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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der Platz des Wandels

    Der Platz des Wandels

    „In einigen Jahren wird man Exkursionen hierher machen“, schreibt ein Rezensent bei Google-Maps und vergibt fünf Sterne für einen unscheinbaren Hinterhof inmitten riesiger Plattenbauten in einem gewöhnlichen Minsker Wohnviertel. Die Geschichte des Hofes in der Orschanskaja-Straße im Minsker Norden zeigt einmal mehr, dass sich der Protest in Belarus nicht nur bei den großen Demonstrationsmärschen und Streiks abspielt – und dass er viele kreative Gesichter hat.

    Ulad Schwjadowitsch schildert in der belarussischen Traditionszeitung Nasha Niva seine Eindrücke aus dem legendären Hinterhof. 

    Die Geschichte vom Platz des Wandels beginnt am 18. August 2020: Ein unbekannter Künstler bemalte an diesem Tag das Trafohäuschen mit den Porträts von Ulad Sakalouski und Kiryl Halanau: Die DJs hatten [die Protesthymne von Viktor ZoidekPeremen (dt. Wandel) bei einer regierungsfreundlichen Veranstaltung aufgelegt und dafür jeweils 10 Tage Arrest bekommen.

    Fotos: © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    Fotos: © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Graffitis haben gewöhnlich eine kurze Lebensdauer, erst recht, wenn es sich dabei um Malereien mit einer eindeutig politischen Aussage handelt. Es schien als würde ein solches Schicksal auch dieses Wandgemälde ereilen: Bereits am nächsten Tag wurde es in einem operativen Einsatz übermalt. Aber das war, wie sich herausstellte, erst der Anfang … 

    Der gewöhnliche Minsker Innenhof – umringt von Hochhäusern – ist innerhalb weniger Wochen zu einer echten Kultstätte avanciert: Die Anwohner sprühten das Konterfei der DJs Sakalouski und Halanou auf eine Wand, hängten eine gigantische weiß-rot-weiße Fahne zwischen den Häusern auf, schmückten den Zaun mit hunderten von bunten Bändchen und brachten am Trafohäuschen ein Schild an: Platz des Wandels

    Zum Platz des Wandels kommen jeden Tag Silowiki und Stadtmitarbeiter, sie entfernen die Fahnen, reißen die Bändchen ab und überstreichen das Wandgemälde. Doch die Anwohner lassen nicht locker: Sie waschen die Farbe von den Porträts der DJs, knüpfen neue Bändchen und hängen wieder Fahnen auf. Abends versammeln sich die Leute auf dem Platz, knüpfen Kontakte, tanzen, singen und treffen Freunde. Musiker und Schauspieler des Kupalauski-Theaters traten hier bereits auf, der Hof bekam seinen eigenen Instagram-Account und den Platz des Wandels kann man sogar bei Google-Maps und Yandex-Taxi finden. 

    ***

    Am Abend des 9. Septembers ist es auf dem Platz des Wandels wie gewohnt belebt: Einige Dutzend Menschen haben sich im Hof versammelt. Tagsüber hatten Stadtmitarbeiter versucht, das Konterfei der DJs zu übermalen, doch die Anwohner haben es fast unverzüglich wiederhergestellt. 

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Nun prangen die DJs an der Wand, oben drüber die weiß-rot-weiße Flagge mit der Flagge von Minsk, Kinder laufen umher und Hunde ebenso. Die Erwachsenen warten auf das Konzert: Heute soll Smizer Waizjuschkewitsch in dem Kult-Innenhof auftreten.

    „Das passiert hier quasi jeden Tag. Es begann um den 12. August herum. Die Menschen fingen an sich im Hof zu treffen, lernten sich kennen. Später tauchte das Wandgemälde auf, die Leute richteten eine gemeinsame Chatgruppe ein, nicht nur für Anwohner, sondern auch für Leute aus der Nachbarschaft“, erzählt eine Anwohnerin. „Mit der Zeit haben sich alle kennengelernt. Die Menschen fingen an, gemeinsam zu den Demonstrationen zu gehen, sich gegenseitig zu unterstützen, ganz nachbarschaftlich. Einige Anwohner haben sich über den Lärm beschwert. Wir haben darauf Rücksicht genommen und treffen uns seitdem nur noch bis 22 Uhr. Nun, es gab auch eine Babuschka, die die Bändchen abgeschnitten hat. Wir haben mit ihr gesprochen und diskutiert, dass sie ihre Meinung hat und wir eben eine andere, das ist ja nichts schlimmes. Sie hat versprochen, keine weiteren Sabotagen mehr durchzuführen. Das war’s, mehr Probleme gab es nicht.“

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Die Bändchen sind am Zaun um den Spielplatz angebracht. Bis vor Kurzem hing noch eine gigantische weiß-rot-weiße Fahne zwischen den Häusern, doch die Silowiki haben sie bereits entfernt – und mussten dafür die Tür zum Dach aufsägen.

    Statt der Fahne gibt es nun den Zaun, der komplett mit Bändern verziert ist: teils mit weiß-rot-weißen, teils mit roten und grünen Bändern. Auch die versucht man regelmäßig zu entfernen.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    „Heute haben sie drei Arbeiter geschickt, dahinter noch vier mit Masken. Haben einen Teil der Bänder entfernt und sind dann einfach wieder gegangen. Vielleicht hat es was gebracht, dass die Anwohner kamen, ihnen ins Gewissen redeten, sodass es ihnen unangenehm wurde“, erzählen die Menschen.

    Nun hängen die Anwohner die Bänder wieder auf. Gemeinsam mit ihren Kindern. 

    Sie sagen, dass das alles ohne jegliche Organisation abläuft. Für den Stoff der Bänder wird kein Geld gesammelt – die Leute bringen es von selbst, wie sie es für nötig halten. Um die Wiederherstellung der Wandbemalung kümmert sich wer gerade Zeit und Lust hat.

    „Die große Fahne haben die Frauen genäht. Aber wir entschieden, sie vorerst nicht aufzuhängen, weil sie angefangen haben, unsere Hausgemeinschaften mit Strafen zu bedrängen. Insgesamt 18.000 Rubel [etwa 5.800 Euro – dek] für drei Häuser“, berichten die Anwohner.

    Das Schild mit der Aufschrift Platz des Wandels haben die städtischen Bediensteten zwar ebenfalls entfernt, aber es besteht kein Zweifel, dass schon bald ein neues auftauchen wird. 

    Währenddessen kommen immer mehr Menschen auf den Platz. Kiryl und Darja warten mit ihren zwei Kindern auf das Konzert.

    „Die Kinder fragen, was passiert, aber wir erzählen ihnen natürlich nicht alle Einzelheiten. Einmal kam mein Sohn, ein Zweitklässler, aus der Schule und sagte: ,Ein Mädchen aus unserer Klasse ist für Lukaschenko, krass oder?‘ Für ihn ist es komisch, dass es Menschen gibt, die für Lukaschenko sind. Wir sagen, dass er darüber nicht in der Schule sprechen soll, aber die Kinder kriegen ja eh alles mit. Vor allem, weil wir keine Omis und Opis hier haben, deswegen nehm ich den Kleinen mit zu den Demos. Dann bleiben wir nur bis 18 Uhr und stehen auch nur am Rand. Aber er hört ja da die Losungen wie ,Lukaschenko, ab in den awtosak‘, wobei ich ihm verbiete das nachzusagen. Ich erkläre, dass darüber nur Erwachsene diskutieren, die schon wählen dürfen“, sagt Darja. „Aber ich kann nicht nicht rausgehen. Ich finde, jeder muss seine Meinung kundtun.“

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Einige Eltern sehen das anders.

    „Ich sage meinem Sohn offen: Die weiß-rot-weiße Flagge ist unsere historische Flagge. Unsere jetzige Staatsflagge ist eine andere, die weiß-rot-weiße hat man uns 1994 genommen. Wir erklären, dass die Leute aufgebracht sind, weil sie bei der Wahl einfach betrogen wurden. Warum sollten wir nicht ehrlich mit ihm sein?“, sagt Wadsim, dessen Sohn noch in die Kita geht.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Es sind auch viele Menschen fortgeschrittenen Alters da.

