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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Ulitzkaja an Alexijewitsch: „Ihr reagiert sensibler auf die Unmoral”

    Ulitzkaja an Alexijewitsch: „Ihr reagiert sensibler auf die Unmoral”

    „Warum schweigt ihr, wenn ihr seht, wie ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird?“ Mit diesen Worten hat sich Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch am gestrigen Mittwoch an die russische Intelligenzija gewandt. In einem offenen Brief, veröffentlicht auf der Seite des belarussischen PEN-Zentrums, hatte Alexijewitsch darauf hingewiesen, dass sie das letzte Mitglied des von Tichanowskaja einberufenen Koordinationsrats ist, das nicht im Gefängnis sitzt oder zur Ausreise gedrängt wurde. Maria Kolesnikowa, die an der belarussisch-ukrainischen Grenze ihren Pass zerrissen hatte, um nicht unfreiwillig des Landes verwiesen zu werden, sitzt inzwischen in einem Minsker Untersuchungsgefängnis: Die Ermittler werfen ihr „versuchte Machtübernahme“ vor.

    Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, deren Werk ebenfalls in mehrere Sprachen übersetzt ist, antwortet Alexijewitsch in The New Times:

    Liebe Swetlana! 

    Belarus erlebt heute das, was aller Wahrscheinlichkeit nach auch Russland in einiger Zeit wird erleben müssen. Für uns alle sind die Ereignisse der letzten Wochen in Belarus ein Modell unserer nahen Zukunft. Und zwar ein gutes Modell. 
    Es hat sich gezeigt, dass ein ruhiges und, wie uns immer schien, recht träges Volk auf den unheilvollen Appetit des Regimes, verkörpert von einem völlig unfähigen Diktator, sehr wachsam reagiert. Es hat auf eine äußerst würdige Art und Weise seine Meinung kundgetan bei Demonstrationen von zigtausend Menschen auf dem Platz vor der Präsidentenresidenz. Friedlichen Demonstrationen, ohne zerschlagene Scheiben und brennende Autos.

    Diesem Protest liegt, wie mir scheint, ein Gefühl der eigenen Würde zugrunde, von Menschen, die sich nicht mehr abfinden wollen mit dem Regime eines vor unbegrenzter Macht Durchgedrehten – eines beschränkten und ungebildeten Mannes.

    Keine einzige Minute meines Lebens mochte ich Macht. Nicht die von Stalin, nicht die nach Stalin, nicht den Reigen der nachfolgenden Führer, nicht die postsowjetischen Regierungen, nicht die putinsche. 

    Doch die Erfahrung als sowjetischer Mensch, der den Großteil seines Lebens unter den Paukenschlägen schamloser Propaganda gelebt hat, machte mich umfassend immun. Schon oft habe ich gesagt: Ja, wir leben heute in goldenen Zeiten, wenn man unser Leben mit dem Leben unserer Eltern und Großeltern vergleicht. Der Eiserne Vorhang ist kollabiert, die Grenzen sind offen, Informationen aus aller Welt, die in sowjetischer Zeit immer unter Verschluss blieben, strömen nur so zu uns, und jeder, der sie bekommen will, schaltet einfach seinen Computer an. Verhaftungen sind akkurat und punktuell, ohne stalinsche Wucht. 

    Die Ereignisse in Belarus haben mein idyllisches Bild vom Leben zerstört: Es ist klar geworden, wie das Regime die Zähne zeigt, wenn es sich in seiner unbegrenzten und unrechtmäßigen Existenz bedroht fühlt.

    So erstaunlich es auch sein mag: Die belarussischen Bürger reagieren sensibler auf die Unmoral und die Schamlosigkeit des Regimes. Die eigene Würde überwiegt nun Trägheit, Angst und eben jenes soziale Faulenzen, das das Leben in weiten Teilen des gesamten postsowjetischen Raums prägt.

    Wir alle – ich spreche von meinen Freunden und Gleichgesinnten, von denen es nicht wenige gibt – verfolgen höchst gespannt alle Nachrichten, die derzeit aus Belarus kommen. Wir wissen von den Verhaftungen und von den neuen, wunderbaren Führungsfiguren. Und uns ist klar, dass in eurem Land ein Ereignis stattgefunden hat, das morgen auch in Russland stattfinden kann.

    Ich sende dir herzliche Grüße, wünsche Gesundheit und Kraft, wünsche dir, dass du in einem Land lebst, das frei ist von einem dummen und ekelerregenden Regime. Und mir, meine Liebe, wünsche ich dasselbe.

    Ich umarme dich, 
    Ljusja Ulitzkaja
     

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  • Sound des belarussischen Protests

    Sound des belarussischen Protests

    „Kak oschtschuschtschenija?“ (dt. „Wie ist die Stimmung?“) rufen die Demonstranten in Richtung des belarussischen Präsidentenpalastes und tanzen zu den Beats von DJ Papa Bo – inmitten eines riesigen Protestmarsches. Diese Frage greift auch die Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das gebrochene Herz eines Homies) in ihrem neuen Kultclip auf. Dort singt sie in Anspielung auf die bizarren Bilder von Lukaschenko mit Sturmgewehr: „Hubschrauber gelandet, wollte alle abknallen; Kolja in Kampfmontur; Stimmung: geht so!“ 

    Auch an diesem Sonntag, dem 13. September, marschierten wieder über hunderttausend Menschen nicht nur in der Hauptstadt von Belarus – und das trotz massiven Gewalteinsatzes seitens der Silowiki und zahlreicher Festnahmen bereits vor dem eigentlichen Beginn. Am Vortag des geplanten Treffens zwischen Lukaschenko und Putin in Sotschi zeigten die Demonstranten, dass von einem Abflauen der Proteste nicht die Rede sein kann.

    Mit dabei waren zahlreiche Musiker mit Trommeln und anderen Instrumenten. Musik spielte in der belarussischen Protestkultur schon immer eine zentrale Rolle. Meduza hat einen aktuellen Soundtrack der Revolte zusammengestellt.

    Der musikalische Protest-Slogan in Belarus ist und bleibt – wie übrigens die letzten dreißig Jahre im gesamten postsowjetischen Raum – Viktor Zois Song Peremen (dt. Veränderung). Doch auch die belarussische Musikszene, die sich über all die Jahre unter ein und demselben autoritären Regime entwickelt hat, hat etliche Helden und Hymnen hervorgebracht, die das Volk zusammenschweißen. Wir haben hingehört, worüber Belarus derzeit singt, und können nur bestätigen: Veränderung ist gefragt wie noch nie.  

    Max Korzh: Wremena (Zeiten), Teplo (Wärme)

    Als in Minsk massenhafte und unverhältnismäßig brutale Festnahmen in vollem Gange waren, appellierte der berühmteste Rapper von Belarus Max Korzh etwas ungeschickt auf Instagram, die Protestierenden sollten bitte aufhören. Später erklärte er: nur für einen Tag, um Blutvergießen zu verhindern. Er wurde zu wörtlich genommen und kritisiert. Parallel dazu veröffentlichte Korzh gleich zwei neue Lieder. Ohne direkte Aussagen, aber die Anspielungen sind klar. In Wremena singt er, dass „die Freiheit jetzt teurer als Gold“ sei, und in Teplo von einem alten Weisen, der den Menschen die Sonne wegnimmt, damit „gar niemand erst ein Problem sieht und alles seine Ordnung hat“. Am 15. August kam der Musiker zum Gefängnis Okrestina, wo Demonstranten, die auf Protestaktionen verhaftet wurden, festgehalten (und grausam misshandelt) werden, und er nahm am Abschied von Alexander Tarajkowski teil, der bei der Auflösung der Demonstration an der U-Bahnstation Puschkinskaja umgekommen war.



    Petlja Pristrastija (Schlinge der Leidenschaft): Norma (Norm)

    Eine der großartigsten belarussischen Rockbands der Gegenwart zeichnet klarer als viele andere die stillen Grässlichkeiten des postsowjetischen Alltags und hat sich noch nie durch einen besonders optimistischen Blick auf die Welt hervorgetan („Ich glaube an Gomorrha, ich glaube an Sodom, an ein besseres Morgen glaub ich aber kaum“). Erst im Frühling haben sie die erschreckende Antiutopie der heranrollenden totalitären Gesellschaft in einen Song verpackt. Damals wurde das Lied eher in Verbindung mit der Coronavirus-Pandemie gebracht, jetzt wird es zur Unterstützung der Protestbewegung verwendet.

    Naka featuring Dzieciuki, Petlja Pristrastija, Rasbitaje Serza Pazana (Das gebrochene Herz eines Homies) und Rostany: Wam (Für euch)

    Der Leader von Petlja, Ilja Tscherepko-Samochwalow, machte auch bei einem Projekt der Minsker Gruppe Naka mit: bei einem Lied zum Gedicht des dissidentischen Lyrikers Wladimir Nekljajew, in dem dieser zornig alle anprangert, die dem Regime dienen. Diese Zeilen wurden schon 2010 verfasst, als Nekljajew eine Kandidatur als Präsident von Belarus riskierte (allerdings wurden sie erst zehn Jahre später unters Volk gebracht). Sofort nach der Abstimmung wurde Nekljajew verprügelt, der Organisation von Massenunruhen beschuldigt und verhaftet. Für seine Befreiung setzten sich die EU und die USA ein. In der Folge wurde die Anklage gegen Nekljajew abgemildert, er wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.

    Dai darohu! (Aus dem Weg!): Baju-bai (in etwa: Heia popeia)

    Die Punkband aus Brest singt dieses Lied, eine Reaktion auf die Festnahme der oppositionellen Präsidentschaftskandidaten, aus der Sicht eines Bullen, dessen Ziel es ist, den Gefängnistransporter vollzukriegen – sein schlimmster Albtraum ist ein Machtwechsel. Der Clip sieht aus wie die Zombie-Apokalypse: Der Bulle jagt im Mähdrescher friedliche Bürger übers Feld, OMON-Männer verprügeln eine Rentnerin und führen teuflische Tänze auf, und am Ende ergeben die gemähten Streifen im Feld ein infernales Porträt des Batka.  
    In der Nacht auf den 16. August wurde der Leader von Dai dorogu!, Juri Stylski, in Brest verhaftet – er hatte tags zuvor eine Kolonne von mehreren tausend Menschen angeführt, die durch die ganze Stadt marschierte, und das live auf Instagram gesendet.

    Sirop (Sirup): Rodina (Heimat), Spasibo, Sascha (Danke, Sascha)

    Der Rapper Alexej Sagorin, ehemaliger Wiederholungstäter und Gründungsmitglied der Band Ljapis Trubezkoi, macht kein Hehl aus seiner oppositionellen Haltung zur Staatsmacht. Vor den Präsidentschaftswahlen nahm er einen Track auf mit Motiven aus Juri Schewtschuks Rodina. Im Videoclip zieht Sirop als Tod verkleidet durch Minsk, in dem das Volk demonstriert, und bleibt vor dem Präsidentenpalast stehen. Danach folgte der Song Spasibo, Sascha, in dem der Musiker von seinem schweren Leben in Belarus erzählt. 

