlich auf antirussische Rhetorik gebauten Wahlkampagne. Sondern auch, weil er die Wagner-Kämpfer festgenommen hat. Putin ist nun gezwungen, ihm lange Erklärungen zu schreiben, wie ein Schuljunge, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Und Lukaschenko verkündet das den Journalisten mit Freude. Die Kreml-Propaganda macht keinen Hehl mehr daraus, dass der belarussische Diktator auf die Nerven geht.
    […]
    Aber so oder so: Der Wandel in Belarus wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Davon bin ich überzeugt.~~~Никаких союзников, кроме силовиков, у Лукашенко больше нет и быть не может. Для западных лидеров он всегда будет токсичным отбросом, с которым нельзя иметь никаких дел. Но и для Путина он теперь непредсказуемый отморозок. Мало того, что Лукашенко построил всю избирательную кампанию на антироссийской риторике, он еще и боевиков из ЧВК «Вагнер» арестовал. Путин теперь вынужден писать ему длинные объяснительные, как провинившийся школьник, а Лукашенко с удовольствием рассказывает об этом журналистам. Пропаганда Кремля уже не скрывает раздражения в адрес белорусского диктатора.
    […]
    Так или иначе, ждать перемен в Беларуси осталось недолго. В этом я уверен.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    dekoder-Redaktion

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  • Krim. Sommer

    Krim. Sommer
    Gast im Hotel Nowy Swet. Wegen himmelschreiend schlechtem Service und hohen Preisen ist der Kurort bei jungen Menschen nicht beliebt. Die meisten Sommergäste sind Rentner, die sich zurücksehnen in die Zeiten der Sowjetunion / Foto © Stanislava Novgorodtseva
    Gast im Hotel Nowy Swet. Wegen himmelschreiend schlechtem Service und hohen Preisen ist der Kurort bei jungen Menschen nicht beliebt. Die meisten Sommergäste sind Rentner, die sich zurücksehnen in die Zeiten der Sowjetunion / Foto © Stanislava Novgorodtseva

    Fotografin Stanislava Novgorodtseva kennt die Krim aus ihrer sowjetischen Kindheit. Heute trifft sie auf der Halbinsel auf alte Mythen und neue politische Tatsachen.
    Zu ihrem Fotoessay, den Colta veröffentlicht hat, schreibt sie:

    „In der Kindheit war die Krim für mich ein heiliger, unpolitischer Ort, eine Insel mit ganz eigener Mythologie, mit Spuren antiker Zivilisationen. Hier habe ich zum ersten Mal das Meer gesehen.
    Im Schmelztiegel der Völker hat die Halbinsel Krim eine eigene Identität entwickelt. Im Jahr 1783 wurde dieser Kreuzungspunkt unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Kulturen Teil des Russischen Reichs. Mit Entstehen der UdSSR entwickelte sich die Krim mit ihrer Zarenresidenz zu einem erschwinglichen Erholungsgebiet für den Sowjetmenschen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gehörte die Krim zur Ukraine, im März 2014 stand die Krim plötzlich im Zentrum politischer Auseinandersetzungen. Die neuen Realitäten führten auch bei mir zu Korrekturen im Verhältnis zu diesem Ort. In die Welt der Kindheit und der dortigen Mythologie mischte sich eine neue politische Ebene.“

    Badende am Stadtstrand in Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Open-air Festival im Tal von Tscherkes-Kermen. Vor ihrer Deportation 1944 lebten hier mehrere hundert Krimtataren / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Der Golizyn-Pfad führt am Wasser entlang durch das Naturschutzgebiet Nowy Swet/Nowyj Swit / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     

    Holocaust-Gedenktag in der Jüdischen Gemeinde. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Verlassenes Sanatorium am Ufer des Moinakskoje Osero, dem große Heilkraft zugeschrieben wird / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Schlafbezirk von Armjansk / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Orthodoxe Gläubige an Ostern. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Von 2001 bis 2014 fand hier das internationale Open-Air-Festival KaZantip statt. Popowka / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Weinprobe während einer Exkursion durch die Sektkellerei in Nowy Swet/Nowyj Swit / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Schönheitssalon mit Fischpeeling. Hursuf / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Bad in der Schwefelquelle. Dshankoiski Rajon, Nowaja Shisn/Nowaja Shittja / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Das alte Schwimmbecken des Internationalen Kinderferienlagers Artek. Seit dem Umbau ist das Gelände komplett verändert, nur wenige Elemente erinnern noch an die sowjetische Vergangenheit. Hursuf / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Schulabsolventinnen an ihrem letzten Schultag, dem „Tag des letzten Klingelns“. Armjansk / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Amateurteleskope auf dem Gelände der Astrophysikalischen Sternwarte der Krim. Dorf Nautschny / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Feriengäste am Strand. Badesaison in Sudak / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Kopie eines britischen Schiffes aus dem 17. Jahrhundert in der Bugas Bucht, Kap Meganom / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Nationales Weltraum-Kontroll- und Testzentrum. Von hier aus wurden zu Sowjetzeiten die ersten Flüge in den Weltraum überwacht. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Das Kap Meganom ist ein beliebtes Kletter- und Wandergebiet. Es gilt als Kraftort, der viele Pilger und spirituelle Menschen anzieht. Kap Meganom  / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Am Kap Fiolent. Der Ort ist beliebt bei wilden Campern und spirituell praktizierenden Touristen / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Vergnügungsparks, Bars und Unterhaltungsgeschäfte, die nur während der Saison geöffnet sind. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

