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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der heimliche König von Sankt Petersburg

    Der heimliche König von Sankt Petersburg

    Die Schattenwirtschaft ist in Russland seit Jahren rückläufig. In den 1990er Jahren betrug ihr Anteil am gesamten Bruttoinlandsprodukt noch etwa bis zu 50 Prozent. 2018 lag er laut Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring bei rund 20 Prozent.
    Obwohl der Schattensektor für eine Volkswirtschaft zumeist schädlich ist, wird er in Russland vielerorts geduldet – auch, weil viele Mitarbeiter staatlicher Stellen daran verdienen, dass sie die illegalen Unternehmer gewähren lassen. Diese zahlen dann zwar keine Steuern, dafür aber eine Abgabe an die Kryscha.
    Kryscha bedeutet wörtlich übersetzt Dach. Im kriminellen Jargon ist damit eine Organisation oder eine Person gemeint, die einem Händler oder einem Unternehmen gegen Geldzahlungen „Schutz“ gewährt. 
    Als eine solche Kryscha gilt Alexander Konowalow. Gegen eine Abogebühr verspricht er, „Probleme zu lösen“: Probleme, die Sankt Petersburger Straßenhändler mit den Kontrollbehörden haben, einschließlich der Polizei.

    Im Interview mit Meduza spricht Konowalow über seine Tätigkeit, wie er dazu kam und warum er der Meinung ist, dass Putin alles in Ordnung gebracht hat.

    Der „heimliche König von Sankt Petersburg“ Alexander Konowalow im Juni 2019 / Foto © Alexej Loschtschilow/Meduza
    Der „heimliche König von Sankt Petersburg“ Alexander Konowalow im Juni 2019 / Foto © Alexej Loschtschilow/Meduza

    Im September 2016 wurde in der Wirtschaftszeitung Delowoi Peterburg ein Investigativtext mit dem Titel Ein-Mann-Betrieb von der Größe einer Stadt veröffentlicht. Thema war der illegale Straßenhandel in Sankt Petersburg, dessen Marktvolumen auf etwa 40 Milliarden Rubel [circa 550 Millionen Euro – dek] geschätzt wird. Quellen des Artikels zufolge wird dieser Markt seit den frühen 2000er Jahren von ehemaligen Mitarbeitern des Innenministeriums kontrolliert.

    Ein zentraler Akteur sei der Petersburger Alexander Konowalow, der auch ein Mitarbeiter des Innenministeriums war. Viele Unternehmer, die in Petersburg Straßenhandel betreiben, sind bei ihrer Arbeit auf ihn angewiesen: Gegen eine Abogebühr (ab 1000 Rubel pro Tag [etwa 15 Euro – dek]) verspricht Konowalow, „Probleme zu lösen“, Probleme mit den Kontrollbehörden, einschließlich der Polizei. 

    Aufgewachsen ist Alexander Konowalow in einer Militärfamilie in der Region Murmansk, in der geschlossenen Stadt Gadshijewo, wo sich die Marinebasis der Nordflotte befindet. Die Familie lebte sehr bescheiden. „Das Gehalt wurde [dem Vater in den 1990er Jahren] manchmal ein halbes Jahr lang nicht ausgezahlt, Fleisch habe ich erst mit 17 zum ersten Mal probiert“, erzählt Konowalow Meduza. Auf dem Höhepunkt der Krise von 1998 zog die Familie nach Sankt Petersburg: „In der Stadt gab es damals weder Essen noch Kleidung.“ Alexander begann ein Studium an der Universität des Innenministeriums in Sankt Petersburg. Nach seinem Abschluss ging er zur Polizei.

    Mit 17 Jahren habe ich zum ersten Mal Fleisch probiert

    Alexej Loschtschilow: Was war Ihre Motivation, für die Behörden zu arbeiten?

    Alexander Konowalow: Es klingt vielleicht verrückt, aber stellen Sie sich einmal vor: Sie sind 21 und verkörpern faktisch die Staatsmacht, Sie sind bewaffnet und repräsentieren den Staat. Als Fahndungsbulle fühlst du dich endlich sicher. Das war damals wichtig, heute ist das schwer zu verstehen, weil man auf der Straße nicht mehr zusammengeschlagen wird. 

    Warum haben Sie nur knapp ein Jahr für die Polizei gearbeitet?

    2002 war auch die Polizei noch ganz anders als heute, als Fahndungsbulle hast du dich immer am Rand der Legalität bewegt. Natürlich sagen viele, man solle sich stets an die Gesetze halten, aber im Leben läuft es anders.

    Ich habe selbst gekündigt, weil ich gegen die Arbeitsnormen verstoßen habe. Das war eine ganz lustige Geschichte. 

    Wir hatten einen Mann verhaftet, früher war der schon mal wegen Vergewaltigung verurteilt worden, und nun wurde er wegen einer langen Verbrechensserie gesucht. Er hatte auf der Straße jungen Frauen Mobiltelefone [die sie an einer Kordel trugen] vom Hals und Schmuck von den Ohren gerissen. Wir verhafteten ihn, aber dann war der Kommissar abgelenkt, ich suchte irgendwo anders nach Unterlagen, und der Mann sprang aus dem ersten Stock und lief weg. Später rief er an und sagte, dass wir ihn nicht mehr kriegen würden. Ich stand als Schuldiger da und bekam Schwierigkeiten deswegen. Wir haben ewig nach ihm gesucht. Wie sich herausstellte, war er auch noch pädophil, ein 13-jähriger Geliebter hat ihn ausgeliefert. Er wurde gefunden und verhaftet. Ich kam von der Datscha angerauscht und ging mit einem Gummiknüppel zu ihm in die Zelle.

    Ich kam von der Datscha angerauscht und ging mit einem Gummiknüppel zu ihm in die Zelle

    Er hat ordentlich eins drüber bekommen, und das hatte sogar einen positiven Effekt. Ein paar Jahre später, als ich schon nicht mehr als Bulle arbeitete, kam ich einmal aus geschäftlichen Gründen aufs Revier, und da saß wieder dieser Typ. Als er mich erblickte, schrieb er sofort ein Geständnis.

    Hat Ihnen die Arbeit gefallen?

    Es ist eine wunderbare Arbeit. Wenn es meine Frau nicht gegeben hätte – ich habe sie mit 18 geheiratet – wäre ich vielleicht geblieben. Sie machte mir die Hölle heiß, weil ich rund um die Uhr arbeitete. Die Arbeit bei der Polizei war früher eine hochkreative Tätigkeit, wie es jetzt ist, weiß ich nicht.

    Die Arbeit bei der Polizei war früher eine hochkreative Tätigkeit

    Seine ersten Schritte als Unternehmer machte Alexander Konowalow bereits Ende der 1990er Jahre, nach dem Umzug nach Sankt Petersburg und während des Studiums an der Universität des Innenministeriums, das er 2002 abschloss. Er sagt, er habe eigentlich nie beabsichtigt, Unternehmer zu werden, die Bekanntschaft mit seiner späteren Frau aber habe alles verändert. Konowalow war 18, und „ich musste irgendwie was verdienen, um sie wenigstens ins Kino einladen zu können“. „Das Stipendium betrug damals 40 Dollar, bei der Polizei waren es etwa 80 Dollar“, erinnert er sich.

    Sein erstes größeres Geld verdiente Konowalow bei Kommunalwahlen in Sankt Petersburg, unter anderem im Wahlkampf für den Einzug ins Stadtparlament. Er heuerte in den Teams von gleich einem Dutzend Kandidaten an und erhielt überall Geld dafür, dass er Werbematerial der Konkurrenten vernichtete. 

    Er bekam Geld dafür, dass er Werbematerial der Konkurrenten vernichtete

    Der nächste Schritt war Handel mit Mobiltelefonen, die in den späten 1990er Jahren sogar in Petersburg noch Seltenheitswert hatten. Das Geschäft war lukrativ, kam aber bald zum Erliegen. „Spekulanten wurden unter Druck gesetzt, die Nachfrage begann zu sinken. Es war wichtig, einen Laden zu eröffnen, erzählt Konowalow. Bei Abschluss des Studiums betrieb er bereits eine Kette von elf Läden und verdiente im Monat das Zehnfache eines durchschnittlichen Polizisten.

    „Handel ist schwierig, wenn keine Nachfrage besteht, aber damals war sie sehr groß. Zugegeben, alle elf Läden hatten mit Schwierigkeiten zu kämpfen, so tauchten etwa drei Tage nach der Eröffnung des ersten [Ladens] Beamte der Abteilung zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität bei mir auf und beschlagnahmten sämtliche Handys wegen Schmuggels. Damals waren ja alle Mobiltelefone geschmuggelt“, erinnert er sich.

    Damals waren ja alle Mobiltelefone geschmuggelt

    2003 haben Sie eine Stelle in einem Supermarkt angetreten. Warum?

    Nachdem ich bei der Polizei gekündigt hatte, eskalierten die Schwierigkeiten mit Banditen und Ähnlichem, ich konnte mein Business [den Verkauf von Telefonen] nicht mehr schützen. Davor hatte sich für alle Probleme eine Lösung gefunden, denn wie hätte man einem Mitarbeiter der Polizei was abpressen können. Nach der Kündigung wurden meine Verkaufsstellen angezündet und ausgeraubt. Kurz, nach den fetten folgten magere Jahre. Ich wurde stellvertretender Filialleiter im Supermarkt Pjatorotschka, arbeitete in vier oder fünf Filialen, wurde aber zweimal gefeuert.

    Warum?

    Beim ersten Mal hatte ich einen Ladendieb gestellt, aus Gewohnheit. Er fing an, die Mitarbeiter zu beleidigen und leistete Widerstand, und so goss ich ihm Wasser über den Kopf und sperrte ihn im Kühllager ein. Ich hatte einen hektischen Tag und vergaß ihn. Er wurde von Lieferanten gefunden, eine halbe Stunde später, und er wäre tot gewesen. Ich bekam einen Riesenschreck. Und wurde mit Schimpf und Schande gefeuert.

    Aber ich hatte gern in diesem Team gearbeitet und setzte alle Hebel in Bewegung, um zurückkehren zu können. Was auch gelang, aber dann haben sie mich erneut gefeuert. Schicksal. Seither habe ich nie mehr als Angestellter gearbeitet.

    Der Dieb leistete Widerstand, ich goss ihm Wasser über den Kopf und sperrte ihn im Kühllager ein

    Die Zahl unternehmerischer Projekte in Kooperation mit Geschäftspartnern wuchs. Neben den elf Handyläden baute der ehemalige Polizist auch die größte Schönheitssalonkette Petersburgs auf, Lady (heute umfasst sie 53 Läden). Er eröffnete mit Partnern Bars und Restaurants, Saunen und Pyschetschnyje-Cafés. Viele Projekte liefen nur ein paar Jahre.

    2016 schätzte Delowoi Peterburg den Jahresumsatz der mit Konowalow verbundenen Unternehmen auf 3 bis 4 Milliarden Rubel [40-80 Millionen Euro – dek]. 2016/17 führte die Zeitung Konowalow im Rating der Petersburger Milliardäre auf, mit einem vermuteten Vermögen von 1,23 bis 1,33 Milliarden Rubel [rund 17 Millionen Euro – dek].

    Ich musste Geschäfte eröffnen – nicht um Oligarch zu werden, sondern um mich über Wasser zu halten

    Haben Sie alle Projekte selbst finanziert?

    Die meisten zusammen mit Geschäftspartnern. Es war einfach unabdingbar, Geschäfte zu eröffnen – nicht weil ich Oligarch werden wollte oder so, sondern um mich über Wasser zu halten. Ich muss ja die Schulden zurückzahlen, die ich gemacht hatte, um einen neuen Salon oder eine Pyschetschnaja zu eröffnen. 2008, in der Krise, hatte ich zwei Millionen Dollar Schulden, mal abgesehen von den Krediten bei den Banken. Ich bin immer noch dabei, diese Schulden abzuzahlen. Allein an Zinsen kommen jeden Monat 700.000 Rubel [rund 10.000 Euro – dek] zusammen.

    Sind Sie reich? Sie waren ein paar Mal in der Rangliste der Milliardäre aufgeführt.

    Das ist Quatsch. Aber ich bin dem Journalisten, der das geschrieben hat, bis heute dankbar – es war hilfreich für die Kommunikation mit jungen Damen und potenziellen Geschäftspartnern. Ich führe ein normales Leben, habe eine Frau, drei Kinder – monatlich geben wir 200.000 bis 300.000 Rubel [rund 4000 Euro – dek] für den Lebensunterhalt aus.

    Sie haben also keine Milliarde?

    Offiziell läuft fast nichts auf meinen Namen. Konkret ist es schwierig, den Wert [der Aktiva] einzuschätzen – jede Einschätzung ist subjektiv. Der Jahresumsatz bewegt sich ungefähr in diesem Bereich. Aber ich habe keine freien Mittel. Alles fließt ins Geschäft.

    Die Behörden wollten mir mal eins überziehen

    Konowalow sagt, er habe ursprünglich versucht, sich beim Aufbau seiner Unternehmen an die Gesetze zu halten. Aber es sei ihm nicht gelungen – seinen Angaben zufolge wurde er bis 2019 in fünf Fällen verurteilt (Meduza fand bestätigende Informationen über drei Fälle). Die erste Strafe erhielt er 2009, nach Artikel 238 des russischen Strafgesetzbuches (Nichteinhaltung von Sicherheitsvorschriften beim Erbringen von Dienstleistungen). In einer der Kneipen von Konowalow hatte man Verstöße gegen die Hygienevorschriften gefunden. Zuerst wurde ein Protokoll über einen administrativen Rechtsverstoß aufgenommen, als sich die Sache wiederholte, wurde ein Strafverfahren angestrengt. Konowalow ist überzeugt, dass es nur deswegen so weit kam, weil „die Behörden mir mal eins überziehen wollten“. 

    „Das Ganze endete mit einer Strafe, aber ich konnte es kaum fassen, dass man wegen einer solchen Lappalie verurteilt werden kann. Ich wurde dafür verurteilt, dass wir statt der sechs [gesetzlich vorgeschriebenen] Waschbecken nur zwei hatten. Das ist völlig absurd, *** [furchtbar]“, sagt er.

    Damit waren die Probleme nicht behoben, die Kontrollbehörden fanden weiterhin Verstöße. Nach Konowalows Bekunden ist das der Grund, warum er zu einem „Verfechter der inoffiziellen Arbeit“ wurde – das heißt er beschloss, sich den Vorschriften nicht mehr unterzuordnen.

    In den folgenden zehn Jahren wurde der Petersburger dann weitere vier Male verurteilt.

    Konowalow wurde zu einem „Verfechter der inoffiziellen Arbeit“ – Vorschriften galten für ihn nicht mehr 

    In den Medien war zu lesen, dass Sie Unternehmern dabei helfen, „Probleme“ mit der Polizei zu „lösen“. Warum ist Ihnen das bei Ihren eigenen Strafverfahren nicht gelungen?

    Meine Rede. Die Medien stellen mich als einflussreichen Korruptionär dar, aber wenn ich das wirklich wäre, hätte ich meine eigenen Probleme doch lösen können, oder? Zumindest hätte ich die Strafverfahren abwenden können. 

    Jede Sekunde besteht die Gefahr, ins Straflager zu wandern. Man kann mir jederzeit wieder einen „Knüppel“ zwischen die Beine werfen – manche der Vorschriften für Unternehmen sind einfach absurd. Sie können gar nicht erfüllt werden. Wenn man die Leute einfach mal arbeiten lassen würde! All die Regelungen für jedes kleinste Detail werden den Leuten in fünf Jahren verrückt vorkommen, wie heute die Stalinzeit, als Leute wegen eines Witzes erschossen wurden.

    Jede Sekunde besteht die Gefahr, dass ich ins Straflager wandere 

    Die Medien bezeichnen Alexander Konowalow als „Kurator des illegalen Handels in Sankt Petersburg“ und als „zentralen Player“ dieses Marktes. Mit dem Straßenhandel begann Konowalow vor etwa zehn Jahren. Zusammen mit Geschäftspartnern platzierte er Minivans an Kreuzungen, die Coffee to go verkauften. Das Format erwies sich als erfolgreich, 2016 standen im Zentrum Petersburgs 20 solcher Autos. Diese rollenden Kaffeebars entsprachen in keiner Weise den Vorschriften der Behörden. Auf die direkte Frage, ob er Schmiergelder bezahlt habe, um auf der Straße arbeiten zu können, antwortet Konowalow ausweichend: „Bestechung ist ein heikles Thema. Wenn man darüber redet, kann man leicht etwas Falsches sagen. Der eine zahlt was, ein anderer nicht.“
    Darüber hinaus eröffnete Konowalow nicht genehmigte Verkaufsstellen für Zuckerwatte, kandierte Äpfel, Fische und andere Lebensmittel. Bekannt ist er aber nicht vorrangig dafür.

    Laut RBC und Delowoi Peterburg kontrolliert Konowalow schon seit mehreren Jahren einen bedeutenden Teil der Straßenhändler Sankt Petersburgs. Demnach müssten sie ihm mindestens 1000 Rubel pro Tag bezahlen, um arbeiten zu können – andernfalls würden sie von den verschiedenen Ämtern intensiv kontrolliert und müssten ihre Arbeit aufgeben. Nach Angaben der Journalisten ziehen die Polizei und andere Behörden es oft vor, mit Konowalow verbandelte Verkaufsstellen zu übersehen.

    Allerdings werden auch diese Verkaufsstellen mit Strafen belegt, gemäß der Datenbank des Gerichtsvollzugsdienstes wurden gegen Konowalow allein in Sankt Petersburg mehrere hundert Verstöße zu Protokoll genommen. Die Zusammenarbeit mit den Händlern funktioniert folgendermaßen: Sie arbeiten über Konowalows Einzelunternehmen, und dementsprechend landen sämtliche Strafen und sonstige Forderungen bei ihm. Unternehmer, die mit ihm zusammengearbeitet haben, erzählen, dass er einen Teil der Probleme ohne Bußgelder „lösen“ kann – dank seiner Beziehungen.

    Die Medien bezeichnen Alexander Konowalow als „Kurator des illegalen Handels in Sankt Petersburg“ / Foto © Alexej Loschtschilow/Meduza
    Die Medien bezeichnen Alexander Konowalow als „Kurator des illegalen Handels in Sankt Petersburg“ / Foto © Alexej Loschtschilow/Meduza

    Legal arbeitende Straßenhändler, die über eine Arbeitserlaubnis verfügen, bestätigen, dass Konowalows Aktivitäten faktisch den fairen Wettbewerb zerstören und ungünstige Bedingungen für legale Unternehmen schaffen. Schätzungen der Gesprächspartner von RBC zufolge zahlen illegale Verkaufsstellen in Sankt Petersburg jährlich insgesamt mindestens 6,6 Milliarden Rubel [knapp 100 Millionen Euro – dek] an Alexander Konowalow und ähnliche Vermittler.