    Tor Band: My ne narodez (Wir sind kein Völkchen)

    Die junge Rockband aus Rogatschew schreibt geradlinige und simple, aber ins Schwarze treffende Agitationslieder mit den klassischen Losungen Uchodi (Geh weg) und Shiwe (Es lebe). Mit diesem Lied reagieren die Musiker auf eine der kränkendsten Beleidigungen seitens des Präsidenten, der die Belarussen als Völkchen bezeichnete, als sie wegen Gerüchten über einen möglichen Wertverlust massenhaft Devisen aufkauften.

    Naviband: Inschymi (Als andere)

    Ein Eurovision-Teilnehmer aus Belarus: 2017 war Naviband die erste Gruppe in der Geschichte des Wettbewerbs, die ein Lied in belarussischer Sprache sang. Xenija Shuk und Artjom Lukjanenko betonen immer, dass sie mit Politik nichts am Hut haben. Aber jetzt sind auch sie „als andere aufgewacht“. „Wir können diese Brutalität und Gewalt gegen ganz normale Menschen nicht fassen. Wir kriegen Angst. Dazu kann man nicht mehr schweigen!“, kommentierten die Musiker ihre neue Single.

    Steny ruchnut (Mauern stürzen ein)

    Der Song, mit dem jede Veranstaltung von Swetlana Tichanowskaja endet, hat eine lange Protestgeschichte. Er wurde 1968 vom katalanischen Sänger Lluís Llach als Reaktion auf die Franco-Diktatur geschrieben. Zehn Jahre später übersetzte ihn der polnische Liedermacher Jacek Kaczmarski, und unter dem Namen Mury wurde er zur Hymne der Solidarność. Die belarussische Version stammt vom Musiker Dimitri Woitjuschkewitsch und dem Dichter Andrej Chadanowitsch und wurde erstmals bei den Dezemberprotesten nach der Präsidentschaftswahl 2010 auf dem Unabhängigkeitsplatz präsentiert. Es gibt auch eine russische Version, 2012 von der Moskauer Band Arkadi Koz geschrieben. Auf Tichanowskajas Kundgebungen hört man sowohl die russische, als auch die belarussische Version. Wobei es von zweiterer eine Aufnahme mit der Stimme von Tichanowskajas Mann Sergej gibt, der bei den Wahlen kandidieren wollte und während des Wahlkampfes festgenommen wurde. Um die Hymne zu modernisieren, gab die Postpunk-Band Akute aus Mahiljou kürzlich ein Cover von Mury mit neuer Musik heraus. 



    Sergej Michalok: Woiny sweta (Krieger des Lichts), Grai (Spiel)

    Paraphrasiert man einen alten sowjetischen Witz, dann ist Alexander Lukaschenko ein unbedeutender Politiker in der Ära Sergej Michalok. In der Regierungszeit des belarussischen Präsidenten hatte Michalok schon drei verschiedene Bands (Ljapis Trubezkoi, Brutto, Drezden) und wechselte mehrmals gründlich sein Image, doch blieb er immer ideeller Gegenspieler von Lukaschenko. Schon vor zehn Jahren nannte er nach den Wahlen den Präsidenten unverblümt einen Lügner, Dieb und Hinterwäldler, wofür er von der Staatsanwaltschaft vorgeladen wurde und emigrieren musste.  
    Belarus Freedom, Woiny sweta, Grai, Soratschki (Sternchen), Ne byz skotam! (Kein Vieh sein!) – die Lieder Michaloks sind längst fest im kulturellen Code der belarussischen Nation verankert.



    N.R.M.: Try tscharapachi (Drei Schildkröten)

    N.R.M. ist eine weitere, für die belarussische Kultur extrem wichtige Rockband aus Minsk, die nicht nur einmal auf den schwarzen Listen der Behörden landete. Ihr Name ist die Abkürzung für Nesaleshnaja Respublika Mroja – unabhängige Traumrepublik.   
    Der bekannteste Hit der Band handelt von drei Schildkröten und erklingt regelmäßig bei Protestaktionen. Vor Kurzem trafen sich die Bandmitglieder, die zehn Jahre nicht miteinander gesprochen hatten, wieder in ihrer klassischen Besetzung im Studio und spielten dieses Lied. „Wir haben die Solidarität des belarussischen Volkes gesehen, den inspirierenden Zusammenhalt der Menschen als Antwort auf Ungerechtigkeit. Wir haben Leute gesehen, die auf den Straßen Try tscharapachi sangen und beschlossen, auf unsere Art Einheit zu demonstrieren“, erzählte der ehemalige Frontman von N.R.M., Lavon Volski.




    N.R.M.-Gitarrist Pit Paulau „stürmt“ den Präsidentenpalast in Minsk

    Peremen

    Noch mal zurück zu Zoi. Peremen ist im belarussischen Radio seit vielen Jahren verboten. Umso häufiger wird der Song von Autofahrern aufgedreht und von Straßenmusikern gesungen. Am wirkungsvollsten war seine Verwendung für den Wahlkampf 2020 bei einer regierungsfreundlichen Veranstaltung am 6. August auf dem Kiew-Platz in Minsk, die anberaumt wurde, um eine geplante Kundgebung von Tichanowskaja zu vereiteln. Als Zeichen des Protests drehten die Tonmeister Kirill Galanow und Wladislaw Sokolowski plötzlich eine Aufnahme der Band Kino auf und hielten weiße Bänder hoch. Das Publikum reagierte auf ihre Zivilcourage mit Beifall. Nach ungefähr einer Minute machte der Vorsteher des Minsker Stadtbezirks Zentralny Dimitri Petruscha den Ton aus. Am nächsten Tag bekamen die jungen Männer je zehn Tage Haft für minderschweres Rowdytum und Ungehorsam gegen Amtspersonen.



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  • „Alle sind entweder im Gefängnis oder außer Landes gebracht“

    „Alle sind entweder im Gefängnis oder außer Landes gebracht“

    Das Lukaschenko-Regime geht weiter hart gegen den Koordinationsrat der Opposition in Belarus vor. Nach der gestrigen Verschleppung von Maria Kolesnikowa wurde nun der Jurist Maxim Snak von unbekannten Männern in Zivil in Minsk abgeführt. Inzwischen befindet sich Kolesnikowa in einem Minsker Untersuchungsgefängnis, wie ihr Vater gegenüber tut.by berichtete.

    Von den sieben Präsidiumsmitgliedern des Koordinationsrates ist nur noch die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch auf freiem Fuß und in Belarus, alle anderen wurden festgenommen oder zur Ausreise gedrängt. Doch in den Sozialen Medien wird berichtet, dass auch Alexijewitsch anonyme Anrufe erhält und Unbekannte vor ihrer Tür stehen. Auf der Seite des belarussischen PEN-Zentrums hat Alexijewitsch eine Erklärung veröffentlicht, in der sie sich auch an die russische Intelligenzija wendet. dekoder bringt die ebenfalls auf tut.by abgedruckte Stellungnahme im Wortlaut in deutscher Übersetzung.

    Von meinen Freunden und Gesinnungsgenossinnen und -genossen im Präsidium des Koordinationsrates ist keiner mehr da. Alle sind entweder im Gefängnis oder wurden rausgeschmissen und unfreiwillig außer Landes gebracht. Heute war der letzte dran: Maxim Snak.

    Wir haben keinen Umsturz geplant. Wir wollten keine Spaltung in unserem Land. 

    Erst wurde unser Land erbeutet, dann die besten von uns gekidnappt. Doch an die Stelle der aus unserer Mitte Gerissenen treten Hunderte andere. Nicht der Koordinationsrat revoltiert. Das ganze Land revoltiert. 

    Ich möchte wiederholen, was ich immer sage: Wir haben keinen Umsturz geplant. Wir wollten keine Spaltung in unserem Land zulassen. Wir wollten, dass in der Gesellschaft ein Dialog beginnt. Lukaschenko sagt, dass er nicht mit der Straße redet. Aber die Straße, das sind hunderttausende Menschen, die jeden Sonntag und jeden Tag auf die Straße gehen. Das ist nicht die Straße. Das ist das Volk. Die Menschen gehen mit ihren kleinen Kindern auf die Straße, weil sie glauben, dass sie gewinnen.

    Warum schweigt ihr, wenn ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird? Wir sind doch immer noch eure Brüder und Schwestern.

    Wenden möchte ich mich auch an die russische Intelligenzija – nennen wir sie doch aus alter Gewohnheit einfach so. Warum schweigt ihr? Nur einzelne Stimmen von Unterstützern hören wir. Warum schweigt ihr, wenn ihr seht, wie ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird? Wir sind doch immer noch eure Brüder und Schwestern.
    Und meinem Volk möchte ich sagen, dass ich es liebe. Dass ich stolz bin.

    Da, es klingelt schon wieder jemand an der Tür, den ich nicht kenne …
     

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    Nawalny vergiftet – wo bleibt der Protest?

    Ein Held ist, wer nicht schießt

  • Nawalny vergiftet – wo bleibt der Protest?

    Nawalny vergiftet – wo bleibt der Protest?

    Stell dir vor, der wichtigste russische Oppositionspolitiker wurde vergiftet – und in Russland geht kein Mensch deswegen auf die Straße. Kaum ein anderer konnte die Massen so mobilisieren wie Alexej Nawalny, der in seinen Recherchen Korruptionsfälle auf höchster Ebene aufdeckte. Doch wo bleibt nun, da nachgewiesen ist, dass Nawalny mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde, der Protest – den es nach der Ermordung etwa von Boris Nemzow durchaus gab? „Es ist eine wichtige Nachricht, was die internationalen Beziehungen betrifft, aber keine, die die Gefühle der breiten Masse erregt”, meint etwa die Politologin Ekaterina Schulmann gegenüber The Bell, und weiter: „Es gibt die, die auch ohne Erklärung der deutschen Bundesregierung wussten, was passiert ist. Und es gibt die, die denken, dass das eine Provokation des Westens ist.”

    Unterdessen gehen einige oppositionelle und liberale Stimmen davon aus, dass Nawalny die Vergiftung eher „aus Versehen” überlebte, etwa, weil der Pilot eine Notlandung wagte – und dabei eine Bombendrohung ignorierte, die überraschenderweise kurz nach der Anfrage der Piloten im Flughafen Omsk eingegangen war. Darüber berichtete das Medium Znak.

    Wo bleiben die Massen, die Nawalny einst mobilisieren konnte, die im vergangenen Jahr gegen die Festnahme des Journalisten Iwan Golunow oder die Wahlfälschungen in Moskau demonstriert haben?
    Der Moskauer Politologe und Historiker Sergej Medwedew macht seiner Empörung Luft auf seinem Facebook-Account, den rund 32.000 Abonnenten wie einen Blog lesen.


    Update, 07.09.2020, 15:45 Uhr: Wie die Charité in einer Pressemeldung bekannt gibt, liegt Nawalny unterdessen nicht mehr im künstlichen Koma und reagiert auf Ansprache.