    Fotografin: Stanislava Novgorodtseva
    Bildredaktion: Andy Heller
    Original: Colta.ru
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 06.08.2020

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  • „Das Erinnern beenden? Das wird so nicht gelingen!“

    „Das Erinnern beenden? Das wird so nicht gelingen!“

    Dreieinhalb Jahre verschärfte Lagerhaft – auf den ersten Blick scheint das Urteil für Juri Dmitrijew vergleichsweise milde, schließlich hatte die Staatsanwaltschaft 15 Jahre gefordert. Da er bereits über drei Jahre in der Untersuchungshaftanstalt verbracht hat, wird der Historiker voraussichtlich schon im November freigelassen. Dmitrijew wurde des sexuellen Missbrauchs an seiner Pflegetochter für schuldig befunden – nachdem er 2018 bereits von der Herstellung von Pornographie freigesprochen worden war.

    Zahlreiche internationale Intellektuelle, Wissenschaftler und Menschenrechtler halten die Vorwürfe gegen Dmitrijew für politisch motiviert. In jahrzehntelanger Arbeit hatte er nach Opfern des Großen Terrors in Karelien gesucht, Gräber entdeckt, Namen recherchiert und darüber auch Bücher verfasst. Den Prozess verstehen viele als Versuch, ihn mundtot zu machen. Irina Galkowa etwa, Leiterin des Memorial-Museums in Moskau, wirft dem Gericht vor, entlastende Zeugenaussagen nicht zuzulassen und Experten zu beschäftigen, die „bestellte” Gutachten erstellten. 

    In seinem Schlusswort vor Gericht am vergangenen Montag, 20. Juli 2020, zeigte sich Juri Dmitrijew unerschrocken – dekoder bringt daraus einen Ausschnitt:

    Wertes Gericht! 

    Nun trete ich schon zum zweiten Mal in diesem endlosen Prozess mit einem Schlusswort auf. Und würde gern meine Position – wenn sie dem Gericht noch nicht klar ist – dazu deutlich machen, warum ich der bin, der ich bin, warum ich mich so verhalte und wie ich in diesen Käfig geraten bin. 

    [….]
    Derzeit gibt es bei uns den Trend … das ist doch im Trend, oder? … über Patriotismus zu sprechen. Doch ich bitte Sie – Patriotismus ist nicht das Sprechen darüber. Wer ist ein Patriot? Ein Patriot ist ein Mensch, der sein Heimatland liebt. Bei uns ist es merkwürdigerweise derzeit so, dass man nur auf die militärischen Erfolge stolz ist. Entschuldigung, die Heimat ist doch eine Mutter. Und es kommt vor, dass Mama krank ist, dass sie irgendetwas nicht schafft. Und hören wir in solchen Zeiten auf, sie zu lieben? Nein. Und ich weiß nicht, ob glücklicher- oder unglücklicherweise: Mein Weg hat mich dahin geführt, dass ich Menschen aus dem Vergessen zurückgeholt habe, die verschwunden waren. Menschen, die durch Schuld unseres eigenen Staates zu Unrecht bezichtigt, erschossen, in Wäldern verscharrt wurden, wie streunende Tiere. Kein Hügel, kein Hinweis, dass hier Menschen begraben sind.

    Vielleicht hat Gott mir dieses Kreuz auferlegt, doch Gott gab mir auch das Wissen. Und so gelingt es mir – nicht oft, aber manchmal – Orte zu finden, an denen es menschliche Massentragödien gab. Ich verknüpfe sie mit Namen und versuche an diesem Ort einen Ort der Erinnerung zu schaffen, denn Erinnerung ist das, was den Menschen zum Menschen macht.

    Zum „Kriegspatriotismus“ möchte ich folgendes sagen. Mein Vater war an der Front, wir begingen den 9. Mai lange, bevor er ein offizieller Feiertag wurde.

    Meine Mutter hatte sechs Schwestern. All deren Männer waren an der Front gewesen. Am wenigsten wurde am Tisch aber über die Siege gesprochen. Denn für sie war der Krieg Tragödie und Schmerz. Und Flaggen gab es keine einzige. Der Sieg – das ist vor allem Trauer und Erinnerung an die Menschen, die umkamen.

    Ich bin vollkommen einverstanden, wenn unser Staat sagt, wir müssen der im Krieg Gefallenen gedenken, denn das ist ein Teil unserer Erinnerung. Doch es muss auch der Menschen gedacht werden, die aus Bosheit unserer Staatsführer umgekommen sind. Das ist für mich Patriotismus. Das habe ich auch [meiner Adoptivtochter] beigebracht, das wissen auch meine [leiblichen] Kinder Jegor und Katja, das wissen auch meine Enkel, das wissen die Schüler und Studenten, mit denen ich gearbeitet habe, das wissen wahrscheinlich alle zivilisierten Menschen. 

