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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Neue Tomographen genügen nicht

    Neue Tomographen genügen nicht

    Russische Mediziner haben einst großes Ansehen genossen. Heute ächzt das Gesundheitsystem unter vielen Lasten: Die Pharmaindustrie kauft Ärzte für zweifelhafte Studien, die Ausbildung ist praxisfern und veraltet, und für gute Mediziner gibt es kaum Karriereperspektiven. Der Autor des Artikels, selbst Kardiologe und in leitender Management-Position in einer großen Krankenhausgruppe tätig, nennt die Missstände beim Namen und fordert einen tiefgreifenden Wandel im Medizinsektor.

    Wollte man das russische Gesundheitssystem in seiner derzeitigen Form durch höhere Geldinvestitionen verbessern, könnte man auch gleich versuchen, Feuer mit Benzin zu löschen. Selbst in dem hypothetischen Fall, dass alle russischen Kliniken von einem Moment auf den anderen auf dem neuesten Stand der Technik wären, über die modernsten Medikamente verfügten und die dort arbeitenden Ärzte genauso viel verdienten wie ihre amerikanischen Kollegen, hätte dies, wie ich vermute, auf die Qualität der Behandlung der meisten Patienten wenig Auswirkungen.

    Zwar würde sich die Behandlung einiger klar umrissener Patientengruppen, die vor allem auf bestimmte Arzneimittel angewiesen sind, spürbar verbessern. Das sind z. B. Kinder mit sogenannten seltenen Krankheiten, Patienten mit Hämoblastosen (Blutkrebs) oder mit Infektionen, die eine moderne intravenöse Antibiotikatherapie erfordern, aber auch einige zehntausend Patienten mit vergleichsweise seltenen schweren Erkrankungen, bei denen die herkömmlichen Behandlungsmethoden nicht angeschlagen haben und die nun auf die Verschreibung extrem kostspieliger Arzneimittel hoffen, z. B. Targetproteine, Biologika. Doch bei Millionen Patienten, die an weit verbreiteten Krankheiten leiden, an koronarer Herzkrankheit, an Bluthochdruck, Magengeschwüren, Asthma, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, Harnsteinen oder operierbaren Krebsformen, um nur einige zu nennen, würde sich wohl selbst dann kaum eine rasche Besserung einstellen, wenn das Gesundheitssystem über unbegrenzte Mittel verfügte.

    Ohne gute Ärzte können Apparate nicht heilen

    Der Krebs, der nicht entdeckt wird, weil der Arzt den Patienten nicht zur Diagnostik schickt, wird weiterhin nicht diagnostiziert werden. Eine Struktur, die bei einem gewöhnlichen Ultraschall oder CT nicht gefunden wird, wird auch dann nicht erkannt werden, wenn man dem untersuchenden Arzt ein Gerät der Extraklasse hinstellt. Ein Notarzt, der heute bei einem Infarkt keine Lyse einleitet (in der Hauptstadtregion gehören die hierfür nötigen Präparate zur Ausstattung), wird dies auch nach einer Gehaltserhöhung nicht tun. Neurologen werden ihre Patienten weiterhin mit den ihnen vertrauten, gänzlich ineffektiven Nootropika und Gefäßpräparaten behandeln, und der Allgemeinmediziner verschreibt bei einer einfachen Erkältung Immunmodulatoren und virenhemmende Mittel, die nicht nur unwirksam, sondern auch nicht ungefährlich sind. Auch wenn Bauchchirurgen bei einer Operation an der Bauchhöhle die besten Endoskop-Modelle verwenden, macht sie das nicht effektiver oder sicherer. Und so weiter und so fort.

    Ich versichere Ihnen, es wird nach wie vor Millionen nicht diagnostizierter Krankheiten und Falschbehandlungen geben, denn der Erfolg einer Behandlung hängt nicht davon ab, ob die Ausstattung und Labors topmodern und die Medikamente die allerneuesten sind; in erster Linie kommt es darauf an, dass der Arzt sein Fach beherrscht, im klinischen Denken erfahren und mit neuen Heilverfahren vertraut ist. Die Anwendung hochwirksamer biologischer Präparate durch einen schlecht ausgebildeten Arzt kann mehr zerstören als die eigentliche Krankheit. Der kritische Zustand der russischen Medizin ist vor allen Dingen bedingt durch die tiefgreifende Krise der medizinischen Ausbildung. Die medizinische Ausbildung in der Sowjetunion galt zu Recht als eine der besten der Welt. In den neunziger Jahren und zu Beginn der 2000er jedoch erlebte dieses System einen Niedergang. Nur wenige blieben in der Medizin, höchstens ein Drittel aus glühender Leidenschaft für den Beruf – für die meisten wurde es ein Tribut ans Überleben zu lernen, irgendwie Geld lockerzumachen.

    Mediziner haben sich von der Pharmaindustrie kaufen lassen

    Zahlreiche Professoren der Medizin, die heute von oben herab auf Kollegen und Patienten blicken, waren jahrelang gezwungen, vor der Regierung und der Pharmaindustrie zu Kreuze zu kriechen. Man kann sie dafür schwerlich verurteilen, konnten mit den Geldern doch Institute und Fakultäten am Leben erhalten werden. Der Nebeneffekt jedoch war furchtbar: Russische Fachzeitschriften quollen über vor tendenziösen, von der Pharmaindustrie bezahlten Artikeln, Vorträge „führender Wissenschaftler“ bei großen Kongressen enthielten unverhüllt Werbung für pharmazeutische Produkte, und zwar keineswegs für die besten. Die angewandte medizinische Wissenschaft, ganz zu schweigen von der Grundlagenforschung, geriet in eine starke Abhängigkeit von der Industrie.

