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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der 50-Milliarden-Dollar-Prozess

    Der 50-Milliarden-Dollar-Prozess

    Der Konzern YUKOS, in den 1990er Jahren entstanden und in den damaligen zwielichtigen Auktionen privatisiert, avancierte zunächst zu einem unternehmerischen Aushängeschild Russlands. Von 2003 bis 2006 wurde Yukos dann in einer Reihe aufsehenerregender Prozesse vom Staat zerschlagen und in staatsnahe Besitzverhältnisse überführt. Seine Gesellschafter – als prominentester unter ihnen der politisch ambitionierte Michail Chodorkowski – wurden verhaftet. Kein anderes Ereignis bündelt die wirtschaftlichen und politischen Umbrüche im ersten Jahrzehnt dieses Jahrunderts in so eindrucksvoller und dramatischer Weise.

    Zehn Jahre nach diesen Ereignissen verpflichtete ein Urteil des Ständigen Schiedsgerichts in Den Haag den russischen Staat zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von 51,6 Milliarden US-Dollar. Russische Vermögens- und Kulturwerte im Ausland könnten hierfür gepfändet werden. Russland strebt nun in einem neuen Prozess die Rücknahme dieses Urteils an. RBC, ein auf Wirtschaftsthemen spezialisiertes Internetportal, hat 800 Seiten Prozessunterlagen beider Seiten analysiert und geht hier der Frage nach: Worum und warum streiten die Parteien weiterhin?

    Zwar wird die YUKOS-Affaire auch von deutschsprachigen Medien immer wieder aufgegriffen, dieses Material von RBC bietet jedoch eine ausgesprochen vollständige Zusammenschau der letzten Ereignisse und ist dazu reich an Insiderinformationen, wie etwa über das von der russischen Seite angestrengte linguistische Gutachten.

    Um dieses komplexe Thema in der nötigen Tiefe darstellen zu können, publizieren wir zeitgleich auch mehrere speziell hierfür verfasste Gnosen.

    Laut dem Urteil des Ständigen Schiedshofs in Den Haag wurde den ehemaligen YUKOS-Aktionären Schadensersatz von russischer Seite in Höhe von 50 Mrd. EUR zugesprochen. RBC hat den Verlauf des darauf folgenden Prozesses am Haager Bezirksgericht untersucht, von dessen Ergebnis maßgeblich abhängen wird, ob die YUKOS-Aktionäre diese Summe tatsächlich beanspruchen können.

    Im Januar 2015 hatte Russland beim Bezirksgericht die Aufhebung des Haager Schiedsgerichtsurteils beantragt (RBC hat die Argumente der russischen Seite eingehend analysiert), im Weiteren wurde über den Verlauf des Prozesses nichts mehr bekannt. Im Mai 2015 jedoch haben die Aktionäre von YUKOS  (Yukos Universal, Hulley Enterprises und Veteran Petroleum, die gemeinsam etwa 70 % des Ölkonzerns kontrollieren) ihre Erwiderung auf Russlands Antrag eingereicht. Die Vertretung der russischen Seite hat Mitte September darauf schriftlich geantwortet.

    Der Zugang zu beiden Dokumenten, die zusammen mit den entsprechenden Anhängen mehr als 800 Seiten lang sind, gelang dank eines zeitlich parallel laufenden Verfahrens am District Court of Columbia in Washington DC, USA. Dort wollen Yukos, Hulley und Veteran die Anerkennung des Haager Schiedsspruchs auf dem Gebiet der USA erreichen, damit sie im amerikanischen Rechtsraum russisches Staatsvermögen sperren lassen dürfen. Russland (in diesem Prozess vertreten durch die Kanzlei White & Case) hat am 20. Oktober [2015 – dek]  beim Washingtoner Gericht beantragt, die Haager Entscheidung nicht anzuerkennen.

    Bei den Dokumenten, die Russland bei dem amerikanischen Gericht eingereicht hat (und die in die amerikanische Gerichtsdatenbank aufgenommen wurden), handelt es sich auch um Unterlagen, die die Parteien während des laufenden Prozesses am Bezirksgericht in Haag ausgetauscht haben. Im Mai hatten die YUKOS-Aktionäre (vertreten durch die Amsterdamer Kanzlei De Brauw Blackstone Westbroek) dem Gericht eine 400-seitige Antragserwiderung zugesandt. Am 16. September reichte Russland seine ebenso viele Seiten umfassende Antwort darauf ein. Wie der Vertreter Russlands, der Juraprofessor Albert Jan van den Berg dem amerikanischen Richter mitteilte, geht das Verfahren nun in die Schlussphase: Am 9. Februar 2016 finden vor dem Bezirksgericht in Den Haag die Anhörungen statt, das Urteil wird für April 2016 erwartet.