    Deswegen, Euer Ehren, glaube ich, dass dieser Fall, der nun schon sehr sehr lange, dreieinhalb Jahre, untersucht und geprüft wird, dass dieses Verfahren einerseits speziell dafür eingeleitet wurde, um meinen ehrlichen Namen in Verruf zu bringen, und andererseits, um einen Schatten auf die Gräber und Friedhöfe der Opfer der Stalinschen Verfolgungen zu werfen, die ich aufgespürt habe, und zu denen die Menschen nun hinströmen.
    Mit welchem Ziel wurde dieses Verfahren eingeleitet? Ich jedenfalls weiß es nicht. Um das Erinnern zu beenden? Das wird so nicht gelingen. Mir unmöglich zu machen, daran mitzuwirken? Ich habe schon seit drei Jahren nicht mehr daran mitgewirkt – und trotzdem erlischt es nicht.

    Deswegen bitte ich Sie, Euer Ehren, wenn Sie sich zur Beratung zurückziehen, sehen Sie sich alles nochmals genau an, prüfen Sie. Die schlimmen Dinge, die hier in Stapeln von Akten beschrieben wurden, habe ich nicht getan. Ich habe versucht, ein Kind zu einer ehrenwerten Bürgerin großzuziehen und, ich scheue mich nicht zu sagen, zu einer Patriotin unseres Landes. Ich habe alles dafür getan. 

    Das ist dann wohl alles, was ich sagen möchte. Danke. 

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  • Massenprotest in Chabarowsk: Worum geht es?

    Massenprotest in Chabarowsk: Worum geht es?

    30.000 Menschen – und damit rechnerisch rund jeder zwanzigste Einwohner von Chabarowsk – sind am Samstag auf die Straße gegangen. Eine so hohe Geschlossenheit hat es in der neuesten Geschichte Russlands noch nie gegeben. Auslöser des Protests war die Verhaftung des Chabarowsker Gouverneurs Sergej Furgal zwei Tage zuvor. 2004-05 soll der damalige Geschäftsmann mehrere Morde in Auftrag gegeben haben. 

    Slogans wie „Moskau, geh weg“ oder „Bringt Furgal zurück“ waren bei der Demonstration genauso allgegenwärtig wie „Putin ist ein Dieb“. Der Protest verlief insgesamt friedlich, offiziell gab es nur vier Verhaftungen. 

    Wird Chabarowsk nun zur „Wiege der Revolution“, oder war das bloß ein lokaler Protest, an den sich morgen niemand erinnern wird? Ist der Massenprotest spontan entstanden, oder hat ihn jemand organisiert? Wer ist überhaupt Furgal, und wie reiht er sich ein in das volle Dutzend russischer Gouverneure, die in vergangenen fünf Jahren festgenommen wurden? Diese Fragen werden derzeit kontrovers diskutiert. The Bell stellt sie verschiedenen Politikwissenschaftlern und Beobachtern.

    „Die Menschen treten nicht so sehr für Furgal selbst ein, vielmehr fordern sie Gerechtigkeit und überhaupt gehört zu werden“, sagt der politische Analyst Konstantin Kalatschew gegenüber The Bell

    „Furgal ist kein gewöhnlicher Beamter, die Menschen haben ihn selbst gewählt“, stimmt der Politologe Abbas Galljamow zu. „Deshalb hat jeder Einwohner der Region den Angriff auf ihn als sehr persönlich wahrgenommen – als einen Angriff auf die eigenen Persönlichkeitsrechte. Nachdem die Menschen bei der Wahl für ihn gestimmt hatten, wurde er für sie zu mehr als einer bloßen Figur. Er wurde zu einem Symbol – einem Symbol für ihren Mut, ihren Widerstand, ihre Freiheiten.“

    Vorbildlicher Politiker

    Er ist ein wirklich guter Gouverneur, sagt der Politologe Alexander Kynew. Furgal habe sich in der Region wie ein vorbildlicher Politiker verhalten, wie ein Politiker westlichen Typs: Er war offen, ist auf Menschen zugegangen, hat Ausgaben für Beamte reduziert, Unhöflichkeit und Grobheiten vermieden – im Gegensatz zu seinem Vorgänger Wjatscheslaw Schport. „Dass die Menschen ihn unterstützen, das ist absolut verdient“, sagt Kynew.

    Moskau habe sich in der Region aber plump und sehr unschön verhalten – angefangen nach der Wahl von Furgal, als die Hauptstadt des Föderationskreises demonstrativ von Chabarowsk nach Wladiwostok verlegt wurde. „Der Ferne Osten – das sind Menschen mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. So starke Proteste hat es dort schon lange nicht mehr gegeben. Wenn wir das Russland der vergangenen Jahre betrachten, dann gab es schon Ähnliches in Irkutsk, Inguschetien und Archangelsk – allerdings in viel kleinerem Ausmaß“, erinnert Kynew.

