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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Er lebt und wir sind wieder vereint und entschlossen”

    „Er lebt und wir sind wieder vereint und entschlossen”

    Sergej Tichanowski sitzt vor zahlreichen Mikrofonen. Immer wieder redet er sich in Rage, zeigt sich kämpferisch, dann bricht er wieder in Tränen aus. Fünf Jahre Haft haben den bekannten Oppositionspolitiker, der Ende Mai 2020 im Vorfeld der damaligen Präsidentschaftswahlen verhaftet und später zu 18 Jahren Haft verurteilt worden war, deutlich gezeichnet. Der hochgewachsene Mann ist auf 79 Kilogramm abgemagert. Seine Tochter habe ihn nicht erkannt, schluchzt er. Seine Frau sitzt neben ihm und ergreift das Wort: „Das ist dein Papa, mussten wir ihr erklären.“  

    Seit vergangenem Samstag, dem 21. Juni 2025, ist Tichanowski frei. Nach einem Besuch des US-Sonderbeauftragten für die Ukraine und Russland, Keith Kellogg, bei Alexander Lukaschenko in Minsk werden er und 13 weitere politische Gefangene aus der Haft entlassen, darunter auch der Journalist Ihar Karnei und die bekannte Italianistin Natalja Dulina. Die Freude ist überwältigend. In Vilnius, wohin die Freigelassenen gebracht werden, versammeln sich spontan exilierte Belarussen, in den sozialen Medien schreiben viele Freudenbekundungen.  

    Am gestrigen Sonntag geben Tichanowski und seine Frau Swetlana Tichanowskaja, die Anführerin der Demokratiebewegung, eine gemeinsame Pressekonferenz. Auf die Frage eines Journalisten, ob er jetzt die Oppositionsbewegung übernehmen würde, sagt er: „Swetlana ist die Anführerin. Ich werde keinesfalls irgendwelche Ansprüche erheben.“  

    Warum setzte Lukaschenko einen der bekanntesten Oppositionspolitiker nun auf freien Fuß? Welche Interessen haben die USA an einer Normalisierung der Beziehungen zu dem Regime in Belarus, die bereits seit Monaten im Raum steht?  

    Seit Juli 2024 hat Lukaschenko rund 350 politische Gefangene entlassen, es befinden sich aktuell aber noch 1150 in Gefängnissen und Lagern.  

    dekoder hat zwei Auszüge aus aktuellen Analysen von Alexander Klaskowski und Artyom Shraibman aus Pozirk und Carnegie übersetzt, die auf diese Fragen eingehen. 

    Sergej Tichanowski und seine Frau Swetlana bei der Pressekonferenz nach seiner Freilassung am 22. Juni 2025 in Vilnius. / Foto © Andrei Shauliuha (RFE/RL)

    Pozirk: „Warum hat Lukaschenko ausgerechnet Tichanowski freigelassen?” 

    2020 schlug Tichanowski wie ein Meteorit in die belarussische Politik ein, rüttelte die Wählerschaft auf, die durch das Regime und die Covid-19-Pandemie am Boden lag. Mit selbstbewusstem Populismus und Durchsetzungsvermögen erinnerte der Blogger an den frühen Lukaschenko. Und wurde in dessen Augen schnell zu einer gefährlichen Figur. Zudem nutzte Tichanowski den bissig satirischen Slogan „Stoppt die Kakerlake!“ als Anspielung auf den schnurrbärtigen Regenten. Dazu das kaum weniger beleidigende Symbol eines Pantoffels zur Bekämpfung des bösartigen Insekts.  

    Also hatte das Regierungsoberhaupt mit der Inhaftierung des Bloggers nicht nur einen gefährlichen politischen Rivalen ausgeschaltet, sondern sich außerdem für diese Erniedrigung gerächt. Überhaupt gab es in dem Verhältnis des Regierenden zu Tichanowski viel Persönliches. Doch jetzt handelt Lukaschenko nach dem Motto „Persönlich ist da nichts, alles reines Geschäft“. 

    Warum hat Lukaschenko von den wichtigen Personen ausgerechnet Tichanowski freigelassen? Außer dem Wunsch, den Amerikanern zu gefallen, erkennen hier einige einen schlauen Plan: 

    Schließlich ist Tichanowskis Ehefrau Swetlana Tichanowskaja die derzeitige Anführerin der demokratischen Kräfte. Sie hat immer wieder bekräftigt, dass sie nur an Stelle ihres inhaftierten Mannes in die Politik gegangen sei. Doch nun ist der wieder in Freiheit – in Litauen, genau wie sie. Kommt es da nicht vielleicht zu Verstimmungen, lauten Streitigkeiten über „Wer ist denn nun der Herr im Haus“ und zu einem Machtkampf in der Opposition? Und wenn die Frau dem Mann gegenüber nachgibt, werden die Mitstreiter der Frau ihn, den Mann, dann einfach akzeptieren? 

    Zudem ist damit zu rechnen, dass ein Flügel der Opposition an Selbstvertrauen gewinnt und aktiver werden wird, und zwar der, der flexiblere Positionen gegenüber den Machthabern in Belarus vertritt. Das Argument dieses Flügels besteht darin, dass die Sanktionen kein Selbstzweck und kein Fetisch seien, sondern schlicht ein Instrument. Und wenn die Aussetzung oder Unterbrechung solcher Maßnahmen einen Effekt zeige, wie jetzt die Freilassung von politischen Häftlingen, dann müsse man dieses Instrument genau so nutzen. 

    Außerdem verficht dieser Flügel die moralische Maxime, dass das Leben und die Freiheit der Menschen höchste Priorität haben und nicht zugunsten von Parolen eines vollständigen Siegs über das Regime beiseitegeschoben werden sollten. Ein Sieg zeichne sich derzeit nicht ab, die Menschen aber werden gefoltert und sterben hinter den Gefängnismauern. Es reicht zu sehen, wie Tichanowski, der ehemalige Mitarbeiter von Radio Svaboda Ihar Karnei und andere Freigelassene heute aussehen, um zu erkennen, was die Gefangenschaft ihnen angetan hat. 

    Original vom 21. Juni 2025 

     
    Pressekonferenz von Sergej Tichanowski und Swetlana Tichanowskaja (belarussisch/russisch und englisch) am 22. Juni 2025

    Carnegie: „Hat die EU Interesse an einem Dialog mit Lukaschenko?” 

    Der Besuch von Trumps Sondergesandtem Keith Kellogg in Belarus war nur möglich, weil er gleich zwei entgegengesetzte Interessen bediente: Einerseits will die Trump-Administration angesichts der festgefahrenen Friedensverhandlungen um die Ukraine die regionale Diplomatie wiederbeleben. Andererseits versteckt Lukaschenko schon lange nicht mehr, dass er sich aus der Isolation der vergangenen Jahre befreien und eine wichtigere Rolle in der Region spielen will. Dafür ist er zu Zugeständnissen bereit, erst recht, wenn nur die allerleichtesten von ihm gefordert werden – die Befreiung politischer Gefangener. 

    Trotz des offensichtlichen Erfolgs bleibt der Ausgang der Gespräche auch nach Kelloggs Abreise im Dunkeln. Klar, Minsk hat noch genügend Gefangene zum Verhandeln und die USA können weitere Delegationen schicken oder gar ihre Botschaft in Belarus wiedereröffnen. Aber letztlich kann der Prozess nicht nur auf diplomatischen Gesten beruhen. Früher oder später wird Minsk einen Abbau der Sanktionen erwarten. Doch da gibt es eine Hürde – die strengere Haltung der Europäischen Union. Ohne die Aufhebung der europäischen Sanktionen reicht das Abschwächen der amerikanischen nicht, um die wichtigsten Handelswege für Belarus freizugeben. 

    Bisher gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass die EU oder ihre führenden Länder, den USA folgend, wieder einen Dialog mit Lukaschenko suchen wollen. Die dienstlichen Kontakte der Europäer mit Minsk sind nicht abgebrochen, beschränken sich aber auf die Ebene von Diplomaten- und Expertentreffen. Das ist eindeutig zu wenig für die EU-Führungsriege, um sich in der Sanktionsfrage plötzlich auf Washingtons Seite zu schlagen. 

    Die Position der EU ist hier, wie auch im Fall Russland, härter und unflexibler. Und die Beziehungen zu Belarus sind keine so bedeutende Frage, dass, falls beispielsweise Ungarn oder die Slowakei eine Lockerung vorschlügen, aber Polen und Litauen sich dem verweigerten, irgendwer ernsthaft versuchen würde, Letztere umzustimmen. 

    Original vom 22. Juni 2025 

    Sergej Tichanowski zeigt auf der Pressekonferenz in Vilnius (Litauen) am 22. Juni 2025 ein Foto von sich vor der fünfjährigen Gefangenschaft. / Foto: Stanislaw Schablowski/Zerkalo 

    Es sei auch daran erinnert, dass sich die Beziehungen zwischen Minsk und dem Westen gerade zu verbessern schienen, als der Sommer 2020 kam. Seitdem hat sich das Regime verhärtet, eine Rückkehr zu 2019 ist unmöglich. Und es ist unklar, ob und was Washington jetzt auf dem belarussischen Weg erreichen kann.  

    Aber etwas ist in Bewegung geraten. So Gott will, werden weitere Menschen aus dem Gefängnis kommen, die dafür leiden, dass sie jene Rechte einforderten, die das Regime allen Belarussen genommen hat. 

                                                     Alexander Klaskowski, Pozirk 

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  • Greift Lukaschenko in den Krieg ein?

    Greift Lukaschenko in den Krieg ein?

     

    Rund ein Drittel der belarussischen Armee – die offiziell rund 65.000 Soldaten umfasst – soll die belarussische Staatsführung an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen haben. Das ukrainische Außenministerium warnte Lukaschenko vor einem „tragischen Fehler" und forderte, die Truppen wieder abzuziehen. Erst im Juli hatte Belarus seine Soldaten von der Grenze zur Ukraine abgezogen. Belarussische Beobachter halten das Manöver für psychologische Kriegsführung. Das Drohszenario, das möglicherweise auf Geheiß des Kreml inszeniert wurde, solle zusätzlichen Druck auf die Ukraine ausüben und Unruhe stiften. Die Frage aber, die sich alle stellen, ist: Ist es vorstellbar, dass Lukaschenko doch noch mit eigenen Truppen in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingreift? 

    Igor Lenkewitsch vom belarussischen Online-Medium Reform hat dazu eine klare Meinung. 

     

    Eine vollständige Invasion in die Ukraine 

    Solch ein Szenario wäre Lukaschenkos Selbstmord. Selbst nach konservativen Berechnungen übersteigt die Zahl der ukrainischen Truppen an der Grenze zu Belarus die gesamte belarussische Armee um ein Vielfaches. Überhaupt die ganze Armee, inklusive Verwaltungsangestellter und Militärausbildern. Selbst wenn das belarussische Regime 30.000 Soldaten für einen Angriff zusammenziehen könnte, würde die kampferprobte ukrainische Armee diese in wenigen Tagen aufreiben. Darüber, dass die Grenze massiv befestigt und vermint ist, spreche ich schon gar nicht. 

    Experten haben wiederholt auf die unterschiedlichen Szenarien hingewiesen, unter denen Lukaschenko gezwungen wäre, aktiv in den Krieg einzutreten. Zum Beispiel könnte Putin im Falle eines katastrophalen Scheiterns der russischen Armee seinen Partner zwingen, sich einzubringen. Andererseits wäre aber auch ein Verrat nicht abwegig: Bei einer Niederlage Russlands wäre Lukaschenko der erste, der seinem „großen Bruder“ einen Dolch in den Rücken stößt. 

    Tatsächlich aber wäre das einzig plausible Szenario, in dem der belarussische Machthaber persönlich einer Teilnahme am Krieg zustimmen würde, der Einzug in Kyjiw als Triumphator auf den Schultern eines überwältigenden Sieges der russischen Truppen. Sozusagen, um rechtzeitig seinen Teil des Kuchens abzubekommen. Aber diese Fantasien wurden schon in den ersten Tagen des Krieges zerstört. Und nichts spricht dafür, dass sie jemals Realität werden könnten. 
     