    Das Überraschendste an der Reaktion auf die Vergiftung Nawalnys ist, dass es keine Reaktion gibt. Naja, ein paar schwache Reflexe gibt es durchaus: Ist ja verständlich, dass der Kreml in tumbem Weiß-von-Nichts verharrt, wie auch schon bei MH17 („beweist das erst mal”), das Außenministerium scheppert mit Töpfen, in die Arena geschickt werden die Altmeister der Narretei Roschal und Posner – der Propagandakessel braut, blubbert, schmatzt wie immer. Doch die Gesellschaft, die Opposition, der Westen sind wundersam ruhig. Nichts Besonderes: Ein Mordanschlag auf den führenden Oppositionspolitiker, das ist doch das Normalste von der Welt, er war ja selbst schuld, hat es ja quasi herausgefordert, also business as usual, weiter im Text. 

    Eindeutige Diagnose – und alle schweigen

    Der Mord an Nemzow vor fünf Jahren glich der Explosion einer Vakuumbombe. Der Kreml erstarrte, Putin verschwand für zwei Wochen, Zehntausende gingen auf die Straße, jetzt dagegen: Stille. Wobei Nawalny am heutigen Tag – bei aller Verehrung für Nemzow und aller Anerkennung seiner Persönlichkeit – eine sehr viel gewichtigere politische Figur ist: Er ist ein Medium, Kopf einer regional gut organisierten Institution, er ist die Politik, der einzige Mann in Russland, der es mit Putin aufnehmen kann, und dessen Name auszusprechen das Regime scheut wie der Teufel das Weihwasser.

    Für viele war die Existenz eines Nawalny der Indikator dafür, dass man trotz des Regimes in Russland leben kann, nach der Logik: Nicht ermordet, nicht im Knast – das heißt, man kann es hier noch irgendwie aushalten. Und jetzt ist er nur zufällig, aus Blödheit der Vollstrecker nicht tot, schon drei Wochen im Koma, unklar, in welchem Zustand er ins Leben zurückfindet, ob er zurückkehren wird nach Russland und in die Politik, die Diagnose ist eindeutig – und alle schweigen.
     
    Aber was heißt hier Nemzow – 2015 liegt lange zurück, noch vor etwa einem Jahr gingen doch alle für den Journalisten Iwan Golunow auf die Straße, und auch gegen die Fälschungen (es klingt fast lächerlich) bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament. Stellt euch das mal vor: Die Menschen lieferten sich wegen des Moskauer Stadtparlaments den Gummiknüppeln der OMON-Kräfte und der Rosgwardija aus. Und dieselben Menschen akzeptieren ein Jahr später schweigend die Nullsetzung in der Verfassung, den unabsetzbaren Präsidenten, die Wahllokale auf Baumstümpfen – und jetzt den Mordanschlag und die Ausschaltung von Nawalny.

    Die Normalisierung des politisches Terrors

    Innerhalb dieses einen Jahres hat eine schleichende und dadurch umso beängstigerende Normalisierung des politischen Terrors stattgefunden. Soll heißen: Es gab ihn schon immer, aber er hat zumindest einen gewissen Protest hervorgerufen. Doch jetzt wird alles schweigend hingenommen, das ist eben die neue Norm: Folter, Mord, Vergiftung, fabrizierte Verfahren. „Selbst schuld“, „Man soll sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen“. Ich weißt nicht, was überwiegt: Gleichgültigkeit, Angst, Kraftlosigkeit, Lähmung … Lesen Sie gern die Geschichte aller totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, wir leben wie im Lehrbuch.
     
    Unter ferner liefen steht in den Nachrichten an fünfter Position: In Krasnojarsk wurde eine terroristische Organisation 14- und 15-jähriger Schüler aufgedeckt. Sie hätten Explosionen in Schulen und die Ermordung von Mitschülern geplant und seien schon geständig. Nach Delo Seti und dem Fall Nowoje Welitschije ist das die neue Norm, die Routine des Jahres 2020. 
     
    Wie jetzt weiter? Ein Strafverfahren wegen der Untertunnelung des Kreml? Gegen die Schädlinge des Produktionsbetriebs? Gegen Mörder im Arztkittel? Gegen die Agenten des japanischen und finnischen Geheimdienstes? Ach ja, einen tschechischen Spion haben wir ja schon, die Haft wurde eben erst um drei Monate verlängert …

    Nicht Nawalny liegt im Koma, sondern wir alle.

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    Nawalny: Wer war’s und warum gerade jetzt?

    Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens”, Bundeskanzlerin Angela Merkel fand deutliche Worte. Ein Speziallabor der Bundeswehr hat in einer toxikologischen Untersuchung nachgewiesen, dass Alexej Nawalny durch einen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden war. „Die russische Regierung ist dringlich aufgefordert, sich zu dem Vorgang zu erklären”, heißt es in einer offiziellen Mitteilung der Bundesregierung. Während die Bundesregierung erklärte, mit den Partnern EU und Nato „im Lichte der russischen Einlassungen“ über Reaktionen entscheiden zu wollen, wurden bereits Rufe nach harten Konsequenzen laut. CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, sagte in den Tagesthemen, man sei „erneut brutal mit der menschenverachtenden Realität des Regimes Putin konfrontiert worden“ und brachte unter anderem einen Stop von Nord Stream 2 ins Spiel. 

    Kremlsprecher Dimitri Peskow wies in einem ersten kurzen Statement darauf hin, dass man in Russland bei Nawalny keinen Hinweis auf eine Vergiftung gefunden habe. Der Duma-Abgeordnete Andrej Lugowoj behauptete laut Nachrichtenagentur Tass, falls Nawalny Nowitschok verabreicht worden sei, so sei dies erst in der Klinik in Deutschland, also der Charité, geschehen. Das russische Außenministerium kritisierte unterdessen, dass die deutschen Ärzte nur unzureichende Belege geliefert hätten.

    Liberale und oppositionelle Stimmen in Russland dagegen lassen meist keinen Zweifel aufkommen, wen sie für den Schuldigen halten: den Kreml. Was aber heißt „der Kreml“? Ist Putin persönlich verantwortlich zu machen, stecken Silowiki dahinter – darüber kann man nur mutmaßen. Wer ließ Nawalny vergiften – und warum gerade jetzt? Das sind die zwei Fragen, die derzeit derzeit die liberale russische Öffentlichkeit und unabhängige Medien beschäftigen. dekoder übersetzt vier Thesen aus der aktuellen Debatte.

    „Die politische Führung ist besorgt um die Ergebnisse bei den Regionalwahlen“

    Der Politologe und Kolumnist Fjodor Krascheninnikow steht Nawalny nahe. Er ist Co-Autor eines Buches von Leonid Wolkow, der wiederum den Regionalbüros des Nawalny-Teams vorsteht. Auf Republic verweist Kraschenninikow auf Nawalnys neues Enthüllungsvideo, das der Oppositionspolitiker und sein Team kurz vor der Vergiftung in Nowosibirsk gedreht hatten und das nun veröffentlicht wurde. Darin geht es um Korruption und mafiöse Strukturen bei Abgeordneten der Regierungspartei Einiges Russland, die zugleich wichtige Teile des lokalen Bau- und Bestattungsgewerbes kontrollieren.

    [bilingbox]Nawalnys Filme werden wirklich millionenfach geschaut. Dadurch entsteht die einmalige Möglichkeit, mit Recherchen zu lokalen Themen die Regionalwahlen zu sprengen – jedem dieser Filme ist eine virale Verbreitung sicher. […]

    Allen Anzeichen nach ist die politische Führung des Landes besorgt um die Ergebnisse am Einheitlichen Wahltag, dem 13. September. Wir reden hier von Regionalwahlen, die im Land nichts wesentlich verändern werden, wie auch immer sie ausfallen. Oder doch? Jedenfalls steigt die Nervosität und die Erwartungen sind wohl kaum besonders rosig. 

    ~~~

    Фильмы Навального действительно смотрят миллионы, и это создает уникальную возможность «взорвать» региональные выборные расклады публикацией расследований на местные темы, каждое из которых обречено на вирусное распространение. […]

    Судя по всему, итоги единого дня голосования 13 сентября тревожат политическое руководство страны – а ведь речь идет о выборах в регионах, любой исход которых ничего особо не поменяет в стране. Или поменяет? Во всяком случае, нервозность явно растет и едва ли ожидания слишком радужные.

    [/bilingbox]

     

    „Es ist sinnlos, zu rätseln, warum ausgerechnet jetzt”

    Das unabhängige Medium The Bell hat mehrere Politologen um eine kurze Einschätzung der Situation gebeten – hier die von Ekaterina Schulmann:

    [bilingbox]Es ist sinnlos zu rätseln, warum Nawalny ausgerechnet jetzt vergiftet wurde. Die Leute, die solche Entscheidungen treffen, leben in ihrer eigenen medialen Realität. Uns mag so etwas unlogisch erscheinen, nach den erfolgreich angenommenen Verfassungsänderungen, in Erwartung einer zweiten Pandemiewelle, vor der Präsidentschaftswahl in den USA und während der politischen Krise in Belarus. Doch diese Leute haben ihren eigenen Kalender, eine eigene Nachrichtenwelt, eigene Jahres- und Erinnerungstage. Und was auch wichtig ist: Sie haben ihre eigene Bezugsgruppe, deren Meinung ihnen wichtig ist.

    Ob Proteste möglich sind? Wenn es sie bislang nicht gab, dann wird auch die Nachricht darüber, dass Nawalny ausgerechnet mit Nowitschok vergiftet wurde, keine Proteste auslösen. Es ist eine wichtige Nachricht, was die internationalen Beziehungen betrifft, aber keine, die die Gefühle der breiten Massen erregt. Aber falls – was man nicht wünschen möchte – Nawalnys Gesundheit noch irgendetwas zustößt, dann könnte das zum Protest-Trigger werden. 

    Die aktuellen Informationen [über Nawalnys Vergiftung mit Nowitschok] haben kaum jemanden überrascht. Es gibt die, die auch ohne Erklärung der deutschen Bundesregierung wussten, was passiert ist. Und es gibt die, die denken, dass das eine Provokation des Westens ist und das Nowitschok kein „echtes“ Nowitschok ist, sondern ein speziell zur Provokation angefertigtes. Wenn es „echtes“ wäre, wäre er sofort tot gewesen … Mir sind solche geistreichen Versionen schon untergekommen.
     

    ~~~

    Бессмысленно гадать, почему Навального отравили именно сейчас. Люди, которые принимают такие решения, живут в собственном информационном пространстве. Это нам может показаться нелогичным устраивать такое после удачно принятых конституционных поправок, в ожидании второй волны пандемии, накануне президентских выборов в США, во время белорусского политического кризиса. А у этих людей свой календарь, своя новостная повестка, свои памятные даты и годовщины. Что еще важно, у этих людей своя референтная группа, мнение которой им важно.

    Возможны ли протесты? Если их не было до сих пор, то сама новость о том, что Навального отравили именно «Новичком», их не вызовет. Это важная новость для международных отношений, но не та [новость], которая может возбудить чувства широких масс. Вот если (чего не хотелось бы) что-то новое случится со здоровьем Навального, это может стать триггером.

    Нынешняя информация [об отравлении Навального именно «Новичком»] мало кого и удивила. Есть те, кто и без заявления немецких властей понимал, что произошло. Есть те, кто считает, что это западная провокация и «Новичок» не настоящий, а специально изготовленный провокационный. Уж настоящий-то сразу бы убил… Мне попадались такие остроумные версии.