    Es ist sicherlich die stärkste Protestwelle auf regionaler Ebene, die im Zusammenhang mit dem ruppigen Eingreifen der Hauptstadt [in eine Region] steht, sagt Grigori Golossow, Politologie-Professor an der Europa-Universität in Sankt Petersburg. Seiner Einschätzung nach hat es Derartiges in den russischen Regionen außerhalb von Moskau und Sankt Petersburg seit Jahrzehnten nicht gegeben.

    Vom Schrotthändler zum Gouverneur

    Der 50-jährige Sergej Furgal stammt aus der Amur-Region. In den frühen 1990er Jahren begann er mit dem Tschelnoki-Business, anschließend handelte er mit Holz. Schon damals hat Furgal an die LDPR gespendet. Seit den frühen 2000er Jahren hat er auch mit Metallschrott gehandelt. Im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit wird nun auch der Mordvorwurf gegen ihn erhoben: Ihm wird angelastet, 2004 und 2005 mehrere Morde [an Konkurrenten] in Auftrag gegeben zu haben.

    Furgal hat nie die Partei gewechselt: 2005 wurde er Abgeordneter in der Region Chabarowsk, 2007 ist er über die LDPR-Liste in die Staatsduma eingezogen. Als eines der prominenteren Mitglieder der Fraktion hat er dort zentrale Ausschüsse geleitet, die der Partei von Wladimir Shirinowski überlassen wurden. Zuletzt saß Furgal dem Gesundheitsausschuss vor. 2013 kandidierte er bei der Gouverneurswahl, verlor aber gegen denselben Schport, den er fünf Jahre später vernichtend schlagen wird.

    Einziger Protestkandidat auf dem Wahlzettel

    Im Herbst 2018 wurde Sergej Furgal Gouverneur. An diesem Einheitlichen Wahltag scheiterten in den Regionen gleich vier Kreml-Kandidaten. Furgal gewann die Wahl mit 66 Prozent der Stimmen – ein besseres Ergebnis als das, was Wladimir Putin in der Region ein halbes Jahr zuvor bei der Präsidentschaftswahl bekommen hatte. Vor der Stichwahl versuchte der Kreml noch erfolglos, mit der LDPR und Furgal einen Deal auszuhandeln: Furgal sollte nachgeben und dafür den Posten des Ersten Vize-Gouverneurs bekommen, der LDPR wurde ein Gouverneursposten in der Oblast Kursk in Aussicht gestellt. 

    Furgal hatte nicht einmal eine aktive Wahlkampagne geführt, er selbst hatte nichts gegen das Amt des Vize-Gouverneurs unter Schport einzuwenden, erinnert Meduza. Doch Furgal war der einzige Protestkandidat auf dem Wahlzettel, den die Menschen kannten. Außerdem hatte seine Partei nicht die Rentenreform unterstützt – und das entschied den Ausgang der Wahl.

    Vom Strohmann zum populären Politiker

    Furgal hat seine Arbeit als Gouverneur mit einfachen, aber spektakulären Schritten begonnen: Er reduzierte die Zahl seiner Stellvertreter um die Hälfte, verbot den Beamten Businessclass-Flüge, verkaufte die teuren Dienstwagen und versuchte zumindest, die Jacht des Gouverneurs loszuwerden. Gleichzeitig kürzte er die Gehälter der Regierungsmitglieder und auch seine eigenen Bezüge: „Der Gouverneur kann nicht eine Million Rubel im Monat bekommen.“ Er hat nicht die Öffentlichkeit und auch nicht die neuen Medien gescheut: Unter den Regierungsvertretern hat er nach Ramsan Kadyrow die zweitgrößte Anzahl von Instagram-Abonnenten.

    Nach der Wahl gab es zwei Ereignisse, die man in der Region als Abschreckungsstrafen aus Moskau empfand: Die Hauptstadt des Föderationskreises Ferner Osten wurde nach Wladiwostok verlegt, das die Chabarowsker nicht mögen. Und gegen den ehemaligen Gouverneur der Region, Viktor Ischajew, der Furgal unterstützte, wurde ein sehr seltsames Verfahren eröffnet.

    Das führte unter anderem dazu, dass die LDPR ihren Erfolg bei den Regional- und Kommunalwahlen 2019 festigen konnte. Die Niederlage für Einiges Russland war einfach beschämend (13 Prozent und zwei Listenplätze im Regionalparlament). Furgal hat erneut die Wogen geglättet, hat keinen Wahlkampf betrieben und auch nicht die Liste der LDPR angeführt – dennoch war die Protestwahl nicht einzudämmen, schreibt Meduza.

    Furgals Aufmüpfigkeit haben die Machthaber [in Moskau] nicht vergessen. Letztendlich haben aber die Ergebnisse der Verfassungsabstimmung das Fass der Geduld zum Überlaufen gebracht. Der Wahlanalyst Sergej Schpilkin hat der Abstimmung insgesamt eine Rekordzahl von Fälschungen attestiert, die Region Chabarowsk nennt er jedoch als Beispiel für eine „saubere“ Region – mit Ergebnissen, die nahe an den „realen“ liegen: 62 Prozent Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 44 Prozent.