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    FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

  • Gefangenenaustausch: „Belarus wird dem Kreml zum Fraß überlassen“

    Gefangenenaustausch: „Belarus wird dem Kreml zum Fraß überlassen“

    Am gestrigen Donnerstag kam es zu einem großangelegten Gefangenenaustausch zwischen Russland, den USA, Deutschland und anderen Ländern. Insgesamt 24 Personen wurden dabei aus der Haft entlassen und in andere Länder überstellt, darunter die bekannten russischen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa, sowie der US-amerikanische Journalist Evan Gershkovich. Der sogenannte „Tiergartenmörder“ Wadim Krassikow wurde bei seiner Ankunft in Russland von Wladimir Putin persönlich in Empfang genommen. Aus belarussischer Haft wurde der Deutsche Rico Krieger entlassen, der ursprünglich zum Tode verurteilt und Anfang der Woche von Alexander Lukaschenko begnadigt worden war.  

    In Belarus gibt es fast 1400 politische Häftlinge, keiner wurde bei dem Austausch berücksichtigt. Die Enttäuschung bei der belarussischen Opposition ist groß. Warum spielte sie bei der Aktion keine Rolle? Und welche Signale sendet diese Nicht-Berücksichtigung? Dazu zwei Stimmen aus belarussischen Medien. 

    Bei dem großangelegten Gefangenenaustausch zwischen Russland, den USA, Deutschland und Belarus wurden belarussische Häftlinge, wie die Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa, nicht berücksichtigt / Foto © Viktor Tolochko/SNA/Imago

    „Der Westen betrachtet Belarus faktisch als russische Provinz“

    In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk äußert der Journalist Alexander Klaskowski die Vermutung, dass Lukaschenko nicht mehr als eigenständig agierender Staatschef wahrgenommen wird. 

    [bilingbox]Ganz offensichtlich schätzt der Westen – in diesem Fall vertreten durch Deutschland – die politische Eigenständigkeit von Alexander Lukaschenko äußerst gering ein. Einerseits könnten sich seine erbitterten Gegner darüber freuen: Seht her, mit dem Diktator will niemand reden. Andererseits wird mehr und mehr deutlich, dass der Westen Belarus mittlerweile faktisch als russische Provinz betrachtet und vorerst keine Möglichkeit sieht, das Land aus den Fängen des Imperiums zu befreien. Mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Gewiss: EU-Politiker unterstützen weiterhin eine europäische Perspektive von Belarus. Aber de facto schließen sie den eisernen Vorhang und überlassen das Land dem Kreml zum Fraß.~~~Oчевидно, что и Запад — в этом случае прежде всего в лице Германии — крайне низко оценивает политическую субъектность Лукашенко. 
     
    С одной стороны, его яростные противники могут порадоваться: вот, с диктатором не хотят разговаривать. С другой стороны, становится все яснее, что Запад фактически стал считать Беларусь российской провинцией, не видит возможности на нынешнем этапе вырвать страну из лап империи. Со всеми вытекающими последствиями. 
     
    Да, европейские чиновники продолжают риторически поддерживать европейскую перспективу Беларуси, но де-факто опускают железный занавес, отдают ее на съедение Кремлю. [/bilingbox]

    erschienen am 1. August 2024, Original 

    „Kolesnikowa wäre eine würdige Kandidatin für einen Austausch gewesen“

    Belarus sei für die verhandelnden Parteien nicht „gewinnbringend“ genug, sagt der Politanalyst und Ex-Diplomat Pawel Sljunkin in einem Interview mit dem Online-Medium Zerkalo

    [bilingbox]Sogar unter rein symbolischen Gesichtspunkten wäre es wichtig gewesen, zumindest einen belarussischen Bürger in den Austausch einzubeziehen. Dies zeigt, dass die westlichen Länder Russland für wichtiger erachten als Belarus. Das höchste der Gefühle, was die europäischen Länder [gegenüber den belarussischen politischen Gefangenen] tun können, ist, ihre Solidarität zu bekunden. In diesem zynischen Sinne waren die belarussischen politischen Gefangenen für den Westen im Gegensatz zu Krieger wahrscheinlich nicht „gewinnbringend“ genug. Die Tatsache, dass der Austausch nicht einmal symbolisch Belarussen umfasste, spricht Bände. Maria Kolesnikowa etwa hat lange Zeit in Deutschland gelebt und kehrte 2020 nach Belarus zurück, um sich an der Demokratiebewegung zu beteiligen. Auch sie wäre doch eine würdige Kandidatin für einen Austausch gewesen. Wie es scheint, hat Deutschland aber nicht versucht, sie auszutauschen. ~~~Даже с символической точки зрения было бы важно попробовать включить в обмен хотя бы одного гражданина Беларуси, — отметил он. — Это говорит о том, что западные страны воспринимают Россию как более приоритетную страну, чем Беларусь. И максимум, что могут делать европейские страны [по отношению к беларусским политическим заключенным], — это выражать солидарность. Наверное, в этом циничном смысле беларусские политзаключенные были для Запада недостаточно «выгодны», в отличие от Кригера. Тот факт, что в обмен не включили ни одного беларуса, хотя бы символически, говорит о многом. Та же Мария Колесникова долгое время прожила в Германии и вернулась в Беларусь в 2020 году, чтобы поучаствовать в демократическом движении. Она тоже была бы достойным кандидатом на обмен — но, видимо, [Германия] не стала [пытаться ее обменять][/bilingbox]

    erschienen am 2. August 2024, Original 

     

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  • Was haben die Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition gebracht?

    Was haben die Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition gebracht?

    Bei den Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition, die vom 25. bis 27. Mai 2024 stattfanden, erhielt die Liste von Pawel Latuschko und der Bewegung Sa swabodu mit Abstand die meisten Stimmen. Sie wird mit 28 Abgeordneten im neuen Koordinationsrat vertreten sein. Allerdings nahmen nur 6723 Belarussen an der Abstimmung teil. 

    Welchen Sinn macht eine Wahl, wenn in Belarus selbst massive Repressionen herrschen und Hunderttausende Belarussen im Exil mit den zahlreichen Herausforderungen der neuen Heimat kämpfen? Welche Legitimität kann ein Proto-Parlament haben, wenn es insgesamt zu wenige Belarussen repräsentiert? Ist es aber nicht doch ein erstaunlicher Prozess, wenn eine verfolgte Opposition versucht, unter schwierigen Bedingungen einen demokratischen Prozess voranzutreiben? All diese Fragen werden in den belarussischen Medien und auf digitalen Plattformen diskutiert und erörtert. Wir haben einige Stimmen aus dieser Debatte zusammengestellt. 

    Pozirk: „Nicht an der harten Realität zerbrechen” 

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski fragt sich, was die belarussische Opposition tun kann, um nicht noch mehr Boden in der belarussischen Gesellschaft zu verlieren. 

    [bilingbox]Die Frage ist auch, wie die westlichen Demokratien das Ergebnis der Abstimmung bewerten und wie sie dementsprechend mit dem neuen Koordinationsrat umgehen werden. 

    Die Politiker selbst sollten sich Gedanken machen, wie gut ihre Slogans ziehen und bei den Belarussen ankommen. Was sollten sie an ihren Programmen und Strategien ändern, um nicht endgültig an der harten Realität zu zerbrechen? Eine der spannendsten Fragen ist, wie sich der Koordinationsrat jetzt dem Team von Tichanowskaja gegenüber verhält. Viele Kommentatoren sahen in diesem Wahlkampf den Wunsch einiger politischer Akteure, ihre eigenen Positionen zu stärken, um Tichanowskaja und ihre Leute zu verdrängen und die Rollen auf dem Olymp der Opposition neu zu verteilen.~~~Отдельный вопрос — как оценят итоги голосования и, соответственно, как станут относиться к новому составу КС западные партнеры демократических сил. Самим политикам важно задуматься, насколько их лозунги катят, находят отклик у белорусов. Что стоит изменить в программах и стратегиях, чтобы окончательно не оторваться от суровой реальности. 
    Одна из интриг заключается в том, как поведет себя КС в отношении команды Тихановской. Многие комментаторы видели за этой кампанией желание некоторых политических игроков укрепить свои позиции, чтобы потеснить Тихановскую и ее людей, перераспределить роли на оппозиционном Олимпе.[/bilingbox]

    erschienen am 28. Mai 2024, Original

    Zerkalo: „Der Sinn der Wahlen konnte nicht vermittelt werden” 

    Der Politanalyst Artyom Shraibman ist sich sicher, dass es der Opposition nicht gelungen ist, die Bedeutung der Wahlen zu vermitteln. 

    [bilingbox]Es ist nicht gelungen, den Sinn der Wahlen zum Koordinationsrat deutlich zu machen: nicht nur der Mehrheit der Belarussen, sondern auch bedeutenden Initiativen aus Opposition und Zivilgesellschaft. Es ist bezeichnend, dass bei der Wahl viele nicht angetreten sind, die die für Belarussen wohl die greifbarste und sichtbarste Arbeit machen: Menschenrechts- und humanitäre Organisationen wie BYSOL, die Gruppierung ehemaliger Silowiki BELPOL, die regelmäßig spektakuläre Recherchen zu Fällen von Korruption und der Umgehung von Sanktionen veröffentlicht, oder die Cyberpartisanen, die es immer wieder fertigbringen, erfolgreiche Cyberattacken durchzuführen. All diese Gruppen haben nicht die Zeit gefunden oder den Sinn darin gesehen, sich an der Wahlkampagne zu beteiligen.~~~Смысл выборов в КС не удалось объяснить не только большинству беларусов, но и некоторым значимым оппозиционным и гражданским инициативам. Показательно отсутствие на выборах нескольких структур, которые занимаются, возможно, наиболее осязаемой и заметной для беларусов работой: правозащитных и гуманитарных организаций вроде BYSOL, группы экс-силовиков BELPOL, регулярно публикующей эффектные расследования случаев коррупции и обхода санкций, или «Киберпартизан», которые все еще умудряются проворачивать успешные кибератаки. Все эти группы не нашли времени или смысла участвовать в кампании.[/bilingbox]

    erschienen am 28. Mai 2024, Original

    Nasha Niva: „Es ist nicht die Zeit für Machtkämpfe” 

    Unter Bedingungen von Repression und Verfolgung Wahlen durchzuführen, mache wenig Sinn, meint der Journalist Mikola Bugai. 

    [bilingbox]Diese Wahlen können letztlich eine positive Rolle spielen, wenn sie auch erstmal ernüchtern. Wenn sie sogar denen, die es vorher nicht begriffen haben, zeigen, dass jetzt nicht die Zeit ist, um innerhalb der Opposition Machtkämpfe auszutragen, und nicht nur nicht innerhalb der Opposition: In der gegenwärtigen geopolitischen Lage ist auch ein Machtwechsel in Belarus unmöglich. Wer denkt schon an Minsk, wenn sich der Westen noch nicht mal zur Befreiung von Melitopol entschließen kann. Jetzt ist es nicht an der Zeit, sichtbare Strukturen aufzubauen. Jetzt ist es an der Zeit, alles Stille, Nicht Öffentliche und Nicht Sichtbare zu stärken und zu mehren, das dazu beiträgt, dass Belarus belarussisch und die Belarussen Belarussen bleiben, dass sie leben und arbeiten können. Die Zeiten ändern sich, und die Politik sollte sich mit ihnen verändern.~~~Но эти выборы могут сыграть и позитивную роль, если они отрезвят. Если они покажут даже тем, кто этого раньше не понимал, что сейчас не время бороться за власть внутри оппозиции, да и не только внутри оппозиции: в сложившейся геополитической ситуации и смена власти в Беларуси невозможна. Какой Минск, если Запад не может решиться на освобождение Мелитополя. Сейчас совсем не время строить видимые структуры. Сейчас самое время, чтобы тихо приумножать любые негромкие, непубличные, непофасные дела, которые помогают Беларуси оставаться белорусской, а белорусам — оставаться белорусами, жить и работать. Времена меняются, и политика тоже должна меняться вместе с ними.[/bilingbox]

    erschienen am 27. Mai 2024, Original

    Reform: „Angst hat die Belarussen von der Wahl abgehalten” 

    Der Journalist Igor Lenkewitsch führt die geringe Wahlbeteiligung vor allem auf den Terror zurück, mit dem das System Lukaschenko gegen die eigene Bevölkerung vorgeht. 