    [/bilingbox]

     

    „Der Staat nach der Nullsetzung der Amtszeiten – das ist Putin“

    Andrej Sinizyn, Chefredakteur des Meinungsressorts kommentiert auf Republic:

    [bilingbox]Die Vergiftung Nawalnys trägt einige wichtige Merkmale:
    Tatort war Russland. So kann man sich schwer damit herausreden, dass „das jeder gewesen sein kann“ (obwohl Abgeordnete der Duma sich ungefähr so ausdrücken) . 
    Verwendet wurde ein seltener chemischer Kampfstoff, der in einer staatlichen Institution entwickelt wurde. 
    Das Gift wurde mindestens zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren eingesetzt – nach einem heftigen Skandal und Sanktionen infolge der ersten Verwendung (im Fall Skripal); ebenso nach einigen anderen Vergiftungen, inklusive des Todes von Alexander Litwinenko. 
    Nawalny ist der wichtigste Nicht-System-Oppositionelle in Russland. 
    All das lässt den westlichen Politikern – nach den Untersuchungsergebnissen des Bundeswehr-Labors – keinerlei Rückszugsmöglichkeit. Und all das wusste der Kreml wahrscheinlich von vornherein. 
    Doch Russland macht weiter: „Wir haben euch Nawalny ohne Gift übergeben“, „Zeigt eure Beweise”, „Das Gift kann man in jedem Military-Shop kaufen“ und so weiter. Diese Rechtfertigungen stimmen vielleicht einen Teil des innerrussischen Publikums zufrieden, der jedoch weitaus kleiner ist als noch vor drei Jahren. Im Westen genießt der Kreml kein Ansehen mehr – und geglaubt wird den deutschen Ärzten, nicht denen aus Omsk.
    Es sieht so aus, als brauche es jegliche Rechtfertigungen ohnehin nicht. Als habe ein auf Null gesetzter Putin all das nicht mehr nötig. Diplomatie, Verhandlungen, Einhalten von Verträgen, Gipfeltreffen, Mitgliedschaft im Kreis der Anständigen. Wozu? Dort drüben [in den USA] schießt die Polizei einem Unbewaffneten sieben Kugeln in den Rücken. Außerdem ist die Pandemie da schlimmer als bei uns und sie haben keinen Impfstoff und eine Wirtschaftskrise. Es reicht, genug geredet und verhandelt. Jetzt heißt es: Jeder gegen jeden, wollen wir doch mal sehen, was ihr zu unseren Überschallraketen sagt.
    Der Staat nach der Nullsetzung der Amtszeiten – das ist er. Als Staat hat Putin die Verantwortung für die Vergiftung eines Bürgers in sich. Aber er hat sie nicht den anderen Staaten gegenüber, sondern nur vor Gott. Also stört ihn nicht bei der Arbeit.
    Nun – die Bürger müssen sich darauf einstellen, dass das Land ernsthaft und für lange Zeit die Tore schließt. Einige Bürger werden um der Stabilität willen vergiftet werden. Die Regierungs- und Führungselite wird weiter altern – und das Risiko für unzurechnungsfähige Befehle wird wachsen.

    ~~~

    Отравление Навального имеет ряд важных характеристик. Оно произошло в России – трудно оправдываться тем, что «это мог быть кто угодно» (хотя депутаты Госдумы говорят примерно так). Использован редкий военный яд, разработанный в государственном учреждении. Яд этот использован как минимум второй раз за три года, после громкого скандала и санкций вследствие первого раза (дело Скрипалей); а также после ряда других отравлений, включая смерть Александра Литвиненко. Навальный – главный несистемный оппозиционер в России.
    Все это не оставляет политикам Запада – после исследований в лаборатории Бундесвера – вообще никаких путей к отступлению. И все это, наверное, заранее понимали в Кремле.
    Но Россия продолжит говорить: «мы вам отдали Навального без яда», «покажите ваши доказательства», «этот яд можно купить в Военторге» и т.д. Эти оправдания, возможно, устроят часть внутренней аудитории – меньшую, чем три года назад. На Западе никакой репутации у Кремля не осталось, и верить будут немецким медикам, а не омским.
    Но похоже, что задача оправдаться вообще не стоит. Похоже, что обнуленному Путину все это уже не нужно. Дипломатия, переговоры, соблюдение договоров, саммит «пятерки», прием в приличном обществе. Зачем? У них там в спину безоружному семь пуль выпускают полицейские. Еще у них пандемия хуже нашей, а вакцины нет, и экономический кризис. Хватит, напереговаривались. Теперь все против всех, и еще посмотрим, что вы скажете на наши гиперзвуковые ракеты.
    После обнуления государство – это он. Как государство, он несет ответственность за отравление гражданина внутри себя. Но не перед другими государствами, а перед Богом. Поэтому не мешайте работать.
    Ну а гражданам надо приготовиться к тому, что страна закроется всерьез и надолго. […] Некоторые граждане могут быть отравлены в целях стабильности. Руководящая и направляющая элита продолжит стареть, а риск невменяемых приказов – расти.
    [/bilingbox]

     

    „Man darf nicht ausschließen, dass Putins nichts von der Vergiftung Nawalnys wusste. Und das ist wirklich beängstigend“

    Das unabhängige Medium The Bell hat mehrere Experten um eine kurze Einschätzung der Situation gebeten – hier die des als kremlnah geltenden Politologen Konstantin Kalatschow:

    [bilingbox]Die Machtvertikale, die angeblich zentral vom Kreml getroffenen Entscheidungen – das alles ist ein Mythos. Man darf nichts ausschließen. Unter anderem darf man nicht ausschließen, dass die Vergiftung Nawalnys unter Umgehung Putins und ohne Abstimmung mit ihm erfolgte. Er persönlich braucht das gerade gar nicht, darum könnte es einfach irgendjemandes Eigeninitiative sein. Aber falls das so gelaufen ist, verliert der Staat das Gewaltmonopol. Und das ist wirklich beängstigend.

    ~~~

    Вертикаль власти, централизованные решения, которые якобы принимает Кремль, это все миф. Ничего нельзя исключать. В том числе нельзя исключать, что отравление Навального произошло в обход Путина и без согласования с ним. Лично ему эта история сейчас не нужна, поэтому это может быть просто чья-то самодеятельность. И если это так, то государство теряет монополию на насилие. Вот это реально страшно. [/bilingbox]

     

    veröffentlicht am 03.09.2020
    dekoder-Redaktion

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    Sorge um Maria Kolesnikowa: Eine Augenzeugin hatte am Montagmorgen im Zentrum von Minsk beobachtet, wie die letzte im Land verbliebene Mitstreiterin aus dem Frauentrio um Swetlana Tichanowskaja von maskierten Männern in Zivil in einen dunklen Kleinbus gezerrt wurde. Im Lauf des Tages waren auch zwei weitere Mitglieder des Koordinationsrates – Anton Rodnenkow und Iwan Krawzow – nicht mehr erreichbar und galten als vermisst. Von letzteren beiden gibt es nun ein Lebenszeichen aus der Ukraine – sie wurden aller Wahrscheinlichkeit nach gegen ihren Willen außer Landes gebracht. 
    Der Staatssender Belarus 1 hatte berichtet, die beiden Männer seien ins Ausland geflohen. Kolesnikowa sei verhaftet worden – beim illegalen Versuch, die Grenze zu überqueren.
    Dem widersprechen nicht nur frühere Aussagen Kolesnikowas, sondern auch eine Meldung von Interfax-Ukraine: Demnach hat Kolesnikowa an der Grenze ihren Pass zerrissen, um nicht gegen eigenen Willen außer Landes gebracht zu werden.
    Über ihren Verbleib herrscht derzeit Unklarheit. Das unabhängige belarussische Medium tut.by veröffentlichte ein Interview mit einem belarussischen Grenzbeamten, der darin aussagt, Kolesnikowa sei an der belarussisch-ukrainischen Grenze festgenommen worden. 
    Alexander Lukaschenko hatte in den 1990er Jahren mehrfach politische Gegner gewaltsam verschwinden und höchstwahrscheinlich ermorden lassen. Der freie Osteuropa-Korrespondent Stefan Schocher weist auf seinem Facebook-Account darauf hin, dass die Taten damals „wenn es denn Zeugen gab, von Personen in Zivil“ ausgeführt wurden. 
    Es waren häufig auch Männer in Zivilkleidung und mit Masken, die in den vergangenen Tagen gewaltsam gegen Demonstrierende vorgegangen sind.

    Die Gewalt der letzten Tage und Wochen, aber auch die Hoffnung der Demonstrierenden – all das hat Eingang in die belarussische Sprache gefunden. Mikita Ilintschik hat ein Wörterbuch zu Belarus im Wandel auf Republic zusammengestellt.

    Lukaschenko, ab in den Awtosak!“ (russ. Lukaschenko w awtosak!) In Belarus, genau wie in Russland, ist der Awtosak (der Gefangenentransporter) eines der Symbole staatlicher Gewalt. Er dient als Angstmacher und ist häufig anzutreffen: Oft stehen mehrere davon im Stadtzentrum oder fahren durch die Straßen von Minsk. Andererseits finden sie auch Anwendung im Marketing, auf Magneten und T-Shirts, und in der modernen Kunst. Die obige Losung des Sommers 2020 fordert unmissverständlich, dass das Objekt seinem Zweck gemäß zum Einsatz kommt: Verbrecher gehören in den Awtosak, nicht Bürger, die friedlich ihre Meinung kundtun oder einfach zufällig vorbeikommen.

    Chapun (böser Geist der slawischen Mythologie, der vornehmlich Juden und Kinder entführt): bezeichnet eine Taktik der belarussischen Slabowiki (siehe unten), die sich durch einen überraschenden und aggressiven Verhaftungsstil auszeichnet. Chapun ist eine Massenerscheinung und geschieht unerwartet. Das Prinzip ist folgendes: Ein Awtosak (siehe oben) kommt aus dem Nichts, aus dem Nichts stürmen die OMON-Kräfte auf die Straße und nehmen die Menschen mit ins Nirgendwo. Die Sicherheitskräfte nennen keinen Grund für die Verhaftung und tragen keine Erkennungsmarken. Die Bürger werden in Autos ohne Nummernschilder oder in den Awtosak gesteckt. 