    „Das heißt, bei Furgal lag die Wahlbeteiligung 24 Prozentpunkte unter dem landesweiten Durchschnitt, die Unterstützung 15 Prozentpunkte darunter. Die Stimmen wurden dabei ehrlich ausgezählt, was aus Sicht der Staatsmacht einen blöden Präzedenzfall schafft. Ich denke, das hat das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht“, sagt der Politologe Dimitri Oreschkin gegenüber der Novaya Gazeta.

    Wie geht’s weiter?

    Die Demo vom Samstag wird sich nicht zu etwas Ernsthaftem auswachsen, doch die Proteste werden sich in Raum und Zeit ausdehnen, meint Kalatschew: „Das wird wie ein Moorbrand: Man kann ihn nicht löschen, und jederzeit kann er wieder ausbrechen. Wobei sämtliche Wahlen bis hin zur Dumawahl ein Auslöser sein können.“

    Dauerhaft lässt sich schwer mit erhitzten Emotionen leben, meint auch Galljamow: „Das bedeutet bloß, dass die Menschen mit ihrem Unmut hinterm Berg halten. Bei allen Wahlen in den kommenden Jahren werden sie ihn wieder hervorholen und für die Opposition stimmen.“

    Das Ausmaß des Protestes macht es Moskau unmöglich, ihn als gekaufte Veranstaltung oder als Spiel regionaler Eliten abzutun, glaubt Alexander Poshalow, Forschungsleiter der [kremlnahen] ISEPI-Stiftung. „Wie schon bei den Wahlen 2019 sind hier klare Anti-Moskau-Stimmungen zu erkennen und ein Eintreten für den Wert der eigenen Stimme, die 2018 in der Stichwahl abgegeben und 2019 bei lokalen Wahlen bestätigt wurde“, sagt Poshalow.

    Die Fortsetzung des Protestes wird unmittelbar davon abhängen, ob Moskau sich weiterhin hartnäckig zeigt und grob durchgreift, meint Alexander Kynew: „Je mehr Verleumdungen und Vorwürfe der Käuflichkeit aus Moskau kommen, desto mehr empörte Menschen werden auf die Straße gehen. Das ist in erster Linie eine Frage mangelnden Respekts gegenüber den Menschen.“

    Ohne Organisationsaufwand kann solcher Unmut schnell verstummen – doch nicht hier, meint Golossow: „In der Region Chabarowsk gibt es tatsächlich jemanden, der den Unmut mobilisieren kann: die LDPR. Die LDPR ist trotz allem eine echte Partei mit aktiven Ortsverbänden. Und eine Demo mit 35.000 Menschen zu organisieren ist für sie, wie sich herausstellt, kein Problem.“

    Wie lange der Protest andauert, bestimmt die LDPR, meint der Politologe: „Ich nehme an, dass Shirinowski auf Verhandlungen mit dem Kreml hofft, vielleicht kann er einige Zugeständnisse für sich rausholen. Oder der Kreml wird ihn dermaßen einschüchtern, dass er diese Position einfach aufgibt. Wenn die LDPR den Protest nicht weiter unterstützt, dann wird er natürlich abflachen.“

    „Ich sehe keinerlei Möglichkeit, dass hier ein Günstling Moskaus gewinnt“, sagt Alexej Worsin, Koordinator des Chabarowsker Stabs von Alexej Nawalny gegenüber Meduza: „Man wird sich irgendein cleveres Manöver ausdenken müssen, irgendwen von den lokalen Politikern einbinden. Aber einen FSB-Mann aus Moskau zu schicken, wie in einigen anderen Regionen – das wird nicht klappen. So ein Kandidat hätte hier überhaupt keine Perspektive.“

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  • Winter is coming – Fest des Sommers

    Winter is coming – Fest des Sommers

    Die Republik Sacha gilt als kälteste Region Russlands. Das Klima ist gekennzeichnet von kalten, langen Wintern und einem kurzen, heißen Sommer. Der wichtigste Feiertag ist das Fest des Sommers, Ysyach – das tradtionelle Neujahrsfest der Jakuten. Im vergangenen Jahr sind Jekaterina Karpuchina (Text) und Alexej Wassiljew (Fotos) für Zapovednik hingefahren und haben mitgefeiert.

    Im Busbahnhof Jakutsk kämpfen ältere Herrschaften mit kleinen Kindern in Nationaltracht um ein Busticket. „Was ist denn hier los? Das darf doch nicht wahr sein, soll das Fest etwa ohne mich stattfinden?“ Eine ältere Dame in einem schönen weißen Kleid ist richtig sauer. „Ich war schließlich auf praktisch jedem Ysyach Oloncho bislang. Was soll das?!“

    Das jakutische Ysyach ist der Tag des Sommeranfangs, die Einwohner nennen ihn auch einfach Neujahr. Für sie ist er der wichtigste nationale Feiertag. 

