Die Rolle der Frau in der russischen Gesellschaft ist paradox: Zum einen sind fast alle Frauen berufstätig, mit großer Selbstverständlichkeit auch in typischen Männerdomänen – ein Erbe nicht zuletzt auch der sozialistischen Vergangenheit. Auf der anderen Seite herrscht die Auffassung vor, Frauen haben vor allem eins zu sein: liebreizend, häuslich und auf charmante Weise schwach. Gerade am heutigen Weltfrauentag, der in Russland am Arbeitsplatz, mit Freunden und in den Familien ausgiebig gefeiert wird, ist das Klischee der „holden Dame“ immer wieder Leitmotiv.
Irina Begimbetowa und Emma Tertschenko setzen sich damit auseinander, wieso sexistische Werbung und Marketingkampagnen in Russland ausgezeichnet funktionieren, weshalb Frauen weniger verdienen als Männer und doch soviel Geld dafür ausgeben, ihnen zu gefallen – und warum Feminismus in Russland heute selbst von Frauen immer noch als ein Schimpfwort verstanden wird.
Die Schauspielerin Julija Topolnizkaja, die in dem Videoclip zu dem Leningrad-Song Exponat die Hauptrolle spielt, erzählte in Interviews, sie habe Angst gehabt, den Zuschauern könnte ihre Darstellung nicht gefallen. Wie sich herausstellte, war diese Sorge unbegründet. Dafür spricht erstens der Irrsinserfolg des Videoclips: mehr als 51 Millionen Views auf YouTube innerhalb von einem Monat.
Zweitens die dort geposteten Kommentare. Die schauspielerische Leistung beschäftigt die Zuschauer offensichtlich weniger, etwa die Hälfte der Kommentare betrifft – vollkommen ernst gemeint! – die Frage, welche Chancen die junge Frau mit den Mega-High-Heels wohl habe, ihren heißbegehrten Sergej zu erobern. „Die ist doch potthässlich!“, jauchzt eine gewisse X. „… und ihr Arsch ist echt ein bisschen zu fett“, meint Y. schadenfroh, und Z. merkt mitleidig an: „Die roten Schuhsohlen hätte sie sich auch sparen können. Ein Mann guckt nicht auf die Schuhe, den interessiert zuerst die Figur und dann das Gesicht.“ Oder, es wird gleich abgebügelt: „Mädchen, die fluchen – das ist nicht schön.“
Die Ironie des Clips geht an den Kommentatorinnen weitgehend vorbei, dafür kennen sie sich mit den elementaren Dingen aus: Sollen sich doch irgendwelche abgehobenen Damen um ihre Frauenbefreiung kümmern – sicherer und kuschliger lebt es sich nach den Regeln der gewohnten sexistischen Welt.
Die Angstverkäufer
Eine junge Frau mit entblößtem Oberkörper blickt lasziv von einem Plakat herunter, wobei sie ihre Brüste mit den Händen bedeckt. „Klein, aber mein!“, lautet der Text zu dem Bild. Es handelt sich um Werbung für Wohnungen in dem Neubaugebiet von Tscheboksary. Ihre Macher würden nicht nur in den USA, sondern vermutlich auch im traditionalistischen China zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt werden. In Russland ist so etwas an der Tagesordnung.
„Klein aber mein“ – Werbung für Wohnungen in einem Neubaugebiet in Tscheboksary
Oder: Der Showman Dimitri Nagijew wechselt in einem Restaurant vielsagende Blicke mit einer Unbekannten. „Sie ist aus Petersburg, aber sie kann auch asiatisch. Und sie ist jederzeit und überall bereit, meinen Hunger zu stillen“, ertönt eine Stimme aus dem Off. Es ist natürlich nicht die junge Frau am Tisch, die den Hunger stillen soll – gemeint ist eine Kette von Asia-Restaurants in St. Petersburg namens Eurasia. Ein weiteres Beispiel ist die Werbung für ICQ-Internettelefonie, bei der Pawel Wolja die Qualität des Internetsignals mit der Größe der weiblichen Brust vergleicht: „Internet 2G ist wie 70A: immerhin was da, Gott sei Dank.“
Geht es um Mayonnaise oder Pampers, dann blicken uns Hausfrauen vom Bildschirm entgegen, alles Übrige sollen Busen und Popos an den Mann bringen, und für die Frauen selbst gibt es Dutzende, ja Hunderte von Kursen zum Thema Wie werde ich unwiderstehlich.
Sexismus wird verkauft und gekauft. „Wir beobachten die sozialen Netzwerke und die Internetforen genau, bevor wir eine Werbekampagne starten: In Russland sind es wenige Leute, denen die Rechte der Frauen wirklich wichtig sind. Eine feministisch ausgerichtete Kampagne wird hier leider immer nur für eine kleine Zielgruppe funktionieren“, erklärt Michail Perlowski, Kreativ-Direktor der Werbeagentur AnyBodyHome! Und fügt in bester Sexismustradition hinzu: „Unter den Produktmanagern, unseren Auftraggebern, sind viele alleinstehende Frauen mit Kindern. Die kleben an ihren Sesseln, sie müssen ihre Familie ernähren. Die denken sich nichts Neues aus, verwenden einfach die althergebrachten Stereotype, die das Massenpublikum garantiert ansprechen.“
Das Erfolgsrezept sexistischer Vermarktung heißt: Verkaufe Angst. Die Angst, alt zu werden, hässlich zu werden und allein zu bleiben. Es gibt zu wenig Männer, nicht genug für alle, und wenn du nicht schön bist, heiratet dich keiner, und selbst wenn, lässt er sich wieder scheiden und keiner will dich mehr haben. Mit Angst kann man einer Frau alles aufschwatzen, um diesem elenden Schicksal zu entrinnen.
Die russischen Frauen springen voll darauf an. Daten des Branchenverbands Cosmetics Europe zufolge betrug das Marktvolumen für Kosmetik in Russland im Jahr 2014 24,6 Milliarden Dollar. Heruntergerechnet bedeutet das, dass eine Russin im Jahr durchschnittlich 192 $ für Kosmetik ausgibt. Mehr als eine Französin (166 $), eine Deutsche (142 $) oder eine Engländerin (165 $).
Wenn man diese Ausgaben dann noch ins Verhältnis zum Durchschnittslohn setzt, erscheint das schier unbegreiflich: Eine Russin gibt ca. 30 Prozent ihres Gehalts für Kosmetik aus, während es für eine Französin oder Italienerin rund 5 %, für eine Deutsche ca. 4 % sind. Ein Drittel ihres Einkommens also wendet eine Russin für ihre Schönheit auf, obwohl (oder gerade weil? – das bleibt ein Rätsel) der geschlechtsspezifische Gehaltsunterschied in Russland größer ist als in allen anderen Ländern Europas. Die durchschnittliche Russin verdient um 30 % weniger als ihr Mann, der Durchschnittsrusse; die Deutsche um 21,6 %, die Engländerin um 19,7 %, die Französin um 15,2 %.
Nicht einmal die Wirtschaftskrise wirkt sich auf die Ausgaben der Russinnen für ihre Schönheit aus – sie sinken kaum einmal, steigen sogar eher. Bei der letzten Erhebung des Lewada-Zentrums wurde auf die Frage, wie oft man zur Kosmetikerin gehe, um 10 % seltener „nie“ geantwortet als beim Mal zuvor.
Feminismus verkauft sich nicht
Sexismus ist in Russland eine heiße Ware, doch ein Ausgleich aus der feministischen Produktpalette fehlt. Formal war Russland (genau genommen, sein Vorgänger die Sowjetunion) weltweit das erste Land, in dem der Feminismus gesiegt hat. Doch dieser Sieg betrifft nur politische Rechte und das Recht auf Arbeit.
Im kulturellen Diskurs fehlt der Feminismus fast vollständig, so dass man sogar gebildeten Leuten die Bedeutung des Begriffs erklären muss. Im Grunde sind nur die radikalen Ausläufer des Feminismus bekannt, beziehungsweise der Feminismus wird überhaupt nur in karikierter Form wahrgenommen.
„Eine Feministin ist ein Mensch, der in mehreren früheren Inkarnationen ein Mann war und dann plötzlich, völlig unerwartet, als Frau auf die Welt kommt“, so der Crashkurs auf einer Website. „Natürlich ist dieser Mensch schockiert. Er ist empört! Vielleicht war er im vorigen Leben Fallschirmjäger. Und auf einmal wird er wie eine Frau behandelt. Soll Kinder gebären, Essen kochen und statt Granaten feurige Blicke werfen. Nichts ist schlimmer für einen gestandenen Mann, als für eine Frau gehalten zu werden! Und wütend beginnt er, für seine Rechte zu kämpfen.“
Die Koordinatorin des Projekts Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung, Irina Kosterina, ist mit Aufklärungsveranstaltungen in ganz Russland unterwegs und erzählt, sie werde oft gebeten, das Wort „Feminismus“ nicht zu benutzen. „Was den statistischen Durchschnittsrussen angeht, ist dieser Begriff zu bestimmten progressiven, fortschrittlichen, gebildeten Gruppen durchgedrungen und sie haben keine Angst mehr davor. Aber manche fürchten ihn immer noch“, sagt Kosterina.
Die Schriftstellerin und Business-Trainerin Irina Chakamada meint, es sei überhaupt nicht mehr sinnvoll, vom Feminismus zu sprechen, denn die aufgeklärte Menschheit lebe schon lange im Zeitalter des Postfeminismus. Feminismus sei die Zeit der Revolution, des Kampfes für die Rechte der Frauen gewesen, im Postfeminismus ruhe man sich auf den Lorbeeren dieser Siege aus. Die Postfeministinnen pflegen das Vermächtnis der Feministinnen, doch anstatt für die Selbstverwirklichung zu kämpfen, können sie sich auf ihre Umsetzung konzentrieren.
Vielleicht stimmt das für die aufgeklärte Menschheit, doch Russland ist einer kulturellen feministischen Revolution noch nicht mal nahegekommen. Da es keine revolutionäre Bewegung gibt, wirken auch Versuche, sich an ihre Spitze zu stellen, ziemlich fragwürdig.
Vor vielen Jahren war es Maria Arbatowa, die die Rolle der Fahnenträgerin des russischen Feminismus für sich beanspruchte. Diese Rolle spielte sie in ihrer in den 90ern beliebten Talkshow Ja sama (Ich mach das selbst). Eigentlich sagte Maria im Fernsehen nichts Radikales, sondern predigte einfache Wahrheiten im Sinne liberaler europäischer Werte. 1999 verließ Arbatowa die Talkshow. Ihr Image zu Geld zu machen, gelang ihr jedoch nicht.
Heute darf die 35-jährige Journalistin und Bloggerin Bella Rapoport den Titel der berühmtesten Feministin für sich in Anspruch nehmen. Ihre Karriere als Feministin begann in den sozialen Netzwerken, wo sie ihre Gedanken mit Freunden teilte und idealistisch der Meinung war, sie lebe nicht vergeblich, wenn wenigstens einer Frau auf dieser Welt die Augen geöffnet würden.
Vor zwei Jahren schrieb Rapoport in Snob eine Kolumne mit dem Titel Das Recht auf Sex, in der sie sich Gedanken über die Tatsache machte, dass das Recht der Männer auf Sex im herrschenden Wertesystem stärker gewichtet wird als das der Frauen. Die Kolumne brachte Bella Popularität ein (bis heute über 135.000 Aufrufe), woraufhin auch andere Medien sie als Autorin einluden.
Weiter punkten konnte sie im Meduza-Gate: Im März des vergangenen Jahres publizierte das Online-Magazin Meduza die Anleitung Wie es funktioniert, in Russland kein Sexist zu sein und warb dafür in den sozialen Netzwerken mit dem Satz „Männer, hier lernt ihr, Miezen1 nicht zu beleidigen“. Mehr als ein Artikel befasste sich mit dem Wort „Mieze“, die Bloggerszene lief Sturm, und Rapoports Kolumne zu dem Thema auf Colta.ru erreichte fast 268.000 Aufrufe.
In den letzten Monaten hat Bella übrigens nichts mehr veröffentlicht, und künftig will sie viel weniger über Feminismus schreiben als bisher. Sie brennt nicht darauf, das Banner der wichtigsten Frauenrechtskämpferin Russlands zu tragen. Sie sei müde und enttäuscht, sagt sie – darüber, wie die Gesellschaft auf sie reagiere und wie man in Russland mit Frauen umgehe. In den sozialen Netzwerken und den Kommentaren zu ihren Kolumnen hatte man Bella Rapoport rasch klargemacht, was sie „in Wirklichkeit ist“: Eine hässliche Jüdin, die die russischen Frauen ins Verderben stürzen wolle, eine Lesbe und einfach eine dumme Nuss.
Wölfe als Hüter der familiären Werte
Auf der Agenda des westlichen Feminismus steht derzeit, den Weg freizumachen für Frauen im Beruf, die Gehälter anzugleichen, Plätze in Aufsichtsräten sicherzustellen. Das wirkt in Russland, wo die Grundrechte der Frauen grob missachtet werden, eher wie eine Karikatur. Jedes Jahr sterben mehrere Tausend Frauen an häuslicher Gewalt – 2013 waren es 9000. Der Statistik zufolge werden 40 Prozent der Gewaltdelikte innerhalb der Familie begangen.
Dieses Problem lässt sich nicht ohne staatliches Eingreifen lösen, aber die Aktivistinnen haben Mühe, sich über all die Rhetorik der „spirituellen Klammern“ und der „Werte“ hinweg Gehör zu verschaffen. Eine kleine Anekdote: Im vergangenen Jahr war der Russische Frauenverband an der Vergabe der präsidialen Fördermittel für gemeinnützige Organisationen beteiligt. Er versagte einem Projekt die beantragten 4 Millionen Rubel für eine umfassende Informations- und Auskunftsplattform für weibliche Opfer häuslicher Gewalt. Dafür wurden 9 Millionen Rubel an den Biker-Club Nachtwölfe für die Organisation von Neujahrsfesten vergeben.
Punktuell entstehen in Russland aber dennoch Projekte zum Schutz von Frauenrechten. Nachdem sie die Födermittel nicht erhalten hatten, realisierten die beiden Juristinnen Anna Riwina und Mari Dawtjan die Website in Eigenleistung, unterstützt von Freunden und Freiwilligen und in Zusammenarbeit mit einem Konsortium regierungsunabhängiger Frauenverbände.
Es gibt auch ganz rührende Projekte im Geist der Suffragetten des frühen 20. Jahrhunderts, in St. Petersburg zum Beispiel die von den vier jungen Künstlerinnen Anna Tereschkina, Antonina Melnik, Maria Lukjanowa und Nadeshda Katastrofa gegründete Nähkooperative Schwemy. Die Kooperative funktioniert auf der Basis von Gleichberechtigung, sämtliche Entscheidungen werden im Konsens gefasst, und die Gründerinnen verstehen das Nähen als Prozess der Emanzipation: Sie steppen nicht einfach Nähte, sondern hören während der Arbeit Audiobooks, zum Beispiel von Marx.
Ihren Prinzipien verleihen die jungen Frauen durch ihre genähten Werke Ausdruck. So nähten sie etwa die Kostüme für das Stück Vagina-Monologe – einem New Yorker Theatermanifest, das 1996 zum ersten Mal aufgeführt wurde, 2005 nach Russland gelangte und seither mehr oder weniger erfolgreich von Bühne zu Bühne zieht. Eine andere Spezialität des Ateliers sind die queer-feministischen Röcke – luftige Umhänge mit großen Taschen, die nach dem Willen der vier Näherinnen sowohl von Frauen als auch von Männern getragen werden sollen.
Das mögen manche als lächerlich empfinden, aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, mit Spießbürgern in der Sprache der Röcke zu sprechen. Diese Sprache ist ihnen im Gegensatz zu den Wörtern „Misogynie“ und „Objektivierung“, mit denen zeitgenössische feministische Autorinnen um sich werfen, vielleicht verständlich.
1.In einer früheren Version hatten wir für russisch „tjolotschka“ die (nicht ganz korrekte, aber wörtlichere) Übersetzung „Kälbchen“ verwendet – „Mieze“ ist näher am russischen Idiom.
Die Verflechtungen zwischen der orthodoxen Kirche und der russischen Politik sind über die letzten Jahre kontinuierlich enger geworden. Woher stammt die kriegerische Rhetorik im Diskurs der Kirche? Wieso hat sie gerade derzeit eine solche Konjunktur? Gibt es auch abweichende, weniger „imperiale“ Strömungen im orthodoxen Glauben? Sind von ihnen gar Anstöße zu sozialen oder politischen Veränderungen zu erwarten?
Nachdem letzten Monat ein Artikel auf dekoder den Wandel von der Volks- zur Staatskirche beleuchtete, hier nun ein Interview zu den Fragen der politischen Orthodoxie mit dem russischen Religionswissenschaftler Boris Knorre, Dozent an der Higher School of Economics in Moskau.
In Russland gibt es inzwischen viele Menschen, die sich bei ihren politischen Parolen auf die Orthodoxie berufen. Wie ist es dazu gekommen?
Die gesamten 90er Jahre hindurch gab es an der kirchlich-monarchistischen Basis politisierte Gruppen, die sich der Kirche angeschlossen hatten. Damals stellten sich die Bischöfe einer Politisierung entgegen. Die entscheidende Veränderung erfolgte 2004, als der heutige Patriarch Kirill, damals Metropolit, beim Weltkonzil des Russischen Volkes die sogenannte Doktrin der orthodoxen Zivilisation vorstellte. Faktisch berief er sich auf Gedanken aus Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen und erklärte, Russland müsse eine dieser Kulturen sein. Die orthodoxe Zivilisation beschrieb er als spezielles geopolitisches Gebilde, bestehend aus jenen Ländern, „deren Kulturen“, hier zitiere ich, „entscheidend von der Orthodoxie beeinflusst worden sind – Bulgarien, Weißrussland, Griechenland, Zypern, Mazedonien, Russland, Rumänien, Serbien, Montenegro, Ukraine.“ Auch die Diaspora auf der ganzen Welt zählte Kirill zur orthodoxen Zivilisation.