    In den darauffolgenden fetten Jahren vergaßen etliche Professoren, die inzwischen Karriere gemacht hatten, wofür sie unter solch großen Mühen Mittel beschafft hatten, und steckten die Gelder, die mittlerweile flossen, nicht länger in die Forschung und den Unterhalt des Personals. Anstatt junge Ärzte auszubilden und wissenschaftliche Studien durchzuführen, zogen sie es vor, im ganzen Land umherzureisen, um durch Sponsorengelder finanzierte Vorträge zu halten und wissenschaftlich gänzlich wertlose Auftragsstudien über Pharmazeutika durchzuführen. Sie wurden benutzt, um die Medikamente auf dem russischen Markt zu promoten und sie im Register der lebensnotwendigen und wichtigsten Medikamente zu platzieren. Um sich vom Wahrheitsgehalt dieser Aussagen zu überzeugen, können Sie jede beliebige große russische Fachzeitschrift aufschlagen und die Artikelüberschriften und Lobhudelei in den Ergebnissen lesen.

    abgeschnitten vom internationalen know-how, oft mit gefälschten Diplomen

    Die letzten zwanzig Jahre waren die Ärzte dauerhaft mit einem überaus heiklen ethischen Dilemma konfrontiert: Entweder du verkaufst dich, oder du führst ein Leben in Armut. Die Lebensbedingungen der Fakultätsangehörigen und Lehrer der medizinischen Hochschulen, die ihren moralischen Prinzipien treu geblieben sind, haben sich katastrophal verschlechtert. Hier kommt erschwerend hinzu, dass eine qualitativ hochwertige ärztliche Ausbildung sehr teuer ist. Die heutigen Ärzte und Mediziner waren vom Zugang zu akademischem Wissen abgeschnitten: Bibliotheken schafften keine westliche Literatur an, das Abonnement einer Fachzeitschrift (ca. 100–500 $ pro Jahr) oder der Ankauf von wissenschaftlichen Artikeln (5–30 $ pro Stück) galten als Luxus. Die Lektüre neuerer russischer Bücher oder Artikel hatte im Allgemeinen entweder aufgrund der schlechten Qualität oder aufgrund des tendenziösen Inhalts praktisch keinen Sinn.

    Parallel dazu mehrte sich das Phänomen der Pseudowissenschaftler mit gefälschten Dissertationen. Manche von ihnen waren in wissenschaftlichen Kreisen und Medien ausgesprochen aktiv und verbreiteten komplett falsche Informationen unter den Medizinern, die aus Sowjetzeiten noch gewohnt waren, den „Doktoren aus der Hauptstadt“ zu vertrauen. Zudem wurde das System der akademischen Grade und Titel in den Augen der Wissenschaftsgemeinde durch gehäuft auftretende dreiste Titelbetrüger faktisch entwertet. Wobei der Doktortitel oder die Habilitation als unabdingbare Voraussetzung dient für den Erhalt von Fördergeldern, für eine Publikation in einer renommierten Zeitschrift oder für die Möglichkeit, Vorträge vor einem Ärztepublikum zu halten.

    Die Ausbildung junger Ärzte an den medizinischen Hochschulen und Fakultäten stützte sich in vielem noch auf die Lehrer der alten Garde, die auch unter Krisenbedingungen in der Lage gewesen waren, dem Nachwuchs medizinische Kenntnisse zu vermitteln. Doch die medizinische Wissenschaft entwickelt sich in rasantem Tempo (Innovationen erreichen Russland mit einer Verzögerung von 10 bis 20 Jahren), so dass die Kenntnisse der Lehrer der alten Schule schnell veralteten. Und das betrifft nicht nur die Spitzentechnologien, sondern auch das ganz gewöhnliche ärztliche Tagesgeschäft.

    fast keine Praxis mehr in der Ausbildung

    Gegenwärtig wird die Situation noch dadurch verschärft, dass man den Kurs verfolgt, Lehre und Behandlungspraxis stark voneinander zu trennen. Der Kontakt der Studenten mit Patienten ist sehr beschränkt, die Ausbildung erfolgt anhand von Modellen und Lehrbüchern in großen Gruppen. Die Fakultätsangehörigen mit der größten Erfahrung, die jahrzehntelang Krankenhausabteilungen betreut haben, werden massenhaft von der praktischen Behandlung der Patienten und der wissenschaftlichen Forschung abgezogen. All das wird mit juristischen Feinheiten begründet und kommt selbstverständlich den Chefärzten der Kliniken zupass, die so an ihren eigenen kleinen Hierarchien basteln können.

    Die meisten meiner Kollegen, die an staatlichen medizinischen Einrichtungen geblieben sind, müssen ärztliche Praxis, Forschung sowie Organisation unter einen Hut bringen und dazu noch an der Uni lehren. Die Versorgung der Patienten hat Priorität, da bleibt wegen des Zeitdrucks oft der Unterricht auf der Strecke: Für gewöhnlich überträgt man die Ausbildung Assistenzärzten und Doktoranden, so bekommen auch die schwächsten Studenten ihre Testate. Darum sind die Hochschulabsolventen und glücklichen Besitzer eines Arztdiploms – sofern sie für den Erwerb von Kenntnissen nicht außerordentliche Willenskraft aufgewendet haben – überhaupt nicht in der Lage, selbst die einfachsten Fälle zu behandeln.