    „Mich stören diese Partys gar nicht, im Gegenteil. Ich höre diese Musik selbst seit 34 Jahren und gehe zu den Demos“, sagt einer der Anwohner stolz. Der Mann ist 56 Jahre alt und Ingenieur in einem Staatsbetrieb. Er sagt, dass er neulich für eine Nacht festgenommen wurde und man ihm auf der Arbeit mit Kündigung gedroht hat: „Dann haben sie es sich nochmal anders überlegt, unter der Bedingung, dass ich nicht nochmal geschnappt werde. Ich sagte: ,Ich versuche es, aber garantieren kann ich das nicht.’ Den Job würde ich ungern verlieren, aber wie soll man zuhause bleiben, wenn man sieht, wie sie 17-jährige Mädchen verhaften?“, fragt der Mann. 

    Jetzt beginnt der Auftritt von Waizjuschkewitsch, gleich mit [der Protesthymne – dek] Mury. Die Leute singen mit.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Noch ist es im Hof ruhig. Vor zwei Tagen, am 7. September, kamen OMON-Einheiten hierher, allerdings erst, als alles schon vorbei war. Dennoch haben sie zwei Menschen festgenommen.

    „Ich wollte den Müll vom Spielplatz einsammeln, da kamen mehrere Fahrzeuge der Silowki angefahren und haben mich umzingelt, so dass ich nicht entkommen konnte. Sie haben mich mitgenommen und auch einen Nachbarn, der einfach nur auf dem Heimweg war“, berichtet Wasil, der auch Anwohner ist.

    Er kam verhältnismäßig glimpflich davon: Sie brachten ihn und den Nachbarn zur Wache, am nächsten Tag hat man sie freigelassen. 

    „Ein Protokoll wegen Rowdytums wurde aufgesetzt, aber sie sagten, wenn die Miliz nicht innerhalb von 10 Tagen anruft, dann ist alles gut“, erinnert sich Wasil.

    Wasil ist IT-Spezialist und arbeitet mit deutschen Geschäftspartnern. Er sagt, als diese von den Internet-Blockaden und den Festnahmen erfahren haben, hätten sie ihm zunächst eine Dienstreise nach Deutschland für ein bis zwei Monate angeboten, später dann einen kompletten Umzug.

    „Noch will ich das nicht. Ich liebe dieses Land, ich möchte gerne hier leben. Hier ist es wunderbar, die Menschen sind wunderbar“, sagt Wasil: „Aber wenn sich nichts ändert, dann werde ich im schlimmsten Fall ausreisen. Ich habe einen kleinen Sohn und ich möchte, dass er in einem Land aufwächst, wo Menschen wertgeschätzt werden.“

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Eine halbe Stunde nach dem Konzert fahren zwei Kleinbusse mit OMON-Einheiten in den Hof. Ein großer Linienbus steht außerdem etwas weiter entfernt. Die Leute verfallen in Panik, aber sie bleiben. Waizjuschkewitsch singt weiter, die Kinder rennen umher. Die Silowiki sitzen noch in ihren Fahrzeugen. 

    „Die OMON-Leute sind gekommen!“, warnt ein Zehnjähriger auf seinem Fahrrad die Anwesenden.

    Lange warten die Silowiki nicht. Zum Lied Kupalinka, das die Menschen im Chor singen, besetzen die Figuren in Schwarz den Spielplatz. Der Gesang bricht mittendrin ab, die Leute rufen Waizjuschkewitsch „Danke!” zu. Einige verlassen den Spielplatz, andere werden dort blockiert.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Die Silowiki warnen über ihr Megafon über die „nicht genehmigte Veranstaltung“, worüber sich die Leute empören und entgegnen, dass sie hier wohnen. 

    „Ihr verängstigt unsere Kinder, haut ab!“, rufen die Frauen.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Die OMON-Leute lassen diejenigen passieren, die weggehen wollen. Zu Festnahmen kommt es nicht, aber die Menschen gehen noch nicht endgültig auseinander. Einige bleiben vor den Hauseingängen, andere kehren in ihre Wohnung zurück und schauen aus dem Fenster.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Währenddessen tauchen außer den Menschen in Schwarz noch weitere Silowiki in grüner Uniform auf. Sie umzingeln das Trafohäuschen, jemand übermalt das Konterfei der DJs schnell mit schwarzer Farbe. 

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    „Schande!“, brüllen ihnen die Menschen entgegen. Darauf empören sich die OMON-Leute demonstrativ untereinander, nach dem Motto: Die schleppen ihre Kinder um diese Uhrzeit nach draußen und beschweren sich dann auch noch – was wollen die eigentlich?

    Die Anwohner rufen immer wieder: „Das ist unser Hof!“ und „Es lebe Belarus!“, doch die Silowiki bewegen sich nicht vom Fleck, solange, bis das Wandgemälde endlich zerstört ist. Danach gehen die Menschen in Schwarz, es bleibt noch ein Dutzend Silowiki in Miliz-Uniformen ohne Erkennungszeichen und in grünen Uniformen. Die Anwohner bitten sie, sich vorzustellen oder auszuweisen, aber die Uniformierten reagieren nicht.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Nach und nach kehren einige Dutzend Anwohner auf den Platz zurück. Einige versuchen, mit den Silowiki ins Gespräch zu kommen. Die antworten: Unterhaltet euch untereinander. Einer der Männer holt eine Bibel hervor und fängt an, den Silowiki aus der Offenbarung des Johannes vorzulesen. Ein Silowik mit GoPro-Kamera auf dem Kopf filmt den Vorleser mit seinem Handy.

    „Und ich sah: Als es das sechste Siegel auftat, da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde schwarz wie ein härener Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut“, liest der Mann vor. 

    Nebenan schaukeln die Kinder, die Anwohner bieten sich gegenseitig Tee und Kaffee an. Die Hunde beschnuppern sich. Vor ihnen stehen die Silowiki auf dem Spielplatz. Die Luft riecht nach der Farbe, mit der das Wandgemälde überstrichen wurde. 

    Wenn das Ausmaß des Protests abnimmt in diesen Tagen, dann nimmt das Ausmaß der Absurdität offensichtlich zu. 

    Anschließend bringen die Silowiki ein paar Kerle, deren Gesichter müde vom Alkohol wirken, angebliche Arbeiter in Zivil. Die Arbeiter bringen eine Leiter, ein Tichar klettert auf das Dach des Trafohäuschens und werkelt lange, um die weiß-rot-weiße Fahne zu entfernen. Schließlich ist die Mission erfüllt: Sie haben die Nationalflagge entfernt und sogar die Flagge von Minsk.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Der Platz leert sich. Die Anwohner gehen nach Hause und sagen einander: „Bis morgen!“ und „Danke, Nachbarn! Schlaft gut!“.

    Auch die Silowiki gehen. Wo eben noch die Kinder spielten, ist nun nun Leere, wo die Menschen sangen, ist nun Stille. Und anstelle der DJs sind da zwei Silowiki mit Maske, die dort abgestellt sind, bis die stinkende Farbe getrocknet ist.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Einmal mehr haben die heldenhaften Silowiki den inkompetenten tschechischen Puppenspielern einen Nasenstüber verpasst.

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  • Wieso ist Stalin heute so populär?

    Wieso ist Stalin heute so populär?

    Den Befehl Nr. 00447 hat NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichnet. Mit diesem Befehl Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente begann die umfassendste Massenoperation des Großen Terrors unter Stalin. Hunderttausende wurden auf seiner Grundlage verhaftet, ein Großteil davon erschossen.

    80 Jahre später feiert Stalin eine Art Revival: Einer Umfrage des Lewada-Instituts zufolge halten 38 Prozent aller Russen Stalin für die herausragendste Persönlichkeit aller Zeiten – vor Staatspräsident Putin und vor dem Nationaldichter Alexander Puschkin. Nach wie vor verbinden viele Stalin mit dem Sieg über Hitlerdeutschland. Aber erklärt das allein die große Popularität?

    „Die Ent-Stalinisierung“, so schreibt Meduza, „kümmert in Russland heute kaum einen: die Gesellschaft verhält sich zu Stalin entweder gleichgültig oder gar wohlwollend.“

    Von führenden Wissenschaftlern und Experten wollte Meduza deshalb wissen: Hat denn überhaupt eine Ent-Stalinisierung stattgefunden in Russland? Oder warum ist die Figur Josef Stalin nach wie vor so populär?