    Das ist keine Korruption, sondern eine Partnerschaft

    Wann haben Sie damit angefangen, für andere illegale Straßenhändler Probleme zu lösen?

    Streng genommen ist es nicht so, dass ich für andere „Probleme löse“. Das wird oft fälschlicherweise behauptet. Wir sind Partner und für unterschiedliche Bereiche der Arbeit zuständig. Ich kümmere mich um Organisatorisches und Technisches, der Geschäftspartner um den Einkauf und den Verkauf. Man kann auch ohne mich arbeiten.

    In den Medien hieß es aber, dass das nicht funktioniert, weil man wegen der Kontrollen durch die Polizei und andere Behörden sofort schließen müsse. Würden sich die Leute hingegen an Sie wenden, können sie ungestört weitermachen.

    Es ist so: Man kann allein arbeiten, aber dann kriegt man wegen der Kontrollen Probleme. Wenn sich jemand an mich wendet, läuft die Arbeit über mein Einzelunternehmen, und ich übernehme alle Strafen und so weiter. Das ist keine Korruption, sondern eine Partnerschaft.

    Warum können die Leute dasselbe nicht einfach ohne Sie tun?

    Wahrscheinlich wollen sie weiterarbeiten, aber keine fünf Strafverfahren und ein Ausreiseverbot am Hals haben wie ich.

    Für Ihre Dienste nehmen Sie ab 1000  Rubel [etwa 15 Euro –​ dek] am Tag. Stimmt diese Zahl?

    Ja, aber der größte Teil davon geht für Strafen und so weiter drauf.

    Wie viele Straßenhändler arbeiten auf diese Weise mit Ihnen zusammen?

    Im Moment sind es etwa 30. Zu Spitzenzeiten waren es 200. Jetzt sind es weniger, weil die Ware oft [von Kontrolleuren] beschlagnahmt wird.

    Warum bezeichnen die Medien Sie als zentralen Player im Straßenhandel Petersburgs? Analysten zufolge gibt es in der Stadt einige tausend illegale Straßenhändler.

    Das weiß ich nicht. Es gibt Leute, die dasselbe in größerem Maßstab tun. Nur arbeite ich unter meinem Namen und verstecke mich im Gegensatz zu anderen nicht hinter irgendwelchen dubiosen Kaschemmen oder Scheinfirmen.

    Man kann sich ja auch die Mühe machen, alle Genehmigungen zu besorgen und legal zu arbeiten.

    Da ich mich schon lange mit diesem Thema befasse, habe ich alles quasi unter dem Mikroskop betrachtet. Wir würden gern legal arbeiten, aber es ist sozusagen unmöglich, wirklich absolut alle Vorschriften und Normen zu erfüllen. Bei jedem finden sich Verstöße. Und das ist nicht normal.

    Wir würden gern legal arbeiten, aber es ist unmöglich, alle Vorschriften zu erfüllen

    Nicht nur illegale Straßenhändler arbeiten mit Konowalow zusammen. Nach dem gleichen Schema werden seit den frühen 2010er Jahren in Sankt Petersburg Dutzende von Kneipen, Restaurants, Nachtclubs und Shisha-Bars betrieben. Konowalows Dienste sind auch in Moskau und anderen Städten gefragt. Nach eigener Aussage kooperieren hunderte unterschiedliche Firmen in mehreren Dutzend russischen Städten mit ihm. Viele davon werden wegen Verstößen ganz unterschiedlicher Art – von Nachtlärm bis zum Verkauf von Alkohol ohne Lizenz – regelmäßig mit Geldstrafen belegt.

    Meiner Meinung nach ist es besser, wenn eine Kneipe Alkohol ausschenkt und überlebt, als wenn sie zumacht

    Es ist bekannt, dass beispielsweise gewisse Bars und Restaurants dank der Zusammenarbeit mit Ihnen Alkohol ohne Lizenz ausschenken.

    Das stimmt. Aus der Sicht des Normalbürgers ist das schrecklich. Man könnte glauben, dass sich alle eine Vergiftung holen und daran sterben werden, aber damit hat das nichts zu tun. Keiner wird sterben – das ließe sich mit allen Beziehungen der Welt nicht verbergen. Meiner Meinung nach ist es besser, wenn eine Kneipe Alkohol ausschenkt und überlebt, als wenn sie zumacht.

    Es gibt aber auch eine Menge Betriebe mit Lizenz. Glauben Sie nicht, dass Ihre Tätigkeit nicht nur eine Gefahr für die Gäste darstellt, sondern auch den Wettbewerb behindert? Es läuft darauf hinaus, dass sich die einen an die Gesetze halten müssen und die anderen nicht.

    In einer idealen Welt verkörpert ein Gesetz den Mehrheitswillen. Wenn die Mehrheit der Betriebe aufhört, sich an idiotische Normen zu halten, wird es aufgehoben.

    An ein falsches Gesetz braucht man sich also nicht zu halten?

    Natürlich nicht, und die Entscheidung liegt bei der Mehrheit. Nehmen wir etwa die Verkehrsregeln. Wenn sich in Sankt Petersburg alle an die vorgeschriebenen 60 Stundenkilometer halten würden, würde die Stadt im Stau ersticken. Gesetze müssen so sein, dass man sie einhalten kann. Keiner bricht gern das Gesetz. Glauben Sie, dass es mir Spaß macht, wenn ich bei jedem Klingeln zusammenzucke, weil ich denke, dass es zu einer Durchsuchung kommt? Glauben Sie, dass ich gern über Belarus ins Ausland reise?

    Würden sich in Sankt Petersburg alle an die vorgeschriebenen 60 Stundenkilometer halten, würde die Stadt im Stau ersticken

    Konowalow ist überzeugt: Mit seiner Tätigkeit hilft er Unternehmen, trotz der starken Einschränkungen durch den russischen Gesetzgeber ihrer Arbeit nachzugehen. Im Gespräch betont er immer wieder, dass es ihm beim illegalen Handel nicht um Geld gehe. Er scheint selbst daran zu glauben. 

    Dank Konowalow schenken gewisse Bars und Restaurants Alkohol ohne Lizenz aus (im Hintergrund ein Protestplakat von Anwohnern) / Foto © Daniel Frenkel/Meduza
    Dank Konowalow schenken gewisse Bars und Restaurants Alkohol ohne Lizenz aus (im Hintergrund ein Protestplakat von Anwohnern) / Foto © Daniel Frenkel/Meduza

    „Ich befasse mich mit diesem Thema, weil es für mich wie eine Religion ist. Es heißt immer, die Entwicklung des Landes hänge von den Petrodollars ab, aber ich bin überzeugt, dass das nicht stimmt. Die kleinen Unternehmen, denen heute die Luft abgeschnürt wird, sind das Fundament der Wirtschaft“, erklärt er. 

    Alle Anschuldigungen, er vertrete im Straßenhandel die Interessen bestimmter hochrangiger Beamter oder Silowiki, weist Konowalow zurück. Eine der Petersburger Polizei nahestehende Quelle von Meduza berichtet, Alexander Konowalow habe zumindest bis vor Kurzem über gute Beziehungen zu gleich mehreren hochrangigen Polizeibeamten verfügt.

    Ich befasse mich mit diesem Thema, weil es für mich wie eine Religion ist

    Sie sagen, dass Sie das alles im Interesse der Unternehmen und der Wirtschaft tun. Welche Vorteile bietet der illegale Handel der Gesellschaft? Steuern werden ja keine bezahlt.

    Er schafft ganz einfach Arbeitsplätze – Menschen können arbeiten, statt zu Hause zu sitzen und mit der Konsole zu spielen. Man kann natürlich auch zu irgendeinem großen Konzern gehen, aber wenn alle kleinen dichtmachen, gibt es nicht genug Jobs für alle. Der nächste unstrittige Vorteil: Jede dieser Verkaufsstellen ist eine Wirtschaftseinheit. Um auf der Straße Kaffee verkaufen zu können, müssen Sie Kaffee, Milch und so weiter einkaufen. Das generiert einen Ertrag, in der Wirtschaft taucht Geld auf, und daraus ergeben sich Synergien.

    Von außen bekommt man den Eindruck, es gebe Polizisten und Beamte, die sich an illegalem Handel bereichern. Warum sollten sie etwas an der Situation ändern wollen, wenn Vermittler wie Sie die Verkaufsstellen unterstützen, damit sie trotzdem tätig sein können?

    Glauben Sie, dass jene Beamte, die dieses Geld theoretisch bekommen können, irgendwelche strategischen Entscheidungen treffen? Ich glaube nicht, dass das Geld an Beglow oder seine Stellvertreter geht, sehen Sie das anders? Warum man nichts daran ändert, weiß ich nicht.

    Und die Polizei, die das kontrollieren soll? Im RBC-Magazin stand, dass die Polizeibeamten die Verkaufsstellen, für die Sie als Vermittler fungieren, gern übersehen.

    Die haben wahrscheinlich einfach faule Polizisten beobachtet. Die Behauptung ist absurd, wenn man bedenkt, dass ich mehrmals verurteilt worden bin und meine Verstöße mehrere tausend Mal zu Protokoll genommen wurden. Allein während unseres Gesprächs sind wieder drei hinzugekommen. (Während des Interviews haben mehrmals Mitarbeiter aus verschiedenen Verkaufsstellen angerufen und mitgeteilt, dass sie wieder einmal kontrolliert worden sind). 

    Sie treffen also keinerlei informelle Absprachen mit der Polizei?

    Wie könnte ich?

    Bezahlen Sie Schmiergelder?

    Nein. Genauso wie kein Mensch Ihnen sagt, dass er einem Verkehrspolizisten Geld gibt.

    Also bezahlen Sie doch?

    Es ist mir physisch nicht möglich, das zu sagen. Wenn Sie jemanden fragen, ob er mit Drogen dealt, und er antwortet ja, wandert er sofort ins Straflager.

    Also anders gefragt. Bekommen Polizisten oder Beamte Schmiergelder dafür, dass illegale Verkaufsstellen tätig sein können?

    Ich denke, es funktioniert genau so wie in anderen Bereichen. Der eine oder andere wird illegale Absprachen getroffen haben, aber es hängt vom einzelnen Mitarbeiter ab. Ich selbst würde davon abraten, Schmiergeld anzubieten. Wenn Sie keins anbieten, kriegen Sie eine Strafe, und vielleicht wird die Ware beschlagnahmt. Wenn Sie welches anbieten, kommt es fast sicher zu einem Strafverfahren.

    Sie haben also keinerlei Verbindungen zu hochrangigen Polizeibeamten?

    Was heißt Verbindungen? Stellen Sie sich vor, Sie hätten zusammen mit Wladimir Wladimirowitsch Putin studiert, hätten neben ihm gesessen und ihn geduzt. Hätten Sie Verbindungen zu ihm? Würden Sie sich etwa nicht an ihn wenden bei bestimmten Fragen im Leben? 
    Naja, und die Leute, mit denen ich studiert habe, sind heute Oberst. Bei uns in Russland hilft man sich gegenseitig. Es gibt Situationen, in denen man um Hilfe bitten muss, weil man sonst im Gefängnis landen würde. Ich bewege mich ständig im Grenzbereich der Gesetze, hätte ich mich nie an jemanden gewandt, säße ich mit Sicherheit im Gefängnis. Doch ich sitze nicht. Aber man darf es nicht als Vetternwirtschaft oder Korruption bezeichnen. Die Beziehungsstruktur in Russland ist einfach so.

    Ist „Probleme lösen“ Ihre Haupttätigkeit?

    Nein, aber ein wesentlicher Bestandteil, um die 40 Prozent. Obwohl es mehr Hämorrhoiden als Geld einbringt. Ich mache es nicht wegen des Geldes. Klar verdiene ich, aber es ist nicht mein Antrieb, mir die Taschen vollzustopfen. Ich will meine Tätigkeit nicht schönreden, ich bin durch und durch unsauber. Aber ich versuche, meinem Heimatland nützlich zu sein, und glaube, dass mir das gelingt. Wenn sich alle immer an alle Regeln halten würden, gäbe es schlicht kein Unternehmertum mehr. 

    Ich will meine Tätigkeit nicht schönreden, ich bin durch und durch unsauber

    Konowalow liebt den Präsidenten Wladimir Putin aufrichtig. Im VKontakte-Profil des Unternehmers steht in der Rubrik Weltanschauung: „Putin ist der größte Herrscher in der ganzen Geschichte Russlands!“ Konowalow hat über den Präsidenten sogar ein Gedicht geschrieben:

    Möge der Neid sie quälen, die Ärsche!
    Die Krim gehört uns! Ohne Blut! Putins Werk!
    Kinder und Enkel werden ihm danken.
    Wladimir Putin ist einfach ein Gott!

    „An ein falsches Gesetz braucht man sich nicht zu halten, und die Entscheidung liegt bei der Mehrheit“ – Alexander Konowalow im Juni 2019 / Foto © Alexej Loschtschilow/Meduza
    „An ein falsches Gesetz braucht man sich nicht zu halten, und die Entscheidung liegt bei der Mehrheit“ – Alexander Konowalow im Juni 2019 / Foto © Alexej Loschtschilow/Meduza


    Sie schimpfen über die Gesetze, aber wir wissen doch, woher sie kommen. Von den staatlichen Behörden. 

    Sie wurden von Feinden ausgedacht, die man erschießen müsste. Entweder hatten die Beamten zwar hehre Absichten, aber von Tuten und Blasen keine Ahnung, oder sie wurden von unseren Feinden bezahlt. Einer Verschwörungstheorie zufolge ist ein Teil der Gesetze gekauft, weil unser Staat zerstört werden soll.

    Aber es ist doch der von Ihnen so geschätzte Putin, der all diese Gesetze unterschreibt.

    Ich vermute, dass er sie unterschreibt, weil in der Gesetzesbegründung steht, dass sie zum Wohle aller verabschiedet werden.

    Halten Sie ihn für so dumm, dass ihm das jahrelang entgehen kann?

    Das ist das erste, was ich ihn fragen würde, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte, mich mit ihm zu unterhalten. Ich finde keine logische Erklärung dafür.

    Wofür schätzen Sie Putin so sehr?

    Ich wurde 1981 geboren, und bevor Putin kam, war alles ganz furchtbar – es gab weder Butter noch Sahne noch Jeans. Nichts gab es. Wer zur Armee ging, kam da nicht mehr raus. Als Offizier war man praktisch dem Straßenkehrer gleichgestellt.

    Sind Sie der Meinung, dass das Putin alles in Ordnung gebracht hat?

    Natürlich. Tausend Jahre hat das keiner geschafft. Die Situation war in jeder Epoche am Arsch, dann kam Putin, und alles wurde gut.

    Finden Sie nicht, dass die Situation ungefähr seit 2012 wieder in jeder Hinsicht langsam im Arsch ist? Das einfachste Beispiel dafür ist die Verfolgung Andersdenkender. Die zahlreichen Fälle von „Extremismus“.

    Ach, das sind doch keine Verfolgungen. Sie wissen nicht, was Verfolgung heißt. Heutzutage wird nur gehätschelt. Würde es einer zivilisierten Gesellschaft einfallen, ihren Herrscher zu kränken? Wenn wir das zulassen, werden wir zur Ukraine. Ich bin kein Watnik, aber dazu wird es führen.

    Ihnen verbietet doch auch niemand, ein Gedicht über Putin zu schreiben. Warum sind Sie der Meinung, dass scharfe Kritik verboten werden muss? Viele werden wegen eines simplen Reposts bestraft.

    Schauen Sie sich die Gerichtspraxis an. Die Leute werden nicht wegen eines Reposts bestraft. Sie gehen auf die Straße und tragen Transparente mit der Aufschrift „Putin ist ***“ [schlecht].

    Finden Sie, dass man dafür bestraft werden soll? 

    Ich bin überzeugt, dass die Leute dafür beim ersten Mal mindestens ins Straflager gehören – das lehrt sie, ihr Heimatland zu lieben. Um mit einer solchen Kritik auf die Straße gehen zu dürfen, muss man etwas erreicht haben, über vergleichbare Erfahrung verfügen, man kann nicht unter Putin in einem satten, glücklichen Land aufwachsen und ihn dann, ohne Hunger und Krieg erfahren zu haben, *** [beleidigen].

    Glauben Sie, dass sich die Situation für Unternehmer, die Russland so schadet, verbessern wird? Werden Sie Ihren Kampf gewinnen?

    Natürlich nicht. Spätestens in einem Jahr sitze ich im Gefängnis.

    Das ist Ihnen klar, trotzdem verlassen Sie das Land nicht. Sitzen Sie lieber im Straflager?

    Wenn der Staat es so will, gehe ich ins Gefängnis und versuche, von dort aus zu tätig zu sein. Ich bin nicht mehr so jung und möchte nicht im Alter denken müssen, nichts Nützliches für mein Land getan zu haben. Ich will nicht denken, dass ich mich einfach an dämliche Gesetze gehalten habe, will nicht Putin die Schuld an allem zuschieben. Alles aufgeben und den Westen als Wichsvorlage nehmen? Nein, danke. Mir ist klar, dass meine ganzen Aktivitäten nur Mäusespektakel sind, aber wenn jeder etwas beiträgt, wird der Effekt elefantisch. Hängt unser Land etwa nicht von uns ab?

    Möchten Sie nicht aufhören?

    Erstens kann ich das nicht. Wie könnte ich die Schulden zurückzahlen? Mit welcher Arbeit verdiene ich so viel, dass ich im Monat 700.000 Rubel [etwa 10.000 Euro – dek] Zinsen abzahlen kann? Und zweitens will ich auch gar nicht. Alle wollen ihre Ruhe, aber mir gefällt, was ich tue. Ohne meine Arbeit wäre es leer, nichts anderes bereitet mir ein solches Vergnügen. Am Boden braucht es keinen Piloten.

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    Die Vorwürfe wiegen schwer: Auf der Geburtstagsfeier des unabhängigen Exilmediums Meduza soll der Chefredakteur und Mitgründer des Mediums, Iwan Kolpakow, bereits stark angetrunken, die Frau eines Mitarbeiters sexuell belästigt haben. Er selbst kann sich nach eigenen Angaben an den Vorfall nicht erinnern, könne also nicht ausschließen, dass es so passiert ist. 

    Das Ganze geschah Ende Oktober. Meduza nahm sich des Vorfalls schließlich offensiv an und machte ihn Anfang November öffentlich. Das Medium verstand diesen Schritt auch als Teil der „Bestrafung“ Kolpakows, der weiter Chefredakteur bleiben sollte. Meduza betonte, dass es sonst niemals ähnliches Verhalten oder Vorwürfe gegen Kolpakow gegeben habe. Am 9. November erklärte Kolpakow seinen Rücktritt und schrieb dazu in einem Facebook-Post: „Ich gehe, weil ich keinen anderen Ausweg sehe. Weil es so besser ist für Meduza.“

    Der ganze Vorfall polarisierte die russische Netzgemeinde stark. Manche lobten die Transparenz, andere, wie etwa RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan warfen Meduza, das etwa auch über sexuelle Belästigung in der Duma kritisch berichtet hatte, „Heuchelei“ vor.
    Oleg Kaschin nimmt den Fall und die darum entstandene Debatte zum Anlass, um aus der Metaebene auf die russische Medienszene zu blicken. Und stellt fest: „die Guten“ oder „die Bösen“ gibt es nicht mehr.