Der künftige Patriarch beschränkte sich damals auf Deklarationen und äußerte sich bald darauf kritisch über die politische Orthodoxie als solche. Praktisch gleichzeitig begann aber Wsewolod Tschaplin, konkrete, sehr radikale Prinzipien zu verbreiten, auf denen eine orthodoxe Zivilisation seiner Meinung nach gründen sollte. Im gleichen Jahr erklärte Tschaplin in einem Gespräch auf Echo Moskwy, das Christentum hätte in Europa nur dann eine Zukunft, wenn es die Leute wieder lehren würde zu sterben und zu töten. Zwei Jahre später veröffentlichte er in der Zeitschrift Polititscheski klass den Artikel Die fünf Postulate der orthodoxen Zivilisation. Zu diesen gehörten die Ablehnung der Marktwirtschaft und die Einheit von Kirche, Volk und Staat, da deren Trennung eine Sünde sei.
Erzpriester Tschaplin erklärte, das Christentum hätte in Europa nur dann eine Zukunft, wenn es die Leute wieder lehren würde zu sterben und zu töten.
2006 erschienen Artikel von Jegor Cholmogorow. Seine Worte über die „atomare Orthodoxie“ wurden mit der Zeit auch von Tschaplin und Ochlobystin verbreitet. 2011 stellte Ochlobystin in seiner Rede Doktrina 77 Überlegungen über die Russen an, die für den Krieg geschaffen seien und sich nur in zwei Fällen organisieren dürften – als Kirchengemeinde zum Gebet und auf dem Schlachtfeld für den Kampf gegen den Feind. Die Rhetorik des „heiligen Kriegs“, des säubernden Kampfes gegen die nichtorthodoxe, sündige Welt wurde zu einem der Hauptpostulate der politischen Orthodoxie.
Was bedeutet eigentlich der Begriff politische Orthodoxie?
Der Philosoph Eric Voegelin verwendete den Terminus „politische Religion“ in den 1930er Jahren im Zusammenhang mit totalitären Staatsideologien: Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus. Heute unterscheidet sich der Begriff „politische Religion“ aber grundsätzlich vom damaligen Voegelins. Es handelt sich um eine religionsinterne Strömung, die eine homogene, nach religiösen Prinzipien aufgebaute Gesellschaft zum Ziel hat. Die politische Orthodoxie fordert eine Verstaatlichung der Religion, den Export der entsprechenden religiös-moralischen Normen über die Grenzen der Kirche hinaus, sie will in alle Gesellschaftsbereiche vordringen und die Lebensregeln nicht nur der religiösen, sondern auch der nichtreligiösen Menschen bestimmen. Und das setzt Lobbyarbeit für entsprechende Gesetze voraus, einen totalen Umbau der Staatsverfassung. Von den politischen Religionen hat diesbezüglich der Islam die größten Fortschritte gemacht. Es gibt aber auch einen politischen Hinduismus, ebenso können der Protestantismus und der Katholizismus politisch sein.
Sind politische Orthodoxe im Grunde genommen Fundamentalisten?
Zum Teil ja, aber es gibt Unterschiede. Die Wissenschaftlerin Anastasia Mitrofanowa, die sich mit Politisierungsprozessen von Religionen befasst, weist darauf hin, dass Fundamentalisten ihren sozialen Raum einkapseln wollen, dass sie im Rahmen eines nationalen Projekts zu den Ursprüngen zurückkehren wollen, während sich die politische Orthodoxie sehr viel globalere Aufgaben vornimmt.
Benutzt die russische Regierung derzeit die Orthodoxie für ihre Interessen oder kämpfen die Orthodoxen um Macht?
Beides. Und jeder Schritt des einen Akteurs – der Regierung beziehungsweise der Kirche – verstärkt die Gegenreaktion des anderen. Als die Religion in den 1990er Jahren gerade erst zugelassen worden war, beklagten sich die Orthodoxen im Zuge der demokratischen Umwälzungen, die Veränderungen würden ohne Berücksichtigung der kulturellen und nationalen Rolle der Orthodoxie erfolgen. Die Kirchenführung und politisch aktive orthodoxe Gruppen an der Basis trachteten schon damals danach, die Elite zu beeinflussen. Besonders hervor tat sich dabei die Organisation Verband orthodoxer Bürger. Sie sagten: Es geht uns nicht um die Macht, wir wollen eine Art moralische Qualitätssicherung, wir wollen Politiker und Mächtige mit orthodoxer Weltanschauung unterstützen.
Die Rhetorik des „heiligen Kriegs“ gegen die nichtorthodoxe, sündige Welt wurde zu einem der Hauptpostulate der politischen Orthodoxie.
Diese Gruppe hatte schon immer imperiale Ambitionen, noch bevor diese populär wurden. Ich habe selber gesehen, dass viele Geistliche die Zerstörung der Sowjetunion als Tragödie erlebten. In einer Kirchengemeinde, die ich im Winter 1991/92 besuchte, der Elias-Kirche in Ilinskoje, waren zornige Schmähungen an Jelzins Adresse und Klagen über das Ende der Sowjetunion Hauptthema der Predigt am Schluss fast jedes Gottesdiensts. Anscheinend hat sich die sowjetische Vergangenheit im Bewusstsein vieler Gläubiger so stark eingeprägt, dass diese mit ihrem Verschwinden zunehmend sakralisiert wurde.
Haben diese Ideen gerade jetzt Hochkonjunktur, während der Ukraine-Krise?
Ich würde sagen, ja. In Kirchenkreisen sind die imperialen Ideen der politischen Orthodoxie ziemlich populär. Die Gläubigen erlebten die Zerstörung der Sowjetunion als Tragödie, das Gebiet der Sowjetunion entsprach in ihrem Bewusstsein der heiligen russischen Erde. Die geopolitischen Ideen zeichneten sich also schon beim Zerfall der Sowjetunion ab, und 2014 bot sich die Gelegenheit, davon etwas umzusetzen. Aber wenn es der Regierung nicht dienlich gewesen wäre, hätte man die Ideologen des Russischen Frühlings nicht in die Staatssender und die wichtigsten Medien eingeladen.
Der Staat verabschiedet Gesetze wie das zum Schutz der Gefühle von Gläubigen, um sich dadurch eine Truppe aufzubauen und sie im Bedarfsfall auf jemanden loszulassen?
Nein, einen solche Absicht würde ich hinter diesem Gesetz nicht vermuten. Der Staat kommt der Kirche einfach entgegen, aber viel weniger, als die politischen Orthodoxen es möchten. Sie wünschen sich beispielsweise mehr Radikalität von Seiten des Präsidenten, was die Abschottung des Landes vom Westen betrifft.
Im November, noch bevor er seines Amtes im Patriarchat enthoben wurde, verkündete Wsewolod Tschaplin: „Seit der Kubakrise befindet Russland sich auf dem Rückzug, wir fürchteten damals eine militärische Kollision. Dabei hätte wir auf unserem Standpunkt beharren sollen und können … Entweder wir gehen unter, oder wir leben – aber nicht nach den Regeln, die uns irgend jemand von Außen aufdrängen will.“
Schon 2007 hat Tschaplin gesagt, es sei für gläubige Orthodoxe viel schlimmer, die Seele wegen einer Invasion von Atheisten und Andersgläubigen in unser Land zu verlieren, als in einer weltweiten Nuklearkatastrophe umzukommen. Und der Geistliche Ioann Ochlobystin verkündete 2011: „Wir werden dann keinen anderen Ausweg mehr haben, als die ganze übrige Welt, die wegen der Sünden und der Gleichgültigkeit komplett durchgefault ist, zu vernichten und unserem Leben ein Ende zu setzen, in der Hoffnung, dass aus wundersamerweise überlebenden menschlichen Wesen schließlich eine neue, bessere Menschheit entstehen wird.“ Aber das Problem sind nicht diese Äußerungen, sondern das Ausbleiben der erwarteten christlichen Reaktion von Seiten des Klerus. Erst im vergangenen Dezember wurde Tschaplin vom Patriarchen entlassen, obwohl er seine irren Ideen, die das Opfern fremder Leben zum Schutz des Glaubens rechtfertigen, schon seit über einem Jahrzehnt öffentlich verkündet. Wo waren die Stimmen der Priester, abgesehen von Kurajew und wenigen anderen?
Aber es gibt dort auch vernünftige Leute, oder?
Auf jeden Fall. Ich glaube, sie bilden sogar die Mehrheit. Aber erstens sind sie im Gegensatz zu den Möchtegern-Politikern und Fundamentalisten gewöhnlich passiv, zweitens nicht besonders interessant für die Medien und drittens wollen sie solchen offensichtlichen Absurditäten keine Beachtung schenken. Bis 2014 konnte man tatsächlich viele der Statements als Provokationen abtun. Aber seit der Donbass-Tragödie geht das nicht mehr. Ich möchte aber wiederholen, dass es in der Kirche viele Geistliche gibt, die nichts von Politik wissen wollen, die keine größenwahnsinnigen Ideen verfolgen, sondern lieber ganz banal Gutes tun.
Gibt es in der Kirche aktuell Leute mit liberalen Positionen?
Früher konnte man die kirchenreformatorischen Ideen des Geistlichen Alexander Borissow als liberal bezeichnen, aber er hat schon lange keine mehr vorgebracht. Meiner Meinung nach lässt sich der Begriff „liberal“ heute inhaltlich gar nicht mehr festmachen, da ihn viele als Etikett für „alles Üble“ benutzen, wenn sie einen Gegner angreifen. Man braucht nur einmal einen eigenen Standpunkt erkennen zu lassen, mit irgend einer Initiative zu kommen, und schon ist man „liberal“. Auch die Ideen von Gemeinschaft, von christlicher Solidarität im Gemeinwesen, für die sich beispielsweise Georgi Kotschetkows Bruderschaft der Verklärung einsetzt, werden von manchen als liberal bezeichnet, obwohl es in Wirklichkeit um den Versuch einer Organisation des Gemeinwesens geht, um das Bestreben, sich mit den kirchlichen Traditionen und evangelischen Normen, vor allem derjenigen der Buße, auseinanderzusetzen. Im vergangenen Jahr organisierten sie Ende Oktober eine Bußewoche zum Gedenken an die Opfer politischer Verfolgungen: Eine Woche lang entzündeten sie Kerzen im Gedenken an die Verfolgten.
Im ersten Jahrzehnt der postsowjetischen Regeneration ästhetisierte man in der Kirche gern die Schwäche
Nach den heutigen Kriterien des Liberalismus ist übrigens Wsewolod Tschaplin der „Liberalste“ von allen. Seit seinem Rücktritt schlägt er Kirchenreformen vor, die Bestimmung von kirchlichen Würdenträgern und Bischöfen durch Wahlen, er fordert transparente Kirchenfinanzen und wirft der Führung den übertriebenen Luxus ihrer Residenzen vor. Aber das alles erst seit seiner Entlassung …
Und was ist mit Kurajew?
Das Phänomen Kurajew ist natürlich beispiellos. Da schafft es einer – trotz einer Atmosphäre des Verschweigens und der gleichgeschalteten Meinungen – zu sagen, dass da etwas faul ist im Staate Dänemark. Dabei schließt sich Kurajew keiner ideologischen Partei an, weder der „Kriegspartei“ noch den Staatspatrioten noch den bedingten Liberalen.
Hat sich die Russisch-Orthodoxe Kirche mit dem Patriarchen Kirill verändert?
Kirill unterstützte, was sich in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre herauszubilden begann. Im ersten Jahrzehnt der postsowjetischen Regeneration ästhetisierte man in der Kirche gern die Schwäche: Im Geist des Gottesnarrentums unterstrich man den Wert der Verlorenheit, badete in einer Ästhetik der Selbsterniedrigung. Angesichts der Abwendung von sowjetischen Stereotypen und des Widerstands gegen die neue Erfolgskultur betonten die Orthodoxen, man müsse der Jagd nach irdischem Heil entsagen, wolle man das Heil Gottes erlangen. Dieses Paradigma begann man in der Mitte der 2000er Jahre zu kritisieren: Da sich das Land allmählich von den Knien erhebe, müssten sich auch die Orthodoxen von den Knien erheben. Kirill hat dazu beigetragen, dies systematisch umzusetzen. Doch damit trat das andere Extrem ein – Triumphalismus, Orientierung am Protokoll, Rechenschaftspflicht, das Bestreben, die Kirche einem präzisen Verwaltungsmechanismus unterzuordnen. In den 90er Jahren war jede beliebige Unzulänglichkeit zulässig, bloß nach Erfolg streben durfte man nicht. Im Jahr 2011 klang das schon ganz anders.
Im November bin ich im Gebiet Swerdlowsk zu Rentnern in ein Dorf gefahren, denen eine orthodoxe Wohltätigkeitsorganisation beim Kauf von Brennholz für den Winter unter die Arme griff. Dort habe ich mich lange mit dem Dorfpriester unterhalten. Es war wie in den 90ern, alle klagten: Alles sei schlecht, keiner komme in die Kirche, es gebe kein Geld und die Kirche könne nur behelfsmäßig renoviert werden.
Viele Kirchgemeinden sind äußerst arm, und die Leute spüren das Missverhältnis. Die frühere Stigmatisierung der Kirche ist in der Psychologie vieler Geistlicher erhalten geblieben, sie verbindet sich auf hässliche Weise mit der von oben aufgezwungenen Psychologie des Triumphalismus. Die Idee der Erhabenheit soll die Entbehrungen rechtfertigen. Statt nach einem Weg für die Lösung der Probleme zu suchen, sieht man die Idee der Erhabenheit als Kompensation an, als Rechtfertigung der Probleme. Das ist ein Spiegel unserer Regierung – die Kirche befindet sich ja nicht in einem Vakuum –, aber das Modell ist in der Kirche noch stärker ausgeprägt als in der Gesellschaft.
Dieser Priester sagte auch, dass das soziale Engagement für die Kirche keineswegs das Wichtigste sei: Sie brächten den alten Frauen Holz, aber diese kämen trotzdem nicht in die Kirche. Doch solange man die Seelen nicht rette, die Leute also nicht zur Kirche fänden, könne ihnen nichts helfen.
Genau, so geht es häufig, aber viele Geistliche sind nicht bereit, das einzugestehen. Die Erklärungen des Vorstehers einer Kirchgemeinde können sehr verschleiert sein: Natürlich müsse man unbedingt helfen, das sei die Bestimmung der Kirche … Doch das Leid, das die Leute treffe, bringe sie Gott näher. In der Gemeinde eines solchen Geistlichen gibt es durchaus Bedürftige, die Hilfe bräuchten, aber keine bekommen. Darin zeigen sich auch paternalistische Vorbilder: Wenn Gott einen Menschen nicht wie ein Vater straft, hat er ihn verlassen.
Ist es möglich, dass in unserer Kirche eine neue Strömung entsteht und dass die Russisch-Orthodoxe Kirche zu einem Motor für soziale Veränderungen wird?
Wenn sich das politische System ändert oder die Gesellschaft des künstlichen Triumphalismus überdrüssig wird, kann auch bei Klerikern und Laien das Pendel in die andere Richtung ausschlagen, so dass sie auf Veränderungen in der Kirche drängen. Vielleicht wird es eine Aufteilung geben, in Anhänger des Autoritarismus und Anhänger des Gemeinde-Modells und der Selbstorganisation. Doch die Versuchung, durch die Kriegsbrille auf die Welt zu blicken, sich als Held eines „heiligen Kampfes“ zu fühlen, ist einfach zu groß.
Die russische Wirtschaft ist stark von Importen abhängig. Das soll sich durch die Politik der Importsubstitution ändern, die u. a. als Antwort auf die westlichen Sanktionen eingeführt wurde. Dabei sollen nicht nur importierte Industriegüter durch solche einheimischer Produktion ersetzt werden, sondern auch viele Nahrungsmittel. Das ist gerade für den Käse folgenreich.
Wenn früher die Sowjetbürger von einem Paket aus dem Ausland träumten, schwärmten sie von Jeans und Kaugummi, während der einheimische Fetisch die Wurst war. Heute träumen die Russen nicht mehr von Jeans, Kaugummi und Wurst, sondern von Käse. Westlicher Käse ist vielen Russen lieb und teuer geworden, sich in Käsefragen auszukennen, gilt gerade in den großen Städten als Zeichen von Kultiviertheit und gutem Geschmack. Viel mehr als Träumen bleibt derzeit aber nicht: Importware wird an den Grenzen beschlagnahmt und vernichtet, während der russische Käse in den Läden meistens entweder nicht russisch oder kein Käse ist.
Seit Anfang letzten Jahres seien 200 Tonnen sanktionierter Lebensmittel aus dem Handgepäck nach Russland einreisender Fluggäste und aus Paketen an Russen beschlagnahmt worden, meldete die russische Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Rosselchosnadsor im November nicht ohne Stolz. In der Pressemitteilung hieß es, dass unsere Landsleute noch nie in der Geschichte der Russischen Föderation so viel Käse importiert hätten – erlaubt sind 5 Kilogramm, doch meistens wird diese Menge überschritten.
Seit August 2015 werden sanktionierte Lebensmittel vernichtet, wenn sie bei der Einfuhr auf russisches Territorium entdeckt werden. Im Herbst lernten die Russen das Wort „Incinerator“ – so heißen die Öfen, die bei der Verbrennung organischer Abfälle zum Einsatz kommen. Für den anfallenden Käse dachte man sich aber auch andere Vernichtungsmethoden aus. In Belgorod walzte man 9 Tonnen konfiszierten Käse mit einem Bulldozer platt, in Samara vergiftete man Edamer und Tilsiter mit dem Bleichmittel Belisna. Natürlich funktionierte es nicht überall: In Pulkowo wurden 20 Tonnen Käse zwecks Vernichtung beschlagnahmt, doch die Verantwortlichen kamen mit dem Auftrag nicht zurande, und der Käse wurde nicht vernichtet.
Am bedauernswertesten aber ist gar nicht das Schicksal des importierten, sondern das des russischen Käses. Das Produkt, das beim World Cheese Award schon vorher nicht für Medaillenklimpern sorgte, hat seit dem Beginn der Gegensanktionen hoffnungslos an Qualität eingebüßt, und statt Büffel-, Kuh- oder Schafmilch ist nun Palmöl der meistverwendete Rohstoff.