    Juri Saprykin

     

    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Juri Saprykin (geb. 1973) ist ein russischer Journalist. Bekannt geworden ist er durch seine Arbeit als Chefredakteur bei dem Online-Magazin Afisha.ru. 2011/2012 war er maßgeblich an der Organisation der Protestreihe Sa tschestnyje Wybory (dt. Für freie Wahlen) am Bolotnaja-Platz beteiligt. Von 2011 bis 2014 war er Chefredakteur der Mediengesellschaft Afisha-Rambler. 2015 wechselte er zur Moscow Times, wo er als Redaktionsleiter tätig ist..

    Zu Sowjetzeiten war Stalin wie Solschenizyn: irgendwas Verbotenes

    In Russland hat die Ent-Stalinisierung schon einmal stattgefunden. Ich erinnere mich an meine Kindheit, die mit der späten Ära der Stagnation zusammenfiel – damals klang das Wort „Stalin“ in etwa so wie „Solschenizyn“. Das war etwas Verbotenes, das nirgendwo und in keinster Weise zur Sprache kommen durfte. 

    Die politische Strategie der geschwächten Kommunistischen Partei bestand darin, Stalin komplett zu vergessen, einfach auszuradieren. Für jemanden, der Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre aufwuchs, existierte diese historische Figur gar nicht.

    Verbotene Volkshelden

    Stalin sah man, neben seinem gelegentlichen Auftauchen in irgendwelchen Kriegsfilmen, vor allem auf kleinen Porträt-Bildchen – hinter der Windschutzscheibe des nächstbesten Autos. Fernfahrer hängten sich bald Stalin, bald Wyssozki in ihre Fenster. Das waren damals Figuren ein und derselben Kategorie: verbotene Volkshelden. In diesem Sinne verkörperte Stalin weder Repressionen noch Massenmorde, sondern eine Ordnung, die dem einfachen Menschen in der späten Sowjetunion fehlte.

    Natürlich wusste niemand von den Repressionen, das Thema kam gar nicht erst auf. Doch es dachte auch keiner an Stalin als den großen Staatsmann, das war längst aus den Geschichtsbüchern gestrichen.

    Wunsch nach starker Führung

    Seit kurzem ereignet sich etwas Unerfreuliches in Russland: die Re-Stalinisierung. Diese schleichende Entwicklung geht einzig und allein auf den Wunsch der Obrigkeit zurück. Es gibt keine Nachfrage nach Stalin-Denkmälern seitens des Volkes, niemand schreibt dem Präsidenten Briefe: „Bringen sie uns Stalin zurück!“ Es handelt sich hier um eine bewusste Politik der Regierung: Das Pflanzen eines zarten Stalin-Kults als gewissen Orientierungspunkt – danach strebt die derzeitige Staatsmacht, das sei gut, dem solle man nacheifern.


    Ella Panejach

     

    © tv2.today
    © tv2.today
    Ella Panejach (geb. 1970) ist eine renommierte Soziologin aus Sankt Petersburg. Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft, des Managements und der Finanzen in Sankt Petersburg promovierte sie 2005 an der Universität Michigan, USA. Seit 2015 ist Panejach Dozentin an der Europäischen Universität Sankt Petersburg.

     

     

     

    Sie sagen ,Stalin‘ und meinen: Wir wollen weniger Ungleichheit

    Die erste Ent-Stalinisierung scheiterte, weil es unmöglich war, die Schuldfrage anständig auseinanderzudividieren. Unter Chruschtschow hat sich die sowjetische Regierung in der Nachfolge Lenins positioniert. Doch tatsächlich lässt sich das System Stalins nicht von den ersten Jahre der Sowjetherrschaft trennen.

    Von Anfang an lag der Überwindung des Personenkults eine Lüge zugrunde: nämlich, dass es einen guten Bolschewismus und Kommunismus gegeben habe, aber dann sei Genosse Stalin gekommen und habe alles kaputt gemacht.

    Nur einen Teil des Traumas durfte man zulassen

    Das heißt, einen Teil des Traumas durfte man zulassen, einen anderen wiederum nicht. So musste die Liquidierung des Adels und der Bourgeoisie als Klasse weiterhin befürwortet werden, während die Verfolgung sowjetischer Beamter als Verbrechen und Ausschweifung gelten konnte. Die Tragödien im Zuge der Kollektivierung dagegen durften überhaupt nicht verurteilt werden, als hätte es sie nie gegeben.

    Während der Perestroika begann eine neue Phase der Ent-Stalinisierung. Es konnte darüber diskutiert werden, was wirklich passierte; die Archive wurden geöffnet, es kamen Möglichkeiten auf, diese Informationen auch zu veröffentlichen. Aber diese Tendenz ging einher mit dem relativ traumatischen Zerfall der Sowjetunion und einer tiefen Wirtschaftskrise. So wurden alle Bemühungen, die Vergangenheit zu bewältigen, in Verbindung gebracht mit den unbeliebten 1990er Jahren und der liberalen Politik, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurde und so weiter. 

    Komplex historischer Mythen

    Für die Jugend heute geht es in dieser Geschichte nicht einmal um ihre Großväter, sondern um noch frühere Generationen, um Menschen, die sie nie erlebt haben. Das heißt also, dass dieses Trauma für sie kein lebendiges Gesicht hat. Ihr Verhältnis dazu ist weniger ein Verhältnis zu aktuellen, realen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit als eher ein Verhältnis zu einem historischen Bild, zu einem bestimmten Komplex historischer Mythen.

    Was hat es mit Stalin heute auf sich? Für den Großteil seiner Bewunderer steht Stalin beispielsweise für effektive Führung, obwohl schon längst belegt ist, dass er kein guter Staatenlenker war. Er steht auch für den Kampf gegen Korruption, doch die gab es auch in der UdSSR, wie Historiker ja wissen.

    Stalin steht auch dafür, dass es in der UdSSR wesentlich weniger Ungleichheit gab als heute. Das ist schon etwas realistischer. 
    Der mythische Stalin verkörpert für seine Befürworter eine Gesellschaftsform, in der die Ungleichheit (und vor allem der demonstrative Luxus der Oberschicht) wesentlich geringer war als in ihrer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit.

    Keiner will die Repressionen zurück

    Ich würde darauf achten, was die Leute eigentlich sagen wollen, wenn sie mit Stalin-Porträts auf die Straße gehen. Sie meinen damit nicht: „Wir wollen Repressionen; wir wollen, dass mehr Menschen ins Gefängnis kommen; wir wollen eine Zentralplanwirtschaft; wir wollen die Repression ganzer Völker; wir wollen, dass unsere Regierung einen weiteren Weltkrieg entfesselt.“ 

    Sie meinen damit: „Wir wollen weniger Ungleichheit; wir wollen weniger Korruption; einen sozialeren Staat als wir jetzt haben. Uns gefällt nicht, was wir haben, wir sind es leid, und um das zu artikulieren, wählen wir die Figur, die so grausam und abschreckend ist, wie möglich.“  In etwa das haben sie im Sinn, wenn sie Stalin zum besten Herrscher Russlands erklären.


    Ilja Wenjawkin

    © theoryandpractice.ru
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    Ilja Wenjawkin (geb. 1981) ist ein russischer Philologe und Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt Sowjetische Kultur und Literatur. Neben seiner Forschung leitet er Bildungsprogramme der Diskussionsplattform InLiberty und ist Gründungsmitglied des Internetprojekts Proshito – einer elektronischen Sammlung sowjetischer Tagebücher.

     

     

     

    Die Ent-Stalinisierung ist noch nicht abgeschlossen


    Die Ent-Stalinisierung ist in Russland aus einer Reihe von Gründen nicht abgeschlossen. Üblicherweise wird als [wichtigster] Grund das Vorgehen der russischen Staatsmacht in den 1990er Jahren genannt: Die Aufarbeitung des sowjetischen Erbes war für Boris Jelzin kein substanzieller Teil seiner Agenda. Die Demonstrationen auf der Lubjanka einen Tag nach dem gescheiterten Putsch führten lediglich zur Demontage des Dsershinski-Denkmals. Niemand wagte es, die KGB-Zentrale selbst zu betreten, und weiterhin wurde das Fortbestehen dieser obersten repressiven Instanz des Landes am selben Ort wie vor 70 Jahren kaum noch in Frage gestellt. Im Grunde genommen ist der Versuch, einen offenen [gerichtlichen] Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu führen, im Sande verlaufen.