    Am erstaunlichsten im Streit um die sexuelle Belästigung bei Meduza ist das, was aus dem kremltreuen Lager zu hören ist. Zwar wird ständig betont, dass es nur eine kleine lettische Onlinezeitung ist, doch die Freude über deren Fiasko ist so unbändig, als ginge es um die Aufhebung sämtlicher westlicher Sanktionen gegen Russland oder um die Anerkennung der russischen Krim durch alle Staaten unseres Planeten oder was es sonst noch an unumstrittenen Anlässen zur patriotischen Freude gibt (Atomkrieg? Die Verhaftung Nawalnys? Ein Oscar für den Film Die Krimbrücke?). 

    Über Meduza ereifern sich nun wild durcheinander unterschiedliche Autoren – es ist schon klar aus welchem Kreis: von Wladimir Solowjow, Margarita Simonjan und Andrej Babizki bis hin zu unbekannten Namen aus kleineren patriotischen Medien. 
    Und es wird sogar klar, warum sie sich so freuen – als Leitmotiv zieht sich durch alle Beiträge: „Da haben nun die Liberalen endlich ihr wahres Gesicht gezeigt.“ Gefeiert wird nicht der Sieg über Meduza, sondern über die Liberalen.

    Gefeiert wird der Sieg über die Liberalen

    Das ist sonderbar, denn der Hauptakteur dieses Skandals ist kein Moskauer Veteran und Urgestein der demokratischen Presse mit einem Gussinski und Beresowski im Portfolio, sondern der Permer Philologe Iwan Kolpakow. Das ist kein Viktor Schenderowitsch
    Über die politischen Ansichten des Chefredakteurs von Meduza ist wenig bekannt, und auch Meduza ähnelt weder Echo Moskwy noch der Novaya Gazeta besonders stark. Handelt es sich um eine parteiliche Zeitung? Ja, wahrscheinlich, aber vor allem insofern, als dass die Partei, deren Interessen Meduza vertritt, Meduza selbst ist. Und der Konflikt um die sexuelle Belästigung ist genau aufgrund dieser Parteilichkeit entstanden – die Redaktion wurde zur Geisel ihrer eigenen Prinzipien: Feminismus, #MeToo und das ganze New-York-Times-Programm. 

    Feminismus, #MeToo und das ganze New-York-Times-Programm

    Eine Gruppe junger Leute, die sich ausmalen, vor dem Fenster sei Manhattan – das sind keine Dissidenten, sondern stiljagi, die russische Entsprechung der Hipster. Doch für RT und andere loyalistische Sprachrohre stellen gerade diese stiljagi eine überaus ernste Bedrohung dar, die überaus ernste Aufmerksamkeit verdient. 
    Nicht einmal über Nawalny wird so wütend geschrieben wie über Kolpakow, und es fällt ihnen anscheinend gar nicht auf, wie merkwürdig ihre weder dem Vorfall und Ausmaß noch dem Subjekt angemessene Reaktion wirkt.
    Als unfreiwillige Verbündete von RT im Kampf gegen Meduza agierte die russische BBC – mit ihrem Artikel begann der Skandal, zudem sieht es ganz danach aus, als hätte Meduza sich nach dem Anruf der BBC gezwungen gesehen, den Konflikt an die Öffentlichkeit zu tragen. Als Meduza sich in einer nächsten Phase des Konflikts von dem Mitarbeiter trennte, mit dessen Beschwerde alles angefangen hatte, war es ausgerechnet ein Journalist der BBC, Ilja Barabanow, der das ganze Selbstverteidigungssystem von Meduza sanft, aber auf tatsächlich sehr schmerzhafte und überzeugende Weise zerlegte. 

    Aber auch das hat etwas sehr unangenehm Ambivalentes. „Ausländisches Medium, das auf Russisch über und für Russland schreibt“ – unter diese Definition fallen Meduza und die russische BBC gleichermaßen, sie sind direkte Konkurrenten, zudem hat die merklich vergrößerte russische BBC in den vergangenen ein, zwei Jahren mehr Journalisten aus russischen Qualitätsmedien übernommen als alle anderen. Der Angriff der BBC auf Meduza erweckt jetzt den Eindruck eines ziemlich harten Konkurrenzkampfes, der wahrscheinlich darauf ausgerichtet ist, sich die wertvollsten Mitarbeiter der mit Unannehmlichkeiten kämpfenden Zeitung zu schnappen (Ilja Barabanow lässt durchblicken, dass bei Meduza jetzt Leute kündigen).

    Eindruck eines harten Konkurrenzkampfes

    Versuchen Sie einmal, diesen Konflikt aus der gewohnten Perpektive des Gegensatzpaares kremlfreundliche/kremlkritische Presse zu beschreiben – es geht nicht. Die Konfliktlinien in der Medienlandschaft liegen heute ganz anders als noch in den 2000er und den früher 2010er Jahren. Und die erhöhte Aufmerksamkeit für Meduza hat in vielerlei Hinsicht damit zu tun, dass es mittlerweile überhaupt gar keine größeren unabhängigen Medien mehr gibt. Das Modell Echo Moskwy (die Aktienmehrheit hält Gazprom, Schenderowitsch ist auf Sendung) wirkte einst wie eine Anomalie. Inzwischen ist das ein durchaus universelles Modell. 

    Mit der Formel „loyaler Medieneigner und rebellische Journalisten“ kann mittlerweile auch die Standards setzende Novaya Gazeta beschrieben werden wie auch das Medienunternehmen RBC mit Vedomosti als Zeitung, wie auch Gussinskis NTW-Abkömmling RTVi. Und angesichts der Tatsache, dass der Name des Investors von Meduza seit vier Jahren geheimgehalten wird, kann man leicht überspitzt sagen, dass auch Meduza auf diese Liste gehört. 

    An dieser Stelle möchte ich auf ein früher undenkbares Phänomen hinweisen: Gerade die loyalen oder staatlich kontrollierten Medien bieten breitgefächerte Möglichkeiten für die unpolitische Selbstverwirklichung jener Journalisten, die sich sonst mit unerwünschten Dingen beschäftigen würden. Ein Teil des Teams der früheren Afisha kam bei Yandex unter, die Projekte des früheren Chefredakteurs von Doshd, Michail Sygar, werden ebenfalls von Yandex und der Sberbank unterstützt, und sogar der Produzent jener verhängnisvollen Recherchereise nach Zentralafrika, Rodion Tschepel, macht Sachen über Russland mit Unterstützung der Gazprombank. 
    Das russische Regime war noch nie ein großer Freund der freien Presse, aber in der Rolle ihre Beschützerin fühlt es sich ziemlich behaglich – jedenfalls, solange die Presse (sollen wir sie „bedingt frei“ nennen?)  nicht die berühmte doppelt durchgezogene Linie übertritt.

    Nur nicht die Linie überschreiten

    So gesehen ist der sensationelle Auftritt Kirill Kleimjonows (der nicht einfach Moderator ist ist, sondern der Stellvertreter von Perwy Kanal-Chef Konstantin Ernst) in der Sendung Wremja, in der er sich für Kirill Serebrennikow stark machte, genauso ein Faktum der neuen Medienrealität wie der Konflikt bei Meduza. Perwy Kanal tritt plötzlich mit den gleichen Positionen auf wie beispielsweise Doshd – und für Doshd ist das eine Sensation: Genau wie die Loyalisten von RT sind die unabhängigen Journalisten an eine Weltsicht gewöhnt, in der die „kremltreue“ Presse der „unabhängigen, illoyalen“ gegenübersteht. Doch die Grenzen zwischen „Unabhängigkeit“ und „Kremltreue“ sind inzwischen gänzlich verwischt, und wer würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass der Kreml bei der Novaya Gazeta seltener mit Weisungen anruft als beim Perwy Kanal

    Früher war es einfacher: Die „Guten“ arbeiteten bei den einen Medien, die „Bösen“ bei den anderen. Jetzt aber gibt es nur eine einzige Richtlinie eines einzigen Auftraggebers – innerhalb eines Spektrums sind alle gleichmäßig verschmiert, es gibt keine „Guten“, beziehungsweise, je nach Sichtweise, keine „Bösen“ mehr.

    Eingeschränkte Freiheit ist für alle genug da. Außerhalb dieses Spektrums gibt es nur noch die inländischen Versionen der Auslandssender wie RT einerseits und kleine Nischenprojekte im Stil von Mediazona, Colta oder den Medien von Chodorkowski andererseits. Wenn auch sie wegfallen, wird in der russischen Medienwelt die endgültige Ordnung herrschen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • „Im Wahlkampf wird das System nervös“

    „Im Wahlkampf wird das System nervös“

    Es waren gleich mehrere Nachrichten in den vergangenen Wochen, die (nicht nur) in Russlands Zivilgesellschaft für Aufruhr sorgten: Etwa die vorzeitige Haftentlassung des Aktivisten Ildar Dadin, eine Wohnungsdurchsuchung bei der unabhängigen Journalistin Soja Swetowa und schließlich der neueste Bericht des Oppositionspolitikers Nawalny. Dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung publizierte belastendes Material über Russlands Premier Medwedew: Demnach verfügt der über ein Eigentum im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar – Vermögen, das offiziell gut versteckt dubiosen „Stiftungen“ gehört.

    Der Radiosender Echo Moskwy lud nun die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann ins Studio, zur Sendung Ossoboje Mnenije (dt. Besondere Meinung). Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft. Neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit an der Moskauer Hochschule RANCHiGS schreibt sie häufig Analysen für verschiedene unabhängige Medien. Schulmann hält auch Vorlesungen an der Online-Universität openuni – ein Projekt von Offenes Russland, das von Michail Chodorkowski gegründet wurde.

    Besondere Meinung wiederum ist ein festes Format auf dem Radiosender Echo Moskwy. Zweimal täglich äußern hier Medienschaffende, Politiker und Experten ihre Meinung zu aktuellen Ereignissen. Besondere Meinung ist interaktiv, die Zuhörer werden eingebunden und bekommen Gelegenheit eigene Fragen zu schicken, per Videostream wird die Sendung über Internet live aus dem Studio übertragen.

    Ekaterina Schulmann übt in ihren vielbeachteten Artikeln zum politischen System Russlands oft Kritik an der derzeitigen Situation des Landes – kein Wunder, dass auch die Hörer von Ossoboje Mnenije sie zu den neuesten Ereignissen kritisch befragten.

    Die Politologin Ekaterina Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft / Foto © Ekaterina Schulmann/Facebook
    Die Politologin Ekaterina Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft / Foto © Ekaterina Schulmann/Facebook

    Irina Worobjowa: Alle Welt spricht über den Anti-Korruptions-Bericht des FBK und über mögliches Eigentum von Premierminister Dimitri Medwedew. Die Untersuchung umfasst viele verschiedene Einzelgeschichten. Was ist denn nun das eigentlich Relevante?

    Ekaterina Schulmann: Um ehrlich zu sein – in allen Einzelheiten habe ich mir diese Arbeit bislang weder in der Video- noch in der Textversion angeschaut. Das Wichtigste ist wohl die Tatsache, dass sie überhaupt veröffentlicht wurde. So wie ich das verstehe, wird dort folgender Mechanismus beschrieben: Oligarchen, Großindustrielle und irgendwelche wirtschaftlichen Interessengruppen überweisen Geld auf die Konten von Stiftungen, die aussehen wie Wohltätigkeitsverbände oder anderweitig dem Gemeinwohl dienende Organisationen. Tatsächlich aber hat am Ende nur einer Zugriff auf das Geld und die Güter: der Premierminister.

    Allein die Tatsache der Veröffentlichung halte ich für wichtig – warum? Wie die Sprecherin des Premierministers Natalja Timakowa so schön gesagt hat: Wir befinden uns im Wahlkampf, und das ist eine Wahlkampfaktion.

    Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt. Schauen wir uns mal die früheren Wahlkampfperioden an: Da sehen wir, dass es vor und nach den Wahlen, ob nun zu den Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen, immer zu solchen Turbulenzen kam.

    Das heißt also grundlegend ändert sich nichts, aber auf dieser mittleren Ebene gibt es doch gewisse Veränderungen?

    Wie soll ich sagen … also, grundlegend wird sich nichts ändern, solange das Regime so bleibt, wie es ist. Aber es befindet sich ständig in Transformation. Und für die Leute, die diesem Regime angehören, sind diese Transformationen durchaus spürbar. Auch wenn es von außen nicht wie eine Revolution aussieht – für Insider können das revolutionäre Umbrüche sein. Der eine hat seinen Posten behalten, ein anderer ist rausgeflogen, und einem dritten haben sie ein Strafverfahren angehängt.

    Solche Informationsbomben werden von zwei Teilen der Öffentlichkeit ganz unterschiedlich aufgenommen: Da ist einmal das äußere Publikum, also wir Bürger, die Gesellschaft, das Sozium. Die breite Masse mag das einerseits nach dem Motto beurteilen: „Na und, wir haben doch schon immer gewusst, dass alle korrupt sind.“ Doch es ist ja eine Sache, das ganz allgemein zu wissen, und eine andere Sache, etwas ganz konkret zu sehen, etwas, das selbst bei ganz oberflächlicher Betrachtung jegliche Vorstellung übersteigt.

    Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt

    Dann gibt es natürlich auch noch das ganz äußere Publikum, also das Ausland. Für diese Menschen ist das alles noch viel verwunderlicher als für uns.

    Schließlich kommen wir zum inneren Publikum, zu den Insidern, also den Leuten, die zum Machtzirkel gehören. Deren Bewusstsein ist auf eine ganz spezifische Art verzerrt. Sie glauben weder an unabhängige Untersuchungen noch an Korruptionsbekämpfung. Den Medien glauben sie auch nicht. Sie glauben überhaupt niemandem so recht.

    In ihrer Welt sind sozusagen alle Vorkommnisse Signale einer Gruppe an eine andere, völlig unabhängig von den realen Gegebenheiten. In ihrer herrlich paranoiden Welt hat das etwas zu bedeuten. Sie fragen sich: Warum jetzt? Warum Medwedew? Wer gibt hier wem Signale? Daraus werden sie ihre grundlegenden und wertvollen Schlüsse ziehen.

    Natürlich können uns diese Details auch ziemlich egal sein. Nur Folgendes ist wichtig: Das alles ist Wahlkampf, wie er bei uns geführt wird. Das ist kein Wahlkampf eines gesunden Menschen, bei dem man um den Wähler kämpft. Das ist der Wahlkampf eines kranken Rauchers, bei dem gerade in der Zeit vor den Wahlen das Gleichgewicht innerhalb des Regierungssystems justiert wird.

    Ist es denn vorstellbar, dass sie jetzt kurzerhand Medwedew opfern? Um den Menschen zu zeigen: Eigentlich geht es hier bei uns doch ehrlich zu und wenn einer so schamlos mithilfe von Stiftungen …, also entschuldigen Sie bitte, Dimitri Anatoljewitsch, auf Wiedersehen. Oder ist das ausgeschlossen?

    Das, was Sie als „opfern“ bezeichnen, also die extremste Maßnahme, ihn vor den Präsidentschaftswahlen zu entlassen, ist äußerst unwahrscheinlich. Aber es gibt viele Arten, den einen oder anderen politischen Akteur, sagen wir, unter Druck zu setzen, ohne ihn zu entlassen. Für Sie gibt es wohl nur sowas wie, zack, gleich Erschießung oder Freispruch, was?

    Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden

    Aber jeder dieser Staatsbediensteten aus der obersten Etage vertritt ja eine ganze Gruppe, und das gilt ganz besonders für den Premierminister. Das heißt: Diese Gruppe kann Verluste erleiden oder Erfolge erzielen. Wenn sie Verluste erleidet, kann das auch völlig unter der Hand geschehen, wir werden das nicht sonderlich bemerken. Obwohl – wir kriegen es wohl doch mit, denn momentan ist die mediale Transparenz, Gott sei Dank, gegeben.

    Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden. Denn zu diesem Krieg gehören entsprechende Positionsverluste und auch entsprechende Siege.

    Unsere Hörer wollen wissen, ob es nicht müßig ist, sich darüber Gedanken zu machen, wer denn Medwedew attackiert hat, wenn das ohnehin nur den inneren Kreis der Elite betrifft. Es gibt ja ganz unterschiedliche Möglichkeiten, wer dahinter stehen könnte … Ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen? Oder geht uns das nichts an?

    Das ist wie beim Mord im Orient-Express. Der Kreis der Verdächtigen ist einigermaßen begrenzt, aber doch relativ groß. Es könnte jeder gewesen sein. Und stellen Sie sich vor, vielleicht war es keine Einzelperson, sondern vielleicht waren es irgendwelche ständigen oder temporären Koalitionen. Das ist ein weites Feld zum Rätseln. Wobei Herumrätseln da meines Erachtens nicht sinnvoll ist. Lassen Sie uns lieber über Folgendes nachdenken: Die Zeit des Wahlkampfs hat also begonnen, eine nervöse Zeit, alle sind zerstritten. Was kann der einfache Bürger daraus machen? Wie kann er das für sich nutzen?

    In diesem Zeitraum ist das System durchaus verletzlich, unter anderem dadurch, dass etwas öffentlich werden könnte, ja schon allein durch eine solche Bedrohung. Allе eingebildeten oder nicht ganz eingebildeten, in manchen Fällen sogar wesentlichen Liberalisierungen finden gerade dann statt. Wenn jemand also irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür.

    Wenn jemand irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür

    Da wird bei uns durchaus das Strafrecht abgemildert, oder die Führung ersetzt einen ganz hoffnungslosen Gouverneur durch einen jüngeren und etwas ruhigeren, oder es passiert sonst irgendetwas Positives für die Gesellschaft … Auch Inhaftierte werden zum Beispiel entlassen.

    Denn die Maschine so richtig zum Laufen zu bringen, wie es sich gehört, also zum Beispiel Verbrecher einzubuchten, das ist schwer. Aber die Praxis hat gezeigt, einen Unschuldigen zu befreien, das geht. Zumindest ist es leichter. Es gibt auch noch weitere Mechanismen, um, sagen wir mal, die Kiefer zu lockern und Happen rauszuholen.

    Aber wenn es darum geht, den Staat zu zwingen, seine direkten Funktionen auszuüben, also etwa gegen die Kriminalität zu kämpfen oder für Wirtschaftswachstum zu sorgen, dann wird es schon schwieriger. Aber man tut, was man kann.