Bürgermeisterkäse
Auf der Straße beim finnischen Konsulat in St. Petersburg tauchte ein Werbeplakat in finnischer Sprache auf. Ein grauhaariges Großmütterchen mit einem Stück Butter auf einem Teller lächelt verschmitzt unter einer Aufschrift, die übersetzt lautet: „Wir können das genau so gut wie ihr.“ Die gleiche Reklame tauchte jeweils auf Deutsch, Englisch, Französisch und anderen Sprachen auch bei Dutzenden anderer Botschaften und Konsulate in St. Petersburg und Moskau auf. Damit wollten die Besitzer der neuen Marke Baba Valja die Konkurrenz auf den Arm nehmen. Der nächste Schritt der Troll-Marke war eine virale Reklame darüber, dass die Oma von den Plakaten, Valentina Konstantinowna, als Qualitätschefin der Firma eingestellt worden sei.
Der finnische Milchfabrikant Valio findet die Witze dieses Produzenten nicht amüsant: Dem Betrieb zufolge kopiere Baba Valja sein Markenzeichen, die Qualität von Butter, Mayonnaise und Käse sei aber ungleich schlechter. In der russischen Firma erklärt man, dass man es humorvoll möge und nicht vorhabe, mit den Witzen aufzuhören. „Wir werden mit Valentina Konstantinowna auf jeden Fall weitere lustige Aktionen auf die Beine stellen“, kündigt der Vertreter der Firma Stanislaw Alexejew an.
Auch der neue Käsefabrikant Oleg Sirota – der Schwiegersohn von German Sterligow, einem der ersten russischen Multimillionäre – mag es humorvoll. Er hat die Käserei Russischer Parmesan eröffnet und darauf eine Flagge Neurusslands gehisst und erzählt nun Journalisten, dass er für seine Ziege Merkel auf der Suche sei nach einem Bock Obama. Sirota verhehlt nicht, dass er ohne Embargo nicht in dieses Business eingestiegen wäre, und ist voll des Lobes über die Gegensanktionen. Die Eröffnung der Fabrik war sogar auf den Jahrestag der Sanktionen abgestimmt. „Mein größter Alptraum ist, dass die Sanktionen aufgehoben werden könnten“, hat Sirota in Medieninterviews mehrmals gesagt.
Der leidenschaftliche Imker und ehemalige Bürgermeister Moskaus Juri Lushkow hat ebenfalls bekanntgegeben, dass er auf seinem Bauernhof in der Oblast Kaliningrad mit der Herstellung von Pendants europäischer Spitzenkäse beginnen will. Und dass die erste Sorte zu Ehren seiner Gattin Elena Baturina vielleicht Elena heißen wird. Wobei auch eine zweite, für die Käufer verständlichere Namensvariante in Erwägung gezogen werde – Lushkowski.
Die in der Käseproduktion führende Region Altai meldet ein so starkes Produktionswachstum, dass es dort unterdessen an Rohmilch fehlt. Letztes Jahr wurden in diesem Gebiet 72.000 Tonnen Käse erzeugt – 16 Prozent der gesamten russischen Produktion. Dieses Jahr ist das Käsevolumen um ein Drittel gewachsen. Übrigens hat der Ankauf von Rohmilch und der dann erfolgende Weiterverkauf an verarbeitende Betriebe letztes Jahr einige Bewohner der Gegend zu Milliardären gemacht. In der Region Altai gibt es davon jetzt fünf, früher war es nur einer.
Insgesamt wuchs die Käseproduktion im ganzen Land im vergangenen Jahr um mehr als 21,6 Prozent. Auch wenn es sich in Wirklichkeit nicht bei allen 500.000 Tonnen russischen Käses tatsächlich um Käse handelt.
Ein spezielles Rezept
Der Importkäse verschwand nach der Bekanntgabe der Gegensanktionsmaßnahmen vom 7. August 2014 nicht sofort aus den russischen Theken – es waren Vorräte für einige Monate vorhanden, die dann allmählich zur Neige gingen. Eine Zeitlang lief der Verkauf durch das Thema „laktosefrei“ weiter. Zur Erinnerung: Laktosefreie Milchprodukte fallen nicht unter das Embargo, und bei den meisten Hartkäsesorten muss nicht einmal groß getrickst werden, weil sie aufgrund ihrer besonderen Herstellung laktosefrei sind. Doch dieses Schlupfloch wurde im Juni 2015 bei der Verlängerung des Embargos gestopft. Daraufhin versuchten die Einzelhändler zu beweisen, dass das Antisanktionsgesetz nur die Einfuhr von Käse nach Russland verbietet, nicht aber den Verkauf – und dem Petersburger Supermarkt Magnit gelang es sogar, eine Buße von 30.000 RUB [360 EUR] wegen des Verkaufs von französischem Schafskäse anzufechten. Dennoch beschlagnahmte der föderale Verbraucherschutz weiterhin Waren in den Läden, und Pawel Sytschew, erster stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaftlichen Kammer zur Unterstützung von Familie, Kindern und Mutterschaft, regte sogar an, das Verkaufen sanktionierter Ware mit Gefängnis zu bestrafen. Der Vorschlag wurde bislang nicht umgesetzt, aber im Herbst gelangte deutlich weniger „verbotenes Gut“ in die Supermarktketten. Importierter Käse kommt zum größten Teil (81 Prozent) aus Weißrussland, den Rest machen teure Käse aus der Schweiz, Argentinien und einigen anderen Ländern aus.
Nach einer Analyse der in den Regalen verbliebenen Käsesorten erklärte die russische Landwirtschaftsaufsichtsbehörde in einer offiziellen Pressemeldung unerwartet, dass 78,3 Prozent der Produkte Imitate seien. Später präzisierte die Behörde, die Untersuchung sei noch nicht allzu aussagekräftig: Spezialisten hätten 23 Käseproben überprüft und in 18 von ihnen Pflanzenfette gefunden.
Das Ministerium für Landwirtschaft vertritt seinerseits die Meinung, der russische Käse sei durchaus von guter Qualität, nur 10 bis 15 Prozent seien Imitate; nach Angaben des nationalen Milchindustrieverbands Sojusmoloko wiederum sollen es 15 bis 20 Prozent sein.
Das Grundproblem ist das Fehlen der nötigen Milchmengen. „Es hat sich gezeigt, dass die Produzenten nicht in der Lage sind, den Import von Käse zu kompensieren, dessen Marktanteil sich vor dem Embargo auf rund 50 Prozent belief, weil sie nicht genug Rohmilch guter Qualität bekommen, aus dem man diesen Käse herstellen könnte“, lautet das Fazit des Geschäftsführers von Sojusmoloko, Artjom Below. Im Jahr 2015 seien in Russland insgesamt 30,5 Millionen Tonnen Milch produziert worden, der Markt hätte aber 8,5 Millionen Tonnen mehr benötigt, stellte man im Fachverband fest.
Anstelle von Milch setzen die russischen Käsefabrikanten daher nun munter Pflanzenfette ein, sprich Palmöl. Der Import nahm 2015 im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel zu, im November überstieg er die 700.000-Tonnen-Marke.
Palmöl ist zwar nicht schädlich (in Malaysia zum Beispiel hält man es sogar für gesund), aber nach der Fülle an echten Milchprodukten vor dem Embargo hat man irgendwie keine große Lust auf milchfreien Käse. Deshalb essen die Russen nun einfach ein bisschen weniger Käse. „Die Nachfrage nach Käse ist leicht gesunken, um 1 bis 1,5 Prozent, es gibt aber noch keine genauen Zahlen“, sagt der Milchmarkt-Analyst des Moskauer Forschungsinstituts für Agrarmarktkonjunktur IKAR, Wadim Semikin.
Es fehlt indessen nicht nur am Rohstoff, sondern auch an Erfahrung in der Produktion von Hartkäse. Für Milchverarbeiter ist der ein anspruchsvolles Produkt: Er muss monate- und manchmal jahrelang reifen, und für 1 Kilogramm Hartkäse braucht es 8 bis 10 Kilogramm Milch von guter Qualität (ganz zu schweigen von den nötigen Fertigkeiten, die man sich nicht in ein paar Monaten aneignet). Das bedeutet, es braucht viel Zeit, bis die teure Herstellung sich rentiert – eine kleine, gute Produktionsstätte kostet gut und gern 50 Millionen RUB [600.000 EUR]. Kein Wunder, dass die Leute nicht Schlange stehen, um im großen Stil in die Herstellung von Qualitätskäse einzusteigen – die Einrichtung und viele Zutaten stammen aus dem Ausland und müssen für immer teurer werdende Euro und Dollar importiert werden, und die Zinssätze für Kredite bewegen sich im Bereich der 20-Prozent-Marke.
Kurz und gut, von den einheimischen Käsefabrikanten erwartet man besser keinen russischen Parmigiano Reggiano, bei dem für die Herstellung eines Laibs eine halbe Tonne Rohmilch sehr guter Qualität benötigt wird. Zumal die Milch dazu nicht pasteurisiert werden darf, was die russischen Aufsichtsorgane nie und nimmer zulassen würden. Da ist es einfacher, Palmöl zuzusetzen oder die gewohnten russischen Sorten herzustellen – Altaiski, Kostromskoi oder Rossiski. Dabei behaupten die Käseproduzenten selbst allesamt, gerade ihr Käse sei wirklich gut, und der größte Troll der Käseindustrie Valentina Konstantinowna zeigt sich durchaus angriffslustig: „Es sind doch die Schweizer, die das mit dem Palmöl machen – unser russischer Käse ist der beste. Das spüre ich am Geschmack.“
„Szenen aus der Tiefe“ – so lautet der Untertitel von Maxim Gorkis berühmtem Theaterstück „Nachtasyl“ (1902). Gorkis Helden sind allesamt einmalige, einprägsame Charaktere, die unter fürchterlichen Bedingungen am Rande der Gesellschaft ein Leben ohne Zukunft führen. Auch heute sind Außenseiter und Obdachlose im russischen Alltag sehr präsent. Maria Tarnawskaja tauchte in St. Petersburg an den Grund und spürte ihrem Schicksal nach.
Es ist drei Uhr nachmittags an einem Dienstag, ich stehe in einem kleinen Park bei der Metrostation Tschkalowskaja. Vor mir hocken zwei Männer gekrümmt auf allen Vieren und übergeben sich direkt auf meine Schuhe.
Das sind Wladimir Leonidowitsch und Dima, sie sind 56 und 27 Jahre alt, vor einer Stunde haben wir uns zum ersten Mal im Leben gesehen und vor fünf Minuten die Kantine verlassen, wo ich sie zum Mittagessen eingeladen habe.
Wladimir Leonidowitsch und Dima sind obdachlos. Wladimir mit zehnjähriger Erfahrung: Er ist gebürtiger Moskauer, wuchs im Viertel um die Patriarchenteiche auf, die Eltern starben, er heiratete ein junges Mädel, reiste für längere Zeit dienstlich nach Sibirien, die Frau war, wie sich herausstellte, ein Luder und brachte es während seiner Abwesenheit irgendwie fertig, ihn aus der Wohnung abzumelden, sie zu verkaufen und sich in unbekannte Richtung abzusetzen.
Dima ist erst im Januar zu Wladimir Leonidowitsch gestoßen, als dieser sich dank einer glücklichen Fügung mit seinen Leuten zerstritten und beschlossen hatte, lieber komfortabel im Wartesaal des Moskauer Bahnhofs zu übernachten – dank Beziehungen brauchte er ein paarmal im Monat nur die Hälfte oder überhaupt keinen Eintritt zu bezahlen. Dima war ihm sofort aufgefallen: Er war der einzige, der nicht lag, sondern saß. Aber er saß so kerzengerade da und riss die Augen so unnatürlich auf, dass Wladimir Leonidowitsch sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei, worauf er zur Antwort bekam: „Ich weiß es nicht, ich weiß gar nichts.“
Der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima
Das erwies sich als die reine Wahrheit – der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen und nicht einmal seine Lieblingsfarbe oder sein Lieblingsessen. Er hatte keinerlei Papiere, Fahrscheine oder sonstige Dinge bei sich. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima, „nach dem einsamen Mammutkind aus dem Zoologischen Museum, über das sie sogar einen Trickfilm gedreht haben“, und beschloss, dass Dima 27 ist.
Sie waren auf der Polizei, wo man allerdings noch nie etwas von einer Suchdatenbank gehört hat; Foto und Fingerabdrücke einer Person werden mit einem lokalen, ebenfalls unvollständigen Fahndungskanal abgeglichen – und da sollte man besser gar nicht auftauchen, weil der hauptsächlich für die Suche nach flüchtigen Verbrechern gedacht ist.
Jetzt bleiben die beiden immer zusammen: Dima hat Angst, sich zu verlaufen und sein neues Gedächtnis zu verlieren, und Wladimir Leonidowitsch hatte in seinem früheren Leben zwar Literatur unterrichtet, wollte aber immer Psychologe werden. Dima ist sein idealer Gefährte – es sei hochinteressant, zu entschlüsseln, wer er sei, und gleichzeitig aus ihm einen neuen Menschen zu machen. „Dima ist meine Galateia, Tscheburaschka, mein Sancho Panza, mein Freitag und Doktor Watson“, sagt Wladimir Leonidowitsch stolz über seinen Freund.
Und jetzt reiern mir die beiden auf die Schuhe. Ich hoffe, dass sie einfach zu viel gegessen haben. Denn Wladimir Leonidowitsch hat zwei Suppen, Hering im Pelzmantel, Frikadellen mit Kartoffelpüree, Teigtaschen und ein Stück Sandkuchen genommen, und Dima hat ihm alles nachgeplappert. Ich hatte noch gedacht, es könnte in Anbetracht ihrer körperlichen Konstitution zu viel des Guten sein – beide sind eher klein, dünn, hager –, sagte aber nichts, um nicht als geizig dazustehen, und ich wollte sie auch nicht in Verlegenheit bringen. Wladimir Leonidowitsch hatte mich gestern angerufen: „Ich habe Sie neulich gesehen, Sie suchen Obdachlose, weil Sie sehen wollen, wie wir leben – ich bin bereit, mich mit Ihnen zu treffen.“
Als er nicht mehr erbricht, blickt mich Wladimir Leonidowitsch von unten an, wischt sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab und sagt: „Der Sandkuchen war zu viel. Dafür darfst du mich jetzt Wolodja nennen.“
Vor ein paar Tagen habe ich mich tatsächlich nach Obdachlosen umgesehen und damit im Nachtasyl der 1990 eröffneten Wohltätigkeitsorganisation Notschleshka begonnen. Die städtische Liegenschaftsverwaltung KUGI vermietet ihnen das baufällige Gebäude zu sozialen Sonderkonditionen, das ist ein Fünftel des eigentlichen Preises, aber auch noch durchaus beträchtlich. Die Energie- und Wasserversorger Lenenergo und Wodokanal gewähren keinen Rabatt. Renoviert hat man selbst: Das Baumaterial wurde von hilfsbereiten Organisationen gebracht, was noch fehlte, kaufte man, und nicht nur Profis, sondern auch die Bewohner waren aufgefordert, das Dach neu zu decken und die Zimmer zu streichen.
„Es ist überaus wichtig, dass man Leute von der Straße in einen sozialen Kontext einbezieht. Obdachlose verlieren ziemlich schnell ganz normale Fähigkeiten: Verantwortung für etwas zu übernehmen, etwas zu vereinbaren – sie brauchen das nicht. Auf der Straße sind andere Fertigkeiten gefragt: Wichtig ist, dass man sich bei Minus zwanzig richtig anzieht und mit zwei Stunden Schlaf am Tag auskommt“, erzählt der Leiter der Notschleshka Grigori Swerdlin.
Grischa ist 36 und arbeitet schon ein Drittel seines Lebens hier. Sein Arbeitstisch steht in der Mansarde des Heims neben denjenigen der Fundraiser und Geschäftsführer. Insgesamt sind sie zusammen mit den Sozialarbeitern, Psychologen, Juristen, Verwaltungsmitarbeitern und Fahrern zwanzig Leute. Alles angenehme, lächelnde, charmante Menschen mit höherer Bildung, allesamt um die dreißig. Ihre Schützlinge sind durchschnittlich fünfundvierzig, zwei Drittel von ihnen männlich.
Die Obdachlosen kommen jeden Tag ins Haus an der Borowaja. Die Sozialarbeiter hören jedem zu und versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen: Der eine braucht einen einfachen Rat, ein anderer juristische Hilfe, und manche sind es einfach müde, auf der Straße zu leben. Mit letzteren stellen die Sozialarbeiter eine Art Betreuungsplan auf, in dem sie Punkt um Punkt vereinbaren, was in den nächsten Monaten zu erledigen ist: einen neuen Pass besorgen und sich temporär in der Notschleshka anmelden, eine Arbeit finden, ab dem zweiten oder dritten Gehalt ein Bett in einem Wohnheim oder ein Zimmer mieten – langsam, Zentimeter um Zentimeter, wieder hochkommen.
Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher
„Obdachlose lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen“, sagt Grischa. „Am häufigsten hängt die Obdachlosigkeit mit Familienangelegenheiten zusammen: eine Wohnung wurde nicht aufgeteilt, ein Mann verlässt seine Frau ins Nichts, dazu kommen schauderhafte Geschichten von herangewachsenen Kindern, die ihre eigenen Eltern rauswerfen. Die zweite Gruppe sind Abgänger aus Waisenhäusern. Die haben gesetzlichen Anspruch auf Wohnraum, viele werden aber betrogen oder haben einfach keine Ahnung, wie man Geld verdient oder einen Haushalt führt, sie kennen die Preise von Dingen nicht. Wir hatten hier einen Jungen, der sein Zimmer verspielt hat, an Spielautomaten , weil er davon ausging, dass man ihm nach dem ersten auch ein zweites Zimmer geben würde, wie vorher. Die dritte große Kategorie sind Opfer von Wohnungsschwindlern. Eine Wohnung wiederzubekommen, gelingt uns höchstens fünfmal im Jahr, meistens ist alles so verworren, dass es unmöglich ist, die Immobilie zurückzukriegen.“
Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher. Oder Leute aus der Provinz, die zum Geldverdienen in die Großstadt fahren, und dann geht etwas schief, die Papiere kommen abhanden, es gibt keinen Ort zum Schlafen und man schämt sich, nach Hause zurückzukehren oder wenigstens anzurufen und zu sagen, dass man in Not geraten ist.