    Kein fundamentaler Elitenwechsel

    Unter Jelzin hat außerdem kein fundamentaler Elitenwechsel stattgefunden. Zu einem großen Teil sind diejenigen an der Macht geblieben, die die Karriereleiter der UdSSR-Nomenklatura hinaufgestiegen waren. Am auffälligsten wurde die Elitenkontinuität erst unter Wladimir Putin, als klar wurde, dass 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ehemalige Mitarbeiter des sowjetischen KGB und Mitglieder der KPdSU an der Spitze des Staates standen.

    Legitimation des heutigen Regimes

    Es stellt sich heraus, dass wegen des Fehlens einer eigenständigen Ideologie die sowjetische Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Legitimation des aktuellen politischen Regimes spielt: Durch die kritische Auseinandersetzung mit Stalin und mit der sowjetischen Vergangenheit könnten die heutigen Machthaber in ernsthafte Bedrängnis geraten.

    Nach 1991 war das Bedürfnis nach Ent-Stalinisierung von Seiten der Gesellschaft nicht stark genug. Wie unlängst der Fall von Denis Karagodin zeigt, der im Alleingang die Namen derjenigen identifiziert hat, die an der Hinrichtung seines Vaters beteiligt waren, können konsequente und durchdachte Bemühungen auf privater Ebene sehr wirkungsvoll sein. Leider gibt es hier immer noch wenige Initiativen solcher Art.

    Gewalt als Norm

    Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht nur die Geschichte des Stalinismus an sich ist, die uns beschäftigt. Vielmehr werden damit auch wichtige Fragen über die Gesellschaftsordnung aufgeworfen, in der wir heute leben.

    Wenn wir heute über die Ent-Stalinisierung sprechen, meinen wir die Notwendigkeit der totalen Entautomatisierung der Gewalt: Wir müssen lernen, die Gewalt zu erkennen, die vielen gesellschaftlichen Institutionen inhärent ist, und aufhören, diese als etwas Normales hinzunehmen.

    In diesem Sinne ist der Kampf um die Rechte der Menschen in Heimen, Gefängnissen, im Militär und an den Schulen heute eine Fortführung der Ent-Stalinisierung der russischen Gesellschaft. Es ist nicht von grundlegender Bedeutung, ob wir Stalin erwähnen oder nicht, wenn wir darüber sprechen, dass keine Regierung dazu befugt ist, die Würde des Menschen mit Füßen zu treten. Dieser Kampf wird auf jeden Fall weitergehen, ob wir dabei auf die Geschichte verweisen oder nicht.


    Nikita Petrow

     

    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Nikita Petrow (geb. 1957) ist ein russischer Historiker, zu dessen Forschungsschwerpunkten Verbrechen der sowjetischen Geheimdienste zu Zeiten des Großen Terrors gehören. Er arbeitet als stellvertretender Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich für die historische Aufarbeitung der politischen Repressionen und für die soziale Unterstützung von Gulag-Überlebenden einsetzt.

     

    Jede Kritik an der Vergangenheit wird als Intrige des Westens dargestellt


    Die Ereignisse der sowjetischen Epoche liegen in der Vergangenheit, aber was beunruhigt uns heute? Uns beunruhigt, dass das Land im alltäglichen Leben noch immer nicht vom Gesetz regiert wird, dass die bestehenden Gesetze wie Imitate wirken.

    Es gibt eine Verfassung, die Rechte und Freiheiten garantiert, und es gibt den Alltag, in dem das alles mit Füßen getreten wird.

    Willkür statt Gesetze

    Wir sehen, wie wir zu den Praktiken zurückkehren, die es in der UdSSR gab, als der politische Wille der Führung und nicht das Gesetz den Alltag bestimmt hat. Von diesem Standpunkt gesehen ist die Ent-Stalinisierung eine Absage an eine solche Praxis, an die Regeln und Gewohnheiten der Willkür, die sich im sowjetischen System gebildet haben.

    Andererseits muss man juristisch einen klaren Strich ziehen unter die sowjetische Vergangenheit und sagen, dass die sowjetische Epoche nicht nur eine Epoche der Willkür war, sondern auch die eines totalitären und verbrecherischen Staates. Dieser Strich ist momentan noch nicht gezogen.

    Es tut sich was

    Wenn man Ent-Stalinisierung enger versteht als Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen, dann tut sich da natürlich etwas. Allerdings im ständigen Widerspruch zu den Versuchen, Stalins Namen zurück auf die russische Landkarte zu bringen [durch die vorübergehende Umbenennung Wolgograds in Stalingrad – dek] oder das Thema 1945 zu forcieren und mit Stalins Persönlichkeit zu verknüpfen. Deswegen befürwortet der Staat nicht mal die vorsichtigsten Ent-Stalinisierungs-Programme.

    Leider haben sich der Staat und unser Volk als unfähig erwiesen, unter rechtsstaatlichen und demokratischen Bedingungen zu leben. Man ist ständig in alte Praktiken verfallen, weil man es so gewohnt ist und anders nicht kann. Das Primat des Staates vor den persönlichen Rechten ist heute die Visitenkarte des Kreml. Auch deswegen ist das Thema Ent-Stalinisierung so unbeliebt unter Russen. Mit Hilfe von Propaganda, Radio und Fernsehen hat man vielen Bürgern eingetrichtert, dass unsere Besonderheit in eine aggressive Xenophobie münden solle. Alle Versuche, die Vergangenheit zu kritisieren, werden als Intrigen des Westens dargestellt.

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  • Nawalnys misslungener Spagat

    Nawalnys misslungener Spagat

    Ob mit den landesweiten Protestaktionen im März und im Juni oder durch die jüngsten Razzien in seinen Wahlkampfbüros – der erklärte Präsidentschaftsanwärter Alexej Nawalny schafft es derzeit immer wieder in die Schlagzeilen. Für weitere Furore sorgte nun eine öffentliche Diskussion mit Igor Strelkow, bei der die beiden über Korruption, Russlands Verhältnis zum Westen und über die Ukraine sprachen.

    Viele waren bereits irritiert, dass es überhaupt zu einer solchen Debatte kam: Schließlich ist der bekennende Nationalist Igor Girkin alias Strelkow nicht irgendwer – durch seine Rolle während der Krim-Angliederung und als Separatistenführer im Donbass wird er von Kritikern nicht selten als Kriegsverbrecher bezeichnet.

    Warum wollte Nawalny diese Diskussion? Kirill Martynow kommentiert in der Novaya Gazeta, welche Spekulationen es im Vorfeld gab und was sich davon letztlich bewahrheitet hat.

    Als Nawalny einwilligte, mit Girkin zu debattieren, wurde das vom Publikum unterschiedlich erklärt. Die erste Erklärung besagte, Nawalny versuche, seine Wählerschaft und seine Bekanntheit landesweit zu vergrößern – nach Daten der Soziologen wachse letztere aktuell nicht mehr so stark, trotz der Protestaktionen im Juni. Die zweite Erklärung ging davon aus, dass Nawalny einfach alle dazu bewegen wolle, über ihn zu sprechen, und er in der politisch toten Feriensaison um Aufmerksamkeit werbe. Die dritte Erklärung schließlich besagte, Nawalny wolle aus dem Gespräch mit dem einstigen „Chef der Volksmilizen von Noworossija“ eine Art Verhör machen und ihn in einer Live-Sendung als Verbrecher entlarven.

    Erreicht hat Nawalny wohl letztlich das zweite Ziel: Das nach Politik und unzensiertem Aufeinanderprallen politischer Programme dürstende Publikum warf sich gierig auf die Debatte. Auf dem Kanal von Nawalnys Anhängern schauten die Sendung fast 100.000 Menschen, weitere 50.000 folgten dem Spektakel auf dem YouTube-Kanal von Doshd. Das Interesse war definitiv hoch, trotz fehlenden Werbebudgets. 

    Zugeschaut haben hauptsächlich die eigenen Anhänger

    Dennoch konnte Nawalny seine Bekanntheit wohl kaum ernsthaft vergrößern. Es scheint, als habe man Girkin bereits etwas vergessen, und wegen Nawalny haben hauptsächlich seine eigenen Anhänger eingeschaltet. Ähnlich viele Leute – 100.000 bis 200.000 – beteiligten sich in diesem Jahr aktiv an Nawalnys politischer Kampagne. Über die Zusammensetzung der Zuschauer geben auch Umfragen in den Sozialen Medien indirekt Aufschluss: Für Nawalny stimmten dort über 80 Prozent (übrigens eine vertraute Zahl).