    „Es lebe Belarus!“ (belaruss. Shiwe Belarus!) ist die mittlerweile weltweit bekannte Losung der belarussischen Opposition von 2020. Genau so hieß übrigens auch die offizielle Hymne des unabhängigen Belarus bis 1995. 1995 hielt Lukaschenko ein Referendum zur Wiedereinführung sowjetischer Staatssymbole ab. Flagge, Wappen und Hymne wurden mit geringen Änderungen wiedereingeführt. Auch deswegen ruft Shiwe Belarus! Assoziationen an ein Belarus ohne Lukaschenko wach, an die Geburt eines belarussischen Staates – sowohl 1918 als auch 1991

    Lustig ist, dass die Losung zwei gegensätzliche Bedeutungen gleichzeitig hat: Einerseits gibt es sie im offiziellen Sprachgebrauch (zum Beispiel erscheint das Organ des Belarussischen Parlaments, die Narodnaja Gazeta, mit dem Slogan Shiwe Belarus! im Logotyp). Andererseits wurde sie zur Losung der Opposition. Die Situation geriet zur Farce, als der Slogan de facto verboten wurde: Es kam zu Verhaftungen, Verurteilungen und Gefängnisstrafen, in den Protokollen hieß es: „Die Person hat die staatsfeindliche Losung Shiwe Belarus! gerufen.“ 

    Genügsamkeit (belaruss. pamjarkoŭnasz). Psychophysischer Massenzustand der Bürgerinnen und Bürger der Republik Belarus von 1994 bis 2020. Umfasst Gedanken über Demokratie und Freiheit genauso wie chronische Depressionen, Lustlosigkeit oder Unfähigkeit zu entschiedenen Handlungen, Angst vor Veränderungen, Wandel ist unmöglich, mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Kurz, das Wort beschreibt den Geisteszustand der Nation, der durch die Politik Lukaschenkos die letzten 26 Jahre geschaffen wurde. 

    „Glauben! Können! Siegen!“ (belaruss. Werym! Mosham! Peramosham!) ist eine der wichtigsten Losungen des belаrussischen Protests im Jahr 2020. Woher sie stammt, ist unbekannt. Es gibt auch schon eine neue Version: „Glauben! Lieben! Siegen!“ [sic. Geläufiger ist allerdings Ljubim! Mosham! Peramosham!, „Lieben! Können! Siegen!“ – dek]. Hier steht der friedliche Charakter der Proteste im Mittelpunkt.

    Henkersknechte (russ. karateli) sind Angehörige bewaffneter Einheiten (gewöhnlich von Besatzern), die für die Repressionen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen des besetzten oder unterworfenen Gebiets zuständig sind. In der Nacht vom 9. auf den 10. August 2020, gleich nach dem Ende der Wahl, haben die belarussischen OMON-Kräfte Grausamkeit walten lassen, nicht nur bei Festnahmen, sondern auch bei Verhören. Ungeheuerlich waren auch die Haftbedingungen der Festgenommenen. Für viele kam diese Grausamkeit völlig unerwartet. So hielt karateli, ein seit dem Großen Vaterländischen Krieg vergessener Begriff, wieder Einzug in das belarussische Wörterbuch. Und sollte das Wort „Faschisten“ es geschafft haben, in der ehemaligen Sowjetunion zu einem Sprachklischee zu werden, das sowohl Demonstranten nutzen als auch die offizielle Propaganda, so klingt das Wort „Henkersknecht“ im Jahr 2020 einfach nur hart und grausam.
    Ganz zu schweigen von all dem, was bewiesen ist: Das Internet ist voll von Dokumenten und Belegen der Gräueltaten des Lukaschenko-Regimes. Festgenommenen Männern wurden die Hoden abgequetscht, Rippen gebrochen, Frauen Haare ausgerissen. Sowohl Männer als auch Frauen waren sexueller Gewalt und brutalen Schlägen ausgesetzt. Gegen friedliche Demonstranten kamen Gummigeschosse und Wasserwerfer zum Einsatz. Verhaftete bekamen Elektroschocks, wurden entkleidet, mit Wasser übergossen, 50 Leute wurden in eine kleine Zelle gepfercht, mit Spraydosen farblich markiert: Die unterschiedlichen Farben standen für die unterschiedlichen Grausamkeitsstufen, denen die Festgenommenen ausgesetzt wurden. Die Assoziation zu den faschistischen Besatzern kam ganz von selbst auf, und damit auch das Wort. Ich möchte daran erinnern, dass Karateli (dt.: Henkersknechte) ein Werk des berühmten belarussischen Schriftstellers Ales Adamowitsch ist.

    Okrestina. Dorthin werden die Aufständischen im Awtosak (siehe oben) kutschiert. Okrestina ist das Zentrum zur Isolierung von Gesetzesbrechern (ZIP), eine Einrichtung der Hauptverwaltung des Inneren von Minsk. Adresse: Perwy Pereulok Okrestina 36. Während der Massenverhaftungen, in der Nacht auf den 10. August, wurden die Menschen im Awtosak ins ZIP gebracht. In Sechser-Zellen fanden sich mehrere Dutzend zusammengeschlagener Leute – bis zu 60 Festgenommene saßen in einer Zelle. Entsprechend wurde die Okrestina ein Synonym für „Folterkammer“. 
    Schrecklich ist auch das Schicksal des Namensgebers: Boris Okrestin, nach dem die Straße, in der sich das Gefängnis befindet, benannt ist, war ein sowjetischer Pilot, der in der Nähe von Minsk umkam, als er sein brennendes Flugzeug in Flieger der Faschisten hineinsteuerte.

    Sascha 3 %. Im Mai 2020 wurden auf vielen Internetplattformen Wahlumfragen durchgeführt, bei denen die Nutzer für unterschiedliche belarussische Präsidentschaftskandidaten abstimmen konnten. Alexander Lukaschenko bekam in der Regel um die 3 Prozent. Daraufhin verbot der Staat derartige Internet-Umfragen. Nachwahlbefragungen an Wahllokalen im Ausland kamen zu denselben Ergebnissen, um die 3 Prozent. An keinem Wahlbüro in Ländern, in denen Nachwahlbefragungen erlaubt sind, erzielte Lukaschenko mehr als 10 Prozent. Insofern etablierte sich das Meme Sascha 3 % als wichtigster Indikator der tatsächlichen Popularität von Lukaschenko.

    Schmarotzer (belaruss. darmajed abgeleitet von darma, einfach so, und jest, essen). Im sowjetischen Gesetz war „Parasitentum“ von 1961 bis 1991 ein Verbrechen, das darin bestand, dass „eine volljährige, arbeitsfähige Person langfristig keine gesellschaftlich sinnvolle Arbeit erfüllt und von anderweitig erworbenen Einkünften lebt“. Lukaschenko hat als Fan des sowjetischen Systems 2015 eine Steuer auf Parasitentum eingeführt: Sie muss von Bürgerinnen und Bürgern der Republik Belarus gezahlt werden, die offiziell nicht in der belarussischen Wirtschaft beschäftigt sind. Außerdem wurden für diese Menschen höhere Tarife für kommunale Dienstleistungen eingeführt.
    Einerseits hat man so die Arbeitslosigkeit bekämpft, andererseits bedeutete es eine erzwungene Anwerbung von Bürgern zur Arbeit in den unprofitablen Staatsbetrieben – und außerdem ein weiteres Steuermanöver, von dem der Staat profitierte.
    Auch aktuell geht die Welle von Unruhen laut Lukaschenko von „Junkies, Prostituierten und Schmarotzern“ aus. Deswegen hört man von den Protestierenden regelmäßig ironische Verdrehungen: „Schmarotzer?“ „Hier.“ „Junkies?“ „Hier.“ „Prostituierte?“ „Hier.“

    Slabowiki (von russ. slabo, schwach) ist ein von dem sehr beliebten Telegram-Kanal Nexta eingeführter und auch sonst schon seit langem immer häufiger verwendeter Terminus. Die bis an die Zähne bewaffneten und ausgerüsteten Diener des Regimes, die friedliche Bürger schlagen, kann man nicht als Silo-wiki bezeichnen (von russ. sila Kraft, Gewalt), das wäre zu ehrenvoll. Der neue Terminus zeigt den Lakaien ihren Platz.

    Strafgerichtshof/Tribunal (von lat. tribunal, Richterstuhl, Gerichtshof) ist ein außerordentliches Gericht, häufig (aber nicht unbedingt) ein Kriegsgericht und auf jeden Fall abgesetzt vom ordentlichen Gericht der allgemeinen Jurisprudenz. Nach dem Muster des Internationalen Kriegstribunals in Nürnberg, das über die Verbrechen des Hitlerregimes urteilte, wurden auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda so genannt. Belarus ist heute wahrscheinlich weltweit führend, was die Menge an Gesetzesbrüchen in den unterschiedlichsten Bereichen betrifft: Von Wahlfälschungen über unbegründete barbarische Gesetze bis hin zur Gewaltanwendung gegenüber Menschen. Wenn die Zentrale Wahlkommission ZIK ganz offensichtlich lügt, die Gerichte lügen, der Präsident lügt (und unterstützt das Lügen gewaltsam), dann bleibt den Bürgern nur, eine höhere Instanz der Gerechtigkeit zu fordern: Einen Strafgerichtshof. 

    Tichari (von russ. ticho, still, leise) sind Miliz-Angehörige in Zivil (ja, in Belarus gibt es immer noch die Miliz). Es gibt eine ganze Armee von Tichari, ihre genaue Funktion ist jedoch nicht bekannt. Am häufigsten beobachten sie Demonstranten. Einen Tichar zeichnet sein unauffälliges Erscheinungsbild aus. Unerlässlich ist die Herrenhandtasche, die über der Schulter hängt, klassisches Schuhwerk und Trainingshose. Die stillen Genossen schleichen nicht nur im Zentrum herum, sondern auch in Wohngebieten. Manche Tichari haben Kameras, mit denen sie die Proteste aufzeichnen. Tichari können Menschen verhaften und sie in Awtosaks stecken. Sie sind wortkarg. Außerdem kann man sie an ihrer Maske erkennen: Obwohl es in Belarus keine Corona-Maßnahmen gab, halten sich dieTichari an die Hygienestandards.

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  • Video #33: „Wir haben eine Reservetruppe für Belarus eingerichtet“

    Video #33: „Wir haben eine Reservetruppe für Belarus eingerichtet“

    Im Interview mit dem russischen Staatssender Rossija 24 am Donnerstag, 27. August 2020, hat Russlands Präsident Wladimir Putin erwähnt, dass Russland „eine Reservetruppe an Sicherheitskräften” für Belarus eingerichtet habe. Dies sei auf Bitten des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenkos geschehen. 
    Seit den Massendemonstrationen gegen die Fälschungen bei der belarussischen Präsidentschaftswahl am 9. August diskutieren Beobachter immer wieder die Frage, wie stark der Kreml in Belarus eingreifen wird – oder nicht. 
    Der russische Blogger und Oppositionelle Maxim Katz interpretiert die aktuelle Äußerung Putins als reine Drohgebärde gegenüber den Tichanowskaja-Anhängern und Gegnern Lukaschenkos: „Dieses Manöver soll einfach dazu dienen, die Demonstranten zu demotivieren. Sie sollen zu dem Entschluss kommen, dass sie eh keine Chance haben – und aufgeben.”

     
    Die Original-Videos finden Sie hier und hier.

    [bilingbox]

    Ich habe [Lukaschenko] gesagt: Russland wird alle seine Verpflichtungen erfüllen.

    Alexander Grigorjewitsch hat mich gebeten eine Reservetruppe der Sicherheitskräfte einzurichten.

    Und das habe ich getan.