    [bilingbox]Man kann sich zu Tode ärgern, wie schrecklich alles ist. Aber das wird kaum etwas an der Lage ändern. Genauso wenig wird auch der Terror nachlassen, mit dem das Regime gegen die Belarussen wütet. Viel wichtiger ist es, zu verstehen, wie man unter den gegebenen Umständen handeln soll. Wenn Massenkampagnen wegen der Angst derzeit nicht möglich sind, sollte man sich auf Bereiche konzentrieren, für die es keine große Teilnahme von Menschen braucht. Die negativen Erfahrungen dieser Wahlen muss man sich genau anschauen. Und es wäre der größte Fehler zu glauben, dass die Angst, die sich in der Gesellschaft eingenistet hat, schnell und einfach überwunden werden kann.~~~Можно убиваться по поводу того, насколько все ужасно. Но от этого положение дел вряд ли изменится. Равно как не ослабнет террор, который режим обрушил на беларусов. Гораздо важнее понять, как действовать в сложившейся обстановке. И если фактор страха не дает возможностей проводить массовые кампании, сфокусировать внимание на тех направлениях, которые не требуют вовлечения в процесс значительного количества людей. Негативный опыт этой кампании необходимо осмыслить. И самой большой ошибкой было бы считать, что поселившийся в обществе страх удастся быстро и легко переломить.[/bilingbox]

    erschienen am 28. Mai 2024, Original

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  • Debattenschau № 91: Jelzin, die Oligarchen und die Sünden der 1990er

    Debattenschau № 91: Jelzin, die Oligarchen und die Sünden der 1990er

    Mit einer Serie einstündiger Videos haben Mitstreiter Alexej Nawalnys vom Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) eine heftige Debatte über das Erbe der 1990er Jahre in Russland ausgelöst. Im Kern geht es um die Frage, wann die Weichen für den Weg in Richtung Korruption, Manipulation und Autoritarismus gestellt wurden und wer die Schuld dafür trägt, dass sich Russland nach dem Ende der Sowjetunion nicht zu einem demokratischen Rechtsstaat entwickelte. In seinem letzten programmatischen Aufsatz aus dem Straflager hatte Nawalny im August 2023 voller Wut Boris Jelzin, seine Familie und die Oligarchen der frühen Jahre dafür verantwortlich gemacht, dass Selbstbereicherung und Machterhalt über demokratische Prinzipien triumphierten. In den Videos sitzt nun Maria Pewtschich – die Direktorin von Nawalnys Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) – in einer Wohnung, die mit Möbeln und Accessoires der 1990er eingerichtet ist – und kommentiert Filmausschnitte und Dokumente.

    Die Debatte um die Fehler der 1990er Jahre ist nicht neu. Aber sie wird vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse immer wieder neu geführt. Diesmal mit großer Heftigkeit. Denn es geht auch um die Verwicklung heutiger Regimegegner, die damals zu Jelzins Netzwerk aus Macht und Geld gehörten und im Gefängnis landeten oder ins Exil gingen, wie etwa Michail Chodorkowski. Während die einen sagen, es sei wichtig, die Fehler der Vergangenheit zu benennen, um sie nicht zu wiederholen, bemängeln andere, angesichts des Krieges gegen die Ukraine sei jetzt nicht die Zeit für Streit. Stattdessen müsse die Opposition geeint auf ein Ende des Krieges und des Regimes hinarbeiten. 

    Was bedeutete Demokratie im postsowjetischen Russland?

    Der Politikwissenschaftler Wladimir Gelman vertritt die Ansicht, dass nie der Weg zu einer echten Demokratisierung eingeschlagen wurde:

    [bilingbox]Die Debatte über die 1990er Jahre in Russland läuft […] letztlich auf die Frage nach den Anfängen des derzeitigen politischen Regimes hinaus: War das Land in den 1990er Jahren auf dem Weg zur Demokratie, und dann kam Putin und ruinierte alles? Oder war nach dem Zusammenbruch der Kommunistischen Partei nie von einer Demokratisierung auch nur die Rede? 
    In meinem Buch Awtoritarnaja Rossija (dt. Das autoritäre Russland) wird die zweite Sichtweise ausführlich dargestellt. Demzufolge lässt sich der politische Prozess im postkommunistischen Russland zusammenfassen mit einem Satz von Anatoli Sobtschak: „Jetzt sind wir an der Macht – und das ist Demokratie“.~~~Спор о 1990-х годах в России, […] в конечном итоге сводится к вопросу об истоках нынешнего политического режима. Действительно ли (1) в 1990-е страна двигалась к демократии, а потом пришел Путин и все испортил или же (2) изначально после краха КПСС ни о какой демократизации не было и речи. В моей книге «Авторитарная Россия» довольно подробно представлена вторая точка зрения. Предельно огрубляя, политический процесс в посткоммунистической России, согласно этой точке зрения, можно суммировать фразой Собчака на с.7 книги – «мы теперь у власти – это и есть демократия».[/bilingbox]

    erschienen am 17.04.2024, Original

    Jelzins Regierungszeit war bestimmt vom Kampf gegen die Geister der Vergangenheit

    Der Journalist Sergej Parchomenko vermisst in Pewtschichs Videos die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe, vor denen sich die Ereignisse abspielten:

    [bilingbox]Die ganze Geschichte mit Jelzin und seiner Regierungszeit begann nicht im luftleeren Raum, sondern knüpfte unmittelbar an eine jahrzehntelange Odyssee: Sowjetmacht, kommunistische Diktatur, eine durch diese Diktatur verunstaltete und gequälte sowjetische Gesellschaft, eine absurde politische Maschinerie ohne funktionierende staatliche Institutionen und eine von sozialistischer Idiotie erdrückte Wirtschaft, die in keinem Bereich funktionsfähig war. Das Ganze hat sich bis zur letzten Minute im Kampf genau dagegen entwickelt und war der Logik dieses Kampfes untergeordnet. Nein, nicht bis zur letzten Minute: Fairerweise müssen wir festhalten, dass es eine späte Periode der Schande gab, als Jelzin die Macht bereits völlig aus den Händen geglitten war und er sie einer Gruppe übergeben hatte, die nur getrieben war von Angst um ihre eigene Zukunft, von dem alleinigen Wunsch, wohlhabend aus der Herrschaft hervorzugehen und ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten.

    All diese Grundlagen sind in dem Film Verräter zu sehen. Nicht als Begleitumstände, sondern eben als tragende Grundlage. Doch die Autoren und die Erzählerin schauen das an und merken irgendwie nichts. Ringsum verschwommene Gesichter und Menschen unklarer Herkunft.

    Wer sind die alle?

    Das sind die, denen die russische (5 Minuten zuvor noch sowjetische) Wirtschaft in dem Moment gehörte, als Abramowitsch und Beresowski und Jelzins ganze Mannschaft auf der Bildfläche erschienen. Sie sind die Verkörperung des sowjetischen Systems, ja, die personifizierte sowjetische Macht. Sie verschwanden nicht, sie lösten sich nicht auf, sondern sie wehrten sich vehement gegen jede Veränderung, forderten ihren Löwenanteil und gaben ihre Positionen nur in einem erbitterten Kampf auf.

    Heutzutage wären solche Verweise auf das „sowjetische Erbe“ und die „verfluchten 90er Jahre“ die reinste Lüge und zynische Heuchelei: Denn von der UdSSR trennen uns 35 und von der „Phase der ursprünglichen Akkumulation“ der 1990er immerhin 30 Jahre.

    Jelzins Periode folgte unmittelbar auf die sowjetische, ohne Pause, dauerte weniger als ein Jahrzehnt und wurde zu einer einzigen Preiskatastrophe mit einem Ölpreis von acht bis zehn Dollar pro Barrel und einem Bezwingen der volkswirtschaftliche Katastrophe.

    Die Gesellschaft forderte eine Befreiung, eine Überwindung der sowjetischen Vergangenheit. Sie forderte kein Verbot der KPdSU, keine Lustration. Die Menschen forderten Reformen, die ihnen Hoffnung auf mehr Konsum gaben: Sie wollten Lebensmittel, Kleidung, Wohnungen, Autos, Geschirrspülmaschinen, Urlaubsreisen, Bücher und Filme, Waschmittel, ohne dafür anstehen zu müssen, sauberes Wasser in Flaschen und frisches Bier aus dem Zapfhahn. Und sie waren bereit, für diesen Konsum – oder zumindest die vage Hoffnung auf diesen Konsum – auf Vieles zu verzichten. Darunter auch auf ihre Wertpapiere, was die Aufgabe des Traums bedeutet, Gazprom-Aktionär zu werden.

    Unter diesen Umständen – in dieser sozialen und gesellschaftlichen Atmosphäre – geschah all das, was in dem Film des Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) beschrieben ist, plus enorm viel mehr, was dort nicht beschrieben ist. Dem keine Beachtung zu schenken, wäre dumm. So zu tun, als sei das „nicht wichtig“, wäre unlauter. 

    Ich glaube, dass jetzt gerade der falsche Zeitpunkt für solche Debatten ist, und ausgerechnet heute hilft wütendes Streiten darüber, wer schuld daran war, was vor 35 und 25 Jahren geschah, nicht dabei, das Böse, mit dem wir es aktuell zu tun haben, zu bezwingen: Mit Putins Aggression gegen die zivilisierte Welt und der Bereitschaft dieses Diktators, Millionen Leben zu opfern, um selbst an der Macht zu bleiben.~~~Вся история Ельцина и его правления началась не на пустом месте, а отталкивалась от многодесятилетней эпопеи советской власти, коммунистической диктатуры, изуродованного и измученного этой диктатурой советского общества, нелепой политической машины, лишенной нормально действующих институтов государства, и раздавленной социалистическим идиотизмом экономики, не способной действовать ни на одном своем участке. И вся – до последне минуты – в борьбе с этим и развивалась, и логике этой борьбы была подчинена. Впрочем, нет, не до последней: справедливости ради, надо все время оговариваться, чтоб был там поздний, позорный период, когда Ельцин уже совсем упустил власть из своих рук, и отдал ее группе людей, которыми двигал только страх за свое будущее, только желание благополучно “выскочить” из власти и обеспечить лично себе безопасность.

    Вся эта основа – именно не фон, не антураж, а основа, содержательная и решающая, – в фильме ФБК присутствует. Но авторы и рассказчица смотрят на них и как бы не замечают. Какие-то люди с мутными лицами и непроясненным происхождением толпятся вокруг

    Кто они все?

    А это те, кто владели российской (еще пять минут назад советской) экономикой в тот момент, когда на сцене появились и Абрамович, и Березовский, и вся команда Ельцина. Это просто олицетворения, персонализованные воплощения советской власти и советского строя, которые никуда сами не делись, не рассосались, а ожесточенно противостояли любым изменениям, требовали своей львиной доли и первоочередного учета своих интересов, и уступали свои позиции только в свирепой борьбе.

    Это сейчас ссылки на “советское наследие” и на “проклятые девяностые” представляют собой чистейшую ложь и циничное лицемерие: потому что от СССР нас отделяет 35 лет, а от “периода первоначального накопления” 90-х – 30. 

    Ельцинский же период следовал за советским вплотную, без паузы, продолжался меньше десятилетия, и весь пришелся на одну сплошную ценовую катастрофу с нефтью по 8-10 долларов за бочку, и на преодоление хозяйственной разрухи. 