    Der Mangel an Erfahrung führt bei den Ärzten zu Angst vor neuen Behandlungsmethoden, die man nicht überwinden kann, wenn man keinen Lehrer hat, der einem die Nebenwirkungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung erklärt. In manchen medizinischen Fachgebieten sind Ärzte, die über Expertenwissen zu modernen Technologien verfügen, gänzlich verschwunden. Auch bildet niemand mehr Lehrer aus, geschweige denn die praktischen Ärzte. Die Fortbildungen, die wir alle fünf Jahre besuchen müssen, um unsere Zulassung zu verlängern, sind reine Scheinveranstaltungen. Das Wissen, das man dort vermittelt bekommt, erinnert an das Licht ferner Sterne, das die Erde erst erreicht, nachdem sie längst erloschen sind.

    Telemedizin, writing centers und ein neues Akkreditierungssystem könnten helfen

    Immerhin: Das russische Gesundheitsministerium scheint den Ernst der Lage durchaus zu erkennen. Der Weg vom Abschluss des Medizinstudiums bis zur Facharztprüfung ist wesentlich länger geworden. Um der Verteidigung minderwertiger Dissertationen vorzubeugen, wurden in den letzten Jahren die Anforderungen durch die Höhere Attestierungskommission stark verschärft. Dies betrifft allerdings im Wesentlichen die Einholung aller möglicher Gutachten und Dokumente, was eine Menge bürokratischer Verzögerungen mit sich bringt, jedoch nicht immer effektiv ist.

    Ab 2016 wird statt der bisherigen Abschlüsse für Ärzte ein dem europäischen ähnliches Akkreditierungssystem eingeführt. Es sieht vor, dass sich Ärzte kontinuierlich weiterbilden und durch den Besuch von Lehrgängen und Kongressen sowie durch Publikationen Punkte sammeln können, wodurch sie zu ständiger Wissenserneuerung angeregt werden sollen. Um die Situation grundlegend zu verändern, ist es jedoch notwendig, die medizinische Ausbildung vollkommen umzugestalten. In sie muss investiert werden und nicht in die Anschaffung irgendwelcher Tomographen. Die Gehälter der medizinischen Hochschullehrer sollten mit dem Einkommen eines erfolgreichen Arztes vergleichbar sein. Die Betreuung von Krankenhausstationen und jungen Ärzten in Ausbildung sollte wieder zu einer breiten Praxis werden und zusätzlich entlohnt. 

    Russische Studenten müssten an den besten medizinischen Hochschulen der Welt studieren (mit der vertraglichen Garantie einer anschließenden Anstellung in Russland). Leitende Oberärzte und Professoren sollten zu Fortbildungszwecken in den besten Kliniken der Welt praktizieren, um hinterher diese Kenntnisse an die Ärzte vor Ort weiterzugeben. Zur Unterstützung russischer Mediziner, die ihre Artikel nicht in westlichen Zeitschriften publizieren können, sollten Schreib- und Übersetzungszentren geschaffen werden (nach dem Vorbild der writing centers an US-amerikanischen Universitäten). Forschern, die es geschafft haben, in einschlägigen westlichen Zeitschriften einen Artikel zu veröffentlichen oder für einen Vortrag bei einer internationalen Konferenz eingeladen werden, sollte der gleiche Respekt entgegengebracht werden wie international erfolgreichen Sportlern. Zumindest sollten sie Förderungen erhalten, die die Reisekosten decken. (Geisteswissenschaftler und Techniker staunen nicht schlecht, dass man als Arzt sämtliche Konferenzreisen aus eigener Tasche zahlt).

    An den russischen Universitäten und den großen Kliniken sollten medizinische Fachzeitschriften verfügbar sein, die kostenpflichtige Artikel publizieren. Aktuelle medizinische Kenntnisse an Ärzte, selbst in der entlegensten Provinz, zu „befördern“ ist mittels Telemedizin möglich. Ebenso könnte man auf diese Weise in komplizierten klinischen Situationen schnell und kostengünstig Expertenmeinungen einholen.

    Leider wird infolge der allgegenwärtigen Kommerzialisierung des Gesundheitswesens die Arbeitsleistung der praktischen Ärzte zunehmend nicht nach Qualität bewertet, sondern nach der Höhe der für die Abteilung verdienten Geldbeträge und nach Erfüllung rein formaler Kriterien. Deswegen kann es keine wirksamen Maßnahmen zur Verbesserung geben, solange für die Ärzte kein Anreiz zur Erhöhung der eigenen Qualifikation besteht.

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  • Kaliningrader Bundesflagge

    Kaliningrader Bundesflagge

    Ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Aktivisten will mit der deutschen Bundesflagge ein ironisches politisches Statement setzen, aber der Ablauf der nächtlichen Aktion gerät durcheinander, die Flagge landet am denkbar ungeeignetsten Gebäude und auch das Gerichtsverfahren wegen „Beleidigung der politischen Grundfesten aller Bürger Russlands“ läuft bald ein wenig aus dem Ruder. Ein Einblick in die Graswurzel-Schicht des russischen politischen Lebens. 

    Alles begann am 11. März 2014: Die Krim war noch nicht unser, aber viel fehlte nicht mehr dazu, an den Gebäuden der Stadtverwaltungen im Südosten der Ukraine hingen russische Flaggen über Flaggen. „Begonnen hatte alles mit einem Scherz. Einer von uns sagte: Was wäre wohl, wenn man in Kaliningrad die deutsche Flagge raushängen würde?“, erzählt der Angeklagte Oleg Sawwin dem Richter. Er und Michail Feldman sind örtliche Bürgeraktivisten. Dimitri Fonarjow ist ein Freund von ihnen aus Moskau.