    Beim Versuch, die ,imperial-nationalistische‘ Wählerschaft auf seine Seite zu bringen, hat Nawalny versagt

    Bei dem Versuch, die „imperial-nationalistische“ Wählerschaft, den typischen Sawtra-Leser oder Zargrad-Zuschauer, mit dieser Debatte auf seine Seite zu bringen, hat Nawalny versagt.

    Er gab keine wesentlich bessere Figur als sein Gegner ab, war lange in der Defensive, rechtfertigte sich ein paar Mal und rollte die Augen. Girkin ist gewiss kein glänzender Rhetoriker, aber er blieb ruhig, warf Nawalny vor, dass dieser „kein echter Nationalist“ sei. Nawalny konnte dem weder zustimmen, noch konnte er widersprechen – die Frage, welche Art von Nationalist er sei, umging er behutsam. Girkin versteckte sich in kritischen Momenten nicht besonders überzeugend hinter dem „Militärgeheimnis“ und seiner „Ehre als Offizier“ – zwei Dinge, die in Russland durchaus geschätzt werden, und auf die Nawalny sich nicht beziehen kann.

    Girkin wird nach der Debatte neue Anhänger finden – was man von Nawalny nicht unbedingt behaupten kann. In diesem Sinne hat Letzterer die Debatte verloren.

    Kein „Schauprozess gegen den Kriegsverbrecher“

    Bitter enttäuscht wurde die Hoffnung auf einen „Schauprozess gegen den Kriegsverbrecher“, von dem viele liberale Aktivisten vor der Diskussion träumten. Im Studio erklärte Nawalny, dass ausschließlich Gerichte klären sollten, ob Girkin ein Verbrecher sei oder nicht, und er folglich als Politiker keine Meinung dazu habe.

    Im Verlauf der Debatte machte Nawalny zwei Fehler, die wiederum durch eine Schlüsselentscheidung bereits vorbestimmt waren: nämlich der Einwilligung zu der Debatte selbst, die viele aus ethischen Erwägungen bereits kategorisch abgelehnt hatten (dabei geht es nicht um Girkins Überzeugungen, sondern um seine Handlungen als Kriegführender – nach dem Motto: Erst der Prozess um mögliche Kriegsverbrechen, dann die Debatte).

    Ein gravierenderer Fehler bestand darin, dass Nawalny von vorneherein auf zwei Stühlen sitzen wollte

    Der erste Fehler hängt damit zusammen, dass Nawalny offenbar eine falsche Vorstellung davon hatte, mit wem er diskutiert. Er betrachtete Girkin als Botschafter der nicht anerkannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken. Doch Girkin antwortete ihm, dass sich die gegenwärtigen Machthaber dort in keinster Weise unterschieden von den Kompradoren-Eliten Russlands und oligarchischen Statthaltern des Westens, die das russische Volk durch das Minsker Abkommen an ukrainische Nationalisten ausgeliefert hätten. Eins ist ziemlich sinnlos: Girkin, dem fanatischen Geheimdienstler und Freiwilligen in allen postsowjetischen Kriegen, vorzuwerfen, er habe sich angedient oder sich gar mit russischen Korruptionären am Diebstahl beteiligt. Er ist natürlich ein Mensch der Ideen, auch wenn diese – zum Beispiel die von der Unvermeidlichkeit eines Krieges mit dem Westen – ziemlich monströs sind.

    Der zweite und gravierendere Fehler bestand darin, dass Nawalny von vorneherein auf zwei Stühlen sitzen wollte. Er ist für das russische Volk, aber gegen Irredentismus. Ein Nationalist, der aber nicht bereit ist, die Nation um jeden Preis zu retten. Ein Liberaler, der aber meint, dass man die Krim nicht einfach so zurückgeben kann. Die Klammer, die all das im Programm Nawalnys zusammenhalten soll, ist natürlich der Kampf gegen Korruption – gegen ebenjene Kompradoren-Eliten und für ein Aufblühen der Nation.

    Girkins Rede wirkt zeitweise zusammenhängend, widerspruchsfrei und überzeugend – so wie es zum Beispiel bei Verrückten vorkommt

    Und da beginnt Girkin plötzlich ganz ruhig von „politischer Philosophie“ und Marx, von Basis und Überbau zu sprechen. Der Kampf gegen Korruption ist nicht möglich, urteilt der einstige Geheimdienstler, ohne eine Änderung der gegenwärtigen Weltordnung im Ganzen – ohne eine Absage an Russlands Rolle in der globalisierten Welt, an die vom Westen diktierte wirtschaftliche Zusammenarbeit, was wiederum auf friedlichem Wege nicht zu erreichen sei und so weiter. Girkins Rede wirkt zeitweise zusammenhängend, widerspruchsfrei und überzeugend – so wie es zum Beispiel bei Verrückten vorkommt. Der Kampf gegen Korruption führe zu nichts, solange wir in dieser wirtschaftlichen Ordnung leben, schließt Girkin seine Rede ab – das Thema bleibt offen. Darauf hatte sich Nawalny, der von seinem Wahlprogramm erzählen und Girkin mit Fragen zu Putin und dem abgeschossenen MH17-Flugzeug attackieren wollte, nicht vorbereitet.

    Nawalny hat versucht, zwischen einer nationalistischen Agenda und liberalen Werten zu balancieren – in etwa der Cocktail, der in postsozialistischen Ländern von Polen bis Georgien als Treibstoff für den demokratischen Wandel diente. Doch dagegen wirkt eine gigantische Maschinerie des imperialen Ressentiments: Die Kränkungen seitens der ganzen Welt, welche Millionen von Menschen nach dem Zerfall der UdSSR real erlebt haben. Schließlich erlangten die Russen, im Unterschied zu den Bürgern anderer postsowjetischer Staaten, 1991 keine Unabhängigkeit von einem fremden und feindlichen Imperium, sondern sie verloren ihr eigenes. Und die Rezepte für den Übergang zu einer Demokratie sollten in dieser Situation andere sein.

    Man kann nicht mit dem Anhänger einer faschistischen Ideologie streiten und gleichzeitig betonen, dass man selbst Nationalist sei

    Für die gegenwärtige Position Girkins ist die Analogie verständlich. Versetzen wir uns ins 20. Jahrhundert, in einen gewissen Staat, der eine Niederlage erlitten hat und in Teile zerfallen ist. Die Bühne bekommt ein Veteran, der an allen Kriegen teilgenommen hat und wieder bereit ist, die Feinde seiner großen Nation zu töten. Dieser ideologische Soldat redet von Feinden im Westen, die seine Heimat zergliedert haben, von der Notwendigkeit, die Großmacht wiederherzustellen, selbst auf kriegerischem Wege. Schließlich leiden die Vertreter unseres Volkes unter der Besatzung benachbarter, verfeindeter Staaten et cetera. Wer im Streit mit so jemandem auf den Kampf gegen Korruption pocht, schießt offenkundig am Ziel vorbei.

    Eine politische Niederlage für Nawalny

    Man kann nicht mit dem Anhänger einer faschistischen Ideologie streiten und gleichzeitig betonen, dass man selbst Nationalist sei. Auch wenn man dabei erklärt, dass derzeit nicht die richtige Zeit für einen Krieg um die Einheit des russischen Volkes sei, weil das Land wegen der Korruption so verarmt sei.

    Das ganze Format der Debatte, Nawalnys Büro als Drehort, das loyale Publikum während der Live-Übertragung, der bestens vertraute Michail Sygar als Moderator – all das war ein Vorteil für den demokratischen Politiker. Aber es ist ihm nicht gelungen, diesen zu nutzen. Zeitweise konnte man den Eindruck gewinnen, Nawalny diskutiere aus reiner Gewohnheit. Dass er die imaginierten Wahlen gewonnen hat und das Land bereits mehrere Jahre regiert. Und dass er äußerst müde ist, ein und dieselben Schablonen-Sätze zu wiederholen, wo anstelle der Mai-Dekrete der Kampf gegen Korruption steht.

    Die Debatte mit Girkin wurde zu einer politischen Niederlage für Alexej Nawalny.