    Общество требовало освобождения от этого, преодоления советского прошлого. Не было никакого общественного запроса на запрет КПСС, например, не было запроса на люстрацию… люди требовали таких реформ, которые обещали им надежду на рост потребления: люди хотели еды, одежды, жилья, автомобилей, посудомоечных машин, поездок в отпуск, книг и фильмов, стирального порошка без очереди, чистой воды в бутылках и непрокисшего пива в разлив. И готовы были за это потребление – или хотя бы за смутную надежду на потребление – многое отдать. В том числе отдать свой ваучер, а с ним и мечту стать акционером Газпрома.

    В этих обстоятельствах – в этой общественной и политической среде – происходило все, что описано в фильме ФБК, а также и колоссальное количество того, что в нем не описано. Не обращать на это внимания – глупо. Делать вид, что это “не важно”, – нечестно.

    Я думаю, что сейчас плохое, неправильное время для этих дебатов, и именно сегодня яростные споры о том, кто виноват в случившемся 35 и 25 лет назад, нам не помогут справиться с главным злом сегодняшнего дня: путинской агрессией против цивилизованного мира и готовностью диктатора пожертвовать миллионами жизней ради того, чтоб остаться у власти.[/bilingbox]

    erschienen am 17.04.2024, Original

    Wie sich echte Politiker von Höflingen unterscheiden 

    Die Psychologin Ljudmila Petranowskaja streicht die Unterschiede zwischen den Akteuren in Jelzins Umfeld und Alexej Nawalny heraus:

    [bilingbox]Folgendes dachte ich bei der kurzweiligen Lektüre der hitzigen Debatte über die 1990er Jahre: Einer der Gründe des gegenseitigen Missverständnisses besteht darin, dass die Akteure der 1990er Jahre und Nawalny (wie wahrscheinlich auch seine Mitstreiter) grundlegend verschieden sind. 

    Erstere waren, wie man es dreht und wendet, Höflinge – Menschikows unter einem schillernden Reformzaren. Sie standen in der Gunst und erhielten Aufträge, fielen in Ungnade, waren in der Verbannung und auf der Flucht – je nachdem, wie das Leben so spielt. Aber im Fokus ihrer Aufmerksamkeit stand immer der Zar (der eine, dann der nächste). Ihr Schicksal hing immer vom Zaren ab, mit seinen Entscheidungen waren ihre Ängste und Hoffnungen verbunden – darunter nicht nur die rein egoistischen, sondern auch die erhabenen, „das Schicksal des Vaterlandes betreffenden“. Politik war in ihren Augen das, was einer mit dem anderen über irgendetwas vereinbart – ob in den Fluren der Macht, in der Banja, in den Büros. Im nächsten Schritt wird das dann als rein polittechnologische Aufgabe umgesetzt: Wie genau soll man die Ergebnisse der Vereinbarungen dem „Volk“ nahebringen? Aber der Gedanke, dass dieses „Volk“ selbst Subjekt des politischen Lebens sein könnte, wird nicht zugelassen – das Volk liebt doch bekanntermaßen die harte Hand und Almosen, ist atomisiert und beeinflussbar. Gott bewahre, dass es etwas entscheiden darf!

    Nawalny dagegen ist ein true politician. Ganz im Ernst. Eine in unseren Breiten noch nie dagewesene Spezies. Der hat sich direkt an die Menschen gewandt – hat hat ihnen nichts vorgespielt, keine von anderen verfassten Reden abgelesen, sondern den direkten Kontakt gesucht, sogar über die Köpfe der Gefängnisaufseher hinweg. Er glaubte wirklich, dass am Ende sie – die Menschen – entscheiden sollen.

    Man kann mit ihm einer Meinung sein oder nicht, ihn lieben oder hassen, aber dass er ein talentierter Politiker war (wie sehr es einem widerstrebt, hier dieses „war“ einzusetzen) – das ist schlicht Fakt.

    Dieser FBK-Film ist keine Recherche im eigentlichen Sinne, kein „Versuch, zu verstehen“, sondern ein direkt an die Menschen gerichtetes politisches Statement. Ob es wirkungsvoll ist oder nicht, wird die Zeit zeigen. Doch das Genre ist klar.

    Was sind die Ziele dieses Statements? 

    Sich von diesen kompromittierten Personen und Entscheidungen abzugrenzen und zu sagen: „So sind wir nicht.“

    Putins Lieblingsargument „Ich habe euch aus den 1990er Jahren gerettet“ und die Schlussfolgerung „Demokratie ist Lüge und Raub“ auszuhebeln.

    Eine Bewegung nach links zu markieren, denn die linke Flanke ist offen und die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit enorm.~~~Первые – это как ни крути, придворные, этакие Меньшиковы при ярком и "с загогулинами" царе-реформаторе. Бывали в фаворе и получали подряды, бывали в опале, в ссылке и в бегах – жизнь разная. Но в фокусе их внимания всегда был собственно царь (один, потом второй). От отношений с царем зависела их участь, с его решениями связывались надежды и страхи – в том числе не чисто эгоистические, а возвышенные, "про судьбы Родины". Политика в их представлении – это кто с кем о чем договорится где-то там, в коридорах, банях, кабинетах. Потом уже решается чисто политтехнологическая задача – как именно результаты договоренностей донести "народу". Но мысли о том, что сам этот "народ" может быть субъектом политической жизни не допускается – народ, как известно, любит твердую руку и подачки, атомизирован и внушаем, боже упаси пустить его решать. 

    А Навальный – он тру политик. Прям вот всерьез . Невиданный в наших краях зверь. Реально обращался к людям – не изображал, не читал написанное спичрайтерами, а прям обращался, даже через головы конвойных. Реально верил, что в конечном итоге им – людям – решать. 
    Можно с ним соглашаться или нет, любить или ненавидеть, но то, что он был (как не хочется вставлять это "был") профпригодным публичным политиком – это просто факт. 
    И фильм ФБК – это не расследование, не "попытка разобраться", а политическое высказывание, обращённое напрямую к людям. Эффективное или нет – время покажет, но жанр очевиден. 
    Какие цели высказывания? 
    Отстроиться от скомпрометированных персон и решений, сообщить "мы не такие".
    Выбить любимый аргумент Путина "я вас спасаю от 90х" и сцепку "демократия – это ложь и грабеж". 
    Обозначить движение влево, потому что левый фланг пуст, а запрос на социальную справедливость огромный. [/bilingbox]

    erschienen am 25.04.2024, Original

    „Dieser Film weckt Wut und Hass“

    Lew Schlosberg, Publizist und Jabloko-Politiker kritisiert die Serie scharf: 

    [bilingbox]Jelzin hatte nicht vor, ein Russland Putins aufzubauen, doch er hat es mit seinen vielen Fehlern herangezüchtet, hat einen historischen Raum geschaffen für eine politische Revanche des imperialen und sowjetischen Systems. 

    Aber eine Aufarbeitung der Chancen, Risiken, Fehler und Verbrechen der 1990er darf nicht zu politischen Repressionen, zur Verunglimpfung politischer Gegner und Feinde führen und nicht zum Entzünden von Rache und Bürgerkrieg anstiften.

    Der Film Verräter beantwortet die Frage „Wer ist schuld?“ auf eine Art und Weise, die nicht Gerechtigkeit durch den Rechtsstaat, sondern durch außergerichtliche Vergeltung nahelegt, wobei die Lenker der Vergeltung sich im Namen der Gesellschaft das Recht auf Gewalt herausnehmen und die Gesellschaft manipulieren, unter anderem durch ihren Schmerz und ihr Leid. Die ist eine unlautere und gefährlich provokative Technik.

    Der Film Verräter fördert keine Gerechtigkeit, sondern Revolution und Umverteilung von Eigentum und Macht durch Gewalt. Dieser Film weckt bei Erniedrigten und Beleidigten Wut und Hass. Er fördert im Land die Atmosphäre von Bürgerkrieg.
    Ich bin sicher, dass das den Autoren des Films sehr wohl bewusst ist.~~~Политически эпоха Владимира Путина выросла из эпохи Бориса Ельцина. Ельцин не планировал построить Россию Путина, но вырастил её своими многочисленными ошибками, создал историческое пространство для политического реванша имперской и советской системы. Политическая ответственность за эти последствия в значительной части лежит на Борисе Ельцине. Идеализировать Ельцина и его эпоху нельзя, хотя это была эпоха невиданного ранее исторического шанса на свободу.
    Но анализ шансов, рисков, ошибок и преступлений 1990-х не должен проводиться в технике политических репрессий, шельмования политических оппонентов и противников, не должен быть разжиганием настроений мести и гражданской войны. 
    Фильм «Предатели» даёт ответ на вопрос «Кто виноват?» в манере, предполагающей не восстановление справедливости через законность, а внесудебные кары, когда вершители возмездия присваивают себе право на насилие от имени общества и манипулируют обществом, в том числе его болью и страданиями. Это нечестная и очень опасная провокативная технология.
    Фильм «Предатели» взывает не к правосудию, а к революции, переделу собственности и власти через насилие. Этот фильм будит в униженных и оскорблённых людях гнев и ненависть. Он формирует в стране атмосферу гражданской войны.
    Уверен, что авторы фильма это хорошо понимают.[/bilingbox]

    erschienen am 22.04.2024, Original

    Dieser Film ist eine Verschwörungserzählung

    Die Medienwissenschaftlerin Xenia Lutschenko sieht in den FBK-Videos Elemente einer Verschwörungs-Erzählung:

    [bilingbox]Maria Pewtschichs Film liefert die endgültige Ausformulierung der Verschwörungerzählung „Komplott der Korruptionäre gegen Russland“. Es gibt da diese Gruppe böswilliger Verschwörer, die mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung und zum eigenen Wohl absichtlich das Leben von Millionen Menschen verschlechtert hat und das auch weiterhin tut und die „uns das Land gestohlen hat“. 

    Die Krieger des Lichts machen Jagd auf die Korruptionäre, doch die sind listig, wohlhabend und lenken im Verborgenen die ganze Welt und das Land entsprechend ihren Interessen. All dies geschieht nicht zufällig, alles ist miteinander verknüpft. Verschwörungsgläubige müssen nicht unbedingt Aluhüte tragen, typisch für sie ist eine bestimmte Art des Denkens. Es gibt Verschwörungserzählungen, die „uns“ gefallen. Also check your biases! ~~~В фильме Марии Певчих окончательно сформулирована конспирологическая теория «Заговор коррупционеров против России»: Существует некая группа злых заговорщиков, которая в целях личного обогащения и собственного блага намеренно ухудшила жизнь миллионов и продолжает это делать, «украла у нас страну». Воины света охотятся на коррупционеров, но те изобретательны, богаты и тайно управляют миром (страной) в своих интересах. Все события неслучайны, явления взаимосвязаны. Конспирология не обязательно в шапочках из фольги, это специфический тип мышления. Бывают теории заговора, которые «нам» нравится. Так что check your biases[/bilingbox]

    erschienen am 21.04.2024, Original

    Boris Jelzin stand am Beginn von billigem Populismus, Familien- und Klanwirtschaft und manipulativer Politik

    Die Demokratie wurde früh verraten, ist der Ökonom und Publizist Wladislaw Inosemzew überzeugt:

    [bilingbox]In den 1990er Jahren bildete und festigte sich ein System persönlicher Loyalitätsbeziehungen, die an die Stelle demokratischer Institutionen trat, die sich nie etablieren konnten. Die Reformen der ersten postsowjetischen Jahre legten die Grundlage für die Marktwirtschaft, wobei ehemaliges Staatseigentum an neue Eigentümer verteilt wurde. In dieser Situation hätte die Rückkehr der Kommunisten an die Macht im Jahr 1996 zu enormen Spannungen zwischen Regierung und Geschäftswelt geführt. Daraus hätte sowohl ein politischer Wettstreit entstehen können als auch eine Rechtsordnung. Doch diejenigen, die die demokratischen Reformen verrieten, zogen persönliche Garantien der Rechtsstaatlichkeit vor, was Russland in eine faschistische Diktatur führte.