    Auf dem Weg zur Aktion irgendwie verlaufen

    Die Aktion ging ziemlich daneben, es ist verwunderlich, dass überhaupt etwas dabei rauskam. Die Aktivisten sagen, ihr Plan sei eigentlich gewesen, eine Flagge an einem Baum in der Nähe eines Verwaltungsgebäudes zu befestigen: „Wir wollten zeigen, dass Russland haargenau so viel Recht auf die Krim hat wie die Bundesrepublik Deutschland auf die Kaliningrader Oblast." Sie hatten dafür heimlich eine Leiter zusammengenagelt und sie im nahegelegenen Park versteckt. Aber als sie im Morgengrauen mit der Leiter zu dem Gebäude kamen, merkten sie, dass sie unter dem Gewicht eines Menschen zusammenbrach. „Mischa zimmert sogar Plakatlatten so schief zusammen, dass man sie hinterher geraderichten muss – ich kann mir schon vorstellen, was das für eine Leiter war“, sagt Anna Marjassina vom Komitee für öffentliche Selbstverteidigung (KÖS), der Organisation, der auch Feldman und Sawwin angehören.

    Im Dunkeln, als es noch ruhig auf den Straßen war, hatten sich die drei auf den Weg gemacht. „Wir waren ungefähr zwei Stunden unterwegs, hatten uns irgendwie verlaufen, inzwischen wurde es hell und es waren mehr Leute unterwegs. Ich sagte, wir müssten das ein andermal machen, dann eben ohne Fonarjow“, führt Sawwin aus. Fonarjows Zug nach Moskau fuhr bereits in ein paar Stunden. Sie waren schon auf dem Weg zur Bushaltestelle, da fielen dem Moskauer leere Flaggenhalter an einem einstöckigen Gebäude mit einem Garageneinfahrtstor ins Auge. Er nahm Feldman die Stange mit der Flagge aus der Hand und sprang, mit einem Fuß auf den Mauervorsprung gestützt, in die Höhe und steckte sie in den Flaggenhalter. Seine Freunde wussten nicht, wie ihnen geschah. Fonarjow sei gekränkt gewesen, dass die Aktion ohne ihn durchgeführt werden sollte, so erzählt Sawwin. Der Moskauer wusste nicht, dass diese Garage ohne Schild oder sonstige Erkennungszeichen dem FSB gehörte.

    In der ersten Version der Anklageschrift hieß es, die drei hätten „die politischen Grundfesten aller Bürger Russlands beleidigt“. Diese Formulierung war offenbar sogar der Staatsanwaltschaft seltsam erschienen, sie schickte den Fall zweimal zur Nachermittlung. Im Endeffekt werden die Aktivisten nun beschuldigt, Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs beleidigt zu haben – ungeachtet dessen, dass es nicht die Flagge des Dritten Reichs, sondern die der Bundesrepublik Deutschland war, die an der Garage gehisst wurde, und das morgens um sieben für ungefähr drei Minuten.

    Es gibt auch einen Betroffenen in der Sache: den gekränkten Vorsitzenden des örtlichen Veteranenrats (geboren übrigens 1947, also nach Kriegsende). Der Vorsitzende will sich gegenüber der Presse nicht äußern und war auch schon zur ersten Sitzung nicht erschienen.

    Im März 2014 war der Strafrechtsparagraf zum Separatismus noch nicht in Kraft getreten. Also drückte man ihnen den Paragrafen Rowdytum aufs Auge: Der Artikel 213 ist einer der dehnbarsten Artikel des russischen Strafgesetzbuchs, deshalb wird er gern bei politischen Prozessen verwendet. Pussy Riot wurden nach ihm verurteilt, die Greenpeace-Leute wurden für ihre Aktion auf der Arktis-Plattform Priraslomnaja auf seiner Grundlage verfolgt. Feldman, Sawwin und Fonarjow droht nun ein siebenjähriger Freiheitsentzug.

    Wer wurde eigentlich beleidigt, die kämpfenden Frontsoldaten oder die an der Heimatfront?

    Die Anklage schreibt den drei Angeklagten Hass und Feindseligkeit gegenüber der sozialen Gruppe der Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs zu. Die Angeklagten erwidern, auch ihre eigenen Großväter hätten im Krieg gekämpft und seien gefallen, von welchem Hass denn hier eigentlich die Rede sein könne. „Was soll das heißen, ‚soziale Gruppe der Veteranen’? Wer ist denn damit gemeint, die Frontsoldaten oder die an der Heimatfront? Nur diejenigen, die in der Kaliningrader Oblast leben, diejenigen in ganz Russland oder alle Veteranen in allen Ländern des postsowjetischen Raumes? Sicher haben sie alle unterschiedliche Blickwinkel auf die Sowjetmacht: Der eine ist vielleicht Kommunist geblieben, ein anderer, wie z. B. Solschenizyn, geht hin und schreibt Archipelag GULAG“, sagt Sawwin vor Gericht. Immer wieder hört die Sekretärin auf zu tippen und blickt vorwurfsvoll in Richtung des Angeklagten. Oleg Sawwin ist 27, er ist ein wenig beleibt und sehr pedantisch. Seine detaillierten Ausführungen zum Geschehen dauern zwei Stunden. Genauso hatte er kurz nach seiner Festnahme über den Rechtsanwalt seinem Vater eine akribische Nachricht zukommen lassen, in der er genaueste Anweisungen gab, wie seine Spinnen, die er als Haustiere hielt, versorgt werden müssten. Auf keinen Fall dürften sie tote Fliegen bekommen, er solle auf jeden Fall die Spezialnahrung kaufen!  „Die kleinen Spinnlein sind wohl inzwischen ohne mich groß geworden“, schreibt Sawwin in Briefen aus dem Gefängnis.