    Jedes Dorf, jedes Nasleg (territoriales Teilstück innerhalb der jakutischen Kommunen – Red. Zapovednik), jedes Ulus (Rajon) und jede Stadt feiern das Fest an einem anderen Tag. Also kann man im Sommer gleich auf mehreren Ysyach tanzen. Das wichtigste Ysyach in ganz Jakutien ist jedoch das republikübergreifende Ysyach Oloncho. Es findet jedes Jahr in einem anderen Ulus statt, das von den regionalen Behörden vorab bestimmt wird. 2019 wurde dem Namski Ulus die große Ehre zuteil. Weil es ganz in der Nähe der Stadt Jakutsk ist, wollten sehr viele dorthin, und es gab nicht genügend Transportmöglichkeiten für alle.

    „Uns Einwohnern haben sie gleich ganz verboten, mit dem Auto hinzufahren“, erzählt ein Mann. „Sie haben gesagt: Geht zu Fuß, um den Gästen nicht den Weg zu versperren, oder bleibt zu Hause. Keiner will hier Scherereien, ist schließlich ein Festtag.“ 

    Das Eingangstor – die holzverkleidete Stahlkonstruktionen ist mit jakutischen Schnitzereien verziert / Foto © Alexej Wassiljew
    Das Eingangstor – die holzverkleidete Stahlkonstruktionen ist mit jakutischen Schnitzereien verziert / Foto © Alexej Wassiljew

    Das erste, was die Besucher auf dem Ysyach sehen, ist das Eingangstor Kiirija. Dahinter sind eine Reihe von Serge aufgebaut (Serge ist jakutisch für einen Pflock, an dem ein Pferd angebunden wird). Vom Tor aus führt eine lange Allee bis zur Hauptbühne, wo auch die Eröffnungszeremonie abgehalten wird. Seit dem frühen Morgen begrüßen Frauen in Nationaltracht die Besucher mit Oladji, kleinen Pfannkuchen, als Symbol der Gastfreundschaft. Klar, sie reichen nicht für alle und bis zum Mittagessen ist alles weg – bis auf die rituellen Säulen.

    Früher wurden an den rituellen Säulen die Pferde angebunden, heute lassen die Besucher ihre Autos auf dem Parkplatz stehen / Foto © Alexej Wassiljew
    Früher wurden an den rituellen Säulen die Pferde angebunden, heute lassen die Besucher ihre Autos auf dem Parkplatz stehen / Foto © Alexej Wassiljew

    Es gibt kein Ysyach Oloncho ohne den heiligen Baum Aal Luuk Mas. In der jakutischen Mythologie existieren drei Welten: Eine Unterwelt, in der die bösen Geister leben, eine Oberwelt, in der die höchsten Gottheiten leben, und eine Mittelwelt, in der die Menschen leben. Aal Luuk Mas symbolisiert die Verbindung dieser drei Welten. In der jakutischen Mythologie leben in den Zweigen des Baums die guten Geister, die Ajyy, und in seinen Wurzeln verstecken sich die bösen Geister, die Abassy.

    Die Ulus konkurrieren sogar untereinander, wer den besten Aal Luuk Mas hat: höher, schöner, teurer. Im Durchschnitt geben die Rajons jedes Jahr 14 Millionen Rubel [rund 177.300 Euro – dek] aus – für einen einzigen Baum. Der teuerste Aal Luuk Mas in der gesamten Geschichte des Ysyach wurde 2015 im Tschuraptschinski Rajon aufgestellt, für 20 Millionen Rubel [etwa 253.300 Euro – dek]. 2019 haben die Namzy etwa 13 Millionen [rund 165.000 Euro – dek] ausgegeben.

    „Die denken wohl, wenn sie für ein Wahnsinnsgeld einen Aal Luuk Mas aufstellen, dann wird der gleich automatisch heilig“, höre ich die unzufriedene Stimme eines jungen Mannes in Nationaltracht hinter mir. Es hat sich schon eine lange Schlange gebildet, um vor dem heiligen Baum ein Foto zu machen.

    Damit ein Wunsch in Erfüllung geht, muss man den Stamm von Aal Luk Mas berühren und um ihn herumgehen / Foto © Alexej Wassiljew
    Damit ein Wunsch in Erfüllung geht, muss man den Stamm von Aal Luk Mas berühren und um ihn herumgehen / Foto © Alexej Wassiljew
    Die Besucher des Ysyach Oloncho warten auf den Beginn des Festes / Foto © Alexej Wassiljew
    Die Besucher des Ysyach Oloncho warten auf den Beginn des Festes / Foto © Alexej Wassiljew

    Wegen der vielen Zuschauer kann man kaum sehen, was auf der Bühne vor sich geht. Außerdem ist die ganze Vorstellung auf Jakutisch. Mir kommt Sergej zu Hilfe. Er ist nach Namzy gekommen, um seiner Freundin auf der Bühne zuzuschauen, daher ist er mit dem Programm vertraut. „Wir sehen gleich einen Ausschnitt aus dem jakutischen Nationalepos Oloncho. Es geht um den Fürsten Mymach (Fürst der Namzy im 17. Jahrhundert, der eine entscheidende Rolle spielte bei der Eingliederung Jakutiens ins Russische Reich – Red. Zapovednik). Es geht um ihn, um die Verbindung des Menschen zur Natur, und – das ist das Wichtigste – um die Völkerfreundschaft.“