    Die Hörer fragen nach der Hausdurchsuchung bei Soja Swetowa. Das ist doch eine dumme, völlig unnötige Aktion. Es ist gar nicht mal klar, was da eigentlich los war.

    Sie finden die Aktion dumm, aber die Ausführenden finden sie gar nicht dumm. Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, neue Dienstgrade, Beförderungen, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch. Wenn das schon 13 (sogar mehr) Jahre funktioniert, warum sollte das nicht auch jetzt funktionieren? Das zum einen.

    Zum anderen ist da rund um den Föderalen Strafvollzugsdienst einiges im Gange. Schon seit einigen Monaten geschehen da viele seltsame, ja erstaunliche Dinge. Der FSIN steht in diesem Jahr im Zentrum der Öffentlichkeit, falls es jemand noch nicht gemerkt haben sollte.

    Der frühere stellvertretender Leiter wird verhaftet. Gleichzeitig erscheinen zwei große Berichte darüber, wie der Sektor wirtschaftlich funktioniert. Ist ja klar, wie: Kostenlose Sklavenarbeit, große Staatsaufträge und entsprechend viel Geld.

    Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch

    Auch wissen wir, dass der FSIN noch einen weiteren großen Happen aus dem Staatsbudget haben will: Für eine großangelegte Renovierung der Gebäude und Gelände und den Bau neuer Straflager.

    Gleichzeitig haben wir noch den Dadin-Skandal, der sich zugespitzt hat: Erst die Folter im Straflager, dann die unerwartete (oder auch nicht sonderlich unerwartete) aber durchaus erfreuliche Entlassung.

    Gleichzeitig weist der Präsident die Staatsanwaltschaft an, den FSIN zu überprüfen. Woraufhin die Staatsanwaltschaft die vorherige Aufhebung einer Untersuchung der Foltervorwürfe in den Straflagern von Karelien wieder aufhebt. 

    Der FSIN beansprucht für sich also viel Geld aus dem Haushalt, und gleichzeitig gibt es andere Gruppen, die mit dem Amt offensichtlich anderes vorhaben. Vielleicht dessen Führung auswechseln, oder es zum Teil auflösen, irgendwie umgestalten, vielleicht einer anderen Behörde unterstellen. Irgendwie gibt es da Gerüchte.

    Ja, und dann zwei Hausdurchsuchungen an einem Tag: bei Soja Swetowa und bei Jelena Abdullajewa. Wobei Soja Swetowa nach der Durchsuchung erklärte, es sei nicht um Chodorkowski, sondern um ihre Bürgerrechtsaktivitäten gegangen. Worin besteht diese Tätigkeit? Sie besteht einzig und allein darin, dass sie Untersuchungsgefängnisse, Haftanstalten und Straflager besucht. Ihre Bürgerrechtsaktivitäten haben mit dem zu tun, was der FSIN tut.

    Das sind also alles Turbulenzen im Umfeld des Gefängnissystems, der Wirtschaft der Gefängnisse, der darin involvierten Gelder und Leute.

    Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht. Niemand hat sich dafür interessiert, was mit den Knastis lief. Und nun plötzlich interessieren sich alle dafür. Eine gewisse hemmende Wirkung hat dieser ganze Medienrummel also durchaus.

    Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht

    Ich wiederhole, man kann den Eindruck haben, dass nichts passiert sei – da ist einfach jemand früher aus der Haft entlassen worden, einige Monate bevor die Strafe ohnehin um gewesen wäre. Für alle aber, die sich innerhalb des Systems befinden, die daran gewöhnt sind, dass alles straffrei abläuft und im Dunkeln bleibt, ist dieser Lichtstrahl schon ein ziemlicher Stressfaktor. Auch dass der Direktor des Straflagers sich verstecken, in Urlaub gehen musste, das war für sie … Und wieder: In unseren Augen ist das keine besonders repressive Maßnahme, oder? Wir würden uns wünschen, dass dort alle entlassen und verurteilt werden. Aber für diese Leute ist das, als wäre ihnen der Himmel auf den Kopf gefallen, weil es so etwas früher nicht gab.

    Man hatte ohnehin schon den internen Konsens gefunden, dass politische Gefangene nicht angerührt werden dürfen (also körperlich), weil man den Rummel fürchtete. Bei Dadin hat dieser Mechanismus aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, und das hat dann einen umso größeren, umso wuchtigeren Skandal hervorgerufen, der sich angesichts der offensichtlichen Schwächung des FSIN auf alle möglichen Arten finanziell und strukturell auswirken kann.

    Offen gestanden, lösen Ihre Worte bei unseren Zuhörern eine Gegenreaktion aus, sie sind ein bisschen erstaunt, beziehungsweise verärgert: „Soll etwa der öffentliche Druck im Fall Dadin nichts bewirkt haben, und geht es bei der ganzen Sache nur darum, was im Dunstkreis des FSIN passiert, und so weiter und so fort?“ Oder wurden Sie einfach falsch verstanden?

    Was sind wir Russen doch für Maximalisten. Das ist wirklich erstaunlich.

    Es gibt doch zwei Ansätze: Entweder es heißt, man habe jemanden ausschließlich dank zivilgesellschaftlichem Engagement befreit, ja, buchstäblich dem Verlies entrissen. Oder es heißt: „Was seid ihr doch naiv! Eure ganze Bürgerrechtskampagne ist bedeutungslos. Das Ganze ist nur ein interner Kampf.“ Dann gibt es noch: „Das ist nur ein kümmerlicher Bissen, man hat euch damit abgefrühstückt, und ihr freut euch brav darüber.“

    Man muss die Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität betrachten. Wenn die Zivilgesellschaft, also irgendeine organisierte Gruppe, beginnt, für ihre Interessen zu kämpfen, etwa für die Freilassung eines unschuldig Verurteilten, benutzt sie diverse Instrumente. Es gibt da ganz naheliegende Instrumente, oder? Öffentlichkeit, Medienpräsenz, Petitionen oder Beschwerden an die Obrigkeit. Auch die internationale Öffentlichkeit funktioniert – entgegen der verbreiteten Meinung, dass man damit alle nur verärgere – hervorragend.

    Startet man eine solche Kampagne, finden sich innerhalb des Machtsystems sofort Verbündete, denn keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein „die da“ – „Die tun da das und das“ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne.

    Keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein ‘die da‘ – ‘Die tun da das und das‘ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne

    Bei jeder Kampagne wird es unter Ihren Mitstreitern höchst unsympathische Akteure aus Regierungskreisen geben, die ihre eigenen Ziele verfolgen.

    Sollten Sie deswegen beleidigt sein, erschrecken oder sich von Ihren Aktivitäten abhalten lassen? Natürlich nicht. Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zum zivilgesellschaftlichen Erfolg ist diese idiotische Angst davor, für die Ziele anderer benutzt zu werden.

    Wenn Sie Ihr Ziel immer im Auge behalten, immer an Ihre Interessen denken, wird Sie niemand benutzen, Sie hingegen benutzen, wen Sie wollen. Das ist übrigens auch genau das, was der Antikorruptionsfonds und Alexej Nawalny tun. So heißt es oft. Irgendjemand muss ihnen die ganzen Informationen ja zuspielen. Die haben dann das Gefühl, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Und die zivilgesellschaftlichen Aktivisten dürfen ihre Ziele nicht aus dem Blick verlieren.

    Sprechen wir über eine andere Angelegenheit, die sich schon lange hinzieht und in der es regelmäßig zu Verhaftungen kommt: der Bolotnaja-Fall. Einer der Beschuldigten, Dimitri Butschenkow, wurde plötzlich in Hausarrest überführt, was selbst für seine Verteidiger überraschend kam. Dieser Bolotnaja-Fall, so scheint es, wird noch ewig weitergehen. Oder werden sie irgendwann einfach aufhören?

    Nun, wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen. Solange man sich mit der Verfolgung unschuldiger Leute, die sich nicht widersetzen, einfach und bequem eine Beförderung, eine positive Statistik und gute Aufklärungsquoten verdienen kann, wird man das tun.

    Wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen

    Im Fall Butschenkow möchte ich die wirklich wichtige Rolle seiner Verteidigung hervorheben, Pawel Tschikow von der Gruppe 29. Das sind absolut heroische Leute, die politisch verfolgte Menschen verteidigen, und zwar mit Erfolg. Überhaupt ist Rechtshilfe, rechtliche Unterstützung bei jeder Bürgerrechtskampagne ein wichtiges Element, generell bei allen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Womit auch immer Sie sich beschäftigen, am Gericht führt kein Weg vorbei, und deshalb ist es sinnvoll, sich rechtzeitig damit zu befassen.

    Im vorliegenden Fall ist alles ziemlich offensichtlich, da man ja, den verfügbaren Videoaufzeichnungen und Fotos nach zu schließen, eindeutig nicht den Richtigen gefasst hat. Er sieht einfach nicht aus wie der Mann, der auf dem Bolotnaja-Platz war.

    Wir müssen uns nunmal mit dieser Art von Siegen begnügen (Überführung in Hausarrest, hurra!), obwohl ja klar ist, dass man das Verfahren einstellen sollte, weil der Mann nichts mit der Geschichte zu tun hat.

    Es kam die Frage auf, ob es einen Wandel gegeben habe: Früher führte man Hausdurchsuchungen bei Aktivisten, Politikern, Gouverneuren, Beamten und Silowiki durch, und nun kommt es auch bei Menschenrechtlern und Journalisten vor. Soja Swetowa ist ja auch Journalistin. Handelt es sich wirklich um einen Wandel, dem man Beachtung schenken sollte? Oder hat die Tatsache, dass Soja Swetowa Journalistin ist, keinerlei Bedeutung?

    Ehrlich gesagt sehe ich hier keinen qualitativen Wandel. Die Hausdurchsuchung ist in unserer Rechtspraxis ein altbewährtes Einschüchterungsinstrument. Ihr Zweck ist, zu demoralisieren.

    Wobei unklar ist, inwiefern das bei den Ermittlungen hilft. Aber man muss irgendwie Angst einjagen, Eindruck machen.

    Diese Leute leben in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken

    Ich glaube nicht, dass die sich wahnsinnig viele Gedanken über die öffentliche Reaktion machen. Sie wollen gewöhnlich einfach den unmittelbaren Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit terrorisieren. Dass sich das dann in der ganzen Welt verbreitet, ist für sie aus irgendeinem Grund jedes Mal wieder eine echte Überraschung. Warum das? Weil es, wie im Fall Dadin, Folgen hat – dann muss man jemanden halbzerkaut wieder ausspucken, und aus irgendeinem Grund sind sie darüber jedes Mal wieder erstaunt.

    Diese Leute leben informationsmäßig in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht tatsächlich nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken, und auch nicht, wen sie da genau aufsuchen.

    Vielen Dank. Ekaterina Schulmann heute in der Sendung Ossoboje Mnenije.


    https://www.youtube.com/watch?v=KnQz4elxn48

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  • Der Krieg ist abgesagt

    Der Krieg ist abgesagt

    Die Spannungen der letzten Wochen waren groß: zwischen Russland und den USA nach Abbruch der Syrien-Gespräche und zwischen Russland und Europa wegen des weiter schwelenden Kriegs im Donbass. Auf dem internationalen Parkett herrschte Eiszeit, die Verlegung von russischen Iskander-Raketen nach Kaliningrad löste zusätzlich Verunsicherung aus, ebenso die von Raketenabwehrsystemen von Russland nach Syrien. An die internationale Gemeinschaft gerichtet, sagte Präsident Putin nun am Donnerstag im Waldai-Klub, Russland wolle niemanden angreifen und stelle keine Bedrohung für Nato-Länder dar.

    Was ist von der Lage zu halten, wenn innerhalb Russlands eine groß angelegte Zivilschutzübung für einen möglichen Ernstfall abgehalten wird, während sich die Fronten international zunehmend verhärten, und der Gouverneur von St. Petersburg beginnt, Brotrationen festzulegen? Wäre man in Russland wirklich bereit für das Schlimmste? Der Schriftsteller Dimitri Gluchowski meint ganz klar: „Nein.“ Mit spitzer Feder pfeift er bei snob die Hysteriker eines neuen großen Krieges zurück.

    Das Ministerium für Katastrophenschutz meldet gehorsamst, dass die Moskauer Luftschutzkeller bereit sind, im Fall einer Bombardierung der Hauptstadt die ganze Stadtbevölkerung aufzunehmen. Für die Leningrader hat man eine neue Lebensmittelration berechnet: täglich dreihundert Gramm Brot. Die Staatsduma führt Evakuierungsübungen durch und macht sich mit den Bunkern vertraut, die man zur Rettung der Eliten in Kriegszeiten gebaut hat. Die Zentralbank übt, wie man unter Kriegsbedingungen arbeitet. Auf allen Kanälen diskutiert man über Krieg – man zeigt die Verlegung von Iskander-Raketensystemen nach Kaliningrad, macht in Syrien eine Live-Reportage aus einem Kampfflugzeug im Sturzflug, ist mit der Kamera bei allen Manövern dabei, beschleckt dabei fast  schwere Mehrfachraketenwerfer, diskutiert genüsslich über einen nuklearen Schlagabtausch, sehnt sich nach dem Krieg wie eine Jungfrau nach der Enthüllung des Mysteriums der Schlafstatt.

    Bürger, spendet für Luftschutzkeller!

    Die Bevölkerung verzieht deprimiert das Gesicht und findet sich damit ab, dass ein Dritter Weltkrieg unausweichlich scheint: Wenn im Fernsehen gesagt wird, dass er kommt, dann kommt er auch. Man muss sich also vorbereiten. Einen Erdbunker ausheben und im Garten Opas PPSch hervorkramen, Buchweizenvorräte anlegen. Sollte man auch Pilze einmachen? Selbst die Bevölkerung klopft sich auf die Brust – pah, ziehen wir halt noch einmal bis nach Berlin, und auch bis nach Washington. Naja, wir werden sie nicht auffressen, sondern nur ein wenig an ihnen knabbern, hört doch, wie überzeugend die Rede von der radioaktiven Asche aus Kisseljow heraussprudelt.

    Ist morgen also Krieg?

    Liebe Mitbürger, machen Sie sich nicht in die Hose! Es wird keinen Krieg geben.

    Unsere Regierung hat keineswegs vor, gegen Europa oder Amerika Krieg zu führen, was auch immer sie über die Münder der Hypnose-Kröten vom Fernsehen mitteilen lässt. Natürlich denken auch weder Amerika noch Europa daran, gegen uns Krieg zu führen.

    Erstens, weil es unmöglich ist, einen Weltkrieg zu gewinnen. Es gibt keine zuverlässigen Raketenabwehrsysteme, und es wird sie in nächster Zeit auch niemand haben. Ein jeder Atomkonflikt würde also unweigerlich zur planetaren Katastrophe und dem Tod der ganzen Menschheit führen. Das nennt man „Prinzip sicherer wechselseitiger Zerstörung” [aus dem Engl. mutually assured destruction – dek] und genau diesem Prinzip verdanken wir es, dass es nie zu einem Weltkrieg gekommen ist, seit die UdSSR die Atombombe hat.

    Jede Zusammenarbeit bringt beiden Seiten viel größeren Nutzen

    Zweitens gibt es keinen Grund für einen Weltkrieg. Durch die heutige Welt verlaufen keine ideologischen Gräben. Russland wird trotz seines plakativen imperialen Revanchismus nicht von Ideologen regiert, sondern von zynischen Geschäftsleuten und reinen Pragmatikern, die nicht im Geringsten an das glauben, was der Bevölkerung über die Mattscheibe vermittelt wird. Amerika wirkt zwar oft so, als wäre es von einer Ideologie gesteuert, aber auf dem internationalen Parkett lässt es sich von nationalen Interessen leiten, das heißt vom Nutzen, und nicht von Prinzipien. In der heutigen globalisierten, durch Myriaden ökonomischer Transaktionen verbundenen Welt, in der nur Staaten wie etwa Bhutan unabhängig sind, gibt es nichts, was man mit dem Westen aufteilen müsste, jede Zusammenarbeit bringt beiden Seiten viel größeren Nutzen als irgendeine Eroberung.

    Eine Zerstörung, ein Auseinanderfallen Russlands, endlose Bürgerkriege auf unserem Flickenteppich von Staat, die unkontrollierte Verbreitung von Atomwaffen, dass diese in die Hände irgendwelcher Lokalfürsten gelangen könnten – das ist sowohl für Europa als auch die USA und China ein Alptraum. Deswegen kann es keine kriegerischen Lösungen geben, ganz unabhängig davon, was man dort über die Vergangenheit unserer Regierung weiß und wie das Verhältnis zu ihr ist.

    Der Westen will Russland gar nicht unterwerfen. Alles, was sie von uns brauchen, ist Konsistenz und Berechenbarkeit – das heutige Russland reizt den Westen gerade durch seine hysterische Unberechenbarkeit. Aber das ist keine Unberechenbarkeit, die zu einem globalen Krieg führen könnte.

    Nordkorea provoziert den Westen seit vielen Jahren: Es entwickelt Atomwaffen und ballistische Raketen, unterstützt Terroristen, druckt falsche Dollars, produziert und exportiert Amphetamine in industriellen Mengen, droht Amerika mit präventiven Atomschlägen – na, und? Man reagiert auf diese ständigen Anfälle vorsichtig und mit der Milde und Umsicht eines Arztes. Man weiß, dass Pjöngjang sich damit nicht an Amerika richtet, sondern an die eigenen Bürger. Man weiß, dass das nicht Besessenheit ist, sondern Epilepsie.

    Wie das Regime von Kim Jong Un verfolgt auch das unsere im Grunde nur zwei wichtige Ziele: Es will sicherstellen, dass die Bevölkerung gehorsam bleibt, und dass sich niemand in unsere innere Angelegenheiten einmischt. Auch unsere inneren Angelegenheiten weisen Parallelen zu Nordkorea auf: Es gilt, die Leute möglichst geschickt zu unterdrücken und für dumm zu verkaufen, um ewig an der Macht zu bleiben. Nur sind die Methoden bisher noch andere.

    Noch. Denn die Methode der ewigen Vorbereitung auf den Krieg gegen Amerika wurde nirgends so gut erprobt wie in Nordkorea. Das Land lebt seit sechzig Jahren im Kriegszustand. Beinahe wöchentlich gibt es dort Probealarme: Die amerikanischen Kampfflugzeuge könnten jeden Moment angeflogen kommen. Damit wird die Spannung in der Bevölkerung hochgehalten. Und wenn Amerika die Diktatur einmal vergessen sollte, bringt man sich eifersüchtig in Erinnerung: He, und wir? Oder wenn die Reisernte schlecht ausfällt und es nichts zu fressen gibt. Wenn Pjöngjang die UNO kokett um humanitäre Hilfe bitten will, dann macht es Atomwaffenversuche und schreit, dass man für sich nicht verantwortlich ist.