    Doch wir haben auch vereinbart, dass sie nur zum Einsatz kommt, falls die Situation außer Kontrolle gerät und wenn extremistische, ich möchte das unterstreichen, Elemente, die sich hinter politischen Losungen verstecken, bestimmte Grenzen überschreiten, anfangen zu plündern, Autos, Häuser und Banken anzünden, Verwaltungsgebäude stürmen und so weiter.

    Aber Alexander Grigorjewitsch und ich sind zu dem Schluss gekommen, dass derzeit keine derartige Notwendigkeit besteht, und ich hoffe, auch in Zukunft nicht, so dass wir deswegen die Reservetruppe nicht zum Einsatz bringen.

    Ich wiederhole noch einmal: Wir gehen davon aus, dass alle aktuellen Probleme in Belarus mit friedlichen Mitteln gelöst werden. Doch wenn es zu Gesetzesverstößen kommt, seitens der staatlichen Organe
    oder derer, die an den Protestaktionen teilnehmen, wenn diese den Rahmen des geltenden Rechts sprengen, so wird das Gesetz entsprechend darauf reagieren.

    Das Gesetz gilt für alle gleichermaßen. Objektiv gesehen, denke ich, dass die Sicherheitsorgane von Belarus trotz allem ziemlich zurückhaltend sind.
    Schauen Sie mal, was da in manchen Ländern alles abläuft, […]
    ~~~

    Я сказал, что Россия исполнит все свои обязательства.

    Александр Григорьевич попросил меня сформировать определённый резерв из сотрудников правоохранительных органов, и я это сделал. Но мы договорились также, что он не будет использован до тех пор, пока ситуация не будет выходить из-под контроля, и когда экстремистские, я хочу это подчеркнуть, элементы, прикрываясь политическими лозунгами не перейдут определённых границ и не приступят просто к разбою: не начнут поджигать машины, дома, банки, пытаться захватывать административные здания и так далее.

    Мы в разговоре с Александром Григорьевичем пришли к выводу о том, что такой необходимости сейчас нет, и надеюсь, её не будет, и поэтому этот резерв мы и не используем.

    Повторяю ещё раз, мы исходим из того, что все сложившиеся проблемы, которые имеют место сегодня в Белоруссии, будут решаться мирным путём, а если где-то есть нарушения со стороны кого бы то ни было: либо со стороны государственных органов власти, правоохранительных органов, либо со стороны тех, кто участвует в акциях протеста, – если они выходят за рамки действующего закона, то и закон будет соответствующим образом на это реагировать. Ко всем закон должен относиться одинаково. Но если быть объективным, то я думаю, что правоохранительные органы Белоруссии ведут себя достаточно сдержанно, несмотря ни на что. Посмотрите, что в некоторых странах происходит.
     

    [/bilingbox]

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  • Wie der Dialog in Belarus aussehen sollte

    Wie der Dialog in Belarus aussehen sollte

    Zwei Mitglieder des oppositionellen Koordinationsrats sind am Montagvormittag, 24. August, von OMON-Kräften festgenommen worden. So spitzt sich die Situation in Belarus weiter zu, nachdem Alexander Lukaschenko am Wochenende mit dem Maschinengewehr in der Hand vor die Silowiki trat – und in Minsk eine historische Zahl von mehr als 100.000 Menschen gegen Wahlfälschung und Gewalt protestierte.

    Die EU und der Kreml fordern Lukaschenko zum Dialog auf, die OSZE bot Vermittlung an – und abgesehen davon, dass Lukaschenko jedes Gespräch bislang verweigert: Wie kann ein Dialog überhaupt aussehen zwischen zwei Parteien, die einander kaum vertrauen? Das fragt der belarussische Journalist Artyom Shraibman. Und macht ein paar – vielleicht utopische, aber durchaus bedenkenswerte – Vorschläge im unabhängigen Online-Portal tut.by.

    Wie auch immer Alexander Lukaschenko die Realität wahrnimmt: Fakt bleibt, dass das System in seiner bisherigen Form immer schwerer zu steuern ist. Und um es auf lange Zeit wie eine Besatzungsmacht zu verwalten, dazu fehlt Lukaschenko schlicht das Geld.

    So oder so wird also der Moment kommen, in dem Lukaschenko oder genügend Leute in seinem engsten Kreis erkennen, dass der Dialog mit den Opponenten weniger riskant ist als der Versuch, den Senf wieder zurück in die Tube zu drücken. Oder ihr Patriotismus wird stärker als der Wunsch, ewig an der Macht zu bleiben.

    Verfassungsreform und Neuwahlen

    Was kann Gegenstand dieses Dialogs sein? Hier bin ich zu meinem eigenen Erstaunen einverstanden mit Lukaschenkos Worten: Der nachhaltigste Weg ist eine schnelle Verfassungsreform und anschließende Neuwahlen für einen Neustart der Regierung.

    Der Präsident von Belarus hat auch Recht, dass man die heutige Verfassung mit ihrer Schlagseite [zugunsten des Präsidenten – dek] niemandem so überlassen kann – weder Tichanowskaja noch Tichanowski, Lukaschenko junior, dem Premierminister Golowtschenko, Babariko, Zepkalo, Mutter Theresa oder dem Papst. Diese Verfassung ist ein Pfad in den Abgrund, weil sie das Schicksal einer Nation von den Launen eines einzelnen Menschen abhängig macht. Das kann das Land nicht länger riskieren.

    Damit die Gesellschaft diesen Prozess als legitim ansieht, kann er nicht stattfinden als Dialog von Lukaschenko und Leuten, die er selbst auswählt, wie etwa den offiziellen Gewerkschaften, der staatlichen Jugendorganisation BRSM oder Belaja Rus. Sondern es muss ein Dialog der gegenwärtigen Opponenten sein: Lukaschenko und sein engster Kreis auf der einen Seite und das Präsidium des Koordinationsrates auf der anderen Seite.

    Beide Seiten vertrauen einander nicht und werden es wohl nie tun. Das Präsidium des Koordinationsrats und seine Anhänger sehen Lukaschenko als illegitimen Usurpator, der die Wahl verloren hat und keines seiner Versprechen einhält. Lukaschenko und seine Anhänger halten das Präsidium des Koordinationsrats für ein selbsternanntes Gremium ohne Unterstützung aus der Gesellschaft, das von äußeren Mächten gesteuert wird.

    Auf eine Vermittlung von außen sollte verzichtet werden, weil die Krise in Belarus vom Wesen eine zutiefst innere ist

    Das heißt, sobald die Regierung bereit zu einem Dialog ist, brauchen beide Seiten Mediatoren. Falls man Moskau oder Brüssel, Washington oder Peking ins Boot holt, werden die beiden Seiten noch stärker den Verdacht schöpfen, dass die jeweils anderen versuchen würden, das Land aus der Hand zu geben. 

    Auf eine Vermittlung von außen sollte verzichtet werden, weil die Krise in Belarus vom Wesen eine zutiefst innere ist. Es wirkt komisch, wenn gerade die von äußerer Einmischungen sprechen, deren neue [russische – dek] Mitarbeiter im belarussischen Staatsfernsehen Belorussija schreiben. Man denke daran, wie eine Vermittlung von außen in der Hochphase des ukrainischen Maidans scheiterte und zum Prolog für einen langwierigen Krieg wurde. Der Mediator muss im Land selbst gefunden werden.

    Wer gilt als unvoreingenommene Autorität für beide Seiten?

    Das ist schwer, denn es gibt praktisch niemanden, der ohne Zweifel als unvoreingenommene Autorität für beide Seiten gilt. Es muss jemand gefunden werden, der definitiv keine Machtansprüche hegt und allein am gesellschaftlichen Frieden und Konsens interessiert ist. 

    Das beste, was wir haben, scheinen mir die Kirchen zu sein. Mir liegen solche Mutmaßungen fern, aber einige Leute werden womöglich verlockt sein, die Belarussisch-Orthodoxe Kirche als Wegbereiterin für russische oder die katholische Kirche als Wegbereiterin für polnische Interessen zu sehen. Ein Kompromiss könnte ein gemeinsame Vermittlung sein von den Oberhäuptern der fünf Konfessionen in Belarus: Orthodoxe, Katholiken, Protestanten, Juden und Muslime.

    Dialog unter zwei Bedingungen

    Je weniger Bedingungen es für einen Dialog gibt desto besser. Doch ein paar grundlegende Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein Dialog möglich ist. Ich sehe zwei: 

    Erstens müssen Gewalt und Repressionen von Seiten der Machthaber beendet werden. Zweitens muss Alexander Lukaschenko und seiner Familie eine unbefristete Garantie für physische Sicherheit und vollständige Immunität  garantiert werden. Wenn diese Gesten des Goodwill nicht von beiden Seiten angenommen werden, wird es nicht möglich sein, sich an einen Tisch zu setzen. 

    Das beste Produkt eines solchen Dialogs wäre ein Verfassungsentwurf, den keine der beiden Seiten als Niederlage empfinden würde. Es wäre die Verfassung einer parlamentarischen Republik, die entweder überhaupt keinen Präsidenten hat oder dessen Rolle eine rein repräsentative wäre. Lukaschenko bliebe in einer solchen Situation der erste und letzte Präsident des Landes mit umfassenden Machtbefugnissen.

    Wenn die Regierung überzeugt ist, dass sie die Mehrheit vertritt, so kann sie ihre Positionen auch in einer parlamentarischen Republik bewahren. Dafür ist es einzig vonnöten, eine Partei zu gründen und die Wahlen zu gewinnen.

    Ein solches Referendum muss schnell erfolgen – spätestens in einem Monat

    Die heutige Verfassung einfach durch eine willkürliche Entscheidung abzuschaffen, ist juristisch ein zu fundamentaler Bruch. Was immer dann folgt, könnte nicht mehr legitim sein. Besser ist, sich im Rahmen der heute gültigen Verfassung zu bewegen. Laut dieser können derart gravierende Änderungen nur mittels eines Referendums angenommen werden. Dieses Referendum, und auch die Abfolge der nächsten Schritte, müssen genau niedergelegt werden in einer Übereinkunft beider Seiten und qua Unterschrift der Vermittler, in diesem Fall der Kirchenvertreter, bekräftigt werden.

    Ein solches Referendum muss schnell erfolgen – spätestens in einem Monat, und selbstverständlich nach Modalitäten, denen alle vertrauen. Das heißt, das Zentrale Wahlkomitee ZIK und das gesamte Wahlkommissions-System müssen Vertreter der anderen Seite und außerdem eine mehrere Tausend Menschen starke internationale Kommission von Wahlbeobachtern zulassen. Da jedoch diese Verfassungsreform der Idee nach sowohl bei der Regierung als auch bei ihren Gegnern Unterstützung findet, müsste es beim Referendum in jedem Fall eine Entscheidung dafür geben.

    Im Anschluss sollten – nun schon entsprechend der neuen Verfassung – so schnell wie möglich Parlamentswahlen stattfinden, wiederum in einer Wahl, die höchste Transparenz bietet. Ob das Parlament mit Parteilisten nach dem heutigen Mehrheitsprinzip oder nach einem Mischprinzip gewählt wird, das ist ein Verhandlungsgegenstand, der aktuell nicht im Vordergrund steht. 