    Die rätselhaften „politischen Grundfesten“ stehen jedenfalls nach wie vor in der Akte. Der Anwalt Dimitri Dinse, den die Organisation Agora stellte, befragt die Angeklagten: „Wissen Sie, was das bedeutet: ‚politische Grundfesten’? Hat der Ermittler Ihnen erklärt, wen oder was Sie beleidigt haben?“

    „Ich verstehe nicht, wie Bürger in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt einheitliche politische Grundfesten haben können“, erwidert der hochaufgeschossene, magere Michail Feldman leicht stotternd. Die Ermittlungen schreiben ihm die führende Rolle bei dieser Aktion zu: In den Akten wird angeführt, dass es Feldman gewesen sei, der die Flagge gehisst habe, nachdem er auf die zur Räuberleiter ineinander verschränkten Hände seiner Mitstreiter gestiegen sei. Den Ermittlern war es dabei egal, dass Feldman durch die Bewegungsstörung ICP nur über eine eingeschränkte Koordinationsfähigkeit verfügt, so dass es mehr als unwahrscheinlich erscheint, dass er dieses Kunststück hätte ausführen können.

    Die Sache ist die, dass Feldman als Erster gefasst wurde. In dem Moment, als er am Morgen des 11. März die Flagge an der Garage fotografieren wollte, wurde er von Männern in Zivil mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt gestreckt, seine persönlichen Gegenstände wurden ihm abgenommen. In seinem Rucksack wurde später Hexogen gefunden, somit sind es bereits zwei Paragrafen, die Feldman gegen sich hat, da nun auch noch der Besitz von Sprengstoff hinzukommt. Sawwin und Fonarjow gelang es zu flüchten, doch den Zug nach Moskau schaffte Fonarjow nicht mehr: Sie wurden am Bahnhof festgenommen. Es folgten lange Tage im Untersuchungsgefängnis, angeblich wegen obszönen Fluchens in der Öffentlichkeit. Anschließend waren sie 20 Tage auf freiem Fuß. Danach folgte die Inhaftierung, diesmal bereits in einer Strafsache.

    „Lernen Sie öfter Männer über das Internet kennen?“

    „Sawwin redet sich heraus und schwärzt Fonarjow an. Ich beantrage daher, Rechtsanwältin Bonzler von der Verteidigung eines der beiden Angeklagten zu entheben“, fordert plötzlich der Staatsanwalt. Feldman und Sawwin beharren schon den ganzen Prozess über darauf, dass es Fonarjow gewesen sei, der die Flagge aufgehängt habe, zudem aus eigener Initiative. Und Fonarjow selbst, ein hübscher blasser Junge von 24 Jahren, sitzt die ganze Zeit mit abwesendem Blick da und schaut aus dem Fenster, als ob ihn all das überhaupt nichts anginge. Aber jetzt steht er auf und erklärt ganz ruhig, er habe der Rechtsanwältin nichts vorzuwerfen, im Übrigen stimmten seine Aussagen mit denen Sawwins überein. Damit wird klar, dass er wissentlich alles auf sich nimmt. Im Unterschied zu seinen Mitstreitern gesteht er seine Schuld teilweise ein. Dass er den Arm zu einem „Sieg Heil“, erhoben habe, leugnet er jedoch. Die Anklage bleibt hartnäckig dabei, der Aktivist habe Hitler unter der Flagge des heutigen Deutschland, wo die Nazi-Symbolik verboten ist, die Ehre erwiesen. Fonarjow war früher einmal Nationalist (aber niemals Nazi). Im Gegensatz dazu bezeichnet er sich jetzt als Weltbürger, als Kosmopoliten im Sinne Kants. Im Gefängnis ist es einsam, an Verwandten hat er nur seine Mutter (der Bruder starb, während er im Untersuchungsgefängnis saß), und die wohnt in Moskau und konnte bisher nur einmal zu Besuch kommen, es fehlt an Geld. Sie schickt dem Sohn Päckchen mit dem von ihm geliebten Tee, Halwa und Zucker. Fonarjow ist, was Essen angeht, sehr wählerisch und isst von dem, was es im Gefängnis gibt, fast nichts. Die Rolle der Mutter übernimmt vor Ort die geschäftige Anna Marjass1ina. Im Gerichtssaal erkundigt sie sich hastig bei den Angeklagten, wem sie was bringen soll, bis der Gerichtsvorsteher sie laut brüllend unterbricht: „Sprechen verboten!“

     „Lernen Sie öfter Männer über das Internet kennen?“, wird Fonarjow spöttisch vom Staatsanwalt gefragt. Tatsächlich hatten er und Sawwin sich in Vkontakte, dem russischen Facebook, kennengelernt: aufgrund gemeinsamer politischer Interessen. Fonarjow war dann einige Male nach Kaliningrad gekommen. Beim letzten Besuch hatte ihn Sawwin in Feldmans geräumiger Wohnung einquartiert, dort entstand auch die Idee zu der Aktion, von dort waren sie im Morgengrauen zu dem Verwaltungsgebäude aufgebrochen.