    Ich erinnere mich noch lebhaft an den Sommer 1989, als in der UdSSR Millionen von Menschen an den Radioempfängern hingen, um die Debatten auf der ersten Sitzung der Volksdeputierten zu hören. Sie erlebten zum ersten Mal, wie Gesetze diskutiert und verabschiedet wurden, und das einst allmächtige Politbüro war dagegen machtlos. Dann folgten Demonstrationen und Kundgebungen, die Wahlen für die Parlamente der Unionsstaaten 1990 – und die Bereitschaft Michail Gorbatschows, sich den neuen Machthabern und letztlich dem Willen des Volkes zu beugen. 

    Diese Bereitschaft hatte Boris Jelzin nie – er begründete in moderner Zeit die Tradition von billigem Populismus, von Familien- und Klanwirtschaft, von manipulativer Politik und übermächtiger Sorge um geklautes Geld. Der Verrat der Demokratie fand in der Tat Anfang und nicht Ende der 1990er Jahre statt – hier haben die Autoren des Films absolut recht.~~~Именно в 1990-е годы в российской власти стала возникать и укрепляться система отношений личной преданности, заменившая так и не состоявшиеся демократические институты. Реформы первых постсоветских лет создали основы рыночной экономики, во многом распределили бывшую государственную собственность среди новых хозяев — и в такой ситуации возврат коммунистов к власти в 1996 году создал бы необходимое напряжение между властью и бизнесом, из которого смогли бы вырасти и конкурентная политика, и правовой порядок. Но те, кто предал демократические реформы, предпочли личные гарантии власти закона, что и привело Россию к фашистской диктатуре.

    Я прекрасно помню лето 1989 года, когда в СССР миллионы людей приникли к радиоприемникам, слушая дебаты на первом съезде народных депутатов. Они впервые увидели, как обсуждаются и принимаются законы и как всемогущее политбюро бессильно против них. Затем были демонстрации и митинги, выборы 1990 года в парламенты союзных республик — и готовность Михаила Горбачева уступить новым властям, в конечном счете — воле народа.

    Этой готовности никогда не было у Бориса Ельцина, заложившего традиции современных дешевого популизма, семейственности и клановости, манипулятивной политики и непреодолимой заботы о награбленных деньгах. Предательство демократии действительно состоялось в начале, а не конце 1990-х — и тут авторы фильма совершенно правы.[/bilingbox]

    erschienen am 23.04.2024, Original

    Aussprache mit Chance auf Versöhnung

    Der Galerist Marat Gelman war in den 1990er Jahren selbst Politikberater und räumt eine Mitschuld ein:

    [bilingbox]Nach dem FBK-Film sollten andere Journalisten mit jenen sprechen, die noch leben, damit sie ihre Sicht der Dinge darlegen. Die Augenzeugen dieser Ereignisse sollten aus heutiger Perspektive ihre Einschätzung abgeben und nicht schweigen. Ich glaube übrigens nicht, dass dies zu Uneinigkeit in der Opposition führen wird. Im Gegenteil, nach einer Aussprache, kann es zu einer Einigung kommen. Ohne verborgenen Groll. ~~~Я думаю надо историю поднять. И потом, после фильма ФБК, другим журналистам поговорить с теми кто еще жив, и пусть они выскажут свой взгляд на происходящее. Я не знаю, может окажется что Путин не мог не прийти. Я так не считаю, но вдруг. И участники тех событий должны дать оценку из сегодняшнего дня, а не молчать.[/bilingbox]

    erschienen am 17.04.2024, Original

    Der Film ist ein einziges klassisches Ressentiment

    Der Publizist Alexander Morosow lässt kein gutes Haar an der FBK-Produktion

    [bilingbox]In gewisser Hinsicht ist das der beste Beweis, nicht eines „putinschen“, sondern eines „liberalen“ Ressentiments. Das gesamte Narrativ des Films ist ein einziges klassisches Ressentiment: eine Kombination aus Demütigung, dem Erleiden einer Niederlage durch die „Verschwörung der Feinde“, multipliziert mit Heldenpose und moralischer Überlegenheit.~~~В каком-то смысле это лучшее свидетельство не "путинского", а "либерального" ресентимента. Весь нарратив фильма – это просто классический ресентимент: совмещение униженности, переживания поражения из-за "заговора врагов", помноженные на чувство героического превосходства и моральной правоты.[/bilingbox]

    erschienen am 20.04.2024, Original

    Vor dem Hintergrund des autoritären Drifts erscheint die Rolle der 1990er in neuem Licht 

    Durch den Angriff auf andere Oppositionelle könnten Nawalnys Mitstreiter Verbündete verlieren, warnt Ilja Matwejew:

    [bilingbox]Pewtschich hat eindeutig einen Nerv getroffen: Die Ereignisse der 1990er Jahre, die einerseits den Weg für den Putinismus ebneten und andererseits Akteure in den Vordergrund rückten, von denen viele später unter dem Putinismus litten – wie Michail Chodorkowski, der mehr als zehn Jahre im Gefängnis saß. Einerseits wird hier zum ersten Mal laut benannt, dass die Rolle der 1990er Jahre im Angesicht des darauf folgenden autoritären Drifts neu gedacht werden muss, andererseits bleibt bislang unklar, wie die ganze Sache endet. 

    Pewtschich hat es geschafft, sich mit den rechtsliberalen Oppositionellen anzulegen, die sie zum Teil de facto als „Verräter“ bezeichnet hat. Aber kann denn der Fonds für Korruptionsbekämpfung ein Alternativprogramm und einen Aktionsplan anbieten, die einen solch heftigen Bruch rechtfertigen würden? Mit anderen Worten: Der FBK verliert Verbündete – aber kann er weiterhin eine Führungsrolle übernehmen? Auf diese Fragen gibt es bislang keine eindeutigen Antworten, doch die Ideen-Krise sowohl in der Opposition allgemein als auch speziell im FBK dauert an, so dass das Ergebnis möglicherweise nicht erquicklich sein wird – Pewtschichs großtönende Serie wird dann zu einem Sturm im Wasserglas.~~~Певчих явно нажала на больной нерв — события 1990-х годов, которые, с одной стороны, подготовили почву для путинизма, а с другой, выдвинули на первый план действующих лиц, многие из которых впоследствии от путинизма пострадали, как Михаил Ходорковский, отсидевший в тюрьме более 10 лет. С одной стороны, впервые так громко прозвучала реплика, переосмысляющая роль 1990-х годов в последующем авторитарном дрейфе, с другой стороны, пока непонятно, чем закончится история с сериалом. 

    Певчих сумела рассориться с праволиберальными оппозиционерами, часть из которых она фактически назвала «предателями», но сможет ли ФБК предложить альтернативную программу и план действий, которые оправдали бы столь мощный разрыв? Другими словами, ФБК теряет союзников, но сможет ли он оставаться лидером? На эти вопросы пока нельзя дать однозначного ответа, но кризис идей в оппозиции в целом и в ФБК в частности продолжается, так что итог может оказаться неутешительным — громкий сериал Певчих станет бурей в стакане воды.[/bilingbox]

    erschienen am 25.04.2024, Original 

    Die 1990er ohne romantischen Kitsch 

    Der Journalist Farid Bektemirow begrüßt, dass die Opposition die 1990er Jahre nicht länger verklärt:

    [bilingbox]In meinen Augen ist der Film nichts Neues (in dem Sinne, dass die vorgestellten Fakten weitgehend bekannt und sehr grob nachgezeichnet sind). Aber als Ausgangspunkt der nicht enden wollende Debatte über das Russland der 1990er Jahre ist er durchaus geeignet. Immerhin beschreibt er das Verhältnis von Staatmacht und Volk in jenen Jahren ohne die sonst übliche romantische Verklärung der Liberalen. Und ohne diesen nostalgischen Kitsch wirkt die Realität höchst unattraktiv, verachtenswert und – in der Tat – verräterisch.~~~По мне, ролик, конечно, базовый (в смысле факты в нём по большей части общеизвестные и даны широкими мазками), но вполне работающий как точка входа в бесконечную тему российских 90-х с довольно точным описанием отношений власти и народа в те годы, просто лишённым привычного для либералов романтического флёра. А без этого флёра и ностальгии происходившее и правда выглядит крайне неприглядно, подло и – совершенно верно – предательски. [/bilingbox]

    erschienen am 20.04.2024, Original

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    Wladimir Putin gibt der ukrainischen Regierung die Schuld am blutigen Terroranschlag in der Crocus City Hall. Bei einer Videokonferenz mit Regierungsmitgliedern und Leitern der Sicherheitsbehörden sagte er am Montag: „Wer profitiert davon? Diese Übeltat kann bloß ein Glied sein in einer ganzen Kette von Versuchen derer, die seit 2014 mittels des Kiewer Neonazi-Regimes gegen unser Land kämpfen.“ Putin sagt zwar, dass die Täter radikale Islamisten waren, doch die Hintermänner sieht er in Kyjiw und Washington: „Es geht darum, Panik in unserer Gesellschaft zu schüren und gleichzeitig dem eigenen Volk zu zeigen, dass für das Kiewer Regime noch nicht alles verloren ist.“ 

    Auch russische Staatsmedien wiederholen diese These der „ukrainischen Spur“ – ebenfalls ohne dafür Beweise zu präsentieren. Terrorismusforscher wie Peter Neumann vom Londoner King’s College halten eine solche Version für absurd und sehen gewichtige Indizien für eine Urheberschaft der Tat bei der Terrororganisation Islamischer Staat. 

    Auch Ruslan Lewijew hält die These der „ukrainischen Spur“ für unsinnig. Lewijew ist Gründer des unabhängigen Investigativ-Netzwerks Conflict Intelligence Team (CIT), das sich seit 2014 mit seinen Open-Source-Recherchen zu den russischen Kriegseinsätzen in der Ukraine und in Syrien einen Namen gemacht hat. Im Interview mit Republic spricht Lewijew darüber, warum Putin die Warnungen der US-Geheimdienste über einen bevorstehenden Terroranschlag ignoriert hat und warum der Islamische Staat insbesondere seit Russlands Beteiligung im Syrienkrieg durchaus Motive hat, Anschläge in Russland zu verüben. 

    Putin bespricht den Terroranschlag in der Crocus City Hall mit dem Sicherheitsrat der Russischen Föderation / Foto © Imago, Zuma Wire

    Farida Kurbangalejewa, Republic: Putin hat vor wenigen Tagen vor führenden FSB-Generälen erklärt, bei den Warnungen über in Russland geplante Terroranschläge handle es sich um Täuschungsmanöver westlicher Staaten. Haben Sie eine Erklärung für dieses Verhalten? 

    Ruslan Lewijew: Er versucht, jede Nachricht für die Propaganda in Russland zu nutzen. Denn wir befinden uns ja angeblich in einer Art Krieg mit dem Westen, das haben hochrangige Staatsbeamte oft verlautbaren lassen. Und Amerika immer mal mit etwas in Zusammenhang zu bringen, ist für Putin ja ganz nett. In den vielen Jahren beim KGB und dann auf dem höchsten Posten in Russland waren Menschen um ihn versammelt, die ihm das liefern, was er sehen und hören will: Dass die westlichen Geheimdienste listige Taktiken verfolgen. Ich glaube, dass er bereits selbst an die Welt glaubt, die er geschaffen hat, eine absolute Fantasiewelt, die aus seiner Propaganda und seinen Lügen besteht. Das heißt, dass er die Realität nicht so wahrnimmt, wie sie ist.  

    Welche Vorwürfe erhebt der IS-Khorasan (ISPK) gegen Russland? Ich habe mir vor unserem Gespräch eine Auflistung ihrer Terroranschläge angesehen – hauptsächlich fanden die in Afghanistan und Pakistan statt. Warum jetzt plötzlich in Russland? 