    Ich wiederhole: Der ganze Prozess sollte haargenau in allen Stadien und mit Daten durchgeplant werden, um Abweichungen von diesen Vereinbarungen so schwer wie möglich zu machen.

    Der Verzicht auf außenpolitische Vermittlung bedeutet nicht, dass internationale Akteure außen vor bleiben. Ohne sich direkt einzumischen können äußere Kräfte die beiden Seiten durchaus zum Dialog motivieren und beobachten, wie die Verhandlungen geführt werden. 

    Ein internationaler Hilfsfond für Belarus

    Da das Land derzeit immer tiefer in eine wirtschaftliche Krise rutscht, könnte ein Hebel zur Stimulation von außen darin bestehen, einen internationalen Hilfsfonds für Belarus zu gründen. Zum Beispiel 3 bis 5 Milliarden Dollar, die dem Land zugute kommen, nachdem die grundlegenden Etappen der Transformation vonstatten gegangen sind, und unter der Bedingung, dass alle Abmachungen von beiden Seiten eingehalten wurden. Russland und die Europäische Union (mit Unterstützung der USA) könnten einen solchen Fonds solidarisch einrichten und sich auf die Regeln, Bedingungen und Stadien für die Zahlung der Mittel einigen. 

    Damit sie sich nicht gegenseitig des Versuchs verdächtigen, sich Belarus unter den Nagel reißen zu wollen, sollte ein Punkt der internen Vereinbarung zwischen den Machthabern und ihren Gegnern ein Konsens über die Außenpolitik sein. Das bedeutet eine feste Vereinbarung darüber, dass Belarus, egal, wie der Prozess ausgeht, nicht von seinen internationalen Verpflichtungen Abstand nimmt, keine Kehrtwende in die eine oder andere Richtung vornimmt, und dass die Souveränität unantastbar ist.

    Ich weiß, wie illusorisch heute jeder Punkt aus meinem Text erscheinen mag.  Doch zu dem Zeitpunkt, wo als Alternative zum Dialog nur noch Bürgerkrieg, völliger Ruin oder äußere Besatzung bleiben, ist es besser, wenn wir zumindest einen ungefähren Algorithmus für eine Rettung haben. Ich wünsche uns allen gutes Gelingen.
     

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  • Eine toxische Angelegenheit

    Eine toxische Angelegenheit

    Alexej Nawalny liegt im Koma, seine Pressesprecherin Kira Jarmysch geht davon aus, dass er vergiftet wurde. Er wäre nicht der erste russische Oppositionspolitiker, dem dies geschieht. In einem redaktionellen Statement listet Projekt ähnliche Fälle auf – in denen nie ein Täter identifiziert, Ermittlungen gar nicht erst aufgenommen oder nie abgeschlossen wurden.

    Politik in Russland ist eine toxische Angelegenheit, oft auch im Wortsinne. Was auch immer der Grund für Alexej Nawalnys Vergiftung war, wer auch immer dahinter stehen mag: Es ist wichtig, dass die Umstände umgehend, sorgfältig und unvoreingenommen aufgeklärt werden. So sollte es sein, doch in der Realität bleiben die vielfältigen Gewaltakte gegen Vertreter der politischen Opposition und gegen Bürgeraktivisten zu oft folgenlos. Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Toleranz gegenüber politischer Gewalt in Russland extrem hoch ist, und derzeit deutet nichts darauf hin, dass sie sinken wird. 

    Nawalny wurde im Flugzeug übel, als er am 20. August morgens von Tomsk Richtung Moskau flog. Wie seine Sprecherin Kira Jarmysch berichtete, die Nawalny auf der Reise begleitet hatte, hat er während des Flugs nichts zu sich genommen, er hatte nur zuvor eine Tasse Tee im Flughafencafé getrunken. Das Flugzeug landete in Omsk zwischen, Nawalny wurde im bewusstlosen Zustand auf die Intensivstation des örtlichen Krankenhaus gebracht und dort künstlich beatmet. Er liegt im Koma, die Ärzte in Omsk bewerten seinen Zustand als ernst, aber stabil. Wie Kira Jarmysch mitteilt, ist aus Sicht der Ärzte eine Verlegung in eine andere Klinik derzeit unmöglich. Nawalnys Kollegen glauben, dass der Gründer des Fonds für Korruptionsbekämpfung mit Absicht vergiftet wurde. Sie nehmen an, dass der Giftstoff im Tee gewesen sein könnte. Die Ärzte halten eine Vergiftung für möglich, eine abschließende Diagnose gibt es bislang allerdings nicht.

    Das ist nicht die erste ernsthafte Attacke auf Nawalnys Gesundheit. Es ist bezeichnend und auf jeden Fall äußerst gefährlich, dass der Grad der Gewalt zunimmt.

    Im Frühjahr 2017 hatte man Nawalny Seljonka ins Gesicht gespritzt (womöglich gemischt mit Säure). Die Folgen der schweren Verätzungen im Auge mussten lange behandelt werden. Der Angreifer ist untergetaucht, ob er gestellt und bestraft wurde, ist nicht bekannt. 
    Im Sommer 2019 wurde Nawalny während einer Haftstrafe, die er aufgrund einer Ordnungswidrigkeit absaß, mit einer starken allergischen Reaktion in ein Krankenhaus eingeliefert, obwohl er nie zuvor unter Allergien gelitten hatte. Der Allergieauslöser wurde nicht gefunden. (In derselben Zelle hatte zuvor auch Nawalnys Mitstreiter Leonid Wolkow gesessen, bei ihm zeigten sich unmittelbar nach Freilassung ebenfalls Anzeichen einer plötzlichen starken Allergie.)

    Vergiftungen von politischen und anderen Aktivisten mit ähnlichen Symptomen wie bei Nawalny sind leider auch keine Seltenheit mehr. [Mediazona-Herausgeber und Pussy Riot-Aktivist – dek] Pjotr Wersilow kam 2018 mit Anzeichen einer schweren Vergiftung ins Krankenhaus, er wurde schließlich zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen. Er hat bereits geäußert, dass ihn das, was mit Nawalny geschehen ist, an seine eigene Geschichte erinnert. Wersilow hatte die Vergiftung damals in Verbindung gebracht zu seinen Recherchen zum Mord an russischen Journalisten in der Zentralafrikanischen Republik. Der Giftagent wurde nicht gestellt. Der stellvertretende Vorsitzende von Open Russia, Wladimir Kara-Mursa junior, wurde zweifach mit ungeklärten Substanzen vergiftet – 2015 und 2017. Er selbst sprach von einem Mordversuch an ihm, aus Rache für seinen Einsatz für den Magnitski-Akt in den USA und in Europa. 
    Die Journalistin Anna Politkowskaja hatte 2004 im Flugzeug einen Tee getrunken und wurde daraufhin mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert. Sie war damals auf dem Weg nach Beslan, zu der von den Terroristen besetzten Schule. Kollegen der 2006 ermordeten Politkowskaja sehen ebenfalls Ähnlichkeiten zwischen den Vergiftungserscheinungen bei der Journalistin damals und bei Nawalny heute. 

    In keinem der Vergiftungsfälle wurde je ein Täter identifiziert, Ermittlungen wurden quasi gar nicht aufgenommen oder nie abgeschlossen.

    Die Regelmäßigkeit solcher Vergiftungen und die Straffreiheit der Täter ist beängstigend. Durch die Häufigkeit und die ständig wachsende Gefahrenlage sinkt in der Gesellschaft die Sensibilität für derartige Verbrechen. Gewalt gegen Regierungsgegner oder lediglich unzufriedene Bürger wird zur Routine. Zweifellos festigt sich auch bei denen, die missliebige Personen auf die ein oder andere Art „bestrafen“ wollen, das Gefühl, dass ihnen alles erlaubt ist. Im Fall von Nawalny gibt es von solchen Leuten potentiell sehr viele, angefangen bei den Protagonisten seiner Korruptions-Enthüllungen (darunter sind auch hochrangige Silowiki und Vertreter der Elite) bis hin zu inoffiziellen Helfern der Staatsmacht, die so auf ihre Art mit „Bedrohungen für die Stabilität“ des Regimes umgehen. 

    Ein Attentat auf einen Staatsvertreter oder eine Person des öffentlichen Lebens (Artikel 277 des Strafrechts der Russischen Föderation) wird in Russland hart bestraft: 12 bis 20 Jahre Freiheitsentzug (die in dem Paragraphen ebenfalls vorgesehene Todesstrafe wird nicht angewendet). Aber solche Fälle sind eine Seltenheit. Nach Angaben der Rechtsdienststelle am Obersten Gericht wurden in den vergangenen zehn Jahren nach diesem Paragraphen drei Menschen verurteilt.

    Nawalnys Kollegen haben sich bereits an das Ermittlungskomitee gewendet mit der Forderung, ein Verfahren nach Paragraph 277 Strafgesetzbuch zu eröffnen. Wie die Strafverfolgungsbehörde darauf reagierte, ist bislang nicht bekannt – außer, dass im Omsker Krankenhaus ziemlich viele Vertreter der unterschiedlichsten staatlichen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden versammelt sind. Indes sind das Hinauszögern der Untersuchung, die Imitation von Ermittlungen, das Abbremsen des ganzen Falls das schlimmste Signal, das die Regierung der Gesellschaft jetzt geben kann. Jetzt, da es um den Anführer der russischen Opposition geht – dessen Namen sein größter Rivale – Wladimir Putin – lieber gar nicht erst laut ausspricht. Es ist zynisch darüber zu diskutieren, wem eine Vergiftung Nawalnys nutzen könnte, aber eine gründliche und professionelle Untersuchung des Vorgangs würde zweifellos auch der Regierung nutzen. 

    Ja, die Politik ist eine toxische Angelegenheit, aber der politische Kampf darf niemals in politischen Terror ausarten, wenn der Staat nicht selbst zu einem Terrorstaat werden soll.

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  • Der Wandel ist weiblich

    Der Wandel ist weiblich

    Der belarussische Ökonom Sergej Tschaly gehört dem Koordinationsrat von Swetlana Tichanowskaja an. In einem Radiointerview, das das unabhängige belarussische Online-Medium tut.by in Teilen verschriftlicht hat, erklärt er, wie er diese besonderen Tage in seiner Heimat erlebt und einordnet. 

    Tschaly spricht über die Rolle der Frauen, den Machtwillen Lukaschenkos, die Bedeutung der finanzkräftigen IT-Branche für den Protest und über die Frage, wie ein Übergang gestaltet werden könnte.

    „Es war unglaublich und sehr erbaulich“ – die Rolle der Frauen

    Nach der Wahl vom 9. August beobachteten wir eine Eskalation der Gewalt, die – das ist ganz offensichtlich – nirgendwo hinführt. Genauso offensichtlich ist, dass dies die Strategie der Machthaber war, der Plan der Silowiki.