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  • „Sie sind völlig frei“

    „Sie sind völlig frei“

    Mitten im Nirgendwo: Viele Siedlungen in Russland liegen fernab der Hauptverkehrsadern, ohne Anbindung an die nächstgelegenen Städte. Artemi Posanenko arbeitet als Soziologe an der Moskauer Higher School of Economics und erzählt im Zapovednik über seinen aktuellen Forschungsgegenstand: Russlands „isolierte Communities“, abgeschiedene Dörfer. Ein Gespräch über grassierende Arbeitslosigkeit, lukrative Beerengeschäfte und das „Dorf der Teenager“.

    Wald, Wald, Wald. Wer sich hier verirrt, wird gar nicht erst gesucht – Fotos © Artemi Posanenko
    Wald, Wald, Wald. Wer sich hier verirrt, wird gar nicht erst gesucht – Fotos © Artemi Posanenko

    Artemi, was ist für Sie eine isolierte Community?

    Es gibt Städte wie Norilsk oder Narjan-Mar, die zwar vom Rest des Landes abgeschnitten, aber dennoch recht groß sind. Ich beschäftige mich jedoch eher mit solchen Orten, die überhaupt von allem abgeschnitten sind, von wo aus sogar die zugehörige Bezirkshauptstadt nur mit Mühe zu erreichen ist.

    Nehmen wir beispielsweise einen Bezirk in der Region Archangelsk. Nach meinen Berechnungen leben 40 Prozent der Einwohner dort in räumlicher Isolation. Auch in der Region Kostroma gibt es eine Vielzahl solcher Communities – die übrigens gar nicht so weit von Moskau entfernt liegen. Betrachtet man die Bezirke Nerechtski und Krasnoselski in der Nähe von Kostroma, findet man dort wahrscheinlich keine isolierten Communities.

    Wenn jemand vermisst wird, wird er gar nicht erst gesucht. Weil es nutzlos ist: über 100, ja sogar 200 Kilometer nur Taiga und sonst nichts

    Aber östlich des Flusses Unsha, im Norden des Gebiets, gibt es dann zehn bis fünfzehn solcher Dörfer in einem Bezirk. Die Leute von dort sagen: Wenn jemand aus dem Nachbardorf, sagen wir aus Medwedewo, in unsere Gegend zum Wandern oder Jagen kommt und vermisst wird, dann wird er gar nicht erst gesucht. Weil es nutzlos ist: über 100, ja sogar 200 Kilometer nur Taiga und sonst nichts.

    Müll? Nein. Eine selbstgebaute Vorrichtung zum Ebnen der Wege
    Müll? Nein. Eine selbstgebaute Vorrichtung zum Ebnen der Wege

    Wie entstehen solche isolierten Communities?

    In den 60er Jahren gab es eine Kampagne, bei der erklärt wurde, viele Dörfer hätten keine Perspektive. Kolchosen wurden zu Sowchosen zusammengeschlossen, die Menschen wurden nahezu gewaltsam umgesiedelt. Was heißt nahezu? Damals durfte man ja kein Schmarotzer sein, man musste unbedingt irgendwo arbeiten. Und die Arbeitsplätze waren alle staatlich.

    Wenn diese in den perspektivlosen Dörfern auf Befehl von oben abgeschafft wurden, hatten die Leute oft keine andere Wahl, als von dort wegzuziehen, um sich nicht strafbar zu machen.

    Immer mehr Dörfer verschwanden. Doch einige blieben. Das waren hauptsächlich ältere Siedlungen. Außerdem gibt es noch die Dörfer der Altgläubigen. Die sind absichtlich möglichst weit weg gezogen, damit sie keiner findet.

    Zu Sowjetzeiten gab es keine wirklich isolierten, nur sehr abgelegene Dörfer
    Zu Sowjetzeiten gab es keine wirklich isolierten, nur sehr abgelegene Dörfer

    Darüber hinaus sind zur Sowjetzeit viele Waldsiedlungen entstanden. Gebaut wurden Behelfsunterkünfte, Baracken für die nächsten 20 bis 30 Jahre. Eine Weile funktionierte das.

    Man gründete beispielsweise in den 50er Jahren eine Siedlung und löste sie in den 70er Jahren wieder auf, weil der Wald ringsum abgeholzt war. Doch irgendwann brach die Sowjetunion zusammen – und die Leute blieben im Wald, in ihren Behelfsunterkünften.

    Heißt das, dass es zu Sowjetzeiten keine isolierten Dörfer gab?

    Wirklich isolierte Dörfer gab es praktisch nicht. Die Dörfer waren vielleicht sehr abgelegen, aber dafür gab es dann eine Flugverbindung. Oder Boote, wenn das Dorf an einem Fluss lag.

    Die Preise waren damals sehr niedrig: Für nur einen Rubel konnte man in die Bezirkshauptstadt fliegen – und das bei einem Monatslohn von vielleicht 300 Rubel. Aber das war einmal. Wenn es solche Hubschrauberverbindungen heute noch gibt, dann kosten sie meist ordentlich: Vielleicht 5000 Rubel, bei einem Monatslohn von 10.000 bis 15.000 Rubel – das kann sich keiner leisten. Heute leben die Leute dort eher für sich.

    Fahrzeuge, die wie Schützenpanzer aussehen – hier im Gebiet Kostroma
    Fahrzeuge, die wie Schützenpanzer aussehen – hier im Gebiet Kostroma

    Kann man bei den isolierten Siedlungen, die Sie erwähnten, von einer richtigen Dorfgemeinschaft sprechen?

    Auf alle Fälle. In den nicht-isolierten ländlichen Gebieten gibt es alte Dörfer, die zwischen 300 und 500 Jahre alt sind, und sowjetische Siedlungen, die es erst seit 50 Jahren gibt. In den alten Dörfern gibt es ein mehr oder weniger einträchtiges und solidarisches Gemeinleben. Aber in den zusammengewürfelten sowjetischen Dörfern leben die Leute sehr separiert und distanziert voneinander.

    Die Isolation schweißt enger zusammen als Blutsverwandtschaft oder uralte Nachbarschaft

    In der Isolation gibt es das nicht: Der Faktor Isolation schweißt offenbar mehr zusammen als Blutsverwandtschaft oder uralte Nachbarschaft. Normalerweise herrscht dort eine einträchtige und solidarische Dorfgemeinschaft – man hilft einander dabei, zu überleben. Und was auffällig ist: Je größer die Isolation, desto langsamer der Bevölkerungsschwund.

    Wie lässt sich das erklären?

    Man kann verschiedene Stufen der Isolation unterscheiden. Geringfügig isoliert wäre beispielsweise ein Dorf, das nur wenige Kilometer von der Bezirkshauptstadt entfernt liegt – am anderen Flussufer, ohne Fähren und Brücken. Bei Eisgang oder beginnender Eisbildung sind die Menschen dort komplett abgeschnitten. Aber wenn der Fluss im Winter ganz zugefroren ist, können sie einfach über das Eis gehen.

    Solche geringfügig isolierten Dörfer sind instabil: Der Bevölkerungsschwund ist höher, die Dörfer sterben schneller aus als solche, die gar nicht isoliert sind. Bei stark isolierten Dörfern ist es umgekehrt: Sie sterben langsamer aus. Warum? Weil die Schwierigkeiten von Anfang an klar sind: Die Dörfer sind schwer zu erreichen, die Versorgung ist problematisch, die Preise in den Läden sind hoch, und selbst Geschäfte zu machen lohnt sich kaum – besonders, wenn sie nicht schwarz laufen sollen.

    Die Nachteile sind offensichtlich, und Vorteile gibt es in einer derartigen Isolation keine. Wer entlegen genug lebt, kann jedoch nach Belieben die Gaben der Natur nutzen.

    Die Hauptfeinde der Dorfbewohner sind die Kontrollbehörden

    Die Hauptfeinde der Dorfbewohner sind die Kontrollbehörden. Feuerwehr, Verbraucherschutz und Gesundheitsamt stellen einheitliche Vorschriften für ganz Russland auf, die man aber hier unmöglich einhalten kann.

    In solchen Gegenden betreiben die Leute meist aktiv Fischfang, daher ist ihr größter Feind die Fischereiaufsicht. Formell gelten sie als Wilderer, obwohl sie das eigentlich gar nicht sind. Sie gehen ziemlich verantwortungsbewusst mit der Umwelt um, zumal die sie ernährt: Sie nehmen nicht mehr als sie brauchen.

    Generell sind solche Kontrollaktionen ein großes Problem. Aber je weiter entfernt man lebt, desto weniger Kontrollinstanzen gibt es. An die entlegensten Orte kommt nur noch die Fischereiaufsicht.