„Ja, merkwürdigerweise schämen sich die Leute vor ihrer Familie über ihren Misserfolg.“ Die Sozialarbeiterin Valentina Marjanowa sieht aus wie eine Absolventin des Smolny-Instituts für höhere Töchter: graues Haar, Hochsteckfrisur, aufrechte Haltung, Anstand, Brosche. „Sie kennen nicht mal ihre Grundrechte. Doch leider sind wir gezwungen zu wählen: Wenn wir ein freies Bett haben, wählen wir zwischen einem Anwärter, der vor fünf Jahren auf der Straße gelandet ist, und einem, der seit drei Monaten auf der Straße lebt, den letzteren – die Wahrscheinlichkeit, dass er zu einem normalen Leben zurückfindet, ist sehr viel größer.“
Sie helfen auf jede erdenkliche Weise, geben einen Platz in einem Gemeinschaftszimmer, Kleidung, Essen, schicken die Leute zum Arzt, holen zusammen Stempel und Unterschriften ein, sorgen für Unterhaltung: Einmal im Monat gibt es einen Ausflug in die Eremitage, Konzerte werden organisiert, in der Bibliothek gibt es viele gute Bücher, und dort stehen auch drei Computer und ein Fernseher mit einer Filmsammlung.
Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle
Durchschnittlich bleiben die Leute fünf Monate in der Notschleshka – das ist gewöhnlich lange genug, um in jeder Hinsicht zu Kräften zu kommen. Wer keinen Umbruch seiner Situation herbeizuführen versucht und das Heim stattdessen als Umschlagplatz missbraucht, wird mehrmals ermahnt und schließlich weggeschickt, damit ein Platz für einen motivierten Obdachlosen frei wird.
An solchen mangelt es nicht. Einer von ihnen kam vor vier Jahren in miserablem Zustand zu einer der Aufwärmestellen, die die Notschleshka den Winter über an mehreren Stellen in der Stadt einrichtet. Er meldete sich im Heim an. Besorgte sich neue Papiere, fand Arbeit, mietete sich eine Schlafstatt, sparte genug für einen kleinen LKW. Begann, Transporte durchzuführen, heiratete eine Ärztin aus der staatlichen Übernachtungsstelle Dom notschnowo prebywania. Unterdessen haben sie mit einem Kredit eine Wohnung gekauft.
Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle.
Witali ist 28, er kommt aus dem Verwaltungsgebiet Nishni Nowgorod. In St. Petersburg fand er Arbeit als Schießtrainer und lebte in einem Hostel. Dann stahl man ihm die Tasche mit Geld, Sachen, Papieren – und Witali landete auf der Straße. Am Bahnhof warb ihn eine Organisation an, die ihm versprach, bei der Besorgung neuer Papiere und einer Arbeit zu helfen.
Letztlich arbeitete Witali ein paar Monate als Lastenträger. Nach der Trillerpfeife aufstehen, nach der Trillerpfeife schlafengehen, zum Frühstück Brei, zum Mittagessen eine dünne Suppe, zum Abendessen eine Kinderportion von etwas Undefinierbarem. Weder Geld noch Papiere, nur Versprechen. Als er gehen wollte, bedrohten sie ihn. Und als er sich schwer am Bein verletzte, jagten sie ihn weg.
Katerina ist von ihren Cousins aus der Wohnung geworfen worden
Katerina ist von ihren Cousins, mit denen sie viele wunderbare Erinnerungen an Sommer, Erdbeeren und frischgemolkene Milch verbindet, aus der Wohnung geworfen worden. Die Großmutter, bei der Katerina von klein auf gelebt hat, hatte zwei Testamente hinterlassen: die Wohnung war für Katerina, das Haus und Grundstück außerhalb der Stadt für die Cousins. Ins Testament für die Cousins hat sich das Wort „sämtlich“ eingeschlichen, statt „Hausbesitz“ hieß es dort „sämtlicher Hausbesitz“. Und die Cousins konnten beweisen, dass sich „sämtlicher Hausbesitz“ auf das ganze unbewegliche Vermögen bezog, also auch auf die Wohnung. Katerina schubsten sie einfach zur Tür hinaus.
Laut Statistik gab es im letzten Jahr in St. Petersburg 60.000 Obdachlose. Mit jedem Jahr werden es mehr. Und jedes Jahr ändert sich die Belegschaft – das bedeutet, dass Menschen sterben, verschwinden, und an ihre Stelle treten andere. Dieser gruselige Umstand fällt besonders Igor, dem Fahrer des Busses der Notschleshka, auf: Jeden Abend fährt er zusammen mit Freiwilligen warme Mahlzeiten in die vier Bezirke, mit deren Verwaltungen Vereinbarungen getroffen werden konnten, und versorgt dort Obdachlose mit Essen.
Der Bus heißt zwar Nachtbus, eigentlich ist er aber abends unterwegs: Die erste Station ist um sieben Uhr am Rangierbahnhof, die letzte um halb elf am Bahnhof Nowaja Derewnja. Das Essen wird von Kantinen, Cafés und Restaurants kostenlos zubereitet. Jeden Tag gibt es einen Eintopf auf Fleischbasis, süßes Gebäck und Tee.
Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten. Wie sie im Winter neben Essen auch warme Mützen verteilten und ein junger Kerl gleich mehrere unterschiedliche haben wollte, um in dem Haus, das er sich zum Überwintern gesucht hatte, nicht die Aufmerksamkeit der Wachfrau zu erregen. Wie manchmal Verlage der Notschleshka Bücher spenden und sie immer sofort weg sind – nicht um Papirossy zu drehen, sondern wirklich zum Lesen. Wie ein sehr bescheidener Obdachloser plötzlich Nachschlag wollte und sich herausstellte, dass er drei Kätzchen zu sich genommen hatte, die auch etwas zu essen brauchten.
Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten
Das Publikum unterscheidet sich von Haltestelle zu Haltestelle. Am Rangierbahnhof sind es größtenteils Alkis. Im Bezirk Ligowo kommen nicht nur Obdachlose, sondern auch Rentner, die zwar eine Wohnung haben, aber unterhalb der Armutsgrenze leben.
Auf der Wassiljewski-Insel gibt es viele Punks und Alternative – sogenannte Neformaly. Und in Nowaja Derewnja Kranke, Behinderte und Heimkinder. Überall geht das Abendessen äußerst höflich vonstatten: Man bildet eine Schlange, lässt die Frauen vor, führt gepflegte Gespräche, bedankt sich für das Essen, sammelt die gebrauchten Teller in eine Tüte und bringt sie zum Müllcontainer. Betrunkene gibt es zwar, aber nicht sehr viele, und die verhalten sich ruhig. Im Grunde sehen alle so aus, dass sie in einer Menschenmenge nicht sehr auffallen würden – wie ganz normale Menschen.
In Nowaja Derewnja hält der Bus an einer Nachtunterkunft mit einem Malteser-Zelt davor. In einem kleinen Raum hängt ein strenger männlicher Geruch, hier wohnen sechs oder sieben Menschen, zwei von ihnen haben keine Beine. Der Zimmer-Chef ist Wassili, ein sehr sympathischer Mann, der Anfang der 1990er im Gefängnis landete, und als er rauskam, war es, als hätte es ihn nie gegeben: Er tauchte in keiner Datenbank auf, keinem Dokument, weder beim Standesamt noch bei seinen ehemaligen Arbeitgebern noch in der Poliklinik – nirgends. Seitdem versucht Wassili zu beweisen, dass es ihn gibt, doch die Sache läuft schleppend.
Von Beruf ist Wassili Schneider, aber jetzt beschäftigt er sich mit etwas ganz anderem: Zusammen mit den Obdachlosen hat er eine Genossenschaft zur Herstellung von Birkenwaren gegründet. Er ist sehr geschickt darin, Ikonen, Ausweishüllen und märchenhaft verzierte Schatullen aus Birkenrinde zu fertigen. Wassili ist verantwortlich für Gestaltungskonzept und Ästhetik, seine Kumpel für die kleineren, aber wichtigen Arbeiten – Igor, einer der Invaliden kann zum Beispiel sehr gut kleben, ist schnell im Flechten. Igor hat seine Beine unlängst im Donbass verloren, doch darüber will er nicht reden.
Ich gebe allen einfach so meine Telefonnummer, vielleicht entschließt sich jemand, in einem anderen Rahmen mit mir zu sprechen. Und ein paar Tage später bekomme ich tatsächlich einen Anruf – von Wladimir Leonidowitsch, der nun mit dem gedächtnislosen Dima im Park an der Metrostation Tschkalowskaja vor mir kniet. „Wir sollten uns erst mal ausschlafen“, sagt Wladimir Leonidowitsch. „Wir können uns dann morgen treffen.“ Geld für das Ticket lehnen sie ab und verschwinden in der Metro.
Die eine betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld
Am nächsten Morgen gehen wir ins Botkinski-Krankenhaus, wo es eine Erste Hilfe eigens für Obdachlose gibt. Hier ist alles wie im Bilderbuch: Es versammeln sich Obdachlose, auf die schon eher der Begriff Penner, Bomsh, passt – mit eingeschlagenem Schädel, faulenden Gliedern, pilzschwarzen Nägeln, ausgeschlagenen Zähnen, eingedrückten Augen und umgeben von schwerem Gestank nach billigem Sprit, Dreck und Fäkalien. Diese Patienten machen etwa die Hälfte aus, die andere Hälfte – Obdachlose, die aussehen wie der Durchschnittsrusse – gehen in dieser Menge lebender Bruegel-Figuren schlichtweg unter.
Die eine Krankenpflegerin betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld. Sie geht zwischen ihnen hin und her, trägt bei dem einen eine Salbe auf, gibt einem anderen eine Tablette. In der hintersten Ecke sitzt ein schmächtiger Jugendlicher mit blutverschmiertem Gesicht. Wladimir Leonidowitsch steuert geradewegs auf ihn zu.
„Hier, eine Geschichte für Sie“, sagt er und deutet auf den jungen Mann. „Darf ich vorstellen – Wladik, desertierter Soldat.“ Vor Entsetzen werden Wladiks graue Augen schwarz, er springt auf, will die Flucht ergreifen, aber Wladimir Leonidowitsch packt ihn geschickt am Kragen und flüstert ihm ins Ohr: „Keine Angst, du Depp, hat doch niemand gehört, wir verraten dich nicht, ist für die gute Sache.“ Nicht sofort, aber bald, entspannt sich Wladik, kommt mit uns nach draußen, bittet uns, ihn weder bei seinem Namen noch reale Orte zu nennen und auch sein Äußeres nicht zu beschreiben.
Das Reden fällt Wladik schwer, er ringt mit den Worten: „Vor vier Jahren hat mich der Kompanieälteste im Suff vergewaltigt und mir befohlen zu schweigen, dann hat er mich nochmal vergewaltigt und mich gezwungen, ihm die Stiefel zu lecken. Ich hab’s nicht ausgehalten, bin weggerannt. Hab mich im Wald verlaufen, Wölfe und Bären gesehen, einmal habe ich die abgefressene Leiche eines Jägers gefunden und mir sein Gewehr geschnappt, ging sofort leichter mit der Essensbeschaffung. Dann bin ich auf eine Bahnstrecke gestoßen, durchs ganze Land bis nach Petersburg gefahren. Habe immer davon geträumt, es einmal zu sehen. Jetzt bin ich hier, was ich tun soll, weiß ich nicht, wahrscheinlich buchten sie mich ein als Vaterlandsverräter. Zum ersten Mal seit zwei Jahren habe ich meine Mutter angerufen, die ist am anderen Ende in Ohnmacht gefallen. Dann kam meine Schwester ans Telefon, ich sag zu ihr: ‚Ljuba, ich bins, ich bin am Leben.‘ Sie hat geweint und geantwortet: ‚Ich rufe gleich die Polizei! Wir haben Wladik vor zwei Jahren in einem geschlossenen Sarg beerdigt. Er ist bei Übungen umgekommen! Wer bist du?!‘ Wobei ich gehört habe, dass sie mich an der Stimme erkannt hat. Aber am meisten mache ich mir Sorgen, dass ich jetzt schwul bin.“
Dima hört mit offenem Mund zu. Genau wie ich. Wladik verstummt. Wladimir Leonidowitsch holt aus seiner Tasche ein iPhone 5 und schaut nach, wie spät es ist. Als er meinen verwirrten Blick bemerkt, sagt er: „Ach das … Komm, ich zeigs dir. Ich hab es ehrlich gegen eine Uhr getauscht, und die Uhr habe ich gefunden.“
Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren
Wir gehen über den Apraschka, und ich verliere inmitten dieses orientalischen Basars vollkommen die Orientierung: Gassen, Korridore, Lagerräume – nie im Leben würde ich den Ort, zu dem wir jetzt gehen, wiederfinden. Wladimir Leonidowitsch scheint sehr zufrieden: „Gut, dass du dir nichts merken kannst, dann bleiben wir heil. Überhaupt, sei vorsichtig beim Schreiben. Keine Namen, Adressen, Behörden, und versuch gar nicht erst Fotos zu machen. Dir ists egal, aber wir müssen so leben. Irgendeine kleine Beamtin Anna Iwanowna könnte ihren Namen in deinem Artikel entdecken und wütend werden. Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren. Aber wegen diesen kleinen Häkchen führen sie sich auf wie die Lenker des Schicksals. Und wenn sie morgens Streit mit ihren Mann hatte, diese kleine Sadistin, kann ich meine Bescheinigung erstmal vergessen.“
Wir bleiben vor einer Tür zu einem Halbkeller stehen. Wladimir Leonidowitsch sagt: „Den Mann hier nennen wir mal Hasan“, und klopft ein Geheimzeichen an die Tür. Ein paar Sekunden später macht uns ein orientalisch aussehender Mann auf. Die Szene gleicht eins zu eins der Episode mit dem Nazi im Film Brat-2. Der Orientale sieht mich ohne zu blinzeln an und fragt: „Wer ist das?“ „Sie gehört zu uns“, entgegnet Wladimir Leonidowitsch. Der Orientale zieht eine Augenbraue hoch, wiegt den Kopf, aber gibt die Tür frei und lässt uns herein.
Im flackernden Licht trüber Glühbirnen öffnet sich vor mir Ali Babas Höhle 2.0. Berge von iPhones und Tablets, ausgeschüttete Ray-Ban-Brillen, die coolsten Bikes – das verlorene, oder besser: das gestohlene Hipster-Paradies. Irgendwo hier steht mit Sicherheit auch das Fahrrad meines Bekannten, das ihm vor ein paar Tagen vor der Tür einer angesagten Bar geklaut wurde. Hasan hält mir ein iPhone mit einem holographischen Kätzchen-Aufkleber hin: „Hier, gehört dir, wenn du willst. Dreitausend.“ Ich will nicht, aber Wladimir Leonidowitsch streckt Hasan eine kleine Tüte entgegen. Der wirft einen Blick hinein und gibt ihm zum Tausch ein iPad.
Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen
Am nächsten Tag laufe ich mit Wladimir Leonidowitsch und Dima durch die Randbezirke. Wladimir Leonidowitsch erzählt mir von den vielen Obdachlosen, die in die Fänge von Zigeunern, Dagestanern, Landwirten und Organisationen geraten, die sich als „Rehabilitationszentren“ ausgeben. Die kenne ich bereits: In Igors Nachtbus habe ich Dutzende Visitenkarten gesehen, bedruckt mit orthodoxen Kreuzen und hübschen Stadtansichten, und auf jeder von ihnen ein Spruch wie: „Dein Weg in die Freiheit!“, „Werde ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft!“, „Arbeit, Wohnung, Zukunft!“, „Der Beginn deines Siegeszugs!“
Die Namen der Organisationen unterscheiden sich nur unwesentlich von den Slogans: Lebenslinie, Perspektive, Land der Zukunft – Dutzende gibt es davon. Ihre Autos warten direkt an den Haltestellen des Nachtbusses. Als ich mit Igor unterwegs war, bin ich einmal hingegangen, um mit einem von ihnen zu sprechen. Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen.
„Die Rechnung ist simpel“, klärte Igor mich danach auf. „Sie sammeln Hunderte von Leuten ein, stecken sie wie die Schweine in Scheunen oder Baracken und fahren sie jeden Tag zum Bau, zum Verladen und zu anderen Arbeiten. Sie füttern sie mit Versprechungen über Pässe und Geld, aber nichts davon passiert, sie kassieren nur das Geld von den Auftraggebern. Die Arbeit eines Menschen bringt im Durchschnitt 1.000 Rubel pro Tag. Du kannst dir selbst ausrechnen, wie viel das zusammen macht, wenn in einer Baracke rund 500 Menschen leben. Kein schlechtes Business, oder?“
An einem der nächsten Tage gehe ich zu einer der vielen Banjas, die im Branchenbuch für Obdachlose aufgeführt sind. Heute ist ermäßigter Eintritt – Baden zum Preis von zwanzig Rubel. Die nette Frau am Telefon sagt mir, sie verstehe natürlich, dass es in der Stadt viele Mittellose gebe, und wer in annehmbarem Zustand komme, den lasse man nicht nur sich, sondern auch seine Wäsche waschen.
Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat
Am Abend des ermäßigten Tages wird der Waschraum von oben bis unten desinfiziert. Ich setze mich auf die Bank am Eingang und beobachte die Leute. Aus der Tür kommt eine reizende kleine Alte, ich habe sie schon an der Nachtbus-Haltestelle auf der Wassiljewski-Insel gesehen. Reingewaschen, rotwangig und mit frisch hennagefärbten Haaren. Ich komme leicht mit ihr ins Gespräch, offenbar freut sie sich über jedes Gramm Aufmerksamkeit. Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat.
Die Geschichte der alten Frau ist die herzzerreißendste, die ich in der letzten Zeit gehört habe. Die Frau heißt Galina, hat früher als Buchhalterin in Jekaterinburg gearbeitet, lebte mit ihrem Mann und den Söhnen in einer Dreizimmerwohnung. Ihr Mann, ein passionierter Wettangler, starb an einem Herzinfarkt, kurz vor Silvester 2006, direkt über seinem Eisloch. „Alle haben dagesessen, auf Fische gewartet, und niemand hat mitbekommen, dass er tot ist. Erst am nächsten Tag, als sie wiederkamen und sahen, dass er immer noch dasaß.“
Ein halbes Jahr später, im Sommer, verschwand der jüngste Sohn, Galinas Liebling. Hatte gesagt, er würde für ein paar Tage zu Freunden fahren, und kam nicht wieder. Mehrere Monate suchte Galina nach ihm, lag mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus, schickte eine Suchanzeige in die Sendung Warte auf mich, ging zu Hellsehern – vergebens. Dann erinnerte sie sich, dass er immer von St. Petersburg geträumt hatte, aber sie ihn nie hatte gehen lassen. Sie ließ alles stehen und liegen, kam hierher, klapperte sämtliche Polizeireviere und Leichenschauhäuser ab und fand ihn schließlich auf einem Foto, das den stark verstümmelten, verwesenden Körper eines „Unbekannten, etwa zwanzig Jahre alten Mannes“ zeigte, mit einer Nummer darauf, wie bei allen nicht identifizierten Toten. Ihr Sohn hätte eine charakteristische Narbe gehabt, „wie Harry Potter“ – daran habe sie ihn erkannt. Auf der Bescheinigung aus der Pathologie stand, dass er an einer schweren Vergiftung gestorben war, und dann, als er bereits tot war, von einem Auto, dessen Halter nicht ermittelt werden konnte, angefahren wurde.