    Der schlimmste Tag war der Mittwoch [es waren mehr als 6000 Menschen festgenommen und in Gefängnissen zum Teil brutal misshandelt worden – dek]. Da kam einem der Gedanke: Und was machen die am nächsten Tag? Wird es eine außergerichtliche Abrechnung geben? Wir hatten wirklich Angst, und eine organisierte Gegenwehr wie die Barrikaden rund um das Einkaufszentrum Riga gab es nicht mehr. Am nächsten Morgen dann die Frauenkette mit Blumen. Erst dachte ich, ich wäre ein wenig zu gefühlig, doch dann wurde mir klar: Das ist völlig in Ordnung. Ich habe wirklich geweint, weil mir bewusst wurde: Das war’s. Zum wiederholten Mal haben die Frauen unser Land gerettet. Mir ist bewusst, wie beängstigend es gewesen sein muss, dort zu stehen, nach all dem Schrecken. Es war unglaublich und sehr erbaulich!

    Das sind Frauen, die für ihre Männer einstehen. Und alle haben dasselbe Motiv: „Warum zum Teufel habt ihr unsere Männer eingelocht?!“ Das ist besonders schmerzlich in einem Land, in dem die Hälfte der männlichen Bevölkerung im Großen Vaterländischen Krieg gefallen ist und die Frauen ihren Platz einnehmen mussten. Das ist ein Archetyp, gegen den du nicht ankommst. Die Ereignisse in Belarus werden in die Geschichte eingehen als erste feministische Revolution. Feminismus im guten Sinne des Wortes. Und es ist schon jetzt klar, dass es ein Umbruch ist.


    Gewalt und fehlender Respekt

    Was die Belarussen erfuhren, als das Internet wieder eingeschaltet wurde [unmittelbar nach der Wahl war das Internet über mehrere Tage zu großen Teilen blockiert – dek], war für sie ein Schock. Die vielen Zeugnisse von Erniedrigungen, die Umwandlung des Okrestina-Gefängnisses zur Folter-Einrichtung, der barbarische Sadismus gegen das eigene Volk. Das wühlte alle enorm auf. Auch die Silowiki wirkten demoralisiert.

    Die Verzweiflung und Schwäche von Lukaschenko und seinen Leuten wird gut sichtbar, wenn sie versuchen, mit dem Volk in einen Dialog zu treten. Ob Roman Golowtschenko im Minsker Traktorenwerk MTZ oder Natalja Kotschanowa, die zur staatlichen Rundfunkanstalt BT kam – beide schafften es nicht, mit den Leuten zu reden. Die Arbeiter fragen, warum man sie als Schafe oder Drogensüchtige bezeichnet, warum man sie foltert, warum behauptet wird, es würden nur zwanzig Menschen streiken. Und als Antwort kam: „Nunja, wir geben euch doch Arbeit, zahlen euren Lohn.“ Die verstehen wirklich nicht, was die Leute wollen. Sie verstehen nicht die scharfe Ablehnung jenes respektlosen Tons, in dem der Präsident seinen Wahlkampf geführt hat, vor seinem „Völkchen“ – all dieses Genervtsein vom eigenen Volk.



    „Wo ist mein Volk?“ – Kundgebung von Lukaschenko und seinen Anhängern

    Ich habe bereits gesagt, dass man 80 Prozent Wählerstimmen einfach erdichten kann. Doch dann kommt es wie im Film Der Zar, als Iwan der Schreckliche nach draußen tritt, aber niemand ist zu seiner Krönung gekommen. Und da steht er dann verzweifelt: „Wo ist mein Volk?“ In unserem Fall musste man „sein Volk“ offensichtlich [mit Bussen – dek] herankarren, und selbst dann waren es noch wenige.  

    Es ist wie im Klischee über häusliche Gewalt. Da sagt der Mann: „Gut, dann lassen wir uns eben scheiden. Aber du Miststück wirst noch an mich denken! Du wirst doch eh keinen Besseren finden! Ich bin das Beste, das du je im Leben hattest!“ Das sind die Worte eines gekränkten Ehemannes, der von seiner Frau verlassen wird. „Verjagt ihr euren ersten Präsidenten, so wird es der Anfang vom Ende sein.“ Damit sagt Lukaschenko genau wie der gekränkte Ehemann: Ihr werdet noch lange an mich denken. Das werden die Belarussen vermutlich auch – aber nicht so, wie sich Lukaschenko das vorstellt. 


    „Ihr seid unglaublich“ – das neue Selbstbild der Belarussen

    [Beim Marsch der Freiheit am 16. August – dek] wirkte Minsk wie ein Urlaubsort, in dem Karneval gefeiert wird: überall Menschen, beim Heldenstadt-Obelisken, auf dem zentralen Prospekt, auf dem Unabhängigkeitsplatz. Keine grauen, düsteren Gesichter, kein allgegenwärtiger Pessimismus, den viele Gäste aus dem Ausland oft bemerkt haben. Wir hatten einfach nicht darauf geachtet, wie abstoßend diese klebrige Angst ist, in der wir leben mussten. Der diffuse Druck, der überall in der Luft lag. Man bemerkt das lange nicht und hält es für normal, aber wenn man davon befreit wird, dann sind die Veränderungen unglaublich. Du schaust dich um und denkst: Was sind die Leute alle schön!

    [Über Maria Kolesnikowas Slogan „Ihr seid unglaublich!“ – dek:] So funktioniert positive Verstärkung! Wenn man den Leuten sagt, wie armselig sie sind, dass sie ohne ihren Präsidenten nichts wert sind – dann erhält man ein bestimmtes Ergebnis. Wenn man aber sagt, wie toll sie sind, dann ist das Ergebnis ein anderes.

    Daher kommen auch die Spezifika des belarussischen Protestes: Dass sich die Leute ihre Schuhe ausziehen, bevor sie auf eine Sitzbank steigen, dass sie während der Proteste eine Müllsammlung organisieren, sich untereinander Wasser bringen oder einander im Auto nach Hause bringen. 

    Der belarussische Protest ist ein unglaublich starkes Phänomen. Belarus war in der letzten Zeit eines der brutalsten Regime in der Region. Und der Protest hat keine Anführer, anders als der ukrainische Maidan, wo es, wie man nicht vergessen darf, in Kiew einen oppositionellen Bürgermeister gab, der die Proteste unterstützt hat. 
    Wir sehen in Belarus eine Nation, die sich ihrer selbst bewusst wird. Die Grundlage sind all jene, die nicht vom Staat abhängig sind. Darum ist es so abstoßend, ständig von der Regierung zu hören: „Wir geben euch doch alles …“ Ja, ihr gebt den Leuten Arbeit – und vielen einen jämmerlichen Lohn. 


    Füttern allein reicht nicht mehr – die Aktivität der IT-Leute

    Viele Leute aus der IT-Branche [deren Unternehmen teilweise auch streiken – dek] haben in einer Enklave gelebt – im belarussischen Silicon Valley, auf der Hipster-Partymeile Sybizkaja oder im Barbershop. Diese Leute haben plötzlich verstanden, dass sie Teil des Geschehens werden wollen. Nicht einfach nur daneben stehen, sondern mitmachen. Die interessieren sich schon gar nicht mehr für die Übergangsphase, sondern für das, was danach kommt. 

    Die Logik ist folgende: Nehmen wir an, Lukaschenko bleibt. Das heißt, die IT-Branche würde geschröpft, anderswo ist nicht mehr viel zu holen im Land. Nehmen wir die Kosten für einen Umzug ins Ausland: Das ist nicht mehr so wie noch vor zehn Jahren, als alle noch als Ich-AG schwarz gearbeitet haben und mit dem Wegzug drohten. Heute sind das große Firmen mit großen Aufträgen. Ein Umzug würde gigantische Kosten für die Unternehmen bedeuten. Sie sind bereit Kapital zu investieren, damit dieses Szenario nicht eintritt.

    Das ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass die Geburt einer Nation stattfindet. Das ist nicht mehr der dürftige Gesellschaftsvertrag à la „Wir füttern euch und schlagen euch nicht, dafür haltet ihr euch aus der Politik raus“.


    Swetlana Tichanowskaja als Gesicht der Revolution

    Wenn die Revolution schon feministisch ist, werde ich sie auch so nennen. Nehmen wir Swetlana Georgjewna Tichanowskaja: Ich weiß nicht, was passiert ist, aber sie hat den Mut gefunden und erklärt, dass sie bereit ist, die Führung für die Übergangszeit zu übernehmen. Es ist klar, dass sie gezwungen ist, sich zurückzuhalten: Offenbar gibt es einige Vereinbarungen mit den Sicherheitsbehörden, die sie außer Landes gebracht haben. Uns ist auch klar, dass ihr Mann als Geisel gehalten wird. Nichtsdestotrotz – als Gesicht des Wandels ist sie wieder da.


    „80 Prozent“ – der gestohlene Wahlsieg

    Ich schließe nicht aus, dass es einen Befehl geben wird, wieder alle Demonstranten zusammenzuschlagen. Ob er aber ausgeführt wird, ist fraglich. Wie recht doch Viktor Babariko hatte: Den Willen des Volkes kann man nicht fälschen, wenn die Waage so deutlich in eine Richtung ausschlägt. Es ist Wahlfälschung, wenn man aus 55 Prozent 79 macht. Und was hier passiert ist, ist schon keine Fälschung mehr – das ist ein gestohlener Wahlsieg. 

    Uns wird seit jeher die Angst eingeflößt, dass das Land zugrunde geht, dass wir wieder barfuß laufen und unter der Knute stehen werden. Doch wie beim Marsch am Sonntag alle gespürt haben, wie frei es sich atmen lässt, wenn man diese ewige klebrige Angst abgeschüttelt hat: Nun stellen Sie sich vor, dass das auch mit der Wirtschaft passieren wird: Der ewige Druck, die totale Kontrolle werden verschwinden, die Energie der kreativen Menschen wird freigesetzt. Ich war in den USA, ich habe gesehen, wie so etwas gehen kann. Das beeindruckt wahnsinnig. Nehmen wir Pittsburgh, das wie aus dem Nichts heraus zu einem Industrieriesen wurde. So geht es. Eine solche Zukunft haben wir vor uns – und keine Bastschuhe und keinen Schrecken der 1990er Jahre.


    Marathon und kein Sprint – der Übergang

    Jetzt geht es vor allem darum, sich auf eine friedliche Machtübergabe an die gewählte Präsidentin Swetlana Georgjewna Tichanowskaja zu einigen, die sich vorübergehend im Exil befindet. Sie ist vielleicht nicht die ideale Präsidentin, doch sie ist ideal für diesen Übergang. 

    Als Mensch verfügt sie über ein tadelloses moralisches Kapital und hat während der Kampagne unglaubliche persönliche Qualitäten bewiesen. Es ist offensichtlich, dass sie nicht Präsidentin werden will, und gerade darin liegt ihre Überlegenheit. Ich bin sicher, dass die nächste Wahl äußerst interessant wird. Es wird ein echter Zusammenprall von Programmen und geopolitischen Präferenzen. Ich denke, dass sogar eine Partei von Lukaschenkos Anhängern auftauchen könnte, die fordern wird, dass alles wieder so werden soll wie es war.

    Es geht jetzt darum, dass wir geduldig sind, nicht die Hoffnung verlieren und Liebe zeigen. Also das tun, was die weltweit erste feministische Revolution bislang getan hat. Wir laufen der ganzen Welt voraus. Und wie Lukaschenko einmal sagte: Am Ende beneiden uns alle Länder.

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