    Eine Wonne, Amerika wieder den Fehdehandschuh hinzuwerfen

    Der Magen beginnt jetzt auch bei uns zu knurren. Auch wir müssen jetzt in die Luftschutzkeller laufen, müssen für den Fall einer Blockade unsere Brotration berechnen und schon in der ersten Klasse lernen, wie man sich eine Gasmaske überstülpt. Der Krieg soll sich ständig am Horizont abzeichnen, und wir werden uns resigniert auf ihn vorbereiten, und zugleich Lieder vom friedlichen Himmel über unseren Köpfen singen und jeden Augenblick unseres heutigen unblutigen Lebens schätzen. Diese Methode hat sich in der UdSSR bestens bewährt und wird auch heute funktionieren. Die Menschen sind ja die gleichen geblieben.

    Auch wir werden fortan immer einen Feind brauchen. Die Ukrainer waren eine Zeitlang unsere Feinde, ebenso die Türken, aber das alles ist irgendwie nicht das Richtige. Wir wollen ja nicht Goliath sein, sondern David.

    Was für eine Wonne ist es da, dem mächtigen Amerika mit seinen scharfen Zähnen wieder den Fehdehandschuh hinzuwerfen! Mein Gott, wie herrlich ist das! Es ist so einfach, das von Sadornow so treffend beschriebene Amerika zu hassen! Wir haben es so sehr vermisst!

    Es liegt ja an den amerikanischen Sanktionen, dass unser Käse scheiße ist, der Buchweizen immer teurer wird und der Sparanteil der Renten seit mehreren Jahren eingefroren ist! Wegen all ihrer Rockefellers hat uns unsere Ukraine verlassen! Auch bei uns haben diese Dreckskerle alles zunichte gemacht! Gott, segne Amerika dafür, dass es für uns ein so ewiger, bequemer, zuverlässiger Feind ist! Für uns und überhaupt für jede beliebige Diktatur.

    Wir selbst sind ja nie an irgendetwas schuld, das ist klar. Wir werden nie an etwas schuld sein, weil in einem imaginierten Krieg genauso wie in einem tatsächlich stattfindenden all diejenigen, die nicht für uns sind, gegen uns sind – und die Zweifler gehören vors Feldgericht.

    An die Waffen!

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  • Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

    Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

    Schnell werden die Besucher am aufgebahrten Lenin vorbeigeführt. Wer schon mal im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau war, kennt das Gefühl, in der Kürze der Zeit kaum etwas vom einstigen Revolutionsführer gesehen zu haben. Trotzdem liegt beim Anblick des einbalsamierten Wladimir Iljitsch ein Hauch Oktoberrevolution in der Luft – mit der Lenin und die Bolschewiki vor 100 Jahren die Macht übernahmen.

    Nach dem damals in Russland gültigen julianischen Kalender griffen sie am 25. Oktober 1917 zu den Waffen, nahmen in der Nacht zum 26. Oktober das Winterpalais im damaligen Petrograd ein und stürzten die Regierung.

    1924, nur sieben Jahre später, starb Lenin – und wurde danach zur ewigen Mumie. Wie ist das überhaupt möglich, seinen Körper so lange in einen solchen Zustand zu versetzen? Anastasia Mamina hat sich für Bird in Flight näher angesehen, welche Prozeduren der Körper durchlaufen muss und ob vom echten Lenin überhaupt noch etwas übrig ist.

    "Er war klein, schmächtig und irgendwie gelb." / Foto © ITAR-Tass 1997
    „Er war klein, schmächtig und irgendwie gelb.“ / Foto © ITAR-Tass 1997

    Wie alle postsowjetischen Moskauer Kinder besuchte ich das Lenin-Mausoleum so ungefähr in der dritten Klasse. Ich erinnere mich noch, welche Aufregung die Aussicht hervorrief, einen Ausflug zu einer Leiche zu machen, anstatt im langweiligen Unterricht zu sitzen. Wobei, sonderlich beeindruckt hat Lenin mich als Drittklässlerin damals nicht. Er war klein, schmächtig und irgendwie gelb.

    Als man mir den Auftrag gab, darüber zu schreiben, was man mit dem Körper des Revolutionsführers so anstellt, wandte ich mich als Erstes an das Mausoleum und an das Institut, das die Ausschreibung [für die im Jahr 2016 durchzuführende biomedizinische Arbeit am Lenin-Korpus – dek] gewann.

    Dort war mir das Glück nicht hold. Dafür erfuhr ich, dass man für das Ausplaudern von Staatsgeheimnissen gut und gern vier Jahre hinter Gittern landen kann (zahlreiche Dokumente bezüglich Lenins Leiche sind bis heute unter Verschluss – Anmerkung der Redaktion).

    Macht nichts, dachte ich naiv. Dann treibe ich ein, zwei Pathologen auf, einen Biologen aus dem Fachgebiet, mache ein paar Interviews, und der Text steht. Doch ganz so einfach war die Sache nicht.

    Der Biologe Witali (Name geändert) sitzt mir gegenüber und bemüht sich, so zu tun, als verbrächte er seinen Abend am liebsten genau so: mit einer ihm kaum bekannten Journalistin in einem Café.

    „Verstehst du“, seufzt er und zeichnet sanft eine Figur in die Luft, „ich kann gern versuchen, dir mit den Händen zu erklären, was sie mit ihm genau anstellen, aber das kannst du dir auch im Internet ansehen.“

    Ich schüttle den Kopf. „Internet will ich nicht, ich will einen Gesprächspartner. Einen lebendigen mit großen Augen.“

    Witali möchte wirklich helfen, aber er weiß nicht, wie. Er erklärt mir, dass man Lenins Körper mehrfach hintereinander badet: zuerst in einer Glyzerinlösung, dann in Formaldehyd, anschließend folgen einige Alkoholwhirpools, dann Wasserstoffperoxid (zur Aufhellung der Haut, sonst würden sich überall Flecken bilden), essigsaures Natron und Kalium sowie eine Essiglösung. Lenin bleibt länger in der Wanne als jedes Mädchen – bis zu anderthalb Monate. Dafür nur alle anderthalb Jahre. In dieser Zeit ist das Mausoleum zu.

    Bei klirrender Kälte blieb Lenin wunderbar konserviert

    „Das Lustige ist“, sagt Witali und beißt von seinem Croissant ab, „dass man Lenin nach seinem Tod obduziert hat. Sie haben also nicht an eine Einbalsamierung gedacht. Und die wichtigsten Blutgefäße, die Arterien, einfach zerschnitten. Hätte der Pathologe geahnt, dass Lenin noch lange liegen würde, hätte er das natürlich nicht getan. Aber so war das Blutgefäßsystem futsch. Die große Frage war also, wie man die Balsamierflüssigkeit im Körper verteilen konnte. Letztlich machten sie ihm dann Mikroinjektionen, packten ihn in einen Gummianzug, damit nichts herauslief … Warum isst du denn nicht? Deine Suppe ist längst kalt.”

    Schlange stehen für Lenin, im Jahr 1988. / Foto © Tobias von der Haar/flickr
    Schlange stehen für Lenin, im Jahr 1988. / Foto © Tobias von der Haar/flickr

    Nachdem ich mich von Witali verabschiedet habe, öffne ich das Notebook und vertiefe mich in das Jahr 1924, als im Land eine schreckliche Nachricht die Runde machte: Lenin ist tot.

    Nur ein paar schlaue Köpfe verfielen damals auf die Idee, den Revolutionär zu mumifizieren, während die Mehrheit der Regierung das als Barbarei betrachtete. Die Witwe des Verstorbenen, Nadeshda Konstantinowna, bat darum, den Ehemann „normal“ zu bestatten. Das sowjetische Volk erhielt die Gelegenheit, sich von Wladimir Iljitsch zu verabschieden – einige Monate lang blieb sein Leichnam zur allgemeinen Besichtigung aufgebahrt. Lenin war im Januar gestorben und es herrschte klirrende Kälte, sodass der Revolutionär wunderbar konserviert blieb und kaum verweste. Dann berieten sich die Machthaber und kamen zu dem Schluss: Warum Gutes verlieren? Lieber konservieren. Die Verantwortung dafür delegierten sie an sowjetische Wissenschaftler.

    Während ich mich geistig im Jahr 1924 befinde, meldet sich endlich der Pathologe. Ich habe seinen Kontakt von einem Freund bekommen. Hoffnungsfroh öffne ich die Mail.

    Der Pathologe schreibt knapp, er könne mir nicht weiterhelfen, er werde nichts verraten, und wenn ich so dringend etwas über Leichen lesen wolle, gebe es ein hervorragendes Buch, „aber schreib mir nicht mehr“ (und viele Ausrufezeichen).

    Dabei dachte ich, es wird schon nicht so schwer sein, einen Spezialisten für den Tod zu finden. Als mich der dritte Pathologe bat, ihn nicht mehr zu behelligen, musste ich mich mit der Tatsache abfinden, dass ich mich allein mit der Leiche des Revolutionärs herumschlagen würde.

    Es klingt makaber, aber innen ist Lenin hohl

    Dürfte ich den Spezialisten wenigstens eine Frage stellen, würde sie so lauten: „Ist eigentlich noch viel von Lenins Körper übrig? Man sagt, nur die Hände und das Gesicht.“

    Wie sich herausstellte, besteht die Aufgabe der Mediziner keineswegs darin, möglichst viel vom Körper zu erhalten. Lenin schwindet Jahr für Jahr. Die Wimpern beispielsweise sind seit je aufgeklebt, und 1945 verschwand ein ganzes Stück Haut von seinem Fuß. Damals stellten Biologen einen Flicken aus künstlicher Haut her. Später mussten auch Teile des Gesichts nachgebildet werden: So schob man beispielsweise Glasprothesen unter Lenins Augenlider. Und nähte den Mund des Anführers des Weltproletariats zu (was unter dem Bart und dem Schnurrbart leicht zu verstecken ist). Auf diese Weise bewahrt die Mumie ihre Ähnlichkeit mit dem Original.

    Der Hauptzweck der jährlichen Einbalsamierung Wladimir Iljitschs ist es, die physischen Parameter des Leichnams zu erhalten: Aussehen, Gewicht, Farbe, Geschmeidigkeit der Haut und die Beweglichkeit der Gliedmaßen. Der größte Teil von Lenins Hautfett wurde durch eine Mischung aus Karotin, Paraffin und Glyzerin ersetzt – anscheinend ein großartiges Mittel gegen Falten.

    Innen ist Lenin freilich hohl. So makaber es klingt, alle inneren Organe wurden entfernt, das Gehirn der Forschung übergeben, und das Herz soll bis heute im Kreml aufbewahrt werden. Allein die Geschichte, was nach Lenins Tod mit seinem Gehirn geschah, böte genug Stoff für einen Kriminalroman: Man lud eigens einen Wissenschaftler aus Deutschland ein, um das Gehirn zu untersuchen, dieser zerschnitt es in 30 Teile und untersuchte sie – weil er die Genialität des Revolutionärs finden wollte. Jetzt wird Lenins Gehirn (oder das, was davon übrig ist) hinter den schweren Türen des Moskauer Instituts für Gehirnforschung aufbewahrt.

    Seit mehr als 90 Jahren bleibt Lenin unverändert, und dafür muss man sich bei zwei begabten Wissenschaftlern bedanken: dem Chemiker Boris Sbarski und dem Anatomen Wladimir Worobjow. Als Worobjow Lenins Körper zum ersten Mal zu Gesicht bekam, packte ihn die Angst, er winkte ab und erklärte, dass er nichts unternehmen würde – die Aufgabe schien ihm zu schwierig. Doch die Kollegen konnten ihn überzeugen, es doch zu versuchen.

    Sbarskis und Worobjows Aufgabe war wirklich kaum zu erfüllen: Die Wissenschaftler mussten eine eigene Methode finden, um den Leichnam zu konservieren. Die Idee, ihn einzufrieren, verwarfen sie sofort – nicht dass er ihnen plötzlich auftaute. Auch eine Mumifizierung wie im alten Ägypten war keine geeignete Methode: Lenin hätte beinahe 70 Prozent seines Gewichts verloren, seine Gesichtszüge wären entstellt worden, und das durfte nicht geschehen.

    Er musste einbalsamiert werden, und zwar sorgfältig. Um Rat fragen konnte man niemanden. Die Wissenschaftler arbeiteten über vier Monate an Lenins Körper, und letztlich gelang es ihnen, sein Volumen und seine Gestalt zu bewahren. Zuerst durchtränkten sie den Leichnam mit einer Formaldehydlösung, dann legten sie ihn in eine Gummi-Wanne mit einer Lösung aus  dreiprozentigem Formalin, um den Revolutionär ein paar Tage lang darin „einzuweichen“. Am Körper setzten die Wissenschaftler einige Schnitte, damit auch die größten Muskeln durchdrungen wurden. Dann begab sich der leidgeprüfte Wladimir Iljitsch für ein paar Wochen in ein Alkoholbad, dem man schrittweise Glyzerin zufügte. Die letzte Etappe war ein Bad in sogenannter Balsamierflüssigkeit: Glyzerin, Kaliumacetat, antibakterielles zweiprozentiges Chininchlorid.

    Zumindest äußerlich hat sich Wladimir Iljitsch seither nicht verändert. Ein Krieg begann und ging zu Ende, die Sowjetunion brach zusammen, Putin hat eine weitere Amtszeit angetreten, aber an Lenin zieht alles spurlos vorüber. Man hat ihn wirklich gewissenhaft einbalsamiert.

    Der Streit darüber, ob man den Anführer des Weltproletariats bestatten soll, wird weitergehen (kurz gesagt: alle sind dafür, Sjuganow ist dagegen). Die Kommunisten werden rufen, die Bestattung des Leichnams sei liberalfaschistisch, Gläubige werden zu überzeugen versuchen, er müsse unbedingt bestattet werden, weil es sonst unchristlich sei.

    Nur Lenin selbst wird nichts sagen. Er wird schmächtig und gelb in seinem gemütlichen Grab liegen, von 10 bis 13 Uhr Besucher empfangen und sensible Drittklässlerinnen enttäuschen.

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  • Journalisten in der Provinzfalle

    Journalisten in der Provinzfalle

    Es war ziemlich aufsehenerregend für einen Sender aus der Provinz. Als der für seine ungewohnt kritische Berichterstattung bekannte Fernsehkanal TV2 in Tomsk vor zwei Jahren noch ums Überleben kämpfte, gab es Solidaritätsproteste mit vielen Hundert Teilnehmern. Aber es half nichts: Plötzlich verlor er seine Lizenz, lebt inzwischen nur noch im Internet fort.

    Der Fall TV2 warf damals ein seltenes Schlaglicht auf den Zustand der Medien jenseits der russischen Hauptstadt. Unter welchen Bedingungen arbeiten sie? Das Medienprojekt dv.land lässt vier Macher von Zeitung und Radio zu Wort kommen, die kaum weiter von Moskau entfernt sein könnten: aus der Armur-Region im Fernen Osten direkt an der chinesischen Grenze.

    Blagoweschtschensk – größte Stadt und Verwaltungssitz der Oblast Amur / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Blagoweschtschensk – größte Stadt und Verwaltungssitz der Oblast Amur / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Jelena Pawlowa, Chefredakteurin der Zeitung Amurskaya Pravda:

    Eines der Hauptprobleme des Regionaljournalismus ist, dass es im Medienbereich an Gründern fehlt, die wirklich an einer Weiterentwicklung der Medien interessiert sind. Alle nutzen Fernsehsender oder Zeitungen vor allem zur Durchsetzung eigener politischer oder wirtschaftlicher Interessen, was zwar nachvollziehbar ist, sich aber unweigerlich auf die Qualität des Content auswirkt.

    Zweitens gibt es mindestens drei Formen der Zensur: durch die Gründer, aus Gefälligkeit Freunden gegenüber und Selbstzensur.

    Aus diesen ersten beiden Punkten folgen ein dritter und vierter: der Mangel an brisanten politischen und wirtschaftlichen Materialien, Themen und Sendungen, ebenso wie fehlende  Ambitionen bei den Chefredakteuren und folglich auch in den Redaktionsteams.

    Ignoriert werden dürfen auch nicht die niedrigen Einnahmen der Medien sowie die geringe Vergütung journalistischer Arbeit.

    Die Arbeit des Chefredakteurs einer Regionalzeitung ist ein ewiger Balanceakt zwischen den Interessen des Gründers, den Meinungen und der Loyalität der Journalisten und dem eigenen Gewissen. Er gelingt nicht immer. Aber in solchen Situationen versuche ich immer, dem Gründer meine Position und die der Redaktion klarzumachen. Und den Journalisten sage ich immer ganz ehrlich, wenn ich etwas nicht durchbringen konnte oder kann.

    Fairerweise muss gesagt werden: Es gibt nicht nur bei den Regierungsmedien Interessenskonflikte mit den Gründern

    Unter diesen Bedingungen haben die Regionalmedien nur eine einzige Aufgabe: die schwierige Krisenzeit zu überleben und dabei die Contentqualität sowie das professionelle Team und die Leserschaft zu halten.

    Sicher, wer bei regierungsnahen Zeitungen beschäftigt ist, weiß, dass über eine Reihe unerwünschter Themen nicht berichtet werden soll. Mit der Zeit bildet sich sogar eine Selbstzensur heraus. Doch wie die stellvertretende Chefredakteurin der Rossiskaja Gaseta, die legendäre Journalistin Jadwiga Bronislawowna Juferowa, völlig zu Recht sagt: „Bei einer Regierungszeitung zu arbeiten bedeutet nicht, ein Herz und eine Seele mit den Machthabern zu sein.“ Wir arbeiten, diskutieren, kommen dann überein oder auch nicht, aber wir bemühen uns immer, einander zuzuhören.

    Die Selbstzensur ist für mich überhaupt einer der größten Feinde des Journalismus, besonders im Regionalen. Aber wenn du professionell arbeitest, erledigen sich Fragen und Ängste. Ich versuche, hohen Beamten immer klarzumachen, dass Problemthemen aufgegriffen werden müssen – aber das muss professionell geschehen und beide Seiten dürfen nicht hysterisch werden.

    Fairerweise muss auch gesagt werden, dass es nicht nur bei den Regierungsmedien Interessenskonflikte mit den Gründern gibt.

    Ich beobachte regelmäßig, dass Kollegen aus privaten Zeitungen oder Agenturen einseitig über brisante Themen berichten, dass sie Nachrichten, die für den Gründer unbequem sind, rasch von der Website entfernen und negative Kommentare  löschen.


    Tatjana Udalowa, Dozentin für Journalismus an der Staatlichen Amur-Universität, Moderatorin der Radiosendung Echo Moskwy w Blagoweschtschenske:

    Das größte Problem der regionalen Medien ist die Verflechtung von Journalismus und Regierung. Journalisten und Medienmanager mischen sich oft in die Regierungskreise und arbeiten mit ihnen zusammen; das Gleiche gilt auch für Medien, die Teil der Regierung sind und zu irgendeiner Abteilung einer staatlichen oder kommunalen Behörde gehören. Also gliedern sich Medien oder Medienmanager ins System ein.