    Leider ist das ein Punkt, bei der ein Großteil der russischen Gesellschaft nicht aufgepasst hat. Wir [CIT – dek] analysieren Russlands Vorgehen in Syrien seit 2015. Dabei wurde auch deutlich, wie die russische Gesellschaft, einschließlich der unabhängigen Medien dieses Thema ignoriert haben. 

    Es gab Massen von Bildern, wie russische Flugzeuge Bomben abwarfen, die auf Wohnviertel, Märkte und Krankenhäuser fielen

    Die Russen haben regelmäßig Stellungen von IS-Kämpfern und von Al-Qaida attackiert. Aber vor allem haben sie die Freie Syrische Armee angegriffen. Also die Soldaten, die gegen Bashar al-Assads Regime kämpften. Dabei haben die russischen Soldaten ihre Waffen wahllos eingesetzt. Das ist auch jetzt der Fall, wenn die russische Armee ukrainische Städte bombardiert. Und da die syrischen oppositionellen Gruppen nicht über Luftabwehrsysteme verfügen, konnte sie dort noch freier die Städte überfliegen und Bomben abwerfen.   

    Es gab Massen von Bildern, wie russische Flugzeuge Bomben abwarfen, die auf Wohnviertel, Märkte und Krankenhäuser fielen. Menschen werden in Stücke gerissen und sterben, darunter auch Kinder. Dann kommt der Zivilschutz – die Weißhelme, die in Russland als Unterstützer der Terroristen bezeichnet werden. Sie versuchen, Menschen aus den Trümmern zu retten, und die russische Luftwaffe wirft erneut Bomben auf sie. Auch die Retter kommen ums Leben. 

    Wir haben schon damals gesagt, dass diese Aktionen weitreichende Folgen für Russland haben werden. Dass die Terror-Gruppen anfangs „Tod für Amerika“ skandierten und dazu aufriefen, den imperialistischen Westen und all diese Ungläubigen zu bekämpfen. Aber seitdem die Russische Föderation [in Syrien – dek] eingegriffen hat, hat sich ihr Fokus sofort auf Russland verlagert. Jetzt heißt es „Tod für Russland für das, was es den Muslimen antut“. 

    Die Islamisten werden ihre Propaganda dafür einsetzen, dass mehr Terroranschläge gegen Russland verübt werden

    Die Menschen in Russland haben es damals überhaupt nicht mitbekommen, aber die muslimische Welt hat sich das gut gemerkt und sie wird sich noch über Generationen hinweg daran erinnern. Die Islamisten werden ihre Propaganda dafür einsetzen, dass mehr Terroranschläge gegen Russland und gegen Russen verübt werden. Ich bin mir absolut sicher: Selbst wenn das Putin-Regime in den nächsten Jahren fällt und ein demokratischer Präsident an die Macht kommt – die Terroranschläge in Russland werden trotzdem weitergehen. Weil sich für die Terroristen dadurch nichts ändert. „Es sind doch dieselben Russen, die Muslime bombardiert haben. Und überhaupt: Es sind Ungläubige, also muss man weiterhin Terroranschläge verüben“. Das ist für sie die Hauptsache. 

    Seitdem Putin an der Macht ist, hat es viele Terroranschläge gegeben, besonders viele gab es aber vor 2014. Denn dann begann der Krieg in Syrien, und viele Anhänger des radikalen Islam gingen dorthin, um zu kämpfen. In der Folge wurde es in Russland relativ ruhig. Müssen wir damit rechnen, dass jetzt die Zeiten zurückkommen, in denen es regelmäßig Bombenanschläge gibt? Wie am Flughafen Domodedowo im Jahr 2011 oder in Wolgograd im Jahr 2013? 

    Tatsächlich gab es weiterhin kleinere Terroranschläge: Zum Beispiel 2016, als eine Kinderfrau in Moskau einem Dreijährigen den Kopf abschlug und dann mit dem abgetrennten Kopf durch die Straßen lief und rief: „Das ist für das, was ihr in Syrien tut.“ Im selben Jahr ermordete ein Terrorist den russischen Botschafter in der Türkei: Er schoss ihm in den Rücken und rief ebenfalls, dies sei für das, was Russland in Syrien tue. Es gab weitere Terroranschläge, zum Beispiel in den Regionen des Nordkaukasus, die ebenfalls unbemerkt blieben, weil die Medien ihre Schwerpunkte anderswo legten.  

    Es sieht tatsächlich so aus, als käme die Zeit vor zehn Jahren zurück

    Aber grundsätzlich stimme ich Ihnen zu. Offensichtlich haben viele Menschen, die sich zu radikalen Strömungen des Islam bekennen, versucht, nach Syrien zu gehen, weil in diesem Krieg die wichtigste Schlacht geschlagen wurde. Vor diesem Hintergrund ging die Zahl großer Terroranschläge in Russland zurück. Und jetzt sieht es tatsächlich so aus, als käme die Zeit vor zehn Jahren zurück. 

    Tatsächlich ist Russland hier kein Sonderfall. Erst vor ein oder zwei Monaten sollen Anschläge in Deutschland vereitelt worden sein. Das zeigt, dass Terroristen jetzt auf der ganzen Welt aktiv sind. Aber natürlich haben sie Russland ganz besonders im Visier.  

    Umso mehr als der IS-Ableger Khorasan vor allem in Afghanistan aktiv ist. Dort tritt er als erbitterter Gegner der herrschenden Taliban auf. Deren wichtigster Verbündeter wiederum ist Russland. Das Problem ist, dass die Taliban ebenfalls ein repressives Regime errichtet haben. Viele Kämpfer der Taliban und von Al-Qaida laufen zum Khorasan über, weil sie der Ansicht sind, dass die Taliban die Scharia falsch auslegen. In der Folge planen sie dann neue Terroranschläge gegen Russland. 

    Welche Folgen wird dieser Anschlag haben? 

    Zunächst wird es natürlich Druck auf die Migranten [in Russland] geben: Razzien in ihren Unterkünften, Kontrollen in der Metro und im öffentlichen Nahverkehr. Vielleicht werden sie auch an der Grenze strenger kontrolliert. Und natürlich werden die repressiven Gesetze jetzt verschärft umgesetzt: Überwachung, Kontrolle von Medien und Messengern. Das sind die Maßnahmen, mit denen man jetzt zuerst rechnen muss. 

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    Der Terror ist zurück in Russland: Am Abend des 22. März 2024 dringen bewaffnete Männer in den Konzertsaal Crocus City Hall am Stadtrand von Moskau und töten mindestens 137 Menschen. Es ist das blutigste Attentat seit den Terrorattacken der 2000er Jahre wie etwa den Geiselnahmen im Dubrowka-Theater 2002 oder in der Schule von Beslan 2004

    Zu der Tat hat sich die Terrororganisation Islamischer Staat bekannt. Gleichzeitig deuten Kreml und Staatsmedien auf eine angebliche Spur in die Ukraine, jedoch ohne dafür Beweise zu liefern. In russischsprachigen Sozialen Medien spekulieren außerdem viele User, ob nicht sogar der Inlandsgeheimdienst FSB dahinter steckt, und sehen eine Parallele zu den Explosionen von Wohnhäusern 1999

    Am Sonntag, zwei Tage nach dem Anschlag, wurden vier der mutmaßlichen Täter dem Moskauer Basmanny-Gericht vorgeführt. Alle trugen offensichtliche Spuren von Misshandlung und Folter: Blutergüsse, Schürfwunden, eine geschwollene Wange, einer der Beschuldigten wurde gar im Rollstuhl in den Gerichtssaal gebracht, ein anderer hat einen Verband über dem Ohr. Zuvor kursierten auf Telegram Aufnahmen, wonach einem der mutmaßlichen Täter bei einem Verhör ein Ohr abgeschnitten und ihm in den Mund geschoben wurde. Eine andere Aufnahme soll einen Beschuldigten zeigen, der mit heruntergelassener Hose auf dem Boden liegt und mit Strom an den Genitalien gefoltert wird. Von einem CNN-Journalisten auf die Folterspuren der Beschuldigten angesprochen, sagte Kremlsprecher Dimitri Peskow: „Ich lasse diese Frage unbeantwortet.“

    Was so eine zur Schau gestellte Brutalität bedeutet und was sie über den russischen Staat verrät, fragt der Politologe Kirill Rogow in einem Kurzkommentar auf Facebook. Kirill Rogow ist Direktor des Portals Re:Russia und Gastwissenschaftler am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.

    Einer der Beschuldigten wurde dem Haftrichter am Sonntag im Rollstuhl und mit sichtbaren Blessuren vorgeführt / Foto © Imago, SNA

    Zu den verbreiteten Mythen über Putin gehört, dass er Judo betrieb und dort eine Technik gelernt habe, bei der man den Angriff des Gegners dazu nutzt, die Energie seines Angriffs gegen ihn anzuwenden. Dieser Quatsch wurde hunderte Male wiederholt. Trotzdem bin ich der Meinung, dass da wenig Wahres dran ist. Dabei hat Putin wirklich eine ganz spezielle Art, auf Krisen zu reagieren, das ist tatsächlich sein Markenzeichen. Und das ist es wert, dass man sich das mal genauer anschaut. 
     
    Die Technik besteht in Folgendem: Wenn eine Krise deine Schwäche aufdeckt, muss die Wut des Vergeltungsschlags auf den losgelassen werden, der sich in Reichweite befindet. Das ist in der Regel nicht der, der für deine Schwäche verantwortlich ist. Doch das spielt keine Rolle. Denn vor allem die Heftigkeit und Wirksamkeit des Schlages sollen den Eindruck deiner Schwäche aufheben, der durch die zuvor erlittene Niederlage entstanden ist. Das ist der Sinn dieser Technik. 

    Die Wucht des Vergeltungsschlags soll nicht den Gegner beeindrucken, sondern den Zuschauer

    Wenn du einen Schlag einstecken musstest, schlage einfach den, dem du in diesem Moment eine verpassen kannst. Und werde wieder Sieger. Dass der Zorn in die völlig falsche Richtung losgeht, ist egal. Die Leute merken das nicht. Sie werden dich als Gewinner sehen und nicht als Verlierer. Das bedeutet: Die Wucht des Vergeltungsschlags soll nicht den Gegner beeindrucken und erschrecken, sondern den Zuschauer. 
     
    So auch nach dem Geiseldrama im Moskauer Dubrowka-Theater und der gescheiterten Befreiungsoperation, bei der durch die Inkompetenz der Sicherheitskräfte viele Kinder ums Leben kamen. Putin ging damals plötzlich auf die Leitung des Senders NTW los und beschuldigte sie, die Befreiungsaktion gestört zu haben. Dasselbe geschah nach dem Terroranschlag in Beslan, bei dem mehr als 330 Menschen ums Leben kamen und Putin daraufhin die Gouverneurswahlen in Russland abschaffte. 
     
    Wir werden noch erfahren, wer zur Vergeltung ins Visier genommen wird nach der Demütigung Putins, der gewarnt wurde und den Schlag trotzdem nicht abgewehrt hat. Teilweise ist die Logik des Vergeltungsschlags jedoch bereits jetzt erkennbar. 

    Putins hauptsächliche Reaktion sind tägliche Episoden von öffentlichem Sadismus 

    Putins hauptsächliche Reaktion auf diesen schrecklichen Terroranschlag sind sich Tag für Tag wiederholende Episoden von öffentlichem Sadismus gegenüber denjenigen, die als Verdächtige im Zusammenhang mit dem Terroranschlag festgenommen wurden. Im Prinzip stammt die gesamte Bildsprache dieser Episoden von den islamistischen Terroristen selbst – das Aufschlitzen von Kehlen und Enthauptungen vor laufender Kamera, die Zurschaustellung von Menschen, die bis an die Grenzen des Erträglichen gefoltert werden. All dies hat die doppelte Funktion, den Terror so darzustellen, wie er ist: als Mechanismus der Einschüchterung, und die Schaffung der Geschlossenheit im Hass. Die von der Präsidialadministration angeregte Errichtung von „spontanen Gedenkorten“ in russischen Städten (wie nach der Ermordung Nawalnys), ergänzt nur das Programm des kollektiven Hasses. Der Terror ist eine Manifestation des Hasses. Terror und Hass bilden das Gegenstück zum Gesetz, sie heben es auf, indem sie etwas über das Gesetz stellen.  
     