    Die Ballerinas auf dem Ysyach stellen Schwäne dar – das Symbol der Namzy / Foto © Alexej Wassiljew
    Die Ballerinas auf dem Ysyach stellen Schwäne dar – das Symbol der Namzy / Foto © Alexej Wassiljew
    Mehr als 300 Teilnehmer kamen allein aus Jakutsk auf das Ysyach Oloncho / Foto © Alexej Wassiljew
    Mehr als 300 Teilnehmer kamen allein aus Jakutsk auf das Ysyach Oloncho / Foto © Alexej Wassiljew
    Vorbereitungen für den Auftritt / Foto © Alexej Wassiljew
    Vorbereitungen für den Auftritt / Foto © Alexej Wassiljew
    Oloncho ist ein Epos über die Verbindung von Natur und Mensch. Diese Tänzerinnen stellen den Lauf des Flusses Lena dar / Foto © Alexej Wassiljew
    Oloncho ist ein Epos über die Verbindung von Natur und Mensch. Diese Tänzerinnen stellen den Lauf des Flusses Lena dar / Foto © Alexej Wassiljew

    Die Vorstellung geht mehr als zwei Stunden und findet ihren Höhepunkt im Algys. Das jakutische Wort bedeutet so viel wie „Segen, Gnade, Lobpreisung, Verheißung, Weihe“. Das Volk der Sacha sagt, dass man es nicht allein als „Segen“ übersetzen kann, da es im Jakutischen eine viel tiefere Bedeutung hat.

    Das Algys wird von einem Mann gehalten, der zu den jakutischen Gottheiten beten kann und, das ist das Wichtigste, der weiß, wie man zu den Geistern spricht.

    Der Algystschit besprenkelt Feuer und Erde mit Kumis [vergorene Stutenmilch], das hier als das irdische Bild des himmlischen Milchsees gilt / Foto © Alexej Wassiljew
    Der Algystschit besprenkelt Feuer und Erde mit Kumis [vergorene Stutenmilch], das hier als das irdische Bild des himmlischen Milchsees gilt / Foto © Alexej Wassiljew
    Während die Gäste den Ossuochai tanzen, vollziehen die Algystschiten das Reinigungsritual / Foto © Alexej Wassiljew
    Während die Gäste den Ossuochai tanzen, vollziehen die Algystschiten das Reinigungsritual / Foto © Alexej Wassiljew

    Insgesamt haben die Organisatoren des Ysyach rund 70 Veranstaltungen auf den einzelnen Tjusjulge eingeplant. So werden die kleinen Plätze zwischen den Serge und den Urassy (die traditionelle Sommerbehausung der Jakuten – Red. Zapovednik) genannt. Jedes Ulus, jedes Ministerium oder Großunternehmen muss ein Tjusjulge auf dem Ysyach haben – das ist sehr wichtig fürs Image. 

    Allein am ersten Tag sind mehr als 10.000 Besucher zum wichtigsten Fest Jakutiens angereist. Der Wald rund um das Gelände ist voller Menschen und Zelte, viele bleiben über Nacht.

    „An Ysyach kann man alle Verwandten treffen, wir wohnen ja in unterschiedlichen Ulus, da kann man sich nicht so einfach treffen. Und für uns ist das das jakutische Neujahr. Selbst unsere Oma ist dabei, sie ist 85 Jahre alt, Opa ist ein Jahr jünger. Sie wären niemals zu Hause geblieben, obwohl es so heiß ist.“

    In den geäumigen Urassy können die Gäste während der Feierlichkeiten entspannen / Foto ©  Alexej Wassilew
    In den geäumigen Urassy können die Gäste während der Feierlichkeiten entspannen / Foto © Alexej Wassilew
    Pferderennen gehören auf einem Ysyach immer dazu / Foto ©  Alexej Wassilew
    Pferderennen gehören auf einem Ysyach immer dazu / Foto © Alexej Wassilew
    Während des Ysyachs finden traditionelle Sportwettkämpfe statt - zum Beispiel das „Stockziehen“ / Foto © Alexej Wasiljew
    Während des Ysyachs finden traditionelle Sportwettkämpfe statt – zum Beispiel das „Stockziehen“ / Foto © Alexej Wasiljew

    Für die Damen ist Ysyach nicht nur ein Fest, sondern ein Schaulaufen. Extra für das Fest nähen sie sich die Nationaltracht Chaladaaj, ein trapezförmiges Kleid. Ein traditioneller Chaladaaj bedeckt den ganzen Körper der Frau, vom Hals bis zu den Zehen und Handrücken. Nicht nur, weil eine jakutische Dame keusch auszusehen hat, der Stoff schützt auch vor den Mücken, die hier in Schwärmen sind.