    An zweiter Stelle steht das Problem, dass den Machthabern und sehr oft auch den Journalisten selbst die Funktion des Journalismus nicht klar ist. Die Machthaber begreifen nicht, dass Journalisten nicht deswegen kritisieren müssen, weil sie am klügsten sind oder am besten wissen, wie man einen Staat, eine Stadt, einen Rajon oder eine Oblast regiert, wie man unterrichtet und heilt, sondern deswegen, weil das ihre Funktion, ihre Aufgabe ist. Weil die Gesellschaft ob dieser Kritik auf eigene Fehler und Versäumnisse der Regierung aufmerksam wird und etwas dagegen unternehmen möge.

    Der Fluss Amur – natürliche Grenze zu China / Foto © yourgeography.info
    Der Fluss Amur – natürliche Grenze zu China / Foto © yourgeography.info

    Nur verschweigt man bei uns Fehler lieber, als dass man sie behebt. Wo kein Kläger, da kein Problem. Auf höchster Ebene merkt niemand was, also behelligen die von oben einen auch nicht wegen irgendwelcher Probleme vor Ort.

    Es fehlt das Verständnis dafür, dass jemand regieren und jemand anderes von der Seite draufschauen muss, mit den Leuten spricht, sich erkundigt, wie es bei ihnen läuft, mit Experten redet, das alles zusammenführt und schließlich etwas Kritisches schreibt. Dann nimmt die Regierung es – zumindest der Theorie nach – zur Kenntnis und behebt den Fehler. Aber die Regierenden verstehen diese Prinzip einfach nicht. Sollte es dereinst mal funktionieren, wird alles wunderbar.

    Alle weiteren Probleme kann man auf diese beiden Punkte zurückführen: Die Journalisten hören auf, tief in notwendige Themen einzusteigen und qualitativ anspruchsvolle Analysen zu schreiben, weil die Themen nicht offen behandelt werden dürfen. Deswegen ist das allgemeine Medienniveau niedriger, als es sein könnte. Es gibt Journalisten, die gut analysieren können, aber sie können sich nicht immer erlauben das umzusetzen, entweder weil sie begonnen haben, sich der Regierung anzudienen oder weil sie einfach für die Medien arbeiten, in denen Umfang und Schnelligkeit für das Erscheinen des Materials wichtiger sind als das tiefe Eindringen in ein Thema.

    An vierter Stelle steht ein Problem des allgemeinen Niveaus, gar nicht mal so sehr der schreiberischen Fähigkeiten der Journalisten,  sondern eher des Horizonts. Es wäre wünschenswert, er wäre breiter – denn mit ihm steht und fällt natürlich auch das Schreiben. Meine Einschätzung der journalistischen Ausbildung hier in der Region ist vermutlich nicht ganz korrekt, aber es ist doch bedauerlich, dass sie so kärglich ist.

    Ich habe den Eindruck, dass das Hauptproblem der Amurer Medien ihre Abhängigkeit von den lokalen Eliten ist

    Es gibt keine Lehrgänge, keine Wettbewerbe, und wenn es welche gibt, stehen die Regierung oder große Firmen dahinter. Es gibt keine professionellen Analysen, keine gegenseitige Prüfung der journalistischen Arbeiten , etwa von Mitarbeitern landesweiter  Medien, wie früher, als es Wettbewerbe gab – beim Fernsehen zum Beispiel mit dem TEFI-Preis –, und die Schule Internews, die Journalisten aus den Regionen einlud.

    Bei  solchen Wettbewerben finden Workshops statt, man analysiert die Arbeiten mit Hilfe von Profis. Natürlich sind auch sie Journalisten, die manchmal Fehler machen, Dinge übersehen und so weiter, aber immerhin war es ein Blick von außen, von Leuten, die die vielen „Aber“ deiner Region nicht kennen, die nüchtern auf deine Arbeit blicken und sagen: Schau mal, das da ist nicht ganz gelungen, und bei jenem gibt es folgende Fehler, aber insgesamt hat deine Arbeit das und das Niveau. Bei uns gibt es nur den Lehrstuhl für Journalismus der Staatlichen Amur-Universität, andere Möglichkeiten – Weiterbildungen, begleitende Lehrgänge – fehlen.


    Marius Schimkus, Chefredakteur von ASN24:

    Wenn man an die ruhmreichen alten Zeiten denkt, ist es nicht weit bis zu dem Schluss, das Gras sei früher grüner gewesen. Meiner Einschätzung nach stehen dem Journalismus in der Oblast Amur in den letzten Jahren immer weniger Geld und immer weniger Freiräume zur Verfügung. Der Anzeigenverkauf wird immer schwieriger. Die Situation der Zeitungen ist überhaupt betrüblich. Sich technologisch weiterzuentwickeln, ist bei den lokalen elektronischen Medien einfach ausgeblieben – vielleicht hat man gerade mal angefangen, Push-Nachrichten zu versenden.

    Ich habe den Eindruck, das Hauptproblem der Amurer Medien ist ihre Abhängigkeit von den lokalen Eliten. Bei einem so strengen Zensurfilter ist es  Journalisten nicht möglich, ein objektives Bild der Welt an die Leser heranzutragen, sie können nicht über Probleme berichten, um die Rechtsschutzorgane oder entsprechende staatliche Stellen auf sie aufmerksam zu machen. Stattdessen gibt es in den lokalen Nachrichten massenhaft Berichte darüber, dass irgendein hohes Tier irgendwohin gereist ist, jemanden getroffen oder irgendwelche Anweisungen gegeben hat. So entsteht ein schönes Bild für Moskau.

    Das zweite Problem ist das geringe Prestige des Berufs. Nicht weil das verletzend wäre, sondern weil man den Journalisten durchaus begründet vorwirft, sie würden die Beamten bedienen, und sie verächtlich als Journalistenpack oder sogar Nuttenjournalisten bezeichnet.

    Das dritte Problem ist der Braindrain. Sobald sich die hoffnungsvollen Jungtalente die ersten Beulen geholt haben, kratzen sie sich am Kopf, packen ihren Koffer und gehen ins westliche Ausland. Oder wechseln den Beruf. Es bleiben diejenigen, die ein gemütliches Plätzchen zu schätzen wissen oder die in drei Jahren ohnehin in Rente gehen, oder vielleicht Heimatliebende der Gegend hier. Letztlich ändern sich die Medien über die Jahre  nicht, sie setzen auf die ewiggleichen Formate mit den ewiggleichen Protagonisten.

    Das vierte Problem ist, so scheint mir, dass die meisten Amurer Medien kaum neue Formate für die Informationsvermittlung einsetzen. Das hängt größtenteils mit den knappen Budgets zusammen – an Longreads oder Infografiken ist nicht zu denken, wenn nicht mal Geld für die Gehälter da ist. Aber zum Teil liegt es meiner Meinung nach auch daran, dass weder die Redaktionen noch die Leser wirklich an einer Entwicklung interessiert sind. Unsere Versuche beispielsweise, Partner für Native Advertising zu finden, scheiterten in den meisten Fällen an tiefem Unverständnis. Die Kunden sind nicht bereit, für solche Texte zu zahlen. Aber ein Interview „Iwan Iwanowitsch, was ist das Erfolgsgeheimnis Ihrer Betonblöcke?“, das läuft.

    Das fünfte Problem ist, dass ein Praktikum bei einem seriösen landesweiten Medium für junge Journalisten fast unerreichbar ist. Dafür braucht man direkte Kanäle zu Kollegen und Geld für teure Flugtickets. Das Problem mit den Kontakten wird mit dem Weiterbildungsprogramm der Volksfront für Russland zwar etwas entschärft, aber die finanzielle Seite bleibt eine fast unüberwindbare Hürde. In vielen Medien hängen Redaktionspolitik und tägliche Berichterstattung von Vereinbarungen zwischen dem Gründer, Regierungsvertretern und der Geschäftswelt ab. In der Praxis läuft das darauf hinaus, dass bestimmte Themen gezwungenermaßen übergangen werden und gewisse Personen nicht kritisiert werden dürfen. Das kann man schwerlich als Kompromiss  bezeichnen: Die Redaktionen verlieren Themen und das Vertrauen ihrer Leser, doch bekommen nichts dafür – vom Gehalt einmal abgesehen.

    Die Oblast Amur liegt im russischen Fernen Osten an der chinesischen Grenze
    Die Oblast Amur liegt im russischen Fernen Osten an der chinesischen Grenze

    Es ist kein Geheimnis: Das Massenpublikum reagiert am stärksten auf negative Nachrichten. Unfälle, Mord, Entführungen. Im Fall regionaler Medien kommt meiner Einschätzung nach noch hinzu, dass die Menschen Informationen ablehnen, die aus offiziellen, von Staatspfründen lebenden Medien stammen. Und dann greift eine einfache Regel: Wenn die Medien Informationen nicht liefern, dann suchen die Menschen in Sozialen Netzwerken, Chatdiensten und Foren danach. Die Gruppen Verkehrsstreifen-Kontrolle und Verkehrsstreifen-Aufsicht beispielsweise sind wohl deswegen entstanden, weil die Verkehrspolizei keine hilfreichen Informationen bereitstellte. Dieser, nennen wir sie, Protestwelle schließen sich dann auch oppositionelle Bewegungen an.

    Ehrlich gesagt bin ich ziemlich pessimistisch – jedenfalls wenn es um  Journalismus in der Oblast Amur geht. Man müsste eine kleine, aber stolze, unabhängige Redaktion von  zwei bis drei Leuten zusammenstellen und dann qualitativ ordentlichen Content machen, aber hier in der Region solche Mitarbeiter zu finden, ist fast unmöglich.


    Maxim Jermakow, Korrespondent, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung BAM, Vorstandsmitglied der Sektion Amur des russischen Journalistenverbands:

    Die Arbeit des Chefredakteurs eines regionalen Massenmediums geht damit einher, dass es bei heiklen Themen immer einen Kommentar braucht, in dem die Regierungsposition zu lesen ist. Außerdem gehört es auch zur Politik eines Staatsmediums, die Regierungstätigkeiten, ihre Entscheidungen, Programme und Projekte zu erläutern.

    Provinzialität kommt bei den Medien hier im Fernen Osten immer seltener vor. Die regionalen Medien (sowohl die gedruckten als auch die elektronischen) suchen stets neue Modelle und schicken ihre Mitarbeiter auf Seminare außerhalb der Region. Inzwischen werden auch neue Richtungen weiterentwickelt – Grafiken, Kolumnen, eine enge Verbindung zwischen der Zeitung und ihren Auftritten in den Sozialen Netzwerken.

    Die Stadt Tyndra ist Sitz der Wochenzeitung BAM / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Die Stadt Tyndra ist Sitz der Wochenzeitung BAM / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Natürlich gibt es auch Probleme: Personalmangel, hohe Druckkosten, die schlechte Erreichbarkeit mancher Ortschaften und die große Distanz zwischen ihnen, was die Organisation eines eigenen Abo-Diensts und den Vertrieb erschwert, dann gibt es noch die Verspätungen der russischen Post und schlechte Internetverbindungen.

    Das Niveau der Journalistenausbildung ist ziemlich schlecht, weil es in der Abteilung für Journalismus der regionalen Hochschule an Dozenten mit erstklassigem Know-How mangelt. Ich will nicht ausschließen, dass man zum Erhalt der städtischen und regionalen Zeitungen irgendwann eine einzige Medienholding gründet.

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  • Wahlen, na und?!

    Wahlen, na und?!

    Stell dir vor, es sind Wahlen und keinen interessiert’s. Was sind dann die Gründe dafür? Auf Poslednije Tridzat – einem Portal, das die Entwicklung seit der Perestroika in den Blick nimmt – analysiert Gleb Tscherkassow die kurze demokratische Tradition in Russland: Präsidentschaftswahlen gab es erstmals vor 25 Jahren. In den 1990er und 2000er Jahren sei die direkte Teilnahme der Bürger am politischen Prozess mehr und mehr durch Polittechnologien ersetzt worden, meint Tscherkassow. Für den stellvertretenden Chefredakteur des Kommersant tragen allerdings nicht nur korrupte oder autokratische Politiker die Schuld, sondern vor allem auch die Bürger selbst.

    Nach einer kleinen politischen Kampagne wurde Boris Jelzin 1991 zum Präsidenten der RSFSR gewählt – eine Briefmarke erinnert an seinen Wahlsieg / Bild © gemeinfrei
    Nach einer kleinen politischen Kampagne wurde Boris Jelzin 1991 zum Präsidenten der RSFSR gewählt – eine Briefmarke erinnert an seinen Wahlsieg / Bild © gemeinfrei

    Ein gutes Bild für die Geschichte der Wahlen im zeitgenössischen Russland ist das alte Gleichnis vom Vater, der seinen in Wohlstand und Müßiggang aufgewachsenen Sohn ausschickt, um Geld zu verdienen. Die Mutter hat mit ihrem Herzensjungen Mitleid und gibt ihm heimlich Geld: Da, gib das dem Vater, sag ihm, du hättest es selbst verdient. Der Sohn gibt dem Vater das Geld, und der wirft es ins Feuer. Der Sohn zuckt mit den Schultern, bekommt am nächsten Tag wieder Geld von der Mutter und sieht es wieder verbrennen. Schließlich hat die Mutter kein Geld mehr und der Sohn muss es wirklich selbst verdienen. Als er ein paar Münzen nach Hause bringt, wirft der Vater sie wieder in den Ofen. Der Sohn schreit auf und beginnt, das Geld aus der heißen Kohle zu scharren. Da sagt der Vater: „Jetzt sehe ich, dass du das Geld selbst verdient hast.“

    Freie Wahlen entsprachen Flügen in andere Galaxien

    1987 entsprachen direkte, gleiche und freie Wahlen in etwa Flügen in andere Galaxien: Irgendwann ja, aber nicht in absehbarer Zukunft, weil es unmöglich ist. Bereits zehn Jahre später hatte jeder Bürger das Recht, die gesamte Regierung zu wählen, von der lokalen Selbstverwaltung bis zum Präsidenten.

    Was in anderen Ländern jahre- und jahrzehntelang erkämpft wurde, bekam die russische Bevölkerung mit  – nach historischen Maßstäben – minimalem Aufwand.

    Michail Gorbatschow wurde im März 1990 auf einem Kongress der Volksdeputierten zum Präsidenten der Sowjetunion gewählt. Boris Jelzin wurde 1991 bereits in allgemeinen Wahlen zum Präsidenten der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) gewählt, nach einer kleinen politischen Kampagne und einem Referendum über die Einführung des Präsidentenamtes.

    Von den Wahlen erwartete man Wunder

    Das sind wohl die einzigen Beispiele dafür, dass sich die Bürger für ihr Wahlrecht einsetzten. Genau deswegen gelten die späten 1980er und frühen 1990er Jahre auch als Zeit eines außergewöhnlichen politischen Elans. Die Konzentration von Ereignissen führte zu Hoffnungen, die in einem anderen Moment nicht hätten entstehen können.

    Von den Wahlen erwartete man Wunder. Es schien, als würde es genügen, bestimmte Gesetze zu erlassen, damit alles sehr gut würde. Vielleicht sogar ausgezeichnet. Und um diese Allheil bringenden Gesetze zu erlassen, brauchte man nur die Richtigen zu wählen.

    Man wählte. Die Gewählten versuchten anfänglich sogar, die Allheil bringenden Gesetze zu erlassen. Das unvermeidliche Ausbleiben der gewünschten Ergebnisse führte man darauf zurück, dass man doch nicht ganz die Richtigen gewählt hatte.

    Als sich die Hoffnungen nicht erfüllten, begann man den Wahlen fernzubleiben, und zwar ohne damit besonderen Widerstand leisten zu wollen. Es heißt, das habe unter Wladimir Putin begonnen, aber den Präzendenzfall gab es schon während der Regierungszeit seines Vorgängers Boris Jelzin:

    1993 wurden beide Kammern der Föderationsversammlung durch Direktwahlen bestimmt. 1995 war die Präsidialverwaltung aber sehr interessiert daran, ihre Beziehungen zu den regionalen Eliten zu verbessern. Aus diesem Grund entstand ein Gesetzesentwurf, der vorsah, den Föderationsrat durch regionale Gouverneure und Vorsitzende der Regionalparlamente zu ergänzen. Die Öffentlichkeit nahm das gleichgültig hin. Das System zur Bildung des Oberhauses, sprich des Föderationsrats, hat sich seither mehrmals geändert, aber von Direktwahlen war nie mehr die Rede.

    Die Öffentlichkeit nahm alles gleichgültig hin

    Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion war Russland beinahe das einzige Land, in dem regionale Regierungsoberhäupter, meist heißen sie Gouverneure, direkt gewählt wurden. Zunächst in den Jahren 1993 bis 2004; seit 2012 ist das nun wieder so. Die Erinnerung an öffentliche Kampagnen für die Einführung der Gouverneurswahlen beziehungsweise gegen ihre Abschaffung fällt schwer. Es gab nämlich keine. Es heißt zwar, dass man sich auf dem Bolotnaja Platz 2011 unter anderem für die Gouverneurswahlen einsetzte. Falls es diese Forderung tatsächlich gab, war sie sicherlich keine der vorrangigen.

    Dasselbe gilt für die Abschaffung der Einerwahlkreise: Ohne Trauer nahm man 2004 die Abschaffung zur Kenntnis, ohne Freude 2012 die Wiedereinführung.

    Würde man die Dumawahlen abschaffen, gäbe es wohl kaum Protest

    Die Abschaffung direkter Bürgermeisterwahlen, die im Moment flächendeckend stattfindet, stößt zwar auf Widerstand, der aber in keinem Verhältnis zur Bedeutung des Prozesses steht. Öffentliche Anhörungen, zwei, drei Kundgebungen, ein paar Artikel und Blogeinträge.

    Gut möglich, dass es keine großen Proteste geben würde, wenn sich morgen herausstellt, dass die Dumawahlen  leider aus irgendeinem Grund abgeschafft werden müssten. Warum sollte man denn groß Lärm schlagen?

    Übrigens hat sich die große Masse der Bürger schon lange bevor man den Wahlen fernblieb vom alltäglichen politischen Engagement verabschiedet. Das Verständnis dafür, dass das Einwerfen des Wahlzettels nur ein winziger Teil einer großen Aufgabe ist, verlor sich in den frühen 1990er Jahren beinahe sofort.

    An der Aufstellung der Kandidaten mitwirken, ihre Programme diskutieren, Unterstützung organisieren, Stimmen verteidigen, gegen Wahlverstöße protestieren – mit all dem haben sich zu wenige Bürger über zu kurze Zeit befasst. Alles war so schnell gegangen, dass man das Gefühl hatte, es gebe nichts weiter zu tun und man brauche sich nur noch an den Früchten der Demokratie zu erfreuen. Und als diese Früchte ausblieben, war man enttäuscht.