Galina machte sich auf die Suche nach dem Grab, das diese Nummer trug. Der Friedhof in Kolpino ist übersät mit gleichförmigen nummerierten Hügeln. Täglich werden hier Unbekannte beerdigt – Bomshi und solche, deren Identität aus irgendwelchen Gründen nicht festgestellt werden konnte. Am nächsten Tag sah sie, wie irgendwelche Eltern buchstäblich mit bloßen Händen die gefrorene Erde aufkratzten, um zu einem Sarg vorzudringen. Eben diese Menschen riefen den Krankenwagen, als Galina dort in Ohnmacht fiel. Nach einer Weile im Krankenhaus wurde ihr klar, dass sie keine Kraft hatte, ihren Sohn noch einmal zu bestatten. Sie rief ihren Ältesten in Jekaterinburg an, der sagte: „Oh, hallo Mama! Hast du mich doch nicht ganz vergessen! Übrigens, ich habe dich aus der Wohnung abgemeldet“, und legte auf.
Der Friedhof ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses
Galina blieb in St. Petersburg, ihr Pass ging verloren, sie zog auf den Friedhof – das ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses. Die Bewohner haben Mitleid mit ihr und vertreiben sie nicht.
In der Grabkammer ist es auf ganz eigene Art heimelig: In einem Glas stehen ein paar Blumen, auf der Grabplatte ist eine verhältnismäßig frische Tischdecke ausgebreitet, darauf alte Ausgaben der Zeitschriften Sem dnej [Sieben Tage] und Cosmopolitan. In der Ecke liegt eine ordentlich zusammengerollte Matratze.
Galina schlägt vor, auf „den Seelenfrieden der Entschlafenen“ zu trinken, ich lehne so delikat wie irgend möglich ab. „Rate mal, wie alt ich bin?“, fragt Galina zum Abschied. Ich will ihr ein Kompliment machen und sage „60“, obwohl ich sie auf knapp 70 schätze. Galina seufzt traurig: „56.“
Am Tag darauf ruft mich ein gewisser Fjodor an, ein paar Stunden später Sinaida, dann Roma, Shanna und noch jemand. So geht das einige Tage lang weiter. Alle wollen mir ihre Geschichte erzählen, laden mich ein zum Besuch auf eine Müllhalde, zu einer geheimen Abtreibung, zum Angeln oder zur Erdbeerernte. Jemand weint und schreit in den Hörer: „Versteh doch, wir sind auch Menschen! Nicht alle verstehen das! Versteh du es bitte!“ Ich stehe da und schweige.
Ob im Kino, in der Wirtschaft, beim Urlaub oder in der Wissenschaft: Fast überall gelten westliche Standards wie selbstverständlich als das anzustrebende Vorbild. Andererseits scheint Russland vor Patriotismus und neugefundenem Selbstwertgefühl zu strotzen, und eben jener Westen ist für den Großteil der Menschen Gegner, ja Feind. Der Politologe Dimitri Trawin sieht in diesem Widerspruch eine Begleiterscheinung aufholender Modernisierung.
Angenommen, wir würden beschließen, etwas Merkwürdiges zu tun: Wir lassen die russische Bevölkerung abstimmen, welchen Devisenkurs sie möchte. Mit ziemlicher Sicherheit gäbe es ein Votum für eine Stärkung des Rubels, wobei sich gebildete und erfolgreiche Bürger genauso verhalten würden wie die große Masse. Wir bekommen unsere Löhne ja alle in der nationalen Währung ausgezahlt. Doch sobald Gebildete und Erfolgreiche reales Geld in der Tasche spüren, kaufen viele von ihnen Dollar, da sie genau wissen, wie unsicher Rubel-Ersparnisse sind.
Haben wir es hier mit Doppelmoral zu tun? Keineswegs. Der Mensch verhält sich absolut aufrichtig, sowohl, wenn er sich für ein Wachstum des Rubels ausspricht, als auch dann, wenn er dessen Stabilität durch seinen Gang zur Wechselstube untergräbt.
Dieses nicht ganz ernste Beispiel hilft, die Logik der Russen zu verstehen, denen man heute oft eine uneuropäische Mentalität vorwirft, eine mangelnde Bereitschaft zu Reformen und die Neigung, parasitisch vom Petrodollar zu leben. Wenn man sich die großen Umfragen ansieht, zeigen sich überall Patriotismus, Identifikation mit den Machthabern und ein beinahe einmütiges Jasagen. In gewisser Hinsicht ähneln solche Ergebnisse in der Meinungsforschung aber jenen in unserer hypothetischen Umfrage zum Rubel: Sie sagt nichts über das wirkliche Leben der Gesellschaft, sondern eher über das Streben nach einem Ideal.
Die wahren Haltungen eines Menschen sind mit Umfragen schwer zu ermitteln. Wenn man dann gewisse Aspekte unseres Lebens genau unter die Lupe nimmt, entdeckt man plötzlich Dinge, die nicht in das übliche Bild passen.
Professoren beklagen sich oft, dass ihre Publikationen in russischen Fachzeitschriften bei der Bewertung ihrer Arbeit immer seltener Beachtung finden. Dafür bekommt der, der einen Artikel in einer amerikanischen Zeitschrift unterbringt, eine große Prämie. Ist das Kriecherei vor dem Westen, herkunftsvergessener Kosmopolitismus? Ganz bestimmt nicht. Es ist gewöhnlicher Pragmatismus, der Wunsch, Teil jener Wissenschaft zu sein, die heute als maßgeblich gilt. Wobei derselbe Rektor, der die Prämienanweisung unterschreibt, in öffentlichen Reden seine für die staatlichen Unterstützungsgelder so notwendige Liebe zur Krim, zu China, zur Importsubstitution und zur Partei Einiges Russland kundtut.
Und nun ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich – dem Immobilienmarkt. In St. Petersburg werden potenzielle Käufer überschüttet mit Reklame für schwedische Wohnungen, finnische Häuser, 2- und 3-Zimmer-Studioapartments nach europäischem Standard und sogar ganze, nach westlichen Hauptstädten benannte Häuserblöcke. In diesem pragmatisch durchkonzipierten Business weiß man genau, wo die wirklichen Prioritäten zahlungskräftiger Menschen liegen, welchen Lebensstil sie attraktiv finden. Niemand versucht, einem erfolgreichen Menschen, der über ein paar Millionen für den Kauf einer Immobilie verfügt, Wohnanlagen namens Shanghai, Dubai oder Mumbai schmackhaft zu machen.
Schauen wir vom Immobilienmarkt hinüber zum Sport. Hier herrscht, so will man meinen, unverhohlener Patriotismus. Hier jubelt man den eigenen Leuten zu und hasst aufrichtig sämtliche Gegner. Nur dass der Begriff „eigene Leute“ in letzter Zeit äußerst vage geworden ist. Wir unterstützen aufrichtig eine Fußballmannschaft, die beinahe gänzlich aus Legionären besteht, während sich unter den Gegnern massenhaft Landsleute finden. Und der Klub braucht nur die Legionäre auszuwechseln – und schon sympathisieren die Fans mit Spielern, die sie eben noch auspfiffen, als sie in der gegnerischen Mannschaft spielten.
Das markanteste Beispiel für die Relativität unseres Patriotismus ist aber das Kino. Der Antiamerikanismus geht überraschenderweise mit einer großen Beliebtheit Hollywoods einher. In Umfragen verurteilen unsere Landsleute das amerikanische Militär voller Zorn, aber sobald sich der Befragte zum Zuschauer wandelt, bezahlt er Geld dafür, sich mit einem amerikanischen Marineinfanteristen oder Polizisten identifizieren zu dürfen. Aber auch hier geht es nicht um Doppelmoral. In einem professionell produzierten russischen Actionfilm steht derselbe Zuschauer ebenso gern auf der Seite des vaterländischen Fallschirmjägers oder Polizisten. Doch Hollywood ist stärker, reicher und in der Produktion solcher Spektakel erfahrener. Und ins Kino kommen wir wegen des Spektakels und nicht, um patriotische Gefühle an den Tag zu legen. Wir geben Geld aus für das, was wir brauchen, selbst wenn es das Produkt eines wahrscheinlichen Kriegsgegners ist.
Ähnlich sieht es im Fernsehen aus. Patriotische „informativ-analytische“ Propaganda wechselt sich ab mit Serien und Shows, die auf Originalen aus Übersee basieren. Millionen von Bürgern werden ständig amerikanisiert, selbst wenn sie sich nie im Kino Hollywoodfilme ansehen. Wie die Erfahrung mit dem Fernsehen zeigt, weinen und lachen wir ungefähr gleich wie die Menschen im Westen. Unsere psychologischen Reaktionen sind ihren sehr nahe. Man kann uns mit ähnlichen Plots fesseln. Wir reagieren auf dieselben Reizfaktoren und ereifern uns, und wir entspannen uns, wenn wir eine Melodie hören, die einem Bewohner Bostons oder Kopenhagens genauso gut gefällt.
Man könnte noch viele ähnliche Beispiele aufzählen. Ließe ein Soziologieprofessor ein paar aufgeweckte Doktoranden in den Details des wirklichen Lebens der Russen herumwühlen, würden wir wohl mehr Informationen erhalten, als uns die Massenumfragen liefern. Denn bei denen geben die Menschen nicht ihr Alltagsleben wider, sondern ihre mentalen Konstrukte, die sich aus ihren Ängsten, Wünschen und Phobien ergeben, beeinflusst durch das System der Gehirnwäsche.
Aber man darf die Fragebögen nicht einfach schlechtreden. Sie tun etwas Wichtiges, sie zeigen die Welt der Passionen, in der die Menschen leben. Man sollte bloß nicht glauben, dass es darin um das wirkliche Leben geht.
Der Mensch einer sich modernisierenden Gesellschaft wird gewöhnlich von Widersprüchen gequält. Im wirklichen Leben orientiert er sich am Lebensstil der erfolgreichen Länder – er will konsumieren wie die dort, Urlaub machen wie die dort, sich vergnügen wie die dort. Doch da dies für die große Masse der Bevölkerung eines rückständigen Landes nicht möglich ist, herrscht in einer sich modernisierenden Gesellschaft Frustration. Und um sich davor zu schützen, baut der Mensch sich einen eigenartigen mentalen Schutzschild: In Wirklichkeit sind wir gar nicht rückständig, in Wirklichkeit sind wir besser, ehrlicher, richtiger.
Sowohl der Konsum nach westlichen Standards als auch die mentale Ablehnung des Westens sind gleichermaßen ein Ergebnis der aufholenden Modernisierung. Ungefähr genau so, unter Widersprüchen leidend, versuchten seinerzeit die Deutschen, den Westen einzuholen. Und holten ihn schließlich ein, auch wenn die Modernisierung ihnen in der Mitte des 20. Jahrhunderts übel mitspielte.
Was immer man denkt über die Umstände des Referendums vor eineinhalb Jahren: In Sewastopol sind viele von Herzen froh, nun zu Russland zu gehören. Iwan Shilin von der Novaya Gazeta hat ein Stimmungsbild zusammengetragen – kleine Kuriositäten inklusive.
Drei Tage vor dem Feiertag hatten die Medien Sewastopols über die Sperrung der Straßen informiert: von 5 bis 12 Uhr. Doch um 8 Uhr flitzen immer noch Autos in beiden Richtungen über die Uliza Lenina, die Hauptstraße der Stadt.
„Sie müssen wenden“, bedeutet ein Polizist einem Toyota, der ins Zentrum fahren will. „Ich hab den hier“, der Fahrer streckt einen roten Ausweis aus dem Fenster. „Alles klar, bitte.“ Der Polizist gibt den Weg frei.
Nach dem Verkehr zu urteilen gibt es viele Fahrer mit einem roten Ausweis. Die Versammlung der Stadtbewohner ist für 9 Uhr angekündigt. Doch schon gegen 8 Uhr sind beim Denkmal der Stadtgründerin Katharina der II. viele Menschen anzutreffen. Ständig begrüßen Neuankömmlinge aus allen Richtungen Bekannte: „Einen frohen Feiertag!“ Viele lächelnde Gesichter.
„Wo soll der Umzug beginnen?“, frage ich einen Kämpfer der Selbstverteidigungskräfte, der auf der Straße umhergeht. „Kommt darauf an, zu welcher Organisation Sie gehören.“ „Ich bin auf eigene Faust da.“ Der Kämpfer blickt erstaunt: „Dann wohl auf dem Suworow-Platz.“
Der Kämpfer sagte das, jedoch habe ich keine Hinweise gefunden, dass man die Menschen zum Feiertag dort hinbeordert hätte. Die typische Antwort der Menschen, die kommen: „Die Vorgesetzten mussten uns nicht auffordern, wir sind von selbst gekommen.“ Die Bedeutung dieses Feiertags ist den meisten unbekannt, man weiß wenig über die Ereignisse von 1612. In Sewastopol bezieht man den Tag der Einheit des Volkes auf sich.
Wir werden in die Ukraine kommen, wir werden nach Weißrussland kommen
Um 8.30 Uhr, eine halbe Stunde vor Beginn des Umzugs, versinkt die Straße in einem Meer von Flaggen. Eine weißrussische fällt mir auf. Hochgehalten wird sie von einem grauhaarigen Mann im Tarnanzug. Wassili Wassiljewitsch ist 66 Jahre alt, 30 davon hat er in der Schwarzmeerflotte gedient.
„Ich selbst bin aus Weißrussland, deshalb trage ich diese Flagge. Damit habe ich den ganzen Krim-Frühling bestritten, ich war bei den Selbstverteidigungskräften Sewastopols“, erzählt er. „Auch hier bei uns wollten die sich auf dem Nachimow-Platz versammeln, diese Ukr… – diese Ukrainer, aber wir haben sie aufs Schönste verjagt. Großenteils Junge waren es. Haben sich hier eingeschmuggelt als angebliche Studenten, als angebliche Bauarbeiter. Ich glaube, das waren keine Studenten oder Bauarbeiter, das waren gut ausgebildete Kämpfer. Doch wir vom Schwarzen Meer sind unbezwingbar: Wir haben denen die Leber auf den Asphalt geschmiert.
Den Russischen Frühling auf die Krim und Sewastopol zu beschränken sei Unsinn, findet Wassili Wassiljewitsch.
„Gerechterweise müssten alle slawischen Länder zu einem einzigen werden“, fährt er fort. „Ich überlege mit den Jungs schon, wie wir das hinkriegen. Wir gehen in die Ukraine, gehen nach Weißrussland, nach Serbien. Alles wird zu einem einzigen Staat.“ „Wann?“, erkundige ich mich. „Das sind erst Pläne, noch nichts Konkretes.“ „Wird der Staat Russland heißen?“ „Natürlich, wie soll er denn sonst heißen?“
15 Minuten vor dem Marsch wird Musik eingeschaltet – über Sewastopol sind ja viele Lieder geschrieben worden. Die Leute treten von den Bürgersteigen auf die Fahrbahn und stellen sich in Kolonnen auf. Die kleinste Kolonne, die Selbstverteidigungskräfte Sewastopols, zählt nur etwa 50 Personen. Ich nähere mich einem Mann, der mit einem Transparent dasteht. Alexej ist 25 Jahre alt und arbeitet als Autoschlosser. In seiner Freizeit ist er bei der Selbstverteidigung.
Mit der Ukraine haben wir zusammengelebt wie mit einer Ehefrau
„Warum wir nicht in der Ukraine geblieben sind?“, wiederholt er meine Frage. „Wissen Sie, es ist wie im Familienleben. Eine Pralinen-Blumen-Phase gab es zwar nicht, aber am Anfang war das Zusammenleben erträglich. Als dann Juschtschenko an die Macht kam, kündigte sich Uneinigkeit an: Aus irgendwelchen Gründen begann Kiew, mit den USA und der EU zu verkehren. Aber das war eigentlich eher wie ein Freund der Ehefrau, den sie bald satt hatte. Und da trat dann unser Mann, Janukowitsch, auf den Plan. Ja, und als dann der Maidan kam und siegte, hat uns die Ukraine meiner Meinung nach einfach betrogen, ist zum Nachbarn gegangen. Und wollte dann noch unser Kapital: Kämpfer für die Eroberung der Krim und Sewastopols. Aber da haben wir gezeigt, dass wir stark sind. Zumal Russland uns unterstützte.“
Alexej stand während des Krim-Frühlings am Checkpoint in Tschongar.
„Als im Fernsehen fast täglich über verhaftete bewaffnete Kämpfer berichtet wurde, war das natürlich erfunden“, sagt er. „Es gab einzelne Versuche, Waffen hineinzuschaffen, wobei die Fahrer bei der Festnahme gewöhnlich sagten, die seien doch für uns. Aber wir stellten alles auf den Kopf und beschlagnahmten die Waffen. Ich glaube schon, dass diese Hilfe für die Kiew-Anhänger bestimmt war.“ Der Ukraine wünscht Alexej, dass sie „möglichst schnell zur Vernunft kommt“.
Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit
Der Umzug beginnt. Mindestens 15.000 Teilnehmer. Die erste Kolonne steht auf dem Nachimow-Platz, die letzte nicht weit vom Suworow-Platz. Vor der Kolonne der Nationalen Befreiungsbewegung werden eine Trikolore und Putin-Porträts hergetragen.
„Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit“, sagt der Mann, der vorne geht. „Sie ist ein höchst vielfältiges Land: Lemberg zieht es in die eine Richtung, Iwano-Frankowsk wird ohnehin bald an Ungarn übergehen, und wir wollten zu Russland gehören. Aber Kiew hat uns, als wir noch zusammengehörten, zweimal Mieses angetan: Das erste Mal 2006, als beschlossen wurde, dass das Erlernen der ukrainischen Sprache Pflicht wird (Die Novaya Gazeta fand übrigens keine Bestätigung für diese Information – I.Sh.), und das zweite Mal ein Jahr später, als Timoschenko ankündigte, sie werde Sewastopol in die Knie zwingen (Timoschenko hat mehrmals erklärt, sie habe nie etwas Derartiges gesagt). Und deswegen konnte uns nichts mehr halten, als es zum Euromaidan kam. Jetzt hat sich die Ukraine außerdem auch auf ein sehr gefährliches Spiel eingelassen: Sie tanzt nach der Pfeife der Weltregierung. Sie wissen doch, dass Obama, Merkel und all die anderen nur Marionetten sind?“
Ich nicke verständig.
„Putin versucht, sich dem zu widersetzen. Die Weltregierung richtet die Länder zugrunde, nur Auserwählte führen ein Leben im Reichtum – haben Sie von der ‚goldenen Milliarde‘ gehört? Auch die Ukraine wird man zugrunde richten, die lässt keiner in den Club der Elite.“
Unverhofft kommt eine Frau zu mir geeilt und streckt mir eine Zeitung entgegen. „Nationale Befreiungsbewegung: Für Souveränität“, lese ich. Auf der Titelseite das Gesicht des Abgeordneten Fjodorow. „Die Propagandamaschine, die uns von früh bis spät das Gehirn wäscht, ist mächtig“, schreibt er nicht etwa über Kisseljow oder Solowjow. „Doch die USA verstehen das Wesen des „russischen Wunders“ nicht.“ Das „russische Wunder“ sind nach Auffassung des Abgeordneten Fjodorow die Siege in den Kriegen gegen Napoleon und Hitler. Schwer zu sagen, ob sich Barack Obama für deren Rolle eignet. Aber er ist ja ohnehin nur eine Marionette … Dann folgen Klischeeartikel: Zentralbank – Agent der USA, Verfassung – zugeschnitten auf den Westen. Auflage 100.000 Exemplare.
Es hätte eine Föderalisierung gebraucht
Der Umzug, der um den ganzen zentralen Stadtring hätte führen sollen, endet abrupt: Die Polizei lässt die Leute nicht auf die Uliza Bolschaja Morskaja. Aber das stört niemanden. Die Leute rollen ihre Flaggen und Transparente zusammen und verziehen sich einfach. Sie haben den ganzen Weg über nichts skandiert, sind einfach mitgelaufen und haben der Musik zugehört: Ein Orchester spielte einen Marsch.
Ein Teil der Stadtbewohner bleibt auf dem Lasarew-Platz, um sich zu fotografieren. Ich bemerke eine Frau mit vier Medaillen auf der Brust. Darunter auch eine Für die Heimkehr der Krim.
„Nein, nein, ich habe natürlich nicht gekämpft“, wehrt sie ab und stellt sich vor: Tatjana Jermakowa, Präsidentin der Russischen Gemeinschaft Sewastopols. „Die Medaille hat man mir wahrscheinlich dafür verliehen, dass ich seit 1990 immer wieder Kampagnen für die Heimkehr der Krim und Sewastopols nach Russland initiiert habe. Damals, 1990, zeichnete sich schon ab, dass die UdSSR zusammenbrechen würde, und so stellten wir die Puschkin-Gesellschaft für Russische Kultur auf die Beine. Wir reisten nach Moskau, um Gorbatschow zu treffen, dann Chasbulatow, 1992 nahmen wir an einer Sitzung teil, auf der die Verfassungswidrigkeit der Übergabe der Krim an die Ukraine anerkannt werden sollte. Dann, als die Versuche, sich Russland anzuschließen, gescheitert waren, setzten wir uns für die russische Kultur ein: In Russland feiert man jetzt am 6. Juni [Puschkins Geburtstag – dek] den Tag der Russischen Sprache. Unsere Gesellschaft gehörte zu den Initiatoren dieses Feiertags.“
Auf meine Frage, ob Sewastopol in der Ukraine hätte bleiben können, antwortet Jermakowa: „Die Ukraine hat ihre Fehler schon lange vor dem Euromaidan begangen. Wir haben beispielsweise jedem Präsidenten Briefe geschrieben: Föderalisieren Sie das Land, wir brauchen mehr Selbständigkeit, wir wollen kein Ukrainisch lernen, wir wollen eigene Gesetze. Aber es wurde jedesmal abgelehnt. Deswegen nein. Sewastopol war immer ein Vorposten Russlands auf der Krim, mit uns hätte man behutsamer umgehen müssen.“
Über hundert Jahre ist es her, da erzählte uns Anton Tschechow vom Ende des malerischen Lebens der Wohlhabenden und Gebildeten auf dem Lande, vom Ende des Kirschgartens, vom Ende der Unschuld. Über ein altes Herrenhaus ohne Kanalisation und Warmwasser und seine Bewohner berichten Andrej Urodow (Text) und Arthur Bondar (Fotos). Eine Reportage aus einer Welt, in der die Kirschgärten noch stehen, die alten Gärtner jedoch verschwunden sind.
Ins Dorf Koltyschewo fährt nur ein einziger Bus, die Nummer 21. In Koltyschewo gibt es keine Straßen, nur Hausnummern. Das Haus Nummer 1 wird hier Herrenhaus genannt. Es ist ein altes Gutshaus, erbaut vor über zweihundert Jahren. Niemand weiß genau, wie alt es ist, selbst im Hausbuch steht „Baujahr unbekannt“. Nach der Revolution baute man die herrschaftliche Villa zu einem Mehrfamilienhaus um, und in den folgenden hundert Jahren ließ man es langsam, aber sicher verrotten. Aus der aristokratischen Vergangenheit ist noch die Lindenallee übrig, die mittlerweile zu Baracken führt.
Im ersten Stock des Herrenhauses wohnt heute die Familie von Tatjana Iwanowa, einer Packerin 4. Ranges. In der einen Wohnung leben sie und ihre Kinder und Enkel, in der anderen ihre Mutter und ihr Bruder. Sie ist in den siebziger Jahren, noch als Kind, hergezogen und erinnert sich an die Erzählungen der Alteingesessenen.
Vor der Revolution wurde an Feiertagen ein langes Tischtuch auf unserer Wiese ausgebreitet, und alle, die beim Gutsherrn arbeiteten, hatten frei, und er selbst setzte sich auch zu ihnen
„Als wir kamen, wohnten hier nur alte Mütterchen. Sie hatten schon viele Jahre auf dem Buckel und hatten noch bei unserem Gutsbesitzer Popow gearbeitet. Sie erzählten, dass es an der Kamenka früher einen Hühnerstall gegeben hatte, an der heutigen Bushaltestelle eine Nagelfabrik und beim Haus hinter den Linden große Pferdeställe. Davon ist heute nichts mehr übrig. Auf der anderen Seite der Straße, wo die Einfamilienhäuser stehen, wuchsen ringsum Birken, dort war ein Teich, an den erinnere ich mich noch aus den 1970er Jahren. Vor der Revolution wurde an Feiertagen ein langes Tischtuch auf unserer Wiese ausgebreitet, und alle, die beim Gutsherrn arbeiteten, hatten frei, und er selbst setzte sich auch zu ihnen. All die alten Mütterchen lobten ihn in den höchsten Tönen. Sie erzählten, dass er seinen Arbeitern das Essen dreimal täglich direkt auf das Feld brachte.
Es heißt, in der Tretjakow-Galerie hängt ein kleines Gemälde unseres Gutshauses, das Werk eines unbekannten Künstlers – da hatte unser Haus noch große Balkone und Stuck an der Fassade. Jetzt kann man das von unserem Haus wirklich nicht mehr behaupten. Ein paarmal sind Nachfahren der Gutsbesitzer gekommen – die alten Mütterchen haben sie noch durch das Dorf geführt, es ist lange her. Ein Neffe Popows kam eigens aus Paris angereist. Sie glaubten, man würde sich hier vor ihnen verneigen wie im Ausland ‚Bitte nehmen Sie es, es ist ja Ihres‘, stattdessen hieß es aber: ‚Bitte kaufen Sie es, es ist ja Ihres‘.“
Vom Adelsnest ist fast nichts mehr übrig. Neben den Holzschuppen und dem neuen Spielplatz, der schon seit vier Jahren auf Sand wartet, steht ein Sockel. Darauf stand früher ein Denkmal – ein kleiner Engel. Hier wurde der jüngste, in früher Kindheit verstorbene Sohn des Gutsbesitzers Popow begraben. Daneben soll, so die Hausbewohner, auch der zweite Sohn Popows liegen, ein im Ersten Weltkrieg umgekommener Testpilot. Es gibt jedenfalls zwei kleine Hügel vor dem Denkmal. Die Skulptur verschwand vom Sockel, als ein Dorfbewohner nachzusehen beschloss, ob darin Schätze versteckt waren. Einen Meter vom Denkmal entfernt liegt ein betrunkener Mann in Tarnhosen. „Das kam zu Popows Zeiten wohl nicht vor“, denke ich und mache sorgfältig einen Bogen um den schlafenden Dorfbewohner.
Früher war das Flüsschen noch ein Fluss, da konnte man solche riesigen Fische fangen. Der Legende nach soll Katharina II. dort ihre Pferde versenkt haben, nun ja, das passiert schon mal
Am Hauseingang treffe ich eine alte Frau, streng wirkt sie: Polina Pawlowna, Tatjanas Mutter. In den Händen hält sie ein kleines Einkaufsnetz und zwei dünne Stöcke, mit deren Hilfe sie zum Laden und zurück geht. Sie ist 82 Jahre alt und lebt im ersten Stock. Mit jedem Tag wird es schwieriger, die steile Treppe hochzugehen. Im Hof steht ihr großer Sessel, auf dem sie sich nach dem Einkaufen ausruht. Als sie sitzt, taut Polina Pawlowna sichtlich auf: Zuerst erscheint ein Lächeln, dann beginnt sie zu reden. Ihre Stimme ist sehr leise, ich muss mich neben sie auf die Erde setzen, um alles zu verstehen.
„Eine gute Gegend ist das hier. Früher war das Flüsschen noch ein Fluss, da konnte man solche riesigen Fische fangen. Weiter hinten wird es sumpfig. Der Legende nach soll Katharina II. dort ihre Pferde versenkt haben, nun ja, das passiert schon mal. Ich selbst bin in Odessa geboren, aber ich scheue die Sonne. Kälte, Regen halte ich aus, aber die Sonne – wenn sie sich zeigt, fühle ich mich sofort unwohl. Mit meinem Mann bin ich seit 56 Jahren zusammen, früher sind wir hier überall herumgestreift. Er ist Invalide, beide Beine amputiert, er wohnt in einem Holzhaus hier in der Nachbarschaft. Dort hat er es einfacher. Und ich wohne mit der Familie im Herrenhaus.“
Sobald sie sich im Schatten ein wenig von der verhassten Sonne erholt hat, gibt sich Polina Pawlowna ihren Erinnerungen hin:
„Das Sterben macht mir keine Angst. Ich habe im Norden, in Uchta, als Aufseherin gearbeitet. Es war kein Umerziehungslager, es war ein echtes Gefängnis. Von dort kehrte man nicht unbedingt zurück. Es gab da eigene Gesetze, ist halt der Norden. Der schrecklichste Ort der Welt. Der Fluss Petschora – seine Ufer sind so hoch wie unser Gutshaus, und unten Wasser. Den ganzen Tag wird geflößt, verladen, abtransportiert. Da fiel oft jemand einfach zwischen den Stämmen ins kalte Wasser und war nicht mehr zu retten.
Ich war sehr quirlig und half allen, aber die Vorgesetzten erwischten mich kein einziges Mal. Erzähl alles, was du willst, aber sag den Vorgesetzten nie die Wahrheit, zeig dich kooperativ, aber lass die Wahrheit weg. So lebten wir dort.
Ich redete mit den einfachen Leuten, mit den reichen, mit den Gefangenen und mit den Vorgesetzten. Wenn man gescheit sein will, muss man mit den Leuten reden. Was bringt es, immer nur zu Boden blicken?“
Unvermittelt kehrt Polina Pawlowna aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück:
„Unsere jungen Leute sind einmal zur Verwaltung gegangen und haben gesagt: ‚Gebt uns Zement und Baumaterialien, wir renovieren alles selbst.‘ Aber die wollen nicht, die geben nichts, sie warten lieber darauf, dass das Haus einstürzt. Aber sie werden sterben, und unser Haus wird noch hundert Jahre nicht zusammenfallen, das weiß ich.“
Sie werden sterben, und unser Haus wird noch hundert Jahre nicht zusammenfallen, das weiß ich
In den letzten zwanzig Jahren gab es im Gutshaus keine einzige Grundsanierung. Vor zwei, drei Jahren wurden die Heizungsrohre ersetzt, weil die alten den Geist aufgegeben hatten. Der einzige gute Brunnen war schon kurz vor dem Brand von 1998 verseucht. Das Wasser wurde erst trüb und danach ganz schwarz. Man musste ihn zuschütten, deshalb führten sie vom Wasserturm her eine Leitung mit einem Kaltwasserhahn zum Haus – er befindet sich unten im Hausflur.
Bevor man das Wasser trinken kann, muss man allerdings zwei, drei Tage warten, bis sich der Rost setzt. Der spezifische Geruch verschwindet auch dann nicht, sauberes Wasser muss man deshalb bei der Zapfsäule im Nachbardorf holen. Als neben dem Haus ein Graben ausgehoben wurde, erinnern sich die Bewohner, fanden sie darin Münzen aus Zeiten vor der Revolution, Geschirr und sogar einen alten Teekessel aus Bronze.
Für ihre Kommunalka zahlen alle Bewohner gewissenhaft ein paar tausend Rubel [etwa 15 Euro] im Monat. Schulden haben sie keine, aber von Kanalisation und Gas haben sie auch noch nie etwas gehört. Sie waschen sich in den Banjas, die direkt im Hof des Herrenhauses stehen. Die Toilette ist im Freien. Wegen der Schulden der Firma Dubrawa, die früher für das Haus verantwortlich war, schaltete die neue Verwaltung im Mai das Licht im Eingang ab. Solange die Verwaltungen einander gegenseitig den verlotterten Zustand des Hauses vorwerfen, müssen die Hausbewohner alles selbst machen. Sie haben eine Lampe direkt aus einer Wohnung in den Eingang gestellt.
„Scheiße, Mann, bist du Baptist oder was?“ „Nein, Journalist.“ „Ach so, na, ist doch eh alles das gleiche“
Im Erdgeschoss wohnt Irina, ihr Mann ist Invalide. Vor zwei oder drei Jahren war der Fußboden im Erdgeschoss beschädigt, Irinas Mann konnte nicht mehr allein mit dem Rollstuhl in die Wohnung fahren. Die Verwaltung schwieg, und so betonierte sie einen Teil der Türschwelle selbst zu und baute eine kleine Rampe.
„Ich habe ihn kürzlich aus dem Krankenhaus abgeholt, meine Schwester und mein Bruder haben mir dabei geholfen. Mit einem amputierten Bein ist er noch Auto gefahren, aber jetzt hat ihm auch das zweite den Dienst versagt. In unser Auto setzt sich keiner mehr, ich habe noch keinen Führerschein. Ich habe jahrelang im Nachbardorf in der Schule gearbeitet, als Laborantin, in der Mensa als Leiterin der Wirtschaftsabteilung. Dann wurde die Schule geschlossen, es blieben wohl nur der Kindergarten und die Anfängerklassen. Ich fand Arbeit in der Geflügelfabrik, aber auch dort gab es Entlassungen, und jetzt suche ich nach einer neuen Stelle … Bitte seien Sie leise. Meine Nachbarin im Erdgeschoß schläft gerade. Sie wohnt hier mit ihren Kindern, nachts arbeitet sie am Flughafen.“
Wir bemühen uns, die Dielenbretter nicht knarren zu lassen und gehen hinauf zu Polina Pawlownas Wohnung im ersten Stock. Sie zeigt uns ihre Bücher und steckt uns Broschüren mit Auszügen aus der Bibel zu. Ein hagerer Mann in Tarnhosen platzt ins Zimmer. Derselbe, der neben dem Denkmal schlief.
„Scheiße, Mann, bist du Baptist oder was?“ „Nein, Journalist.“ „Ach so, na, ist doch eh alles das gleiche“, sagt er enttäuscht und verschwindet in seinem Zimmer, aber er taucht gleich wieder auf und brummt irgendwas vor sich hin. Polina Pawlowna versucht ihn hinauszuführen. „Mein Sohn Pjotr ist meine schwierigste Prüfung“, seufzt sie. Pjotr lässt sich nicht beruhigen: „Ich habe im Donbass gekämpft, ich bin kriegsverletzt!“ Er streckt uns einen Pass mit einem annullierten Stempel der russischen Durchgangskontrolle an der ukrainischen Grenze entgegen. „Wie hat es Sie dorthin verschlagen?“ „Ein Freund aus der Armee war bei mir auf Besuch, wir sind angeln gegangen, haben dort ein bisschen gesoffen, na und dann sind wir hingefahren.“
Polina Pawlowna schüttelt skeptisch den Kopf, sie scheint daran gewöhnt zu sein, nicht alles zu glauben, was der Sohn erzählt. Wir gehen zusammen in den Hof hinaus. Draußen ist es wie in einer Sauna, vermutlich kommt ein Gewitter. Im Schatten der alten Linde ist es weniger schwül. Die alte Frau nimmt ihren gewohnten Platz im großen Sessel ein und versinkt wieder in Erinnerungen.