    Dieser öffentliche Terror wendet sich gleichermaßen gegen sein Objekt [die Terroristen – dek], wie auch gegen diejenigen, die die Unumstößlichkeit des offiziellen Narrativs in Zweifel ziehen. Der Terror richtet sich gegen die russischen Bürger, weil er den Hass als Antwort normal werden lässt. Auch auf ihre Fragen und ihr Nichteinverständnis. Auch in Bezug auf den Terroranschlag.  

    Denn nach allem, was wir in den letzten Tagen erfahren haben, befremdet Folgendes am meisten: Wenn ihr diese Leute schon so schnell gefasst habt und die so naiv und ungeschickt waren, um richtig vom Tatort zu fliehen – wie kommt es dann, dass ihr den Terroranschlag nicht verhindern konntet? Es liegt doch auf der Hand, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Aber die Bilder vom demonstrativen Sadismus sind dazu da, diese Frage emotional zu verwischen.  

    Und ihr sprecht von Judo. Ich verstehe nicht, was das mit Judo zu tun hat. 

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  • „Wir wissen, dass sich alles ändert“

    Nach einer Präsidentschaftswahl mit handverlesenen Gegenkandidaten hat die russische Wahlkommission dem 71-jährigen Wladimir Putin am Sonntagabend ein Ergebnis von mehr als 87 Prozent zugeschrieben. Die unabhängige Wahlbeobachtungs-Organisation Golos hat diesmal nicht nur Manipulationen bisher nie dagewesenen Ausmaßes festgestellt, sondern auch unmittelbaren Zwang von Polizei und Geheimdiensten gegen Wählerinnen und Wähler. Wozu der ganze Aufwand, wenn eh niemand dem Kreml glaubt? Die Redaktion von Republic hat mit Maxim Trudoljubow vom Kennan Institute darüber gesprochen, was Putin mit der Wahl bezweckt und welche Aussichten eine demokratische Opposition in Russland noch hat. 

    Eine große Leuchtreklametafel in Moskau verkündet am Sonntagabend ein Rekordergebnis für Wladimir Putin in einem Rennen ohne echte Konkurrenz / Foto © Imago, Alexander Zemlianichenko 

    Jewgeni Senschin/Republic: Wie beurteilen Sie die aktuelle politische Lage in Russland? 

    Maxim Trudoljubow: Putin hat keinen langen Krieg geplant, doch im Endeffekt ist der lange Krieg zum Kernstück geworden, nach dem er sein ganzes Regime ausrichtet und um das herum er die Gesellschaft konsolidiert, so sieht er es. 

    Meiner Ansicht nach sollte die Abstimmung dazu führen, den Krieg von maximal vielen Menschen absegnen zu lassen und im Nachhinein die Unterschrift von Millionen Bürgern Russlands für Entscheidungen zu bekommen, die er vor langer Zeit im Alleingang getroffen hat

    Natürlich sind sich Putin und seine Kumpane der Kontroverse bewusst: Ist es Putins Krieg oder der Krieg von ganz Russland? Und sie wissen auch, dass er im Westen von Anfang an als Putins Krieg galt. Doch Putin möchte das korrigieren, damit alle die Verantwortung dafür tragen. Einige Tage vor dem Einmarsch hatte er den Sicherheitsrat um sich versammelt, am ersten Kriegstag hat er führende Geschäftsleute zusammengerufen, dann traf er sich noch mit anderen Gruppen vor laufender Kamera. Und so sammelte er Zustimmung für den Krieg. Und jetzt möchte er die Zustimmung des Großteils der Bevölkerung. Also ist die Abstimmung eine Abstimmung für den Krieg, damit Putin sagen kann: „Das ist nicht nur mein Krieg, das ist der Krieg von ganz Russland.“ Er will alle ins Boot holen. 
     
    Für den Westen ist das ein schlechtes Signal. Sie schauen auf die Ergebnisse dieser „Wahlen“: 80 Prozent für Putin, also 80 Prozent für den Krieg. Also haben wir alles richtig gemacht, als wir mit unseren Sanktionen nicht nur das Putinsche Establishment beschränkt haben, sondern alle Bürger Russlands. Bei weitem nicht alle wollen tiefer in die Materie des russischen Lebens eindringen und verstehen, was diese Ergebnisse wirklich bedeuten. 
     
    Wie schätzen sie die Chancen der Opposition nach dem Tod Nawalnys ein? Es gibt da sehr konträre Meinungen. Durch den Tod werde die Opposition böser, radikaler, entschlossener und so weiter. Die Rockgruppe Nogu svelo hat sogar schon ein Lied darüber geschrieben. Aber es gibt auch die entgegengesetzte Meinung: Der Tod hat die Opposition in eine Depression stürzen lassen, hat gezeigt, dass ihre Chancen die Innenpolitik Russlands zu beeinflussen gen Null gehen. 

    Ich war tatsächlich viele Jahre sehr pessimistisch. Aber ich glaube, dass wir nun wirklich Optimismus brauchen. Derzeit meinen viele, dass das Spiel verloren ist und man das Land nicht ändern kann. Aber das ist nicht so. Kein Land ist dazu verdammt, auf immer mit dem gleichen Regime zu leben. Die Geschichte liefert eine Menge von Beispielen. Es gibt keine „Sklavenmentalität“, die Neigung einer ganzen Nation zu einem spezifischen System. Wir wissen, dass sich alles ändert. 

    Das ist definitiv auch in Russland möglich. Sobald sich die Umstände ändern, wird ein Tauwetter einsetzen, die Leute werden sich zusammenschließen und gemeinsam auf die Straße gehen. Aber wann kommen diese Umstände? Darauf gibt es leider keine gute Antwort. Dabei ist es völlig offensichtlich, dass es in der Gesellschaft keine massenhafte Unterstützung für den Krieg gibt, so wie es auch keine massenhafte Unterstützung für Putin gibt. Dafür gibt es haufenweise Indizien. Beispielsweise weigern sich Leute bei Umfragen zu antworten und sagen, dass sie keine Meinung zum Krieg hätten. Das heißt, dass sie vor etwas Angst haben, und nicht, dass sie das Handeln des Kreml gutheißen. Aber wenn sich die Umstände ändern, wird ihre Haltung zum Vorschein kommen.  

    Andererseits ist das bloße Warten und Hoffen auf eine Schwächung des Regimes unangenehm. Diejenigen, die Russlands Zukunft noch nicht begraben wollen, müssen an dieser Zukunft arbeiten und ein konkretes Bild von ihr erschaffen. Sie sollten sich außerdem der Bildung widmen, für sich und für ihre Kinder, die im Bewusstsein aufwachsen sollten, das das heutige Regime Russlands eine historische Anomalie ist. Die Leute, die die Macht an sich reißen konnten, sind nicht ewig, ihre Zeit ist begrenzt. 

    Aktuell findet ein unsichtbarer Kampf darum statt, was die nachfolgende Generation tun wird. Heute ist eine Generation an der Macht, die in den 50er Jahren geboren und in den 70er und 80er des vergangenen Jahrhunderts erzogen wurde. Sie wuchsen auf in einer Atmosphäre der Enttäuschung, des Unglaubens und Zerfalls der Ideale. Der Glaube an den Kommunismus war schon vorbei, aber ein anderer noch nicht entstanden. Es entstand ein Bewusstsein des historischen Scheiterns. So bildete sich diese Generation von Greisen, die sich um ihre Kränkungen sorgen und Revanche suchen. Natürlich gibt es in dieser Generation auch beispielsweise einen Oleg Orlow, einen der Gründer von Memorial, der, verurteilt für die „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“, aktuell eine Haftstrafe absitzt. Doch an der Macht ist genau der boshafte Teil dieser Generation. 

    Wichtig ist, dass es eine neue Generation gibt, die Generation Nawalnys, die Ende der 1980er und in den 1990er Jahren erwachsen wurde. Für sie ist die Zukunft kein leeres Wort. Und Putin hat den Anführer dieser neuen Generation umgebracht. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Ja, die Vertreterinnen und Vertreter dieser Generation befinden sich gerade in der Depression und im Schock. Aber ihnen bleibt trotzdem eine Vision von Zukunft und Hoffnungen, die mit dieser Zukunft verknüpft sind. Heute wird um die Herzen dieser Generation gekämpft und um die Herzen jener, die noch jünger sind. Es liegt heute an uns allen, diese Depression zu überwinden. 

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    „Die Welt weiß nicht, wie sie Widerstand leisten soll gegen das Böse“

    Für Millionen von Menschen hatte Alexej Nawalny Hoffnung verkörpert: Hoffnung auf ein „wunderbares Russland der Zukunft“, in dem Regierungen durch Wahlen abgelöst werden können, das die Würde des Einzelnen achtet und seine Nachbarn in Frieden lässt. Mit dem Tod Nawalnys ist diese Hoffnung bei vielen in ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit umgeschlagen. 

    Schura Burtin, der als Journalist aus den Kriegsgebieten in der Ukraine berichtet hat, schreibt auf Meduza, dass Hoffnung derzeit schädlich ist. Sein aufgewühlter Kommentar hat im russischsprachigen Internet sehr starke Reaktionen hervorgerufen. Der Politologe Sergej Medwedew spricht etwa von einem „Manifest der Verzweiflung“, das vor allem emotional und nicht analytisch sei. Die Schriftstellerin Anna Starobinets dagegen sieht in Burtins Text schlicht eine „Anleitung zum Überleben“ unter den gegebenen Umständen. dekoder dokumentiert Burtins kontroverses Meinungsstück im Wortlaut auf Deutsch.

    Trauerfeier für Alexej Nawalny auf dem Moskauer Borissowskoje Friedhof am 01. März 2024 / Foto © Andrei Bok/imago-images

    Erst nach diesem Mord wurde klar, wie immens unbewusst wir davor lebten in der Hoffnung auf eine „gute“ Zukunft. Wir wollten unbedingt glauben, dass das, was da vor sich geht, ein vorübergehender Fehler ist. Ungeachtet einer inneren Stimme der Vernunft lebte in uns das nebulöse Bild einer Zukunft, die wir bevorzugen würden – und bestimmte unser Verhalten. Nawalny hat sein Leben auf dieses Bild ausgerichtet, und es dadurch quasi Realität werden lassen. Putin hat uns schlichtweg erklärt, dass es diese Zukunft nicht gibt.

    Ich denke, es ist wichtig, dass wir nicht zurückfallen in diese Illusion. Denn dieses Böse macht in der Tat mehr Angst, als wir verdauen können. Indem wir Blumen niederlegen oder ein Foto von Julia Nawalnaja posten, wird es keine solche Zukunft geben, wir beruhigen uns nur.

    Zu hoffen, dass in absehbarer Zeit in Russland etwas gut sein wird, ist gefährlich

    In dem Video Gebt nicht auf spricht Nawalny über eine Kraft in uns. Ich weiß nicht. Vielleicht hat er seine Kraft gespürt und sie auf uns alle projiziert. Ich denke, es ist wichtig, dass wir unsere Schwäche spüren. Dass wir klar sehen, dass wir keine Zukunft haben und dass wir sehr schwach sind. Dass wir sehen, wie zersplittert wir sind, wie wenig wir im Stande sind, einander zu helfen.

    Zu hoffen, dass in absehbarer Zeit in Russland etwas gut sein wird, ist gefährlich. Wir befinden uns in einem schlimmen, bösartigen Prozess, der so bald nicht zum Stillstand kommen wird. Denn Russland ist ein riesiges Land, und es strotzt nur so von Kraft.