    Politisches Engagement als Synonym für Idiotie

    Politisches Engagement wurde allzu bald zu einem Synonym entweder für prinzipienloses Karrieredenken oder für offenkundige Idiotie. Aus diesem Grund führten die Polittechnologen ihre Kampagnen schon Mitte der 1990er Jahre lieber ohne Aktivisten durch. Mit angeheuerten Helfern ging es einfacher.

    In Wirklichkeit hat der rasante Aufschwung der Polittechnologie über die vergangenen 25 Jahre in Russland damit zu tun, dass ein Ersatz für politisch engagierte Bürger hermusste. Wo es keine Begeisterung gibt, braucht es Instrumente und die Fähigkeit, die Massen zu lenken. Die besten Polittechnologen gingen aus der demokratischen Welle hervor, nur galten die Werte, die ihnen in den späten 1980er Jahren noch am Herzen lagen, bereits zehn Jahre später nur noch bedingt.

    Eigentlich haben dieselben Leute die Wahlen eingeführt, die sie später zu Grabe trugen. Dahinter steckte keine Absicht, man entschied sich nicht bewusst dafür, die Wahlen in einen Wettlauf der Beschaffung von Geld und Technologie zu verwandeln. Die Werte änderten sich schleichend, nach und nach. Es ist kein Zufall, dass die Polittechnologen aus den späten 1980er Jahren beinahe immer nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umgebung überzeugen mussten, dass ihr Kandidat, ihre politische Kraft gar nicht so schlecht sei, letzten Endes vielleicht sogar besser als die anderen.

    Eigentlich haben dieselben Leute die Wahlen eingeführt, die sie später zu Grabe trugen

    Die Kriege der begeisterten Söldner konnten nicht ewig weitergehen. 2011 war der Anstieg des politischen Engagements deswegen so fühlbar, weil Tausende Menschen nicht einfach nur an Kundgebungen teilnahmen oder Wahllokale aufsuchten, sondern Wahlkommissionen beitraten und so ihre Bereitschaft zeigten, sich über längere Zeit politisch zu engagieren. Vielleicht wird das alles im Sande verlaufen. Möglich ist aber auch, dass der wiedererwachte Wunsch, wenigstens ein bisschen Kraft und Zeit in den politischen Umbau zu stecken, früher oder später Früchte tragen wird.


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Die kurze Geschichte der Demokratischen Koalition

    Im April 2015 war sie angetreten, um bei den Dumawahlen 2016 eine geeinte, breite Front gegen die Kreml-Partei Einiges Russland zu bilden. Doch nur knapp ein Jahr nach ihrem Entstehen zerbrach Russlands Demokratische Koalition wieder. Zu der hatten sich Parteien der nicht-systemischen Opposition zusammengeschlossen – also diejenigen Oppositionsparteien, die nicht in der Duma vertreten sind. Darunter waren auch einige Gruppen, denen bereits bei der offiziellen Registrierung als politische Partei immer wieder Steine in den Weg gelegt werden.

    Iwan Dawydow analysiert die Hintergründe in The New Times.

    Da lachen sie noch – Vertreter der Demokratischen Koalition im Dezember 2015. Am Mikrofon Alexej Nawalny, links daneben Michail Kassjanow (PARNAS), ganz links Wladimir Milow (Demokratische Wahl). Foto © Juri Martjanow/Kommersant
    Da lachen sie noch – Vertreter der Demokratischen Koalition im Dezember 2015. Am Mikrofon Alexej Nawalny, links daneben Michail Kassjanow (PARNAS), ganz links Wladimir Milow (Demokratische Wahl). Foto © Juri Martjanow/Kommersant

    Anfang Mai hat sich endgültig gezeigt: Die Demokratische Koalition um die Partei PARNAS ist gescheitert. Und daran sind keineswegs nur Intrigen des hinterlistigen Kreml schuld.

    Das Scheitern dieser Koalition hat natürlich Folgen: vermindertes Vertrauen der potentiellen Wähler in die nicht-systemische Opposition; verlorene Zeit, die die Kandidaten, die behindert worden waren, nun aufholen müssen, wenn sie im Wahlkampf noch irgendwie in Erscheinung treten wollen; schwindende Chancen, dass Abgeordnete mit einer vom Kreml unabhängigen Position in die siebte Staatsduma einziehen werden.

    Der Start

    Am 27. Februar 2015 wurde in Moskau Boris Nemzow, der Ko-Vorsitzende der Partei PARNAS, ermordet. Daraufhin unternahmen zahlreiche Oppositionspolitiker den Versuch, vor der anstehenden großen Wahlperiode die kremlkritischen Bewegungen in einer Koalition zu vereinen. Im Herbst 2015 standen Wahlen in elf Regionen an, im Herbst 2016 folgen nun die Wahlen zur Staatsduma.

    Als die Oppositionellen mit den Verhandlungen über die Bildung einer Koalition begannen, waren sie in einer Krisensituation: Die Demonstrationen in den Städten, die den Kreml 2011/12 so beunruhigt hatten, waren komplett abgeflaut. Putins Beliebtheitswerte wuchsen dank der Krim-Euphorie und weiterer „geopolitischer Erfolge“ unablässig.

    EINE CHANCE, DIE KRISE ZU ÜBERWINDEN

    Lässt man einmal die systemischen Oppositionsparteien außer Acht und auch die Partei Jabloko, die den Ruf hat, notorisch kompromissunfähig zu sein, dann hatte die Opposition „außerhalb des Systems“ Folgendes zu bieten: Parteien, bei deren Namen und Programmen selbst ihre Anhänger durcheinanderkamen sowie eine Handvoll landesweit bekannter Politiker.

    Die Bildung einer Koalition war eine Chance, die Krise zu überwinden. Und – allen russischen politischen Traditionen zum Trotz – gelang es den Oppositionellen, sich zu einigen.

    Am 17. April 2015 unterzeichneten die Partei PARNAS, mit Michail Kassjanow an der Spitze, und Nawalnys Fortschrittspartei ein Koalitionsabkommen. Am 20. April schlossen sich ihnen die Parteien Demokratische Wahl (Wladimir Milow), Bürgerinitiative (Andrej Netschajew) und auch die nicht-registrierte Partei des 5. Dezember und die Libertäre Partei an. Michail Chodorkowskis Offenes Russland gab seine Unterstützung der Demokratischen Koalition bekannt.

    Dabei sein ist alles?

    Unter den mit der Demokratischen Koalition sympathisierenden Politologen und Journalisten begann ein Streit: Sollten die Oppositionellen überhaupt an den Wahlen teilnehmen?

    Die Argumente derer, die gegen eine Teilnahme sind, brachte Fjodor Krascheninnikow für The New Times auf den Punkt: „An Wahlen sollte man nur teilnehmen, wenn eine Chance auf Erfolg besteht und wenn man Vertrauen in die Wahlkommission hat. Andernfalls spielt die Opposition durch die Teilnahme an den Wahlen nur den Machthabern in die Hände – sie legitimiert sowohl die Wahlen als auch das gewählte Machtorgan.

    Wenn man sich einverstanden zeigt, beim Hütchenspiel mitzumachen, macht man damit nicht nur den Hütchenspieler reich, sondern führt auch zufällige Passanten in die Irre: Sie sehen, dass da ein anständiger Mensch mitspielt, und schließen daraus, dass wohl alles rechtens zugeht.“

    DIE WAHLEN ALS HÜTCHENSPIEL

    Es gibt aber auch starke Argumente für eine Teilnahme an den Wahlen. Denn die Machthaber brauchen nicht nur einfach Oppositionelle, die an den Wahlen teilnehmen. Sie brauchen Oppositionelle, die verlieren.

    Und das bedeutet, dass die Machthaber während des Wahlkampfs alle nur denkbaren Verstöße zulassen werden, um eine Niederlage der Opposition sicherzustellen, einfach weil sie nicht anders handeln können.

    Ob nun aber solche Skandale dazu beitragen, den Wahlprozess zu legitimieren, darüber ließe sich streiten. Wichtiger ist, dass man selbst bei aussichtslosen Wahlen die Gelegenheit bekommt, größere Bekanntheit zu erlangen und das eigene Wahlprogramm an diejenigen Wähler heranzutragen, die nicht lesen, was die Opposition in den sozialen Netzwerken schreibt.

    VORWAHLEN: KOMPLIZIERTES PROZEDERE

    Unterdessen hat sich gezeigt, dass das Prozedere von Vorwahlen kompliziert und selbst für treue Wähler wenig attraktiv ist. Außerdem greift die Antikorruptionsagenda in den Regionen einfach nicht: Wie Ilja Jaschin, der stellvertretende Vorsitzende von PARNAS, nach mehr als einem Dutzend Treffen mit Bewohnern von Kostroma erzählt, hörten die Omas in den Höfen seinen Erzählungen über die Mehreinnahmen der Osero-Mitglieder zwar interessiert zu. Aber die Nachricht, dass Beamte und der Machtelite nahestehende Bürger in Russland stehlen, ist für Bürger, deren Leben sich fern der Machtzirkel abspielt, keine große oder besonders erschütternde Nachricht.

    Der Weg zum Scheitern

    Für die Mitglieder der Demokratischen Koalition selbst stellte sich die Frage nicht, ob sie an den Wahlen teilnehmen sollten oder nicht. Sie konzentrierten sich auf die Vorbereitung des Wahlkampfs.

    Ihre Listen sollten mit Hilfe von Vorwahlen aufgestellt werden. Im Dezember 2015 wurde bekannt, dass die ersten drei Plätze auf der Liste schon vergeben waren. Den ersten bekam der Vorsitzende von PARNAS, Michail Kassjanow, der zweite und dritte waren für „russlandweit bekannte Leute“ reserviert, deren Namen nicht genannt wurden.

    Ilja Jaschin verkündete damals, das sei eine „bewusste Entscheidung der ganzen Koalition“. Die Vorwahlen hätten am 23. und 24. April stattfinden sollen. Später verschob man sie „aus technischen Gründen“ auf Ende Mai.

    Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass das Problem nicht Störungen auf der Vorwahlen-Website waren. Es war das geringe Interesse am Verfahren, auf das die Vertreter von PARNAS bestürzt reagierten.

    Man hatte in der Koalition damit gerechnet, dass rund 100.000 Personen an den Vorwahlen teilnehmen würden, doch nach Informationen, die The New Times vorliegen, hatten sich zwei Wochen vor Abstimmung nur rund 6000 Wähler auf der Website registriert.

    Es gab Gerüchte, PARNAS erwäge, die Liste doch nicht auf der Grundlage von Vorwahlen aufzustellen. Damals sagte Alexej Nawalny gegenüber The New Times: „Die Fortschrittspartei kann im Falle einer Nichtanerkennung der Vorwahlen nicht in der Koalition verbleiben.“

    Der letzte Schlag war der Film Kassjanows Tag, den NTW am 1. April ausstrahlte: Dass kompromittierendes Material über sie verbreitet und in ihrem Privatleben herumgeschnüffelt wird – daran sind Oppositionelle ja gewöhnt, sollte man meinen. Doch durch die scharfen Bemerkungen, die Natalja Pelewina, eine Parteigenossin Michail Kassjanows, in dem Film über andere Mitstreiter aus dem Bündnis machte, fühlten sich manche Mitglieder der Demokratischen Koalition ernsthaft vor den Kopf gestoßen.

    KLEINLICHER ZANK UND SCHULDZUWEISUNGEN

    Zunächst machte Ilja Jaschin von PARNAS Kassjanow den Vorschlag, er möge auf seinen ersten Listenplatz verzichten und gleichberechtigt mit allen anderen an den Vorwahlen teilnehmen. Kassjanow lehnte ab. „Als Zeichen des Protests“ zog Jaschin seine Kandidatur für die Vorwahlen zurück.

    Später wiederholte Alexej Nawalny die Forderung Jaschins. Darauf folgten lange und offenbar selbst für die Mitglieder der Koalition uninteressante Streitereien darüber, wer als erster welche Abmachungen verletzt hat. Demokratische Wahl und die Fortschrittspartei verließen die Koalition, die dann aufhörte auf zu existieren.

    Der vergessene Wähler

    Was bleibt übrig statt einem Wahlbündnis der Opposition? Kleinlicher Zank und eine Reihe gegenseitiger Schuldzuweisungen.

    Die Kleinlichkeit ist das Traurigste an der ganzen Geschichte. Es ist ja für niemanden ein Geheimnis, dass die PARNAS-Liste ohnehin nicht durchkommen wird. Falls jemand Chancen hatte, waren es die Abgeordneten aus einzelnen Einerwahlkreisen mit einer vornehmlich gebildeten städtischen Bevölkerung.

    Doch die Koalitionsmitglieder interessierten sich nicht für die Einerwahlkreise, sondern konzentrierten sich auf das Gefeilsche um die Listenplätze. Sie kämpften, als hätten sie bereits die Duma-Mehrheit inne, als wäre ihnen bei den kommenden Wahlen der Sieg sicher und es ginge nur noch darum, wie man die Mandate aufteilen soll.

    WAS ERFÄHRT DER WÄHLER DENN ÜBER DIE OPPOSITION?

    Was hat ein potentieller Wähler letztlich über die Opposition erfahren? Ein neuer Wähler, kein treuer, der ergeben die Blogs der Koalitionsleader liest? Nur das, was Pelewina in dem NTW-Film über ihre Kollegen gesagt hat und was man lieber nicht laut wiederholt.

    Die Mitglieder der Koalition, die beschlossen hatten, mit der Regierung Wahlen zu spielen, haben die wichtigsten Teilnehmer an diesem Spiel übersehen: die Wähler. Sie haben sich mit Fragen zur Vorgehensweise herumgeschlagen, statt den Wählern zu erklären, warum man eigentlich für die Opposition stimmen soll. Und zwar sowohl bei den Vorwahlen als auch bei den Dumawahlen.

    Dem Wähler ist doch egal, wer wen hintergangen hat und wer immer noch mit weißer Weste und stolzem Blick dasteht. Den Wähler interessiert, was ihm die Leute, die „in der realen Politik“ mitmischen wollen, neben Schockmeldungen über die Reichtümer der Brüder Rotenberg tatsächlich anzubieten haben.

    Der offizielle Wahlkampf hat noch nicht begonnen, noch bleibt Zeit, die Fehler auszubügeln. Aber dazu gilt es über den eigenen Schatten zu springen, die eigene Makellosigkeit in Frage zu stellen, den schmachvollen Erfahrungen Rechnung zu tragen.  

    Und es ist überhaupt nicht gesagt, dass das für die Anführer der nicht-systemischen Opposition eine lösbare Aufgabe ist.

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  • Die Kreml-Liberalen

    Die Kreml-Liberalen

    Mitte April hat Wladimir Putin den ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin zum Leiter des Moskauer Thinktanks CSR ernannt. Damit stieg einer der schärfsten Kritiker der derzeitigen russischen Wirtschaftspolitik zum Berater des Kreml auf.

    Der Politologe Michail Komin sieht auf slon.ru die Chancen für einen Machtwechsel in Russland genau bei sogenannten Systemliberalen wie Kudrin: Nah genug an den etablierten Machtstrukturen, aber weit genug entfernt von direkter politischer Einflussnahme bildeten sie eine Art „inneren Gegenpol“ zur derzeitigen Politik der Kremlspitze. Anders als die eigentliche, nicht-systemische Opposition ließen sie dem Kreml genügend Verhandlungsspielraum, um sich auf einen Machtwechsel einzulassen, der die derzeitige Nomenklatura nicht komplett desavouiert.

    Der Begriff „Sislib“ oder „Systemliberaler“ existiert im russischen politischen Diskurs seit den späten 90er Jahren. Mit seiner Hilfe lässt sich das russische politische System, das sich nach Boris Jelzins Abgang und in den ersten Jahren der Präsidentschaft Wladimir Putins herausbildete, ziemlich treffend beschreiben. Damals kämpften zwei Clans um den Einfluss im Land: Der Clan der Silowiki, denen auch Putin entstammt und die Gruppe der „progressiven Nomenklatura“, die im Wirtschaftsblock der Regierung führende Positionen innehatte – zuvor hatte sie nach dem Zerfall der UdSSR schmerzhafte, aber notwendige liberale Reformen durchgeführt.

    „Effiziente Manager” statt „Stützen des Regimes”

    Nachdem diese Gruppe der wirtschaftsliberal ausgerichteten Ökonomen zunächst auch in die neue Putin-Administration berufen worden waren, setzten sie ihre Reformtätigkeit fort. Aber ihr Einfluss auf die politische Agenda nahm zusehends ab. Sie wandelten sich von vollwertigen „Stützen des Regimes“ zu „effizienten Managern“ für die Lösung konkreter Aufgaben.

    Zum größten Eklat im Zusammenhang mit den eingebüßten Befugnissen des wirtschaftsliberalen Blocks kam es im Jahr 2011. Damals trat Alexej Kudrin von seinem Amt als Finanzminister zurück: Er war mit der Entscheidung des Kreises um Medwedew nicht einverstanden, die Rüstungsausgaben erneut zu erhöhen, worunter alle anderen Bereiche zu leiden hätten.

    Doch auch nach diesem Vorfall verblieben einige liberale Ökonomen in Leitungspositionen. Sie versuchten, die Entscheidungen des Kreml indirekt zu beeinflussen oder die Elite in den schwierigsten Wirtschaftsfragen zu beraten. Wegen ihrer Bemühungen um Einflussnahme und um größtmögliche Nähe zur herrschenden Elite nennt man sie denn auch Systemliberale.

    Kein so ganz richtiger Liberaler

    Natürlich ist Sislib ein abwertender Begriff, er gibt zu verstehen, dass ein Systemliberaler kein so ganz richtiger Liberaler ist, sondern ein spezieller. Am häufigsten hört man den Begriff aus dem Mund von Politikern und Wirtschaftsexperten, die sich außerhalb des Systems befinden. Sie kritisieren die Sisliby für ihre Kompromissbereitschaft, dafür, dass sie sich faktisch in den Dienst einer autoritären Regierung stellen. Dass sie dabei helfen würden, einzelne wirtschaftliche Missstände zu beheben. Dadurch würden sie die Politik als Ganzes nicht verändern, dem Regime aber zu einem Mindestmaß an notwendiger Effizienz verhelfen und auf diese Weise zum Fortbestand des autoritären Modells beitragen.

    Die Spardose des Kreml

    Diese Kritik kann man allein deswegen schwerlich als unbegründet abtun, weil das russische Sozial- und Militärbudget, das in den vergangenen anderthalb bis zwei Jahren stark aufgeblasen wurde, vor allem vom Nationalen Wohlstandsfonds lebt. Den hatte Alexej Kudrin vorsorglich eingerichtet.