Das Gefängnis ist wie Krieg. Es gab dort einen Berg. Einmal war die Sonne schon untergegangen, und der Berg leuchtete immer noch. Einer der Insassen erklärte mir: ‚Was da leuchtet, sind Knochen.‘
„Ich war kampflustig und verprügelte meine Schwester, andere Kinder, alle. Ich ging auch alleine in den Wald, ich hatte vor nichts Angst. Man wird so geboren, so stark. Unser Papa war auch so. Die Häftlinge taten mir leid. Ich brachte ihnen im Ärmel Tee. Sie mussten sich doch Tschifir machen, aber es war kein Tee aufzutreiben. Wir Aufseher waren immer zu zweit unterwegs. Ich sagte zu meinem Partner: ‚Geh nur voraus, ich bringe kurz die Stiefel in Ordnung‘, und dann legte ich den Tee irgendwo auf dem Gelände unter ein Blatt. Und sie warteten natürlich schon auf mich. Es gab viele schlimme Dinge. Das Gefängnis ist wie Krieg. Es gab dort einen Berg. Einmal war die Sonne schon untergegangen, und der Berg leuchtete immer noch. Einer der Insassen, ein Jude, erklärte mir: ‚Was da leuchtet, sind Knochen.‘ Die Leute erfroren, starben, und man schichtete sie auf dem Berg auf, und von dort kam dann das Leuchten.“
In der Stille vor dem Gewitter verstummt plötzlich alles. Selbst Pjotr hört auf, Radau zu machen. Auf dem Weg zur Haltestelle komme ich an dem Laden vorbei. An einem kleinen Plastiktisch trinken Männer Bier: „Hast du dich verlaufen, Junge? Was hast du hier überhaupt verloren?“
Plötzlich erklingt in der Ferne ein ersterbender, trauriger Ton. Wenn man will, kann man sich einbilden, es wäre der Ton einer reißenden Saite, aber es ist nur der Bus Nr. 21, der beim Näherkommen ein Signal gibt.
Mitte September füllte sich das russische Internet auf einmal mit seltsamen Fotos: viele von ihnen schwarz-weiß oder in nicht ganz lebensechten Farben, mit schiefen Bildausschnitten, und ungewohnten – mindestens – Frisuren bei den Dargestellten. Das Kulturportal Colta.ru hatte zu einem Flashmob aufgerufen: Die User sollten Fotos aus den 1990ern ins Netz legen – und zwar alles, was sie finden konnten und für zeigenswert hielten – und Hunderte, vermutlich Tausende, kamen diesem Aufruf nach.
Die 1990er Jahre haben bis heute eine besondere Stellung in Russland, es ist ein unübersichtliches Jahrzehnt. Vielen ist es als Zeit der Armut, der Entbehrungen und des Leidens in Erinnerung geblieben, für andere ist es eine Epoche des Aufbruchs, der Hoffnung und der Freiheit gewesen. Von daher war der Foto-Flashmob zu diesem Thema mehr als nur ein nostalgischer Zeitvertreib: Er hat eine Welle von Diskussionen ausgelöst, die oft politischen Charakter hatten. Andrej Archangelski von Colta.ru versucht im Rückblick, die Bilder zu deuten und zu erfassen, an welche Schichten von Erinnerung und Aktualität die Aktion gerührt hat.
Quelle – Colta.ru
Nicht alle Flashmobs in sozialen Netzwerken sind so dynamisch: Die von Colta ins Leben gerufene Facebook-Aktion Erinnern wir uns an die 1990er erlebte einen solchen Zuspruch, dass sie tatsächlich „politisch kalkuliert“ wirkte, und Patrioten witterten in den Aufnahmen eine versteckte Bedrohung. Das war soweit eine verständliche Reaktion. Aber ein Flashmob richtet sich gegen niemanden, es geht dabei in der Regel allein um die Form, es gibt kein Ziel, außer dem, dass alle ungefähr zur gleichen Zeit annähernd das Gleiche tun. „Ein auf den ersten Blick harmloser Flashmob“ – dieser Satz staatstreuer Kolumnisten könnte aus dem Wortschatz sowjetischer Zeitungen stammen: Gerade die Harmlosigkeit, die Ziellosigkeit, ist die größte Gefahr für eine totalitär angelegte Psyche. Ziellosigkeit schreckt machthungrige Menschen mehr als offen gezeigte Feindseligkeit, denn die Verschwendung von Minuten und Stunden des eigenen Lebens – der gemeinschaftliche Potlatch – bedeutet, dass man über sich selbst verfügt, bedeutet Freiheit. Ziellosigkeit ist im Grunde auch ein Merkmal der 1990er. Die allgemeine, allzu verschwenderische Geste, das Teilen dieser herrlich zweckfreien Dinge geradezu mit Opfermut.
Die Fotos der 1990er Jahre fixieren vor allem die veränderte gesellschaftliche Haltung. Ein typisches Intellektuellenfoto aus den 1970ern oder 1980ern: Man sitzt Seite an Seite, legt die Arme umeinander, alle blicken in die Kamera, zwischen drei und zwanzig Personen, meist am gedeckten Tisch. Hier sind – das ist mit Parfjonows halbironischer Intonation auszusprechen – „vor allem die Augen wichtig, der Blick – weil man noch nicht alles laut sagen darf.“ Wichtig ist, dass man die Gemeinschaftlichkeit zur Schau stellt. Wichtig ist nicht zuletzt auch, dass man sich an die Traditionen hält: Ein Gruppenfoto von Intellektuellen aus Kratowo unterscheidet sich hinsichtlich der Bildkomposition nicht immer von der fotografischen Dokumentation eines Treffens des Politbüros mit einer kommunistischen Bruderpartei.
Neben dieser Tradition gibt es eine weitere, nicht weniger starke (wenn auch nicht neue). Die Menschen, die in den 1970ern und frühen 1980ern geboren wurden, erinnern sich gut an ihre Kinderfotos. Es war üblich, mit Kindern zwischen ein und sieben Jahren etwa einmal jährlich das Fotoatelier aufzusuchen. Ein abscheuliches Ritual, ein abscheulicher Initiationsritus, wie wir als fleißige Pelewin-Leser heute verstehen. Ein sowjetisches Auge hat euch zum ersten Mal festgehalten, ihr seid sichtbar geworden, auf dem Filmstreifen erschienen. Ihr wart so angezogen, „wie es sich gehörte“, euer Blick war so, „wie er zu sein hatte“ – genau das war das Ziel, ihr wurdet zu einem Teil der Norm. Wenn die Leute später, als Erwachsene, fremde Fotoalben durchblätterten, konnten sie es kaum fassen, dass Millionen von Kinderfotografien voneinander nicht unterscheidbar waren, egal ob sie in Tscherepowez, Batumi oder in Kaliningrad entstanden waren. Die Aufnahmen wurden nicht gemacht, um Individualität festzuhalten, sondern um alle völlig gleich aussehen zu lassen. Besonders die gefalteten Kinderhändchen, mit dem Plüschbär, der schieläugigen Puppe, und der für immer fest in der Erinnerung eingeprägte Ruf „Nicht bewegen jetzt!”, sind ein grelles Kindheitstrauma.
All diese Aufnahmen erzogen einen dazu, nicht für sich selbst zu leben, sondern für die Gesellschaft, die Eltern, für die Buchführung, für die anderen. Das Foto aus den 1990ern ist vor allem für einen selbst. Oder im Grunde genommen für überhaupt niemanden und nichts. Die Fotos aus den 1990ern, die jetzt ins Netz gestellt werden, kämpften unbewusst gegen die beiden Traditionen an: das freundschaftlich-gesittete Foto bei Tisch und das gnadenlose Kinderfoto aus dem Atelier. Auf den Fotos der 1990er ist der Mensch oft im Moment größter Abweichung von der Norm festgehalten. Es waren Akte symbolischer Rache für die sowjetische Entwürdigung und den Anruf „Stillgesessen!“
Der Gesichtsausdruck der 1990er ist nicht Lächeln, sondern eine gewisse Verwunderung: Schaut wozu ich fähig bin, das da bin ich. Faktisch bedeutete es eine Selbst-Entdeckung, Offenheit, Hoffnung. Und auch Freiheit. Die Freiheit verstand sich noch nicht als solche: Es war nur Verwirrung darüber, dass nun alles möglich war. Im Grunde genommen findet man genau solche Fotos auch bei den Leuten, die heute auf einem Posten in der Präsidialverwaltung oder bei einem staatlichen Fernsehsender sitzen. Die gleichen benebelten Gesichter mit der ersten Flasche ausländischen Wodkas vor sich oder der erste Irokesenschnitt als Schatten an der Wand. Aber natürlich posten sie diese Bilder nicht. Nach der Tradition, die sich in Russland entwickelt hat, wird Freiheit als Verirrung, als Jugendsünde aufgefasst, eine vorübergehende formale und nicht etwa inhaltliche Erscheinung. Premierminister Dimitri Medwedew hörte in seiner Jugend bekanntlich gern Deep Purple, doch diese ästhetische Erfahrung wurde nicht zur einer Werteerfahrung. Es ist eine Eigenheit des sowjetischen, selbst des hochgebildeten Menschen, die Dinge zu trennen: Die Idee der Freiheit ist das eine, das wahre Leben das andere. Damit trösten sie sich heute, wenn sie eure Bilder aus den 1990ern sehen. Ob sie euch beneiden?
Die Erinnerung daran, dass Freiheit auch für sie einmal ein Instinkt war, wie die Luft zum Atmen, bevor sie rationalisiert, unterdrückt und in Anzughosen gesteckt wurden, ist es, was Menschen, die ihre Freiheit heutigem „Erfolg“ geopfert haben, an diesen Aufnahmen ärgert. Freiwillig geopfert übrigens. Wenn sie ihre romantischen Lieder über die „wilden Jahre“ anstimmen, wollen sie uns in Tat und Wahrheit weismachen, dass es nur einen Weg zu Reichtum und Fortschritt gab, nämlich den ihren, der über Entwürdigung und den Verkauf der Seele führte. Die Existenz anderer Entwicklungsmöglichkeiten (damals wie heute), die Möglichkeit der Wahl würden sie lieber weiter verheimlichen. Aber diese verfluchten Fotos erinnern sie daran. Dass damals alle frei waren und auf unterschiedliche Weise davon Gebrauch machten.
Diesen Fotos aus den 1990ern ist eine gewisse ontologische Armut gemeinsam. Man sieht, dass die Leute Bekleidung tragen und noch nicht ein bestimmtes Kleid oder eine spezielle Hose, ebenso wie es Essen, Trinken und „Saufware“ gibt und noch keine bestimmte Sorte oder einen bestimmen Jahrgang. Diese Armut ersetzt die Benjaminsche Aura. Gerade die Not an jedem Eck und End lässt das Gefühl der Unwiederbringlichkeit entstehen. Den Mittelpunkt der Komposition bildet oft irgendein seltenes Kleidungsstück, das das allgemeine Elend merkwürdigerweise nur betont. Es ist kaum mehr nachzuvollziehen, wie arm wir damals im Vergleich zu heute waren, selbst die bereits verhältnismäßig reichen Leute. Gerade der Wunsch, nie wieder arm zu sein, trieb all diese fotografierten Menschen um. Und jeder ging das Problem auf seine Weise an.
Eigentlich gab es im Russland der 1990er Jahre, anders als zuvor in den 1980er oder danach in den Nullerjahren, kein einheitliches Gefühl für die Zeit. In den 1990ern entstand sozusagen ein Loch, durch das ganz Russland hinabstürzte. Es war ziemlich schauerlich. Das Leben war nicht mehr zyklisch, sondern bestand aus Einzelstücken, alle Uhren gingen zu Bruch. Dieser Flashmob ist – immer noch im Geiste Benjamins – ein Versuch, im Nachhinein, anhand von Fotos, eine in sich geschlossene Zeit herzustellen. Sie im Wäscheschrank zu verstauen, zu stapeln, zu schematisieren. Sie für ein und allemal zwischen die 1980er und die 2000er zu packen und ihnen so den gleichen Status zu geben, wie ihn auch das jetzt hat. Aber faktisch ist das eine Selbsttäuschung. Hätte man die 1990er Jahre richtig verstanden, wären sie zu einem Lebensquell für die Zukunft geworden. Aber sie wurden nicht verstanden und blieben so ein Rätsel – und auf jeden Fall entschwinden sie, die 1990er. So wie in Russland jede Zeit der Freiheit entschwindet.
Geblieben sind eigentlich nur diese Schnappschüsse.
Beispiele von Fotos aus dem Flashmob gibt es zum Beispiel bei Snob, sobaka.ru und fishki.net, und – ein Dank an unsere Leser! – noch eine besonders wilde Sammlung (allerdings nicht aus dem Flashmob) auf yahooeu.
Dem Dichter und Publizisten Nikolaj Nekrassow ging es gut, er hätte glücklich sein können. Aber er lebte im 19. Jahrhundert und er lebte in Russland und so füllte er seine persönlichen goldenen Jahre mit der Arbeit an einem Poem über die Unentrinnbarkeit des irdischen Leidens. Glücklich sein im Hier und Jetzt, das können Russen nicht, analysiert der Historiker und Chefredakteur des Portals Snob Nikolai Uskow, selbst eine schillernde Figur des modernen intellektuellen Russland. In seinem kulturhistorischen Essay jedenfalls geht er dem russischen Leiden zunächst einmal an die Wurzeln. Erst wenn alles vorbei ist, sagt er, dann wird es bei uns schön! Beerdigungen sind in Russland der Höhepunkt der Glückseligkeit. Wie kann das sein? Uskow ruft dazu auf, es anders zu machen, auch einmal Russland Russland sein zu lassen, und Erfüllung im individuellen Leben zu suchen.
Können Sie sich diese Frage in einem anderen Land vorstellen, etwa in Frankreich? Wer lebt in Frankreich glücklich? Na, alle doch. Und über den existenziellen Abgrund legen sich augenblicklich die Seerosen von Claude Monet. Platanen, der Duft von Kaffee und frischem Gebäck, Vögelchen in den Tuilerien – in Frankreich gibt und kann es keine Hölle geben, höchstens eine unglückliche Liebe, aber die ist etwas Wunderbares. Selbst der Clochard, der eben unter der Brücke Pont Alexandre III aufwacht, erfreut sich an der lieben Sonne und lächelt den frühmorgendlichen Joggern zu. „Bonjour, M’sieur!“
Nekrassow stellte seine verzwickte Frage in jener Epoche unserer Geschichte, die man heute beinahe als ihr Goldenes Zeitalter ansieht. Urteilen Sie selbst: Er arbeitete zwischen 1863 und 1878 an seinem Poem. Die Großen Reformen Alexanders II., Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew, Ostrowski, Gontscharow, Tschaikowski, Mussorgski, die Akademiemitglieder und Peredwishniki – faktisch entstand das, was später in beträchtlichem Maß den Begriff Russland ausmachen würde. Doch nein, bei Nekrassow finden wir keine Begeisterung über die Epoche. „Schon ärmre Zeiten sah das Land, bösartigere nicht“ – diese Worte lieh er sich bei der damals höchst angesagten Schriftstellerin Nadeshda Chwoschtschinskaja und bewaffnete damit auf ewig alle Russland-Nörgler: Nur so sprach man meiner Erinnerung nach über die Siebzigerjahre und über die Achtziger- und über die Neunziger– und über die 2000er Jahre, von der Gegenwart ganz zu schweigen.
Wenn wir das Poem Wer lebt glücklich in Russland? aufschlagen, stoßen wir umgehend auf die Quetschprovinz, den Kummerleider-Amtsbezirk, das Kirchspiel Ödendorf. Da ist sie, die Geografie des Goldenen Zeitalters: die Dörfer Flickdorf, Lochdorf, Barfußdorf, Frierdorf, Branddorf und auch Hungerdorf. Nekrassows Absicht zufolge hätte das Poem zu einem Panorama des menschlichen Leidens werden sollen. Bauern, Popen, Gutsbesitzer, Beamte, Handelsleute und sogar der Zar – aus Nekrassows Sicht sind hier alle unglücklich. Unglücklich ist anscheinend auch der Dichter selbst.
Und das, obwohl der Adlige Nekrassow eine glänzende Karriere machte und der womöglich erfolgreichste Verleger und Redakteur der Geschichte des russischen Zeitschriftenwesens war. Er lebte mit einer Frau zusammen, der Schönheit Awdotja Panajewa, aber in der Wohnung ihres Gatten Iwan Panajew. Diese merkwürdige Konstellation sorgte beim Publikum für die unglaublichsten erotischen Fantasien. Als das gewagte Verhältnis mit den Panajews endete, erlebte Nekrassow weitere aufregende Leidenschaften. Und dazu hatte Nikolai Alexejewitsch auch unglaubliches Kartenglück und gewann Hunderttausende von Rubeln. Dank dem finanziellen Wohlstand konnte sich der Dichter einer weiteren seiner aristokratischen Passionen hingeben, der Hetzjagd. Sein mit Eigenmitteln gekauftes Gut Karabicha im Gebiet Jaroslawl zeugt durchaus anschaulich von den beträchtlichen materiellen Möglichkeiten des Dichters. Und dann erwarb sich dieser vom Schicksal zweifellos verwöhnte Mann plötzlich den Ruf, der größte Leidende der russischen Literatur zu sein. Das Sein bestimmte in keiner Weise sein Bewusstsein.
Der russische Mensch lebt nie im Frieden mit seiner Zeit. Widerstrebend erträgt er sie, mit aufeinandergepressten Lippen und zusammengezogenen Augenbrauen, ist immer irgendwo abseits, am Rand. Unzufrieden brummt er in den Bart, fantasiert entweder von der Vergangenheit oder von der Zukunft. Dort war oder wird alles anders sein als in der verzwickten Gegenwart.
Die Nekrassow vorausgegangene Generation adliger Gutsbesitzer hatte von der Aufhebung der Leibeigenschaft geträumt. Nicht etwa deswegen, weil ihnen das in irgendeiner Hinsicht, zum Beispiel für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, nützlich gewesen wäre. Im Gegenteil, die Aufhebung der Leibeigenschaft bedeutete ihren Ruin. Doch der Besitz von Leuten war für die adligen Revolutionäre etwas Beschämendes, Schändliches. 1861 hob Zar Alexander II. die Leibeigenschaft dann endlich auf. Die Schande, könnte man meinen, hatte ein Ende gefunden. Doch nein. Nekrassow schreibt:
Fürwahr, die große Kette brach Und sprang in Stücke ganz: Das eine Ende traf den Herrn, Das andre Ende uns!
Die „Schande der Leibeigenschaft“ verwandelt sich unerwartet in eine „große Kette“. Alles ist jetzt schlechter als zuvor. Und so wird es in Russland offenbar immer sein: Mit Stalin wurde das Land zu einem Imperium. In der Sowjetunion waren Bildung und medizinische Versorgung kostenlos, und die Kühlschränke quollen über vor Lebensmitteln. Wenn Putin dereinst abtritt, wird man auch über seine Zeit Legenden erfinden und Lieder darüber singen. Daran zweifle ich nicht im Geringsten.