    Feldman ist 43 Jahre alt, er ist deutlich älter als seine Tatgenossen, dennoch fanden sie zusammen. Er ist Meeresbiologe, hat 11 Jahre lang im Institut für Ozeanographie AtlantNIRO gearbeitet und war auf die Buchten und Küsten des Baltikums spezialisiert. Aber später verließ er die Wissenschaft und jobbte als Journalist, verfasste Werbeartikel, getreu dem Motto: Wenn die Politik deine Arbeit behindert, schmeiß sie hin. Während Sawwin darüber klagt, dass er schlecht schlafe, da er sich über den Krieg in der Ukraine Sorgen mache, wobei er nicht die geringste Möglichkeit habe, irgendwie auf das Geschehen einzuwirken, betrachtet Feldman sogar seinen eigenen Strafprozess ironisch. „Wann hat man schonmal die Chance, mehrere Bände eines Fantasy-Romans auf einmal zu lesen, und dann noch über sich selbst, den liebsten aller Helden“, scherzt er in Briefen. Feldman schreibt selbst und hatte bereits im Untersuchungsgefängnis einen Auftrag für eine Serie von Fantasy-Erzählungen erhalten, worüber er sich diebisch freut: „Die Möglichkeit, im Gefängnis Geld zu verdienen, verschafft einem ein ungeahntes Gefühl von Freiheit.“ Es war der umtriebige Feldman, der Sawwin mit dem historischen Wikingerkram ansteckte. In Kaliningrad waren sie zu dritt, drei Wikinger, Feldmann, Sawwin und die schwarzhaarige Wika. Sie fuhren zusammen auf Festivals, bastelten skandinavische Schwerter, Äxte und Bögen. Nun ist die Bogenschützin Wika auf sich allein gestellt und kommt ins Gericht, um den Freunden von der anderen Seite des Gitters aus zuzulächeln. Für Politik interessiert sich Wika gar nicht, aber im Gericht fasst sie sich besorgt an ihren Sonnenrad-Anhänger: „Wer weiß, vielleicht gilt das bei denen auch schon als Verbrechen." Als Sawwin zum zweiten Mal in der Strafsache festgenommen wurde, war sie dabei: Die Freunde waren auf dem Weg zu einem Bekannten, als neben ihnen ein Auto anhielt, aus dem Männer in Zivil heraussprangen, die nichts sagten außer: „Sie kommen mit.“ Sawwin konnte gerade noch Wika darum bitten, seinen Freunden Bescheid zu sagen, dann war es aus mit der Freiheit.

    Die Fäuste des Antimaidan und der Mandarinen-Jahrmarkt

    Das Komitee für öffentliche Selbstverteidigung (KÖS), das jetzt eigene politische Gefangene hat, kann nun nicht mehr ruhig an Flaggen anderer Länder in der Stadt vorbeigehen: vor Hotels, auf Schildern, an Bars. Man fotografiert alles und stellt es ins Internet, nach dem Motto: Schaut her, ihr Leute, Verbrechen am helllichten Tage! Über ihre Aktion mit der Flagge hatten die drei sich mit ihren Kollegen nicht abgesprochen, darüber ist man dort verstimmt. „Man hätte zum Beispiel in der ganzen Stadt Flyer kleben können, sodass viele Leute sie hätten lesen und etwas erfahren können. Aber das wäre wohl keine solche Heldentat gewesen“, meint Anna Marjassina dazu.

    Unabgestimmte Aktionen, so etwas macht das KÖS nicht, Flaggen aufhängen oder Leuchtraketen anzünden, das ist nicht sein Stil. Sie agieren nur innerhalb des rechtlichen Rahmens, ihre Aktivisten wurden schon oft auf Versammlungen festgenommen, nur dass eben das Gericht bisher stets zu ihren Gunsten entschieden hatte. Die Leute vom KÖS hatten zäh und hartnäckig jedes Mal Anzeige wegen unrechtmäßiger Festnahme erstattet. Innerhalb einiger Jahre erstritten sie sich so vom Innenministerium eine Summe von 302.000 Rubeln [etwa 5000 Euro]. Aber dennoch war diesmal dem an Festnahmen gewöhnten Feldman das Versäumnis unterlaufen, die Stückliste der Dinge aus seinem Rucksack zu unterschreiben, ohne sie vorher durchgelesen zu haben. Nun ist das Gericht nur noch schwer davon zu überzeugen, dass das Hexogen in seinem Rucksack nicht von ihm stammte.

    Das KÖS versammelt sich allwöchentlich auf einem der zentralen Plätze. Man steht im Kreis auf dem Platz, Anna Marjassina spielt auf der Flöte die ukrainische Hymne als Zeichen ihrer Solidarität mit dem Brudervolk – das ist das Einzige, was man sich noch traut. Früher organisierte man Mahnwachen und Demonstrationen, zur Unterstützung der Demos auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau, für Pussy Riot, gegen den Fall vom 6. Mai, gegen den Krieg in der Ukraine … Aber am 21. September wurde der örtliche kleine Friedensmarsch von kompakten Burschen mit Georgsbändern umringt. Der Antimaidan begann in Kalinigrad früher als im übrigen Russland: Diese Leute überschrien die Demonstration und bewarfen und bespritzten die Oppositionellen mit Eiern und Brilliantgrün, aber das war noch nicht alles. Nach der Demonstration lauerte jemand zwei Teilnehmern, Alexander Gorbunow und Andrej Bogdanow, auf und verprügelte sie. Das waren die ersten Schwalben. Zwei Monate später wurden nach dieser allwöchentlichen Mahnwache des KÖS Wassili Adrianow und Jewgeni Grischin überfallen, letzterer verlor infolgedessen auf dem einen Auge fast das ganze Sehvermögen. Wiederum einige Tage später wurde Dimitri Irkitow zusammengeschlagen. Der aufgrund eines schweren Lungenleidens ohnehin bereits Schwerbehinderte erlitt derartige Schläge im Brustbereich, dass er operiert und ihm Teile des einen Lungenflügels entfernt werden mussten. Jetzt demonstriert das KÖS nicht mehr. Zeit und Ort der allwöchentlichen Versammlungen werden vorsichtshalber ständig geändert. Schweigend lauschen die Aktivisten der ukrainischen Hymne, danach gehen sie auf den Markt, um Lebensmittel für die Gefangenen zu kaufen. Gleich neben dem Markt sammeln unter der Flagge Neurusslands andere, feindliche, Aktivisten materielle Unterstützung für die Lugansker Separatisten. Übrigens halten selbst die ideologischen Gegner den Strafprozess für Unfug: Ein Mitglied der Bewegung Neurussland, Jewgeni Labudin, stand dem Kaliningrader Friedensmarsch mit einem Plakat zur Fünften Kolonne gegenüber, aber sogar er hat schon einmal ein Päckchen zu Fonarjow gebracht: „Die Fünfte Kolonne heizt die Lage an, aber die müssen es ausbaden!“