    Ich glaube, der Mord war eine Botschaft an den Westen. Doch auch Russland hat die Botschaft vernommen. Und sie klingt hier so: „Verräter werden wir töten.“ Das hat Putin schon früher gesagt, doch als Verräter galten die, die seine Bande hintergingen. Jetzt sind es auch die Vaterlandsverräter. Dafür gibt es keine Befehle, das funktioniert anders: Auf allen Ebenen wurde jetzt klar, dass es keine Hemmungen mehr gibt. Vom Mord an Kirow bis zum Großen Terror hat es nur drei Jahre gedauert.

    Wir sitzen mit einem Psychopathen in einer Zelle, da muss man auf jeden Fall Angst haben

    Auf einer Kundgebung in Tbilissi anlässlich der Ermordung Nawalnys skandierten ein paar Mädchen: „Wir haben keine Angst!“ Ich wollte ihnen sagen: „Das solltet ihr aber.“ Wir sitzen mit einem Psychopathen in einer Zelle, da muss man auf jeden Fall Angst haben. Man muss sich ganz nüchtern bewusst werden, dass alles schlimmer wird – und nicht nur in Russland. Der Krieg wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach ausweiten. Als ich von dem Mord hörte, dachte ich aus irgendeinem Grund sofort, dass sie jetzt in Georgien einmarschieren werden, einfach weil sie nicht aufhören können. Plötzlich wurde mir klar, dass die Litauer, Letten und Georgier, die wegen der russischen Bedrohung in Panik gerieten, völlig Recht hatten und ich nicht. Denn wir sahen es aus unserer Perspektive und subjektiv, sie aber von außen und objektiv.

    Eigentlich interessiert Putin gegenwärtig nichts außer seine Reibereien mit dem imaginierten Westen. Klar, er hat Nawalny gefürchtet und gehasst, doch in seinem Kopf trägt er im Wahn eine Auseinandersetzung mit dem Westen aus. Derzeit geht es ihm dabei blendend, an der Front läuft es bestens und in seinem Kopf sagt er zu ihnen: „Ihr Idioten glaubt also, dass es ein anderes Russland gibt und irgendeinen Nawalny? Ihr habt gehofft, mit dem werdet ihr euch dann später einigen können? Nein. Ihr werdet mit mir sprechen, kapiert?“ Für ihn ist es wichtig, dass sie ihn mal können, dass sie ihm Respekt zollen. Und er wird die Einsätze erhöhen und weiter eskalieren. Niemand kann das stoppen. Wir haben dafür keine Kraft und hatten sie im Grunde auch nie. Aber auch die Welt hat keinen Plan, wie sie Widerstand leisten soll gegen das Böse. Putins Wahn ist nur eine Manifestation des Bösen; Krieg drängt aus jeder Ritze hervor, und es kann leicht passieren, dass wir dabei draufgehen.

    Am ehesten wird sich wohl jeder einsam und allein für sich retten. Die Opposition ist verstreut und hilflos. Noch nicht einmal in Freiheit, in der Emigration versucht sie etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen, zum Beispiel für die Interessen von Millionen aus Russland geflohener Russen einzustehen. Und mir fällt auch nichts ein, wie man das ändern könnte.

    Hoffnung auf die Zukunft – derzeit ist das schädlich. Es ist zwecklos, sich den Kopf darüber zu zerbrechen: Wir sind zu wenige, wir sind sehr, sehr schwach. Alles, was wir haben, ist das Jetzt – und uns in diesem Jetzt. Wir müssen einsehen, dass unsere Lage beschissen ist und wir nicht wissen, was wir tun sollen.

    Die Zeit ist gekommen, in den Notfall-Modus umzuschalten

    Als ich von Nawalnys Tod erfuhr, wollte ich gleich alle anrufen. Das ist erst einmal das Einzige, was mir einfiel: anderen nah zu sein. Bewusst einander nah zu sein und sich umeinander zu kümmern. Sich klarzumachen, was die Personen, die mir nahestehen, jetzt brauchen, lieber zweimal darüber nachzudenken. Ich glaube, jetzt ist die Zeit gekommen, in den Notfall-Modus umzuschalten und zu versuchen, sich anders zu verhalten. Wir sollten uns bewusst darum bemühen, Menschen zu vereinen, ganz egal wozu, und sei es einfach, um gemeinsam ein Abendessen zuzubereiten. Was jetzt zählt, ist, sich nicht zu verschließen, offen zu bleiben für Einladungen anderer, zu vertrauen.

    Als Russland die ersten Bomben auf Charkiw abwarf, zeigten die Kassiererinnen in den wenigen verbliebenen Supermärkten plötzlich eine ungewohnte Höflichkeit und Fürsorge. Sie spürten, dass es die Kunden, die bei ihnen in der Schlange standen, genau so gut hätte treffen können. So sollten auch wir handeln. Mir scheint, dass der Tod von Nawalny kein Signal ist, dass wir uns an die Schießscharten begeben sollten (wo wir uns sowieso nur die Hosen vollscheißen). Es ist eher ein Zeichen, dass wir auf unserem Weg bisher versäumt haben, etwas Wichtiges zu tun und dass wir deswegen so schwach waren. Dass wir immer so schwach sind. 

    Ich glaube nicht an wirkungsvolle Aktionen bei faschistischen Wahlen. Wobei man die Initiativen guter Leute unterstützen sollte, auch wenn sie andere Ansichten haben. Auf allerlei Zankereien sollte man bewusst Verzicht üben, das ist momentan dumm. Wir sind sehr schlecht darin, einander zu unterstützen, nicht nur in der Politik, sondern generell. Wir müssen das lernen, wenn wir nicht blöd verrecken wollen. Natürlich sind wir es gewöhnt, unser normales Leben zu leben, in dem es die Gesellschaft auf welche Art auch immer nicht zulässt, dass du draufgehst. Meines Erachtens müssen wir erkennen, dass die Situation jetzt eine andere ist.

    Ich befürchte, dass es für die meisten meiner Freunde, die nichts dergleichen tun, in den kommenden Jahren gefährlich wird, in Russland zu bleiben. Als Nawalny getötet wurde, hat mein Freund und Kollege Andrej einen verzweifelten Post geschrieben und alle, die können, aufgerufen zu fliehen. Der letzte Satz dort lautete: „Ich hatte gar nicht die Wahl, es zu wollen oder nicht zu wollen.“ Ja, Andrjucha, die wenigsten wollen es. Aber du willst es plötzlich ganz leicht, wenn dir und deinen Nächsten Gefahr droht. Es geht nicht darum, ob alle vorzeitig abhauen, sondern darum, kein Dummkopf zu sein – und den Vampiren nicht noch jemanden zum Fraß vorzuwerfen. Zu wollen ist nicht das Problem, die Frage ist bloß, wie man im Ausland leben soll. Für viele ist das sehr schwer, sie brauchen Hilfe. Darüber heißt es ernsthaft nachzudenken, solange dafür noch Zeit ist.

    Es ist schädlich auf Anführer zu setzen, das ist Selbstbetrug

    Es steht schlecht um unsere Infrastruktur, aber immerhin gibt es sie. Wir sollten uns bemühen, noch mehr den Organisationen zu helfen, die etwas tun. Egal wem, wichtig ist, sich überhaupt aktiver an gemeinsamen Sachen zu beteiligen. Und die Organisationen sollten sich nicht verschließen. Je stärker diese Infrastruktur ist, desto größer sind unsere Chancen. Es ist gut, dass Menschen wie Alexej Nawalny und Julia Nawalnaja versuchen, uns zu vereinen, aber ganz allgemein ist es schädlich, auf Anführer zu setzen, das ist Selbstbetrug. Nur eine [zivilgesellschaftliche – dek] Infrastruktur kann funktionieren.

    Solange es noch möglich ist, sollten wir Briefe an politische Häftlinge schreiben. Es ist wichtig, Kontakte mit Ukrainern wiederherzustellen. Das ist schwer, aber wir müssen es versuchen, ihnen schreiben, sie anrufen, ihnen helfen. Nach dem Mord rief mich ein nur flüchtig bekannter Kollege aus Kyjiw an, um sein Beileid auszudrücken – obwohl ich Nawalny gar nicht persönlich kannte. Er sagte, dass es in Kyjiw viel dämlichen Hate gebe, aber ihm sei es wichtig zu sagen, dass er mit uns fühlt. Und ich bin ihm unglaublich dankbar dafür. 

    Mir ist wichtig, dass ich das Gefühl des Entsetzens nicht vergesse, das im ersten Moment nach dem Mord über mich hereinbrach. Ich glaube, in diesem Moment habe ich alles ganz klar und nüchtern gesehen.

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    Die Leere, die Nawalny hinterlässt

    Alexej Nawalny wurde heute in Moskau beerdigt. Zum Trauergottesdienst im Bezirk Marjino und zur anschließenden Beisetzung auf dem Borissowski-Friedhof kamen Zehntausende Menschen. Hunderttausende verfolgten die Ereignisse online im Livestream. Auf Telegram nimmt die inzwischen im Exil lebende russische Journalistin Olga Beschlej Abschied – von Nawalny und einem Teil ihrer Lebensgeschichte.

    So wie hier in Sankt Petersburg fanden in ganz Russland spontane Gedenkveranstaltungen für Alexej Nawalny statt. Auch zu seiner Beerdigung kamen zehntausende Menschen / Foto © IMAGO / ZUMA Wire

    die erste politische Erschütterung in meiner Jugend war der Mord an Anna Politkowskaja: Ich war damals gerade erst fürs Studium nach Moskau gezogen, und Politkowskaja war für mich ein Beispiel an journalistischem Mut und beruflicher Hingabe

    ich weiß noch, wie ich mit einer Freundin Blumen zu ihrem Haus auf der Lesnaja Straße brachte, und schon damals war da dieses starke Gefühl von Verlorenheit und Verstörtheit

    ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass der Mord im Interesse der Regierung organisiert worden war, und ich dachte voll Besorgnis an die Zukunft des von mir gewählten Berufs

    der Mord an Boris Nemzow war in anderer Art ein Schlag: Boris Jefremowitsch war oft in der Redaktion der Zeitschrift, bei der ich arbeitete, wir hatten oft telefoniert und sogar zusammen Korrekturen an seinen Artikeln vorgenommen

    ich kannte ihn oberflächlich, aber ich kannte ihn

    und bis heute wünsche ich, ich könnte die Fotos von der Großen Moskwa-Brücke ungesehen machen

    nach dem Tod von Alexej Nawalny lebe ich in innerer Taubheit: ich sage, schreibe, tue was, aber kann meine Gefühle weder benennen noch beschreiben 

    ein riesiger Teil meines Lebens war mit Nawalny verbunden: journalistische Arbeit bei Demonstrationen, Berichterstattung bei Wahlkampagnen und Strafprozessen

    ich hatte die Möglichkeit politisch teilzuhaben, weil Nawalny, Nemzow, Jaschin (und viele andere Menschen, die ich jetzt nicht aufzähle, an die ich aber natürlich denke) Politik gemacht haben in einem unfreien Land, trotz allem und ungeachtet dessen

    ich glaube, dass es in Russland Änderungen zum Besseren geben wird: das Regime wird zusammenbrechen

    aber das Russland, von dem ich geträumt habe, wird es nicht mehr geben: Menschen, mit denen ich Wandel und Zukunft assoziiert habe, wurden entweder ermordet oder verlieren im Lager ihre Gesundheit oder sind auf der ganzen Welt verstreut, und mir ist bewusst, dass nicht alle zurückkommen wollen oder können

    es wird etwas anderes

    meine Hoffnung ist stark wie nie und ich unterstütze sie in den Menschen um mich herum, denn das ist es, was jeder von uns tun kann im Gedenken an Alexej Nawalny und die anderen Opfern des Regimes – die Hoffnung bewahren, nicht verzweifeln, einander Mut machen

    ja, irgendwas tun! Egal was

    für den Erhalt der Zivilgesellschaft, die Wahrung unserer Werte und den Zusammenhalt der Menschen

    doch zusammen mit Nawalny ist ein Teil von mir heute vergangen

    und von ihm nehme ich Abschied

    an dieser Stelle ist jetzt Leere

    doch nicht für immer 

    ja, es wird etwas anderes kommen

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