Glücklich leben in Russland nur die Toten. „Sie haben ausgelitten“, pflegt das hiesige Volk über sie zu sagen. Nekrassow starb an Magenkrebs, es vergingen einige wenige Jahre, und schon begann man sein Jahrhundert als absolut goldenes anzusehen.
Für Tote gibt es bei uns überall einen Weg, für Tote gibt es bei uns überall Ehren. Endlich sagt man über dich nur noch Gutes. Man begräbt dich mit herzzerreißendem Enthusiasmus. In Russland war Suworow der erste glückliche Leichnam: „In allen Straßen, durch die sie ihn fuhren, standen die Leute dicht an dicht. Alle Balkone und sogar die Hausdächer waren voller bekümmerter, weinender Zuschauer“, erinnert sich Schischkow. Später würde Puschkins und Tolstois Begräbnis folgen. Lenins und Stalins Begräbnis. Wyssozkis Begräbnis, Sacharows Begräbnis. Jelzins Begräbnis. Begräbnis, Begräbnis, Begräbnis. In Russland sind Hochzeiten immer missraten, versoffen und vulgär. Hochzeit – das bedeutet Schlägereien und protzige Uhren wie die von Peskow. Dafür sind die Begräbnisse majestätisch.
Der Tod ist der Übergang zur Unsterblichkeit, ist der Sieg über das verhasste Leben. Stalin muss etwas in der Art in Bezug auf den nationalen Charakter gefühlt haben. Denn er war es, der das Feiern von Todestagen initiierte. 1937 feierte das Land im großen Stil den 100. Todestag Puschkins. Pioniere salutierten ihm, Bauern brachten Gaben dar und Stachanow-Arbeiter nahmen aus Anlass des Festes erhöhte sozialistische Verpflichtungen auf sich. 1952 feierte die jubelnde Volksmenge den 100. Todestag Gogols. Auf einem Boulevard wurde ein lebensfroher, breitschultriger Bursche aufgestellt, während man Andrejews depressive Jammergestalt den Blicken entzog. Gogol quälen bei seinem Eintritt in die Ewigkeit keine Koliken und Zweifel mehr, er ist selbstbewusst, gesund und fröhlich.
Übrigens heißt das eindringlichste Poem über unsere Heimat ja Die toten Seelen. Schon seit siebzig Jahren sind wir stolz darauf, der Gefallenen zu gedenken, und scheren uns dabei kein bisschen um die am Leben Gebliebenen. Das wichtigste Ereignis in der Geschichte des Landes ist ein mörderischer Krieg. Mit einem unguten Leuchten in den Augen kämpfen Historiker und die Gesellschaft dafür, dass die Opfer dieses Kriegs so furchtbar wie möglich aussehen: nicht sieben Millionen, sondern zwanzig, nicht zwanzig, sondern siebenundzwanzig, und wenn man auch die Ungeborenen dazuzählt, ganze fünfzig Millionen. Nein, hundert! Der wichtigste Politiker des Landes ist auch sein wichtigster Henker, Josef Stalin. Das wichtigste Heiligtum ist das Grabmal des unbekannten Soldaten. Das Land unterdrückt, quält, mordet, plündert, vertreibt und fordert dann die Asche der glücklich am Leben Gebliebenen zurück, um sie hier zu begraben. Mit allen Ehren. Welch erbitterte Grabenkämpfe führte man wegen der sterblichen Überreste Brodskys und jetzt Rachmaninows.
„Die Toten haben keine Schande“, sagte Fürst Swjatoslaw Igorewitsch, der Vater des heiligen Wladimir. Letzterem will man übrigens, natürlich zum 1000. Todestag, ein Denkmal aufstellen. Die Toten haben keine Schande, dafür haben die Lebenden so viel, wie sie nur können, die Lebenden leben in Kommunalkas und Baracken, schuften und saufen, verblöden und verrohen. Die Lebenden beneiden die Toten.
Eine hübsche Erklärung für diese nationale Nekrophilie könnte der spontane Platonismus der russischen Weltanschauung sein, den wir zusammen mit dem orthodoxen Glauben von den Griechen übernommen haben sollen. Die wahre Welt ist ein Jammertal, hier gilt es zu leiden und zu darben, das echte Leben kommt danach, beispielsweise jenseits des Grabs. Der Katholizismus stand tatsächlich unter geringerem Einfluss von Seiten Platons, orientierte sich vornehmlich an den Stoikern und Aristoteles und vermochte deshalb eine Generation glücklicher Menschen zu erziehen, die im Heute leben und sich an Monets Seerosen, der Sonne und dem Wein erfreuen. Denn diesen trinkt man wirklich, um sich zu erfreuen. Den Wodka, um zu vergessen.
Aus der platonistischen Philosophie lässt sich nach Belieben die Ärmlichkeit russischer Wohnungen ableiten, die schiefen Zäune, verwilderten Gärten, Hoftoiletten, die Müllberge am Straßenrand, die himmelschreiende Vernachlässigung von Ästhetik, Hygiene und guten Manieren. Aber hübsche Erklärungen sind selten zutreffend. Wo elementare Armut und Düsternis vieles bestimmen, darf man nicht nach Philosophie suchen.
Ich vermute den Grund für unsere ewige Fixierung auf das Jenseits eher in den Eigenheiten des nationalen Staatswesens. Die erdrückende Mehrheit der hiesigen Menschen ist nicht nur von der Macht entfremdet, sondern hat auch das Gefühl, nicht einmal über ihr eigenes Leben bestimmen zu können. Nikolai Alexejewitsch Nekrassow selbst hätte, wenn er in England geboren wäre und dort so einflussreiche Zeitschriften herausgegeben hätte, wie es Sowremennik und Otetschestwennye sapiski waren, nicht traurige Poeme geschrieben, sondern Gesetze, und zwar im Unterhaus. Zur Fuchsjagd auf seinem Gut in der Grafschaft Surrey hätten die einflussreichsten Mitglieder der Whigs, Herzöge und Abgeordnete um sich versammelt, nicht progressive Rasnotschinzy.
Die denkenden Menschen, die in ganz Europa zur Lokomotive der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft wurden, verdrängte man unsere gesamte Geschichte hindurch von jeglichen Entscheidungsbefugnissen. Im Endeffekt suchte sich ihre Sorge um das Gemeinwohl ein Ventil in harter Kritik am Geschehen, im Gram und in der Verachtung der Gegenwart.
Glücklich lebten in Russland wohl nur diejenigen, die sich nicht mit verzwickten Fragen quälten, sondern die Dinge anpackten und die Gegenwart als beste aller möglichen Welten ansahen. Solche Macher gab es zu jeder Zeit reichlich und doch waren es lächerlich wenige. Mein Ratschlag zur Krise: Lasst Russland in Ruhe, ihr könnt das Land nicht verändern, aber so habt ihr immer noch die Chance auf ein interessantes und bequemes Leben. Puschkin, dem das Schicksal viel weniger Erfolg schenkte als Nekrassow, wusste das:
„… Ich murre nicht deswegen, weil die Götter mir versagten, In zärtlicher Beschwernis die Steuern zu beklagen Oder Zarn zu störn, einander zu bekriegen; Ob es der Presse freisteht, Idioten zu betrügen Oder ob Zensoren, empfindlich, dumme Schwätzer Am Spaltenfüllen hindern, kann mich kaum verletzen. Das sind nur Worte, Worte, Worte weiter nichts, Auf andre, bessre Rechte leg ich mehr Gewicht; Die andre, bessre Freiheit ist mir mehr vonnöten; Vom Zaren abzuhängen oder von Proleten – Ist das nicht völlig gleich? Gott mit euch! Aber keinem Je Rechenschaft zu geben, sich selber nur zu meinen Beim Schaffen und im Dienst; für Macht und für Livreen – Gewissen und Gedanken, den Hals nicht zu verdrehen; Zu schlendern hier und dort, nach eigner Lust und Laune Die gottgegebne Schönheit der Natur bestaunen, Und durch die Schöpfungen von Geist und Kunst verführt, In freudiger Entzückung zu zittern tief gerührt. – Das nenn ich Glück! Hier liegen Rechte …“
(Deutsch von Eric Boerner)
Pushkin zitiert mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers.
Nekrassow zitiert nach: Gedichte und Poeme: Nikolai Alexejewitsch Nekrassow, Nachdichtung von Martin Remané und Rudolf Seuberlich, Berlin [u.a.] 1965 (Aufbau-Verl.)
Die westlichen Wirtschaftssanktionen wurden von Russland mit Einfuhrverboten für verschiedene Lebensmittel aus europäischer Produktion beantwortet. Produkte, die über unklare Kanäle dennoch ins Land kommen, werden derzeit in großangelegten Aktionen öffentlich vernichtet. Das Internetjournal Spektr wirft einen Blick darauf, wie diese Maßnahmen begründet werden und wie verschiedene Bevölkerungsgruppen sie aufnehmen.
Ende Juli unterschrieb der russische Präsident Wladimir Putin einen Erlass, wonach landwirtschaftliche Erzeugnisse, Käse und andere Nahrungsmittel, deren Einfuhr im Zusammenhang mit den Wirtschaftssanktionen verboten wurde, vernichtet werden müssen. Das am 6. August in Kraft getretene Dokument soll für mindestens ein Jahr gelten. Nach der Unterzeichnung des Erlasses scherzte man in den sozialen Netzwerken ein paar Tage lang über das Aussehen des beleibten Chefs der russischen Zollbehörde, Andrej Beljaninow, mit dem Hinweis, dass sich wohl kein zweiter mit der Vernichtung von Nahrungsmitteln so auskenne wie er. Die russische Regierung nahm das Ganze jedoch sehr ernst und organisierte am vergangenen Donnerstag eine regelrechte Schau-Exekution sanktionierter Lebensmittel.
In einigen Regionen begann man mit der Umsetzung des Erlasses schon, bevor er tatsächlich in Kraft trat. So wurden zum Beispiel in Samara bereits am 4. August 114 Tonnen Schweinefleisch vernichtet, die nach den Worten der Sprecherin der russischen Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Rosselchosnadsor Julia Melano schon im April „bei den Inspektoren Zweifel hervorgerufen hatten und beschlagnahmt worden waren“. Sie ließ verlauten, dass es sich dabei um in Europa hergestellte und mit falschen brasilianischen Zertifikaten nach Russland importierte Produkte handele.
Aber ernsthaft gegen die geschmuggelten Lebensmittel vorzugehen, begann man erst zwei Tage später. Die News-Spalte der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde flimmerte nur so vor Meldungen über immer mehr Lebensmittel mit gefälschten Zertifikaten. 1 ½ Tonnen Schweinefleisch, 9 Tonnen Möhren, 28 Tonnen Tomaten und Äpfel, 73 Tonnen Nektarinen (in Wirklichkeit noch viel mehr, das war nur eine der beschlagnahmten Partien) – all das muss dem neuen Erlass des Präsidenten zufolge vernichtet werden.
Es blieb aber am Donnerstag nicht bei Beschlagnahmungen. Die Pressestelle der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde veröffentlichte ein Video und eine Fotoreportage über die Vernichtung von Käse in der Region Belgorod, den man schon Ende Juli beschlagnahmt hatte. Mit einem Traktor wurden rund 9 Tonnen Käse in einer Mülldeponie zermalmt.
In St. Petersburg verbrannte man Käse in einem Spezialofen. Bislang zwar nur eine kleine Partie, aber in der nächsten Zeit sollen in Pulkowo rund 20 Tonnen Käse verbrannt werden. Über 4 ½ Tonnen Gemüse wurden in einer Mülldeponie in der Region Brjansk vernichtet.
Selbstverständlich blieben die Nutzer der sozialen Netzwerke bei solch entschlossenen, krassen Maßnahmen gegenüber ausländischen Lebensmitteln nicht gleichgültig und begannen, Witze zu reißen: Es entstanden Fotomontagen, Plakate, die Boris Jelzins Stab vor den Wahlen von 1996 veröffentlicht hatte, wurden wieder hervorgeholt, man schlug ähnliche Maßnahmen für den russischen Fußball vor oder veröffentlichte einfach Nachrichten, bei denen man angesichts der aktuellen Lage im Land nicht gleich wusste, ob sie echt waren oder ein Fake. Man witzelte auch über die Sache mit dem Lastwagenfahrer, der, als er von den neuen Gesetzen erfahren hatte, mit 1 ½ Tonnen Tomaten nach Weißrussland floh.
Viele nahmen die Vernichtung der Lebensmittel jedoch sehr ernst. Sie fassten sie als Beleidigung für Russland auf, wo man sich an Kriegs- und Hungerjahre anderer Zeiten erinnert und einen respektvollen Umgang mit Essen gewohnt ist. Auf der Website change.org findet sich bereits eine Petition, in der Bürger die Regierung dazu aufrufen, die Lebensmittel nicht zu vernichten, sondern an Bedürftige weiterzugeben. Der Aufruf erhielt beinahe 300.000 Stimmen und wurde sogar im Kreml zur Kenntnis genommen. Putins Sprecher Dimitri Peskow, der zunächst verkündet hatte, die Umsetzung des neuen Gesetzes sei unumgänglich, hat bereits versprochen, die Petition zumindest in Augenschein zu nehmen. Er gab auch zu, dass der Prozess der Vernichtung von Lebensmitteln „nicht sehr angenehm aussieht“, betonte aber, dass es in der gegebenen Situation einfach keinen anderen Ausweg gebe.
Gemäß Putins Erlassüber die Prüfung gesellschaftlicher Initiativen berücksichtigt die russische Regierung Petitionen im Grunde nur, wenn sie auf einer Website namens Rossiskaja obschtschestwennaja iniziatiwa (Russische gesellschaftliche Initiative) publiziert werden. Ein ähnlicher Aufruf dort erhielt bisher erst gut 3000 Stimmen (und mehr als 130 dagegen), was ungefähr 96.000 weniger sind, als nötig wären, damit die Petition auf föderaler Ebene geprüft wird.
Der russische Landwirtschaftsminister Alexander Tkatschow (von dem die Idee der Nahrungsmittelvernichtung stammt) ließ verlauten, sein Amt halte sich in der Angelegenheit der Vernichtung sanktionierter Erzeugnisse an die weltweit übliche Praxis. Seinen Worten nach muss Schmuggelware vernichtet werden, um so mehr, da sie größtenteils von recht zweifelhafter Qualität sei. „Wir dürfen die Gesundheit unserer Bürger nicht aufs Spiel setzen“, ergänzte Tkatschow. Im Übrigen ist für den Minister nicht nur das Wohlbefinden der Bevölkerung Anlass zur Sorge. Eine Verteilung der Lebensmittel an Bedürftige würde Alexander Tkatschow zufolge auch mit vermehrter Korruption und der Überschreitung von Dienstbefugnissen einhergehen. Dieselbe Meinung vertritt auch der Chef der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Sergej Dankwert.
Doch nicht alle führenden Politiker teilen die Auffassung, dass die Vernichtung der Lebensmittel unumgänglich ist. Der Leader der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow zum Beispiel bezeichnete solche Maßnahmen als barbarisch. „Auf unserem Planeten leben sieben Milliarden Menschen, von denen sich jeden Tag zwei Milliarden hungrig zu Bett legen. Es gibt viele Organisationen, die bereit wären, diese Lebensmittel Armen zukommen zu lassen“, erklärte der Politiker. Auch die Vertreter des Gerechten Russlands unterstützen die Idee einer Umverteilung des Essens. Der Leader der Liberal-Demokratischen Partei Russlands Wladimir Shirinowski wiederum bezeichnete die Zerstörung der Lebensmittel als „Kampf gegen Kakerlaken“. „Wir vernichten sie, und sie kommen wieder. Und wir vernichten sie wieder. Genau wie beim Kampf gegen den Diebstahl und gegen den Schmuggel“, sagte er.
Der russischen Regierung geht es natürlich nicht um das Schicksal der Lebensmittel als solche. Sogar für nichtzertifizierte Ware hätte man schließlich viel vernünftigere Verwendungsmöglichkeiten finden können als die Verbrennung in Öfen unter dem Blitzlichtgewitter der Kameras und die demonstrative Zerstampfung im Schmutz. Und felsenfeste Beweise dafür, dass diese ganzen Nahrungsmittel tatsächlich unter Umgehung der Einfuhrverbote aus der verhassten EU oder aus den USA kamen, gibt es bisher auch nicht. Schmuggel mit billigen, minderwertigen Lebensmitteln gab es letzten Endes schon immer. Jedoch braucht es gerade jetzt eben jene Kameras, muss die russische Regierung gerade jetzt – nicht einmal der ganzen Welt, sondern in erster Linie den eigenen Bürgern – zeigen, dass sie selbstsicher ist und dass das Land bestens ohne die täglichen paar hundert Tonnen „feindlicher“ Nahrungsmittel auskommt.
„Ich bezweifle, dass der Vorschlag, die sanktionierten Lebensmittel zu verteilen, durchkommt – das wäre irgendwie nicht cool und zu menschenfreundlich dafür, wie die Dinge derzeit stehen“, sagt der Redakteur der Zeitschrift Kommersant-Dengi, Juri Lwow. Angesichts der um ein weiteres Jahr verlängerten Sanktionen geht es genau darum, Coolness und Unabhängigkeit zu demonstrieren. Und die Blockadeopfer, die Hunger gelitten haben, werden es geduldig ertragen. Selbst die Aktivisten, die sich mit und ohne Grund hinter ihren kriegs- und blockadeerfahrenen Großvätern verstecken und in der Soße aus Siegesfeiern zum 70-jährigen Jubiläum des Kriegsendes bereit sind, so ziemlich alles zu verbieten, sind in den letzten Wochen irgendwie verstummt.
Allerdings vermitteln die Ereignisse bisher weder Selbstsicherheit noch Stolz. Die demonstrative Vernichtung von Lebensmitteln ruft nur Unverständnis und Abscheu gegenüber all denen hervor, die das angezettelt haben. Und es erinnert auch schmerzlich an die berühmte Episode Das Begräbnis des Essens aus der humoristischen Sendung Oba-na! von 1990, in der – zu Zeiten allgemeiner Lebensmittelknappheit – Fleisch, Brot und anderen Nahrungsmitteln ein Staatsbegräbnis ausgerichtet wird. Damals scherzten die Autoren: „Das Essen ist tot, es lebe der Hunger!“ Aber jetzt ist das irgendwie nicht mehr lustig.