     „Sie brauchen Obst, es ist Frühling, Vitaminmangel“ Alexander Schidenkow, ein Mitaktivist, kauft Granatäpfel – er scherzt, es seien ja keine explosiven Granaten – und Orangen auf dem Markt. Im Winter brachte man den Gefangenen der Flagge immer Mandarinen mit, diese Frucht hat zudem eine ideologische Bedeutung. Im Jahr 2010 gab es die zahlenmäßig größte Demonstration in der jüngsten Geschichte der Stadt: den Mandarinen-Jahrmarkt, einen Protest gegen den Kaliningrader Gouverneur Boos (und seine Partei Einiges Russland). Das, was für Moskau die Bolotnaja-Proteste im Jahr 2011 bedeuten, ist für Kaliningrad der Mandarinen-Jahrmarkt. Die örtlichen Behörden verweigerten die Genehmigung einer Protestdemonstration unter dem Vorwand, der Platz sei bereits belegt, dort fände der allwinterliche Mandarinen-Jahrmarkt statt. Aber die Leute kamen dennoch: Viertausend Menschen hielten Mandarinen in die Höhe als Zeichen ihres Protests. Gerade an diesem Tag waren Feldman und Sawwin zum ersten Mal bei einer Demonstration dabei, bald wurden sie Mitglieder des KÖS und vier Jahre später politische Gefangene.

    gekürzt – dekoder

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  • Warum sind Polizisten bestechlich?

    Warum sind Polizisten bestechlich?

    Antikorruptionskampagnen, höhere Gehälter und verschärfte Strafen für Bestechung helfen nicht gegen Korruption. An der Moskauer Hochschule für Wirtschaft HSE wurde eine Untersuchung mit tatsächlichen Mitarbeitern der russischen Polizei durchgeführt. Sie nahmen an einem Spiel teil, das ihre Neigung zur Korruption aufzeigen sollte. An diesem Spiel nahmen auch gewöhnliche Studenten teil. Die Polizisten waren dabei insgesamt öfter bereit, Bestechungsgelder zu nehmen oder zu zahlen, sogar wenn es sich offensichtlich nicht lohnte. Korruptionsprinzipien und -normen waren für sie wichtiger als Gewinne oder Risiken.

    Eine Gruppe von Forschern der Hochschule für Wirtschaft hat sich ein für Russland leidiges Thema vorgenommen: die Korruption bei der Polizei.

    Sie sind davon überzeugt, dass Korruption in einer bestimmten Kultur und bestimmten Prinzipien begründet liegt, die tief in unserer Gesellschaft verwurzelt sind: Wenn man einem Mitarbeiter der Staatlichen Straßenverkehrsinspektion Geld zusteckt, kann man sich ziemlich sicher sein, dass er das Geld nimmt und bei dem Vergehen ein Auge zudrückt. Wenn man einem Polizisten vorschlägt, man könne sich doch „einigen“, gibt es eigentlich keinen Zweifel, dass das funktioniert.

    Innerhalb der Polizei haben sich mittlerweile feste Korruptionsstrukturen herausgebildet. Beamte der mittleren Ebene nehmen Bestechungsgelder von den normalen Bürgern und – damit es nicht herauskommt – teilen sie sie hinterher mit ihren Vorgesetzten. So entsteht ein funktionierendes Korruptionsnetz. Dabei haben die Polizisten, wie die Studie zeigt, diese Prinzipien derart verinnerlicht, dass sie nicht von ihnen ablassen, selbst wenn die Korruption sich finanziell nicht lohnt. Sie sind bereits eine in sich geschlossene Gruppe, die durch eine bestimmte Kultur mit bestimmten Werten und Prinzipien verbunden ist.

    Zu diesem Ergebnis kamen die Wissenschaftler aufgrund eines Experiments, das mit russischen Polizisten vom Polizeihauptmann bis hin zum Oberst durchgeführt wurde, von denen alle einen Zusatzlehrgang der Akademie des russischen Innenministeriums absolviert hatten. Das Durchschnittsalter der Versuchspersonen betrug 36 Jahre. Die russische Polizei befand sich während der Untersuchung gerade in einer Phase der Umstrukturierung.

    Dieselbe Untersuchung wurde mit Studierenden der Hochschule für Wirtschaft durchgeführt. Ihre Ergebnisse wurden mit denen der Polizeibeamten verglichen.

    Korruptionsspiel

    Das Experiment bestand aus einem Spiel. Ziel war nicht, einem konkreten Beamten seine Neigung zur Bestechlichkeit nachzuweisen, sondern zu verstehen, wie die Polizisten interagieren und was ihr Verhalten motiviert. Es wurde kein echtes Geld verwendet.

    Die Offiziere wurden in Gruppen zu je 5 Mann eingeteilt, alle saßen am Computer. Sie wussten, dass sie mit Leuten aus dem Raum, in dem sie saßen, in einer Gruppe waren, wussten aber nicht mit wem.