    Auf mich kommen vier elegante Damen um die 60 zu und bitten darum, sie zu fotografieren. Der goldene Chaladaaj einer der Damen schimmert in der Sonne: „Den Stoff habe ich in Katar gekauft, 100 Prozent Seide, extra angefertigt. Ich habe auch ein Accessoire“, sagt sie und zeigt ihr Täschchen über der Schulter.
     
    „Und ich trage sehr ungewöhnlichen Schmuck“, nimmt die Dame im weißen Kleid das Gespräch auf und zeigt ein silbernes Kreuz an einer dicken Kette. „Das ist ein Ilin Kebiser (traditioneller jakutischer Brustschmuck – Red. Zapovednik), ein Familienstück. Schon meine Mutter und Großmutter haben ihn getragen, er ist von 1915. Und jetzt trage ich ihn an Ysyach.“

    Heute werden solche Schmuckstücke nicht nur aus Silber, sondern auch aus Holz, Ton, Perlen und sogar aus Plastik hergestellt. Früher wog der Brautschmuck nicht weniger als 20 Kilogramm, heute wiegt er wegen des leichteren Materials selten mehr als 1,5 Kilo. Heute hängt auch der Preis vom Gewicht ab. Ein gewöhnlicher Chaladaaj aus dünner Baumwolle kostet ungefähr 20.000 Rubel [rund 250 Euro – dek] und Schmuck aus Nickel und Kupfer um die 3500 Rubel [rund 45 Euro – dek]. Wenn man ein Kleid aus Seide nähen lässt und Silberschmuck kauft, dann können es weit über 150.000 Rubel werden [rund 1900 Euro – dek] – es hängt alles vom Budget ab.
    „Wenn man früher für Ysyach irgendwelche Kleider aus dünnem Baumwollstoff nähte, dann war das eine große Freude. Man zeigte sich damit, und es war nicht so heiß. Und heute! Was da nicht alles zur Schau getragen wird! Sofort ist klar, wer wieviel verdient“, fügt eine der Freundinnen hinzu. 
    Die Damen bedanken sich fürs Foto und eilen weiter, ein Foto machen vor dem Aal Luuk Mas.

    Frauen in einzigartigen Chaladaaj-Kleidern  / Foto © Jekaterina Karpuchina
    Frauen in einzigartigen Chaladaaj-Kleidern / Foto © Jekaterina Karpuchina
    Cafés mit traditioneller Küche gibt es auf dem Ysyach nur wenige. Statt Kumis trinken viele Cola / Foto © Alexej Wassiljew
    Cafés mit traditioneller Küche gibt es auf dem Ysyach nur wenige. Statt Kumis trinken viele Cola / Foto © Alexej Wassiljew
    Die winterliche Nationaltracht ist immer mit Pelz verziert / Foto © Alexej Wassiljew
    Die winterliche Nationaltracht ist immer mit Pelz verziert / Foto © Alexej Wassiljew
    Das Pferd ist für Jakuten ein Symbol für Wohlstand / Foto © Alexej Wassiljew
    Das Pferd ist für Jakuten ein Symbol für Wohlstand / Foto © Alexej Wassiljew

    Der Höhepunkt des Ysyach ist das rituelle Treffen mit der Sonne. Am Himmel über Jakutien geht sie schon um 2.30 Uhr nachts auf. Schon den allerersten Sonnenstrahlen muss man die Hände entgegenstrecken, die Handflächen nach oben. Es ist eine sehr alte Tradition, deswegen ehren die Jakuten sie sehr, aber viele ziehen es vor, die Sonne zuhause zu begrüßen.

    Am Ausgang treffe ich ein Pärchen. Die jungen Leute grüßen mich, dabei kennen wir uns nicht. „Wie gefällt euch das Fest?“, frage ich, weil man das so macht. Und bekomme eine untypische Antwort: „Wir sind gerade erst angekommen und haben noch gar nichts gesehen. Ganz ehrlich, wir sind sehr selten auf dem Ysyach, wir sind eine andere Generation, aber auch das Ysyach ist nicht mehr das, was es mal war. Heute ist es eher eine Show.“

    Wir unterhalten uns noch kurz und verabschieden uns. Aber die Worte der jungen Frau gehen mir nicht aus dem Sinn und ich denke nach über den Sinn dessen, was da vor sich geht, und darüber, ob man Traditionen ganz ohne Veränderungen überhaupt bewahren kann. Aber irgendwann wird mir klar, dass das Wichtigste an dem Fest sich über die Jahre nicht geändert hat: die Atmosphäre der Freundschaft und des Wohlwollens. Sie ist es, nicht die Sonne, die wirklich positive Energie gibt. Schauen wir mal ob die reicht für den langen jakutischen Winter. Denn der Winter naht.

    Nicht alle Gäste begrüßen die Sonne, nachts leert sich das Tal der Namzy / Foto © Alexej Wassiljew
    Nicht alle Gäste begrüßen die Sonne, nachts leert sich das Tal der Namzy / Foto © Alexej Wassiljew

    Autorin: Jekaterina Karpuchina
    Fotografie: Alexej Wassiljew, Jekaterina Karpuchina
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    veröffentlicht am 10.07.2020

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