    Kennen Sie den Film Des Postboten Weiße Nächte? Darin geht es um ein mehr oder weniger isoliertes Dorf im Gebiet Archangelsk. Die Protagonistin ist eine Inspekteurin der Fischereiaufsicht. Erstens: Eine Frau als Inspekteurin – das habe ich noch nicht erlebt. Zweitens ist sie eine Ortsansässige. Das ist vollkommen unrealistisch – als Inspekteurin hätte man dort kein leichtes Leben: Entweder müsste sie auf die korrekte Ausübung ihrer Pflichten verzichten oder sie wäre bei den anderen unten durch.

    In der Regel kommen die Inspekteure aus Nachbarbezirken, oft sogar aus ganz anderen Regionen. Im Gebiet Archangelsk, am Fluss Mesen, kommen die Inspekteure beispielsweise aus der Republik Komi. Und die Inspekteure aus dem Gebiet Archangelsk fahren einmal übers Weiße Meer nach Karelien, damit es daheim keine Interessenkonflikte gibt.

    Erstens: Eine Frau als Inspekteurin – das habe ich noch nicht erlebt. Zweitens eine Ortsansässige. Das ist vollkommen unrealistisch

    Im Gebiet Kostroma kommen die Kontrolleure aus der Bezirkshauptstadt – irgendwie sind die Leute von dort ja auch bereits Fremdlinge.

    Es verirren sich auch kaum Touristen oder Jäger in die abgeschiedenen Gegenden, daher ist die Natur dort noch sehr reich. Wer irgendwie kann, sammelt Beeren und verkauft sie auswärts. Damit lässt sich sogar gutes Geld verdienen.

    Auf dem Weg zum Fischen im Gebiet Kostroma. So gut wie alle fischen, viele jagen
    Auf dem Weg zum Fischen im Gebiet Kostroma. So gut wie alle fischen, viele jagen

    Wie viel kann man da so verdienen?

    Wenn Sie ein konkretes Beispiel wollen: Ich habe ein Rentnerehepaar kennengelernt, beide 70 Jahre alt. In einer Saison haben die mit ihren Beeren 200.000 Rubel [2700 Euro] verdient. Ich habe sogar davon gehört, dass jemand in einer Saison eine Million gemacht haben soll – aber das halte ich eher für ein Gerücht.

    In einem Experiment habe ich mal ermittelt, wie viele Beeren man an einem Tag pflücken kann, und dann geschaut, wie viel man an den Annahmestellen dafür bekommt. Eine Million ist vielleicht möglich, wenn ein ganzer Clan, ein Kollektiv von morgens bis abends nur Beeren pflückt. Aber dann muss man die Million am Ende auch mit acht Leuten teilen und nicht nur zu zweit.

    Ich habe sogar davon gehört, dass jemand in einer Saison mit Beeren eine Million gemacht haben soll – aber das halte ich eher für ein Gerücht

    In der Soziologie ländlicher Räume gibt es den Begriff von den „Waffen der Schwachen“ – Waleri Winogradski hat darüber viel geschrieben. Es geht um eine Reihe von Verhaltenweisen, mit denen die Menschen auf dem Land in Krisenzeiten überleben.

    Das heißt, wenn es keine offizielle Arbeit gibt, ziehen die Leute einfach aus allen möglichen Sachen einen kleinen Profit: Sie stellen Dinge selber her, halten ihr eigenes Vieh und vergrößern nach Möglichkeit ihren eigenen Obst- und Gemüseanbau. Nun sagt Winogradski, dass die Waffen der Schwachen schwach sind, weil sie zwar das Überleben garantieren, es einem jedoch nicht ermöglichen, sich weiterzuentwickeln.

    Hier eine Kopeke, da eine Kopeke – aber zusammen wird daraus immer noch kein Rubel. Im Norden, insbesondere im Gebiet Kostroma, ist das anders. Wenn man hier jagt oder sammelt, anstatt sein eigenes Vieh zu halten oder Obst und Gemüse anzubauen, ist nicht nur der Arbeitsaufwand geringer, sondern auch der Ertrag deutlich größer. Deswegen sind die Leute hier wesentlich wohlhabender.

    Fähre über den Fluss. Es kommt vor, dass ein Patient im Boot hinüber transportiert werden muss. Man darf nur nicht zu sehr schaukeln, sonst schafft es der Kranke gar nicht erst ans andere Ufer
    Fähre über den Fluss. Es kommt vor, dass ein Patient im Boot hinüber transportiert werden muss. Man darf nur nicht zu sehr schaukeln, sonst schafft es der Kranke gar nicht erst ans andere Ufer

    Inwiefern können die isolierten Communities ihre Probleme selbstständig lösen?

    Ihre allgemeinen Probleme lösen sie quasi alle gemeinschaftlich. Die Bürgermeister der Orte, zu denen die isolierten Communities gehören, sagen: „Was kann ich schon für die machen? Die sind so weit weg, wer soll das bezahlen? Es ist klar, dass ich für sie rein gar nichts tun kann. Sie verstehen das und nehmen es mir auch nicht übel. Sie machen alles selbst.“

    In der Regel lässt der Staat die isolierten Communities in Ruhe. Man könnte daher sagen, dass hier eine Art Anarcho-Kommunismus herrscht

    In der Regel lässt der Staat die isolierten Communities in Ruhe: Er hilft nicht, dafür stört er auch nicht mit ständigen Kontrollen. Man könnte daher sagen, dass hier eine Art Anarcho-Kommunismus herrscht. Die Leute leben dort wie in einer großen Familie und wissen diese Bindungen sehr zu schätzen. Darüber hinaus fühlen sie sich völlig frei, denn sie können über die Gaben der Natur nach Belieben verfügen, können leben, wie sie wollen, und pflegen untereinander enge Beziehungen, die sie unter keinen Umständen aufgeben wollen.

    Wir waren in einem Dorf im Bezirk Kologriwski und haben beobachtet, wie die Einheimischen interagieren. Das hat mich beeindruckt. Wie dort die Leute miteinander kommunizierten, sogar die über 70-jährigen mit den jungen – das hat mich an meine eigene Jugend erinnert, wie ich damals mit Altersgenossen umgegangen bin.

    Ich habe früher jeden Sommer auf dem Dorf verbracht, im Gebiet Kaluga. Und genauso, wie wir damals mit 14 miteinander redeten, unterhielten sich die Leute hier: „Na, kommst du mit raus?“ – „Gehen wir in die Banja?“ Oder: „Lass mal Fußball spielen!“ Das war wie ein Dorf voller Teenager. Mich hat das sehr gerührt. Ein gewöhnliches altes Dorf – aber ein isoliertes.

    Jetzt bauen sie dort eine psychiatrische Klinik – vielleicht wurde sie auch schon eröffnet. Entsprechend wird es dann auch Arbeit geben, Leute aus der Bezirkshauptstadt werden kommen. Das Leben wird sich sicherlich verändern, wenn das Dorf plötzlich nicht mehr so isoliert ist.

    An einer Stelle sind die Menschen völlig abhängig – bei den Schulen. Die Einwohner von Darawka sorgen selbst für die Erhaltung der leerstehenden Schule
    An einer Stelle sind die Menschen völlig abhängig – bei den Schulen. Die Einwohner von Darawka sorgen selbst für die Erhaltung der leerstehenden Schule

    Gibt es neben dem Transportproblem noch andere unlösbare Probleme?

    An einer Stelle sind die Menschen völlig abhängig: bei den Schulen. Sie haben selber keinen Einfluss darauf, ob es eine Schule gibt oder nicht. Solche Entscheidungen werden auf Bezirks- oder Gebietsebene getroffen.

    Wenn eine Schule geschlossen wird – und die Schulpflicht gilt bei uns bis zur 9. Klasse –, dann hat das Dorf keine Perspektive mehr. Heimunterricht machen sie nicht, da in der Regel niemand einen Hochschulabschluss hat. So sind Familien mit Kindern gezwungen, das Dorf zu verlassen.

    Wie denken die Bewohner selber über ihre Isolation?

    Sie sehen ihre Isolation als etwas Positives. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem Gebiet Murmansk: Die Gouverneurin flog in eines der abgeschiedenen Dörfer und bot den Bewohnern an, auf Staatskosten eine Straße zu bauen. Auf der Dorfversammlung stimmten die Bewohner dagegen.