    Das Spiel bestand aus 24 Runden, die in drei Spielphasen aufgeteilt waren.

    Erste Spielphase

    In jeder Runde erhält jeder Teilnehmer 100 Punkte, das ist sein Einkommen. Dieses kann er mithilfe einer beliebigen Menge von Bestechungseinnahmen aufbessern. Dabei werden die Handlungen des Spielers mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit überwacht. Wird er geschnappt, muss er alle Bestechungspunkte zurückgeben und noch dazu 50 Strafpunkte zahlen.

    Die Mitglieder einer Gruppe können Geld in einen gemeinsamen Topf geben, quasi als kollektives Bestechungsgeld für den Vorgesetzten, der sie kontrolliert. Schaffen sie 500 Punkte zusammenzubringen, hört die Überwachung auf.

    Nach jeder Runde zählen die Teilnehmer, wie viel Geld sie bekommen und wie viel sie ausgegeben haben, dann treffen sie ihre Entscheidung für die nächste Runde.

    Damit wird modellhaft folgende Situation nachgestellt: Nehmen wir ein konkretes Polizeirevier. Die Offiziere der mittleren Ebene stehen vor einer schwierigen Wahl: Ihr Gehalt ist niedrig, es besteht jedoch die Möglichkeit, es durch Bestechungsgelder aufzubessern. Dabei besteht das Risiko, dass sie von ihren Vorgesetzten erwischt werden. Dieses Risiko kann man jedoch senken, wiederum mithilfe von Schmiergeldern: Für eine Belohnung verschließt der Vorgesetzte die Augen vor dem Vergehen des Untergebenen. Auf diese Weise entsteht ein Korruptionsnetz.

    Neuer Vorgesetzter

    In der zweiten Spielphase nach acht Runden werden die Regeln geändert: Nun kann der gemeinsame Topf plötzlich unkontrolliert verschwinden. Wenn dies geschieht, sind die Gelder der Teilnehmer verbrannt, ihre Bestechlichkeit wird nicht länger gedeckt.

    Im richtigen Leben sähe das so aus: Der Vorgesetzte wird durch einen Neuen ersetzt. Von ihm ist nicht bekannt, ob er Schmiergelder akzeptiert oder nicht. Wenn er ehrlich ist, hat die Existenz eines gemeinsamen Topfs keinen Sinn mehr. Schmiergeld nimmt der neue Vorgesetzte sowieso nicht und er hat auch nicht vor, die Vergehen seiner Untergebenen zu decken.

    Gehaltserhöhung

    In der dritten Runde steigt das Einkommen der Teilnehmer auf 300 Punkte, Schmiergeld nicht eingerechnet. Doch wenn man geschnappt wird, muss man alle Bestechungsgelder zurückzahlen, plus in dieser Runde 300 Punkte. Doch die Spieler wissen nicht, ob der Vorgesetzte bestechlich ist oder nicht, genau wie in der zweiten Spielphase.

    Tatsächlich wurde diese Methode – Gehaltserhöhung in Kombination mit drastischen Strafen – im Kampf gegen die Korruption in Georgien und vielen anderen Ländern angewandt.

    In einer solchen Situation sollte jemand, der kein Risiko will, besser kein Bestechungsgeld annehmen.

    Kultur zwingt Polizisten bestechlich zu bleiben

    Die Unterschiede zwischen den Studenten und den Polizisten wurden sofort offensichtlich. Die Wissenschaftler hatten die Regeln sachlich neutral erklärt. Den Studenten war bis zum Schluss nicht klar, dass es sich um eine Art Test auf Korruptionsanfälligkeit handelte. Den Polizisten hingegen war dies sofort klar, als sie die Spielregeln hörten.

    Die Studenten bevorzugten insgesamt wesentlich öfter ehrliches Verhalten, während die Polizisten in der Mehrheit der Fälle Korruptionsnetze aufbauten.

    Interessant war, dass die Polizisten in der ersten Spielphase weniger Bestechungsgelder nahmen, später dann die Zahl der Bestechungsfälle anstieg, obwohl sich Korruption wirtschaftlich immer weniger lohnte. Dies bestätigte, dass in Bezug auf Korruption folgendes Gesetz gilt: Je mehr Druck der Beamte ausgesetzt ist und je höher das Risiko, desto aktiver nimmt er Bestechungsgelder an. Mithilfe der Bestechungsgelder versucht er, die gestiegenen Risiken zu kompensieren. Faktisch bedeutet das, dass Antikorruptionskampagnen im Rahmen der geltenden Normen nicht funktionieren. Doch Kultur und Normen bei der Polizei ändern sich sehr langsam.

    Die Entscheidung, kein Schmiergeld mehr an die Vorgesetzten zu zahlen, trafen die Polizisten erst in der dritten Spielphase, und auch dann nicht in allen Fällen. Die Studenten versuchten insgesamt seltener, ihre Vorgesetzten zu bestechen. Solche Versuche hatte es vor allem in der ersten Spielphase gegeben, in der zweiten und dritten Phase nahmen sie ab.

    Die Strategie der Studenten war verständlich: Sie nahmen Bestechungsgelder während der ersten und zweiten Spielphase, als es sich lohnte, in der dritten Phase bevorzugten sie ehrliches Verhalten. Die Polizisten ließen sich dagegen eher von gewissen Normen und Prinzipien leiten, denen eine Korruptionskultur zugrunde liegt. De facto verhalten sich Polizisten solidarisch und wählen, ohne sich untereinander abzusprechen, die korruptionsträchtigsten Vorgehensweisen.

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