    Würde der Kreml heute nicht über diese Spardose verfügen, hätten sich seine imperialen Ambitionen schon lange totgelaufen. Es wäre außerdem nicht möglich, unbeliebte sozialpolitische Entscheidungen auf die Zeit nach den Wahlen hinauszuschieben. Beides hätte die Chancen der demokratischen Opposition in der aktuellen Wahlperiode erhöhen können.

    Wie vor wenigen Tagen bekannt wurde, ist derselbe Alexej Kudrin trotz all dem bereit, dem Regime erneut unter die Arme zu greifen: Er hat für den Kreml eine neue Wirtschaftsstragie erarbeitet, um die Systemkrise zu überwinden.

    Nach den Ereignissen auf der Krim, dem Krieg im Südosten der Ukraine, nach der erschreckenden Zunahme von Propaganda, dem bis heute nicht geklärten Mord an Boris Nemzow, nach der Veröffentlichung der Panama Papers und einer allgemein immer unangemesseneren und aggressiveren Kreml-Politik könnte man sich schon fragen: Wie und warum soll man überhaupt noch mit der Regierung zusammenarbeiten? Diese Frage wird Alexej Kudrin von den Liberalen unvermeidlich gestellt werden, wenn er seine Arbeit im Zentrum für strategische Entwicklung aufnimmt und ein neues Wirtschaftsprogramm für Putin vorlegt.

    Garant für den Wechsel

    Lässt man die Emotionen einmal beiseite, bringt eine solche Zusammenarbeit von Liberalen und Regierung zwei wichtige positive Konsequenzen mit sich:

    Erstens senkt die Beratung der Regierung durch vernünftige Ökonomen unweigerlich den Grad des Wahnsinns der Kreml-Politik. Sie verhindert, dass Entscheidungen von Leuten gefällt werden, die einen katastrophalen Einfluss auf das System ausüben können.

    Welches Programm Alexej Kudrin auch vorschlagen wird – es wird sicher besser sein als das von Sergej Glasjew, dessen Einfluss im Kreml derzeit stark zugenommen hat.
    Die Hyperinflation, herbeigeführt durch Emission von Wertpapieren und das Wachstum der Staatsausgaben, ist Folge nur einiger Maßnahmen des präsidialen Beraters für regionalökonomische Integration. Sie wird kleinen und mittleren russischen Unternehmen den Todesstoß versetzen und treibt eine noch größere Zahl von Bürgern in den Strudel der Armut.

    Die zweite Folge der direkten Beteiligung Liberaler an der Kremlpolitik ist: Die Chance für einen unblutigen Abgang der derzeitigen Regierung aus der politischen Arena steigt.

    In den aktuellen Wahlratings erreicht die demokratische Opposition mit ihren endlosen internen Konflikten nur äußerst geringe Werte. Noch geringer sind die Chancen, dass es der Opposition in den nächsten Jahren gelingen wird, die Panama-Fraktion des Kreml durch Wahlen und parlamentarischen Kampf wegzudrängen – auch wenn wir uns nachweislich in einer Übergangsphase zum konkurrenzfähigen Autoritarismus befinden.

    Opposition engt Verhandlungsspielraum des Kreml ein

    Die Chancen werden jedoch beträchtlich steigen, wenn es der Opposition gelingt, die typische Hauptforderung einer jeden autoritären Elite zu erfüllen, die angesichts einer ausgebrochenen Wirtschaftskrise spürt, dass eine Liberalisierung unausweichlich ist: Man muss ihr den Erhalt des angehäuften Kapitals und den Verzicht auf Strafverfolgung nach dem Ausscheiden aus der Regierung garantieren.

    Derzeit werden ständig Zimmer voller Pelzmäntel und Celli voller Geld aufgespürt und Schwarzbücher verfasst, was zweifellos Stimmen und Respekt bei den Wählern einbringt. Doch die Opposition macht dadurch einen unblutigen Machtwechsel unmöglich, weil sie den Verhandlungskorridor mit dem Kreml einengt. Denn der „Kollektiv-Putin“ wird nie und nimmer zulassen, dass die Opposition mit solchen Parolen eine auch nur halbwegs nennenswerte Anzahl von Sitzen im Parlament bekommt. Stattdessen wird er sich an die Kremlmauern klammern, das Rad der Repression zum Laufen bringen und solange jegliche soziale Unruhen unterdrücken, bis es zu spät ist.

    Druck auf den Kreml von zwei Seiten

    In der aktuellen Situation ist es notwendig, Druck auf den Kreml von zwei Seiten, im Tandem, auszuüben. Einerseits muss man, sozusagen von unten, die Protestwählerschaft weiter zusammentrommeln und um Sitze bei diesen Wahlen kämpfen, unter anderem mit der durchaus erfolgreichen Antikorruptions- und Anti-Offshore-Rhetorik – das ist die Aufgabe der demokratischen Koalition.

    Andererseits wird die herrschende Elite angesichts des immer stärker drohenden Verlusts von Macht und Kapital genötigt sein, jemanden zu finden, dem sie die Macht weitergeben kann – unter der Garantie, dass persönliche Strafverfolgungen ausbleiben. Diese Kompromissfiguren könnten, wenn es soweit ist, in der Regierung verbliebene und mit ihr kooperierende Systemliberale sein.

    Letzte Chance für unblutige Machtübergabe

    Alexej Kudrin, der seine guten Beziehungen zu Wladimir Putin und einer Reihe von Leuten aus dessen engstem Umfeld nicht verhehlt, ist unter den gegenwärtigen Bedingungen natürlich nicht der einzige Kandidat. Aber er ist nach den oben beschriebenen Kriterien sicher einer der passendsten. Das Programm, das er nun zusammen mit einem Expertenteam aus dem Komitee für Bürgerinitiativen schreiben kann, wird auf jeden Fall nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Reformen enthalten. Und entschließt sich der Kreml für diese, dann wird er damit die grundlegendste Erneuerung seit den frühen 2000er Jahren anregen.

    Falls Wladimir Putin und sein Umfeld beschließen, die Konzepte Kudrins oder anderer liberaler Ökonomen umzusetzen, werden diese vielleicht inzwischen weniger ein Aktionsplan für die Wirtschaft sein als vielmehr eine letzte Chance für eine Machtübergabe ohne Blutvergießen.

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  • Der Mythos vom Zerfall

    Der Mythos vom Zerfall

    Vor 25 Jahren, im März 1991, hat die Auflösung der Sowjetunion ihren Anfang genommen, als sich die baltischen Teilrepubliken Litauen und Estland für unabhängig erklärten. Im Lauf des Jahres gab es Volksabstimmungen und Unabhängigkeitserklärungen weiterer Republiken, im Dezember 1991 wurde die Sowjetunion offiziell aufgelöst und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet.

    Diesem Prozess folgten zahlreiche bewaffnete Konflikte und Auseinandersetzungen in unterschiedlichen ehemals sowjetischen Regionen, die zum Teil weiter schwelen oder andauern. Inwiefern der „Mythos vom Zerfall“ der Sowjetunion dabei noch heute eine Rolle in der politischen Rhetorik spielt, analysiert der Politologe Kirill Rogow auf RBC.

    Die Agenda der „Bewahrung“

    Das Verhältnis der Bevölkerungsmehrheit zum Zerfall der Sowjetunion hat sich im Laufe der Zeit ziemlich stark gewandelt. Die Wehmut über den Verlust nahm in den 1990er Jahren in Russland kontinuierlich zu und erreichte zu Beginn der 2000er Jahre einen Höhepunkt: Über 70 % der Menschen bedauerten den Zerfall. Ab Mitte der 2000er ging dieser Anteil wieder zurück und sank in den Jahren 2011/12 auf unter 50 %.

    Im politischen Diskurs hingegen war eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten: Das Thema „Zerfall der Sowjetunion“ ist im Verlauf der Putin-Epoche politisch immer lauter zu vernehmen. 2005 bezeichnete Wladimir Putin den Untergang der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Die wichtigsten Wörter im Satz waren jedoch nicht „Katastrophe“ oder „größte“, sondern das Wort „geopolitisch“, denn das stülpte dem Land wieder die außenpolitischen Klischees der Sowjetzeit über. Erst kürzlich war Putin bei einem unerwarteten Angriff gegen Lenin auf dieses Thema zurückgekommen: Lenin habe der Sowjetunion durch sein Beharren auf einer föderalen Struktur einen Sprengsatz untergeschoben.

    Sehnsucht nach „Supermächtigkeit“

    Folgende zwei Punkte beleuchten die Rolle, die der „Zerfall der UdSSR“ in der zeitgenössischen politischen Mythologie spielt:

    Erstens ist da diese Sehnsucht nach einer „Supermächtigkeit“ und der Versuch, was den Supermachtstatus der UdSSR betrifft, eine Art Rechtsnachfolge anzutreten.

    Zweitens geht es um eine Projektion: der Zerfall des Landes (der UdSSR, Russlands) als größte innenpolitische Bedrohung. Eine solche Bedrohung zu verkünden, sei sie real oder imaginär, ändert umgehend die Prioritäten der politischen Agenda: Sämtliche Elemente einer normalen, zivilen Tagesordnung – wie gut ist ein Regime, wie effektiv ist seine Wirtschaft, wie gerecht die soziale Ordnung – treten in den Hintergrund. An die Stelle der zivilen Tagesordnung tritt eine Mobilisierungsagenda, das Ziel ist nicht Entwicklung, sondern Erhaltung des Status quo. Die Regierung ist voll und ganz damit beschäftigt, den Zerfall zu verhindern, und es wäre irgendwie fehl am Platz, noch mehr zu verlangen: Schließlich gibt es Wichtigeres als Wohlstand, Entwicklung und Effizienz, die auf ein ewiges Später verschoben werden können.

    Historisches Paradox

    So gesehen kam es keineswegs unerwartet, dass Putin auf dem Höhepunkt der Rubelverfalls-Welle plötzlich das Lenin-Thema aufbrachte. Damit wird nicht nur die Frage unter den Teppich gekehrt, wer für die Krise verantwortlich ist. Das Thema „drohender Zerfall“ beantwortet auch die wichtigste wirtschaftspolitische Frage: Denn es ist offensichtlich, dass angesichts der massiv gesunkenen Haushaltseinnahmen und der sich verschärfenden Wirtschaftskrise eine Liberalisierung sowohl der Wirtschaftsordnung als auch der Regierungsstruktur nötig wäre, das rückt ganz von selbst auf die Tagesordnung. Nun ist es an dem reanimierten „drohenden Zerfall“ zu erklären, warum es nicht dazu kommen wird, selbst wenn die Wirtschaft darunter leidet.

    Putin folgt Gorbatschows Weg

    Und hier stoßen wir nun auf ein erstaunliches historisches Paradox:

    Im Gegensatz zu Michail Gorbatschow, der sich Ende der 1980er Jahre für eine Liberalisierung des politischen Systems entschied, hat Wladimir Putin offenbar das Gegenteil vor und will den Herausforderungen der Wirtschaftskrise mit einer Art Anti-Perestroika begegnen. Bei Lichte betrachtet folgt Putin mit seinen politischen und wirtschaftlichen Prioritäten jedoch bis zu einem gewissen Grad Gorbatschows Weg.

    Mit der Antwort auf die Frage, warum die Sowjetunion auseinanderfiel und ob dieser Zerfall unvermeidlich war, ließen sich natürlich ganze Bücher füllen. Relativ einfach und kurz lässt sich hingegen beantworten, warum ein Zerfall in der Form, wie er tatsächlich erfolgte, möglich wurde. Hauptmotor waren nicht in erster Linie politische Faktoren, sondern der wirtschaftliche Kollaps.

    REFORMWILLIGE FUNKTIONÄRE VERSCHWANDEN

    National-demokratische Bewegungen, die einen Ausstieg aus der UdSSR anstrebten, gab es Ende der 1980er Jahre nur in einigen wenigen Teilrepubliken – vor allem in den baltischen und zum Teil in den transkaukasischen Gebieten, wo diese Prozesse durch national-territoriale Konflikte angeheizt wurden. Schon in der ersten Jahreshälfte 1990 versuchten die baltischen Staaten für den Ausstieg aus der UdSSR einen praktischen und juristischen Weg zu ebnen. Entscheidend für das, was anderthalb Jahre später geschah, waren jedoch die Unabhängigkeitserklärungen von fast allen übrigen Sowjetrepubliken im Sommer und Herbst 1990, obwohl es hier kaum ernsthafte national-demokratische Bewegungen gegeben hatte und größtenteils Parteifunktionäre an der Macht waren.

    Seit Mitte des Jahres 1990 war die Erhaltung der Sowjetunion zur politischen Hauptsorge Michail Gorbatschows geworden. Ende des Jahres verlieh ihm der Kongress der Volksdeputierten außerordentliche Vollmachten im Interesse der Erhaltung der Sowjetunion. Reformwillige Funktionäre verschwanden aus Gorbatschows Umfeld, ganz im Gegensatz zu ihnen spielten dann die Silowiki eine immer größere Rolle. Anfang 1991 suchte man den Austritt der baltischen Republiken aus der UdSSR mit Gewalt zu verhindern. Außerdem wurde der aufgelöste, progressive Präsidentenrat durch einen neugegründeten Sicherheitsrat ersetzt.

    DAS EINST VERBOTENE WORT „MARKT“ ERSCHRECKTE KEINEN MEHR

    Zu diesem Zeitpunkt war im Alltagsleben zweifellos die Wirtschaft das Hauptproblem. Seit über vier Jahren waren die Erdölpreise im Keller. Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich exponentiell, es brauchte Sofortmaßnahmen. Im März 1990 arbeitete man einen ersten Plan für den Übergang zur Marktwirtschaft aus – das Programm 400 Tage. Die Wirtschaftskrise verschärfte sich so rasant, dass das noch anderthalb Jahre früher verbotene Wort „Markt“ keinen mehr ins Staunen oder Stocken versetzte.

    GORBATSCHOW WAR ZU UNENTSCHLOSSEN

    Doch mit dem Programm für den Übergang zur Marktwirtschaft wird nie begonnen. Ab Mitte 1990 beginnt ein endloses Hin und Her – eine Abstimmung in einer ersten Kommission, dann in einer zweiten, dann die Zusammenführung mit Alternativprogrammen und so weiter und so fort. Grund dafür ist die offenkundige Unentschlossenheit Gorbatschows. Die Umsetzung einer realen, wirkungsvollen Reform hätte ernsthafte Kosten verursacht und steigende Preise mit sich gebracht. Gorbatschow scheut das Risiko: Eine Preiserhöhung wäre für seine politische Beliebtheit fatal und würde seine politischen Gegner stärken. Das Thema „Erhaltung der Sowjetunion“ hingegen wirkt lebenswichtig und wie ein sicherer politischer Gewinn. Gorbatschows Einschätzung nach musste das in den Herzen der Menschen Widerhall finden.

    SEPARATISTISCHE RHETORIK

    Doch je weniger das sowjetische Geld wert war und je weniger man damit kaufen konnte, umso schneller verlor das politische Zentrum an Macht. Und umso weniger brauchten die Eliten in den Republiken die Macht von dort – sie setzten mehr und mehr eine gemäßigt separatistische Rhetorik ein, um der Zentralmacht die Verantwortung für die verschlechterte Situation zuzuschieben und sich so den politischen Einfluss in den Republiken zu erhalten.

    Die Unabhängigkeitserklärungen, die anfänglich nach hochtrabender Rhetorik und einem Tribut an die politische Mode aussahen, gewannen allmählich an Inhalt. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil den Republiken jeder Ressourcenaustausch mit dem Zentrum unvorteilhaft erschien.

    Und da haben wir es in seiner ganzen Pracht, das erstaunliche historische Paradox: Der Kampf um den Erhalt der Sowjetunion war für Gorbatschow Grund und Anlass, die Wirtschaftsreformen aufzuschieben – und letztlich war dies auch der Hauptauslöser für den Zusammenbruch der UdSSR.

    Zentripetalkraft

    Die Frage, ob eine in der Jahresmitte 1990 begonnene radikale Wirtschaftsreform den Zusammenbruch hätte verhindern können, wird für immer unbeantwortet bleiben. Doch es gibt Argumente, die für diese Annahme sprechen. Nicht in Bezug auf die baltischen Staaten natürlich, aber ein Kerngebiet aus fünf oder sechs Schlüsselrepubliken hätte durchaus erhalten bleiben können. Zumindest zeigten die jeweiligen Bevölkerungen weder 1990 noch 1991 einen ausgeprägten Willen zur Abspaltung. Aber gleichzeitig sahen sie auch keinen Grund, an der Sowjetunion festzuhalten.

    Was die bedrohte Einheit angeht, so befand sich Russland nach dem Zerfall der UdSSR in einer kaum besseren Lage als die Sowjetunion 1990. Die russischen autonomen Gebiete hatten noch vor dem Zerfall der Sowjetunion ihre Unabhängigkeitserklärungen unterzeichnet. Tatarstan führte eine Volksabstimmung durch und wollte als gleichberechtigtes Gründungsmitglied der GUS auftreten. Auch das Gebiet Irkutsk rief die Unabhängigkeit aus, die Idee einer Ural-Republik lag im ungesunden Klima des Wirtschaftschaos in der Luft und wäre 1993 beinahe Wirklichkeit geworden. Natürlich wirkte die Irkutsker Unabhängigkeit ein wenig wie fake, aber so hatten die Unabhängigkeitserklärungen Weißrusslands oder Kasachstans 1990 auch gewirkt.

    Es war weniger Boris Jelzin als Jegor Gaidar, der Russland letztendlich vor dem Zerfall rettete. Die Freigabe der Preise verlieh dem Geld wieder Kaufkraft. Trotz der hohen Inflation brauchten alle dieses Geld, weil die Menge der Dinge, die man dafür kaufen konnte, ständig wuchs. Die Perspektive, dass es eine Privatisierung geben würde, änderte die Agenda der Eliten und den Fokus ihrer Aufmerksamkeit. Die Unabhängigkeitsfrage verlor allmählich an Energie und Schärfe. Neue politische Institutionen eröffneten den regionalen Eliten die Möglichkeit zur Lobbyarbeit, um ihre Interessen umzusetzen. Und der Bevölkerung wurde klar, dass eine Unabhängigkeit die anstehenden Probleme nicht lösen würde.

    Auch dem heutigen Russland droht kein Zerfall. Aber ihm droht wohl ernsthaft ein permanenter Kampf um den Erhalt der russischen Einheit. Wie oben dargelegt lenkt man durch einen solchen Kampf in Wirklichkeit ziemlich oft von wirklich wichtigen, komplexen Problemen ab. Versucht, sich der Verantwortung zu entziehen, und macht auf diese Weise Propaganda für den Einsatz von Gewalt als angeblich einzig wirksamem Mittel. Allein diese Kombination aus versuchter Gewaltanwendung und wirtschaftlicher Schwäche ist ein hochexplosives Gemisch, das schon öfter das Fundament eines Staates gesprengt hat – das lehrt uns unter anderem die Erfahrung der Sowjetunion.

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