    Sie haben sich an die Isolation gewöhnt, sie sehen darin ein Privileg, das sie erhalten möchten

    Auch im Gebiet Kostroma gibt es solche Fälle. Ihnen hatte man zwar nichts angeboten, aber als ich sie fragte, ob sie eine Brücke mit Asphaltstraße wollten, meinten viele: „Nein, dann geht hier alles zugrunde.“ Sie haben sich an die Isolation gewöhnt, sie sehen darin ein Privileg, das sie erhalten möchten.

    Artemi, können Sie uns noch genauer schildern, wie sich die Isolation auf das alltägliche Leben der Menschen auswirkt?

    Die Abgeschiedenheit hat einen Einfluss auf die Ernährung der Menschen. So gut wie alle fischen, viele jagen. Daher ist ihr Verbrauch an Fleisch und Fisch höher als in anderen ländlichen Gebieten. Sie fahren andere Autos. Ein gewöhnlicher Kleinwagen bringt dort nicht viel – es muss schon mindestens ein Lada Niva, ein UAZik oder ein anderer Geländewagen sein.

    In einem Dorf im Gebiet Murmansk fahren viele Leute Fahrzeuge, die wie Schützenpanzer aussehen. Hier das Haus, davor der Zaun und unter der Birke steht dann mit Plane bedeckt ein Schützenpanzer. Und alle haben sie Motorschlitten. Wenn das Dorf am Fluss liegt, kommt man um ein Boot nicht herum.

    Übrigens haben die Leute keine Angst, ihre Boote unbeaufsichtigt zu lassen. Sie lassen auch die Bootsmotoren dran, die ja für Diebe oft wertvoller sind als das ganze Boot.

    In einem Dorf im Gebiet Murmansk fahren viele Leute Fahrzeuge wie dieses. Und alle haben sie Motorschlitten
    In einem Dorf im Gebiet Murmansk fahren viele Leute Fahrzeuge wie dieses. Und alle haben sie Motorschlitten

    Gibt es dort keinen Diebstahl?

    Nein, weil dort keine Diebe hinkommen. Und falls die Bewohner merken, dass du klaust, werden sie dir das Leben schwer machen – oder dich einfach im Wald abservieren. Sogar die Haustüren lassen sie offen.

    Gibt es dort irgendeine Art von Polizei?

    Nein. Wobei – formell gibt es schon einen Revierpolizisten. Der sitzt aber in der Regel in der Bezirkshauptstadt und verirrt sich nicht in die Dörfer.

    Es kommt vielleicht vor, dass die Polizisten einmal im Jahr eine Razzia machen und irgendwelche Leute bestrafen, weil sie ihre Hunde nicht anleinen. Klar, wenn jemand ermordet wird, kommt natürlich auch die Polizei. Aber sonst bemerkt man ihre Anwesenheit nicht.

    Und was geschieht bei gesundheitlichen Problemen?

    Es gibt medizinische Hilfskräfte auf dem Land, aber ein Krankenwagen kommt meistens nicht. Aus dem einfachen Grund, dass so eine Fahrt recht teuer ist und die Bezirkskrankenhäuser mit knappem Budget wirtschaften. Einige Dörfer könnte der Krankenwagen selbst beim besten Willen nicht erreichen, insbesondere dann nicht, wenn das Fahrzeug ein GAZel und keine Buchanka mit Allradantrieb ist.

    Wenn man weiter weg wohnt, kommt der Notarzt halt erst, wenn der Patient bereits im Sterben liegt

    Teilweise gibt es inoffizielle Regelungen, etwa dass der Krankenwagen das Bezirkszentrum und 15 Kilometer im Umkreis abdeckt. Wenn man weiter weg wohnt, muss der Patient entweder selbst gebracht werden, oder der Notarzt kommt halt erst, wenn der Patient bereits im Sterben liegt.

    Es kommt auch vor, dass die Ärzte nur bis zum nächsten Flussufer fahren und der Patient im Boot hinüber transportiert werden muss. Man darf nur nicht zu sehr schaukeln, sonst schafft es der Kranke gar nicht erst ans andere Ufer. Wegen solcher Schwierigkeiten behandelt man sich meistens selbst.

    Der Soziologe Artemi Posanenko auf Expedition. Foto © Natalja Shizkewitsch
    Der Soziologe Artemi Posanenko auf Expedition. Foto © Natalja Shizkewitsch

    Welche technischen Geräte benutzen die Bewohner?

    Alle haben eine Trikolor-Satellitenschüssel auf dem Dach. Von den Nachrichten sind die Leute hier nicht abgeschnitten. Sie sind stets auf dem Laufenden über das, was gerade los ist. Fernsehen gibt es überall – Handyempfang dagegen nicht immer. Aber meistens gibt es im Dorf wenigstens ein paar Leute mit Festnetzanschluss oder zumindest einen Münzfernsprecher. Wer keinen Festnetzanschluss hat, telefoniert eben beim Nachbarn.

    Artemi, wie verhalten sich die Leute Ihnen gegenüber, wenn Sie als fremder Forscher in solche Gemeinden kommen?

    Die Leute sind sehr offen: Sie lassen einen einfach bei sich übernachten, verpflegen einen und erzählen einem alles. Ich bin nie in irgendwelche Schwierigkeiten geraten.

    Ich hab nur ein Mal einen Betrunkenen im Gebiet Kostroma gesehen. Das war der Gehilfe der Postbotin, genauer gesagt: ihr Mann

    In meiner gesamten Forschungszeit habe ich nur ein Mal einen Betrunkenen im Gebiet Kostroma gesehen. Das war der Gehilfe der Postbotin, genauer gesagt: ihr Mann.

    Dreimal die Woche läuft die Postbotin je zwölf  Kilometer hin und zurück, um auf der anderen Seite des Flusses die Post zu holen. Ihr Mann hilft ihr, die Taschen zu tragen und das Boot überzusetzen. Der Dorfladen hat keine Lizenz für den Verkauf von Alkohol, und es brennt auch keiner etwas selbst. Also ist der Postbotengehilfe dreimal die Woche betrunken.

    Sie sagten, dass sich die Leute dort völlig frei fühlen – worin äußert sich das?

    Angenommen im Dorf leben 50 arbeitsfähige Menschen. Von denen sind vielleicht insgesamt nur sieben auf dem offiziellen Arbeitsmarkt unterwegs. Wovon die anderen 43 leben, ist unklar. Der Staat weiß es nicht, in der Statistik tauchen sie nicht auf.

    Olga Golodez sagte 2013 auf einer Konferenz, dass in Russland 86 Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter leben. Allerdings wisse man bei 38 Millionen davon überhaupt nicht, was sie eigentlich machten – darüber habe man keinerlei Daten.

    Klar diktiert die Natur hier gewisse Bedingungen, aber abgesehen davon sind die Leute völlig frei und sich dessen auch bewusst

    In den Gegenden, über die wir hier sprechen, ist der Anteil noch deutlich höher. Offiziell arbeiten die Leute hier nirgendwo, aber in den Arbeitslosenstatistiken sind sie auch nicht erfasst. Anderswo stehen die Menschen Schlange vor dem Arbeitsamt, um ihre kümmerlichen 800 oder 1000 Rubel Sozialhilfe zu erhalten. Aber hier lohnt sich das nicht: Zweimal im Monat müsste man in die Bezirkshauptstadt fahren, um sein Geld abzuholen – letztlich würde man mehr Geld für die Fahrten ausgeben, als man an Sozialhilfe ausgezahlt bekäme. Darum ist hier offiziell auch niemand arbeitslos.

    In einigen Dörfern gibt es tatsächlich Arbeit, im Gebiet Murmansk zum Beispiel. Es gibt dann freie Stellen, die aber niemand annimmt. Das heißt, den Leuten wird Arbeit angeboten, die sie jedoch ablehnen. Warum? Weil sie vom Wald leben. Im Wald zu sein, ist für sie viel lohnender und angenehmer, als von früh bis spät auf der Arbeit zu sitzen.

    Also zurück zum Beispiel oben: Von den 50 Menschen arbeiten offiziell vielleicht sieben – und alle anderen können frei über ihre Zeit verfügen. Das heißt, sie können machen, was sie wollen und wann sie es wollen. Klar diktiert die Natur hier gewisse Bedingungen, aber abgesehen davon sind die Leute völlig frei und sich dessen auch bewusst.

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