    Austausch von Liebenswürdigkeiten

    Obwohl das Haager Bezirksgericht weder imstande noch befugt ist, die Entscheidung des Schiedsgerichts zu revidieren (es können ausschließlich eng begrenzte rechts- und verfahrenstechnische Fragen verhandelt werden), haben Russland und YUKOS ihre Aussagen dazu genutzt, ihren langjährigen Propagandakrieg fortzusetzen. Die Aktionäre von YUKOS verwenden 23 Seiten ihrer Stellungnahme darauf, aus anderen Gerichtsverfahren zu zitieren (darunter die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Klagen von Michail Chodorkowski und Platon Lebedew sowie der YUKOS-Aktionäre) und Erklärungen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anzuführen, die zeigen sollen, dass „das Verhalten der Russischen Föderation gegenüber YUKOS zum Gegenstand weltweiter Verurteilung geworden ist“. Der Verteidigung von YUKOS zufolge hat „die internationale Gemeinschaft, einschließlich internationaler Organisationen, NGOs sowie weiterer Institutionen und Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens weltweit, die Angriffe der Russischen Föderation auf YUKOS und die mit ihr verbundenen Personen einhellig verurteilt“.

    In den Erklärungen der YUKOSsianer werden Persönlichkeiten aufgezählt, die öffentlich für YUKOS eingetreten sind – etwa US-Präsident Barack Obama, Ex-Präsident George Bush, Hillary Clinton, die europäischen Politiker Jerzy Buzek und Catherine Ashton, der britische Premierminister David Cameron, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie der frühere deutsche Außenminister Guido Westerwelle. Von den Persönlichkeiten aus Russland, die die Angriffe auf YUKOS verschiedentlich kritisiert haben, werden Ex-Premierminister Michail Kassjanow, der ehemalige Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow, der erste Vize-Premierminister Igor Schuwalow, der frühere Medwedew-Berater Igor Jurgens, der Wirtschaftswissenschaftler Jewgeni Jasin sowie die Oppositionspolitiker Wladimir Ryshkow und Garri Kasparow genannt.

    Ein eigenes Kapitel verwenden die Vertreter von YUKOS auch darauf, die „Missachtung des internationalen Rechts und des internationalen Systems zur Beilegung von Streitigkeiten durch die Russische Föderation“ zu illustrieren. „Die Versuche Russlands, den Haager Schiedsspruch aufheben zu lassen, passen ins Gesamtbild seines Verhaltens – nämlich, dass es Entscheidungen internationaler Gerichte und Tribunale nicht respektiert. Russland hat nicht eine Entscheidung eines Investitionsschiedsgerichts freiwillig erfüllt“, heißt es in der Erwiderungsschrift der YUKOS-Aktionäre. Als Beweis werden Beispiele angeführt, wie etwa die Weigerung Russlands, im Fall der Festsetzung des holländischen Schiffs Arctic Sunrise und der Festnahme der an Bord befindlichen Greenpeace-Aktivisten an einem Schiedsverfahren nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen mitzuwirken, oder die nur selektive Umsetzung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Russland. Die Verteidigung von YUKOS kommt zu dem Schluss, dass das laufende, von Russland beim Bezirksgericht in Den Haag angestrengte Verfahren sich konsequent in eine lange Reihe von Prozessen einfügt, in denen Russland „unbegrenzte Ressourcen“ darauf verwendet, sich der Befolgung von Entscheidungen internationaler Gerichte und Schiedsgerichte zu widersetzen.

    Russland erwidert darauf mit der Feststellung, dass der internationale Ständige Schiedshof in Den Haag „dem Einfluss unausgesetzter Lobby- und PR-Kampagnen“ der ehemaligen YUKOS-Aktionäre sowie „der russischen Oligarchen, die Yukos Universal, Hulley und Veteran kontrollieren, ausgesetzt war“. Die russische Seite weist das Bezirksgericht darauf hin, dass die früheren YUKOS-Aktionäre schon seit langem eine internationale Kampagne betreiben würden, um eine einseitige Wahrnehmung der YUKOS-Affäre durchzusetzen. So rechnet die russische Vertretung beispielsweise vor, dass die mit YUKOS verbundenen Organisationen einschließlich der in Gibraltar ansässigen GML, in den Jahren 2003–2009 nicht weniger als 3,7 Mio. US-Dollar auf Lobbyaktivitäten zugunsten ihrer Interessen in den USA verwendet hätten.

    Die Erörterung der von den YUKOSsianern so bezeichneten „Missachtung des internationalen Rechts durch Russland“ hält die russische Seite im Kontext des besagten Verfahrens für unangebracht, die Aussagen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zugunsten von YUKOS bewertet sie als politisch voreingenommen und ohne eigenständige Sachkenntnis. Russland unterstreicht noch einmal gesondert, dass das Gericht die Erklärung von Michail Kassjanow nicht berücksichtigen solle, da dieser seine Zeugenaussage beim Haager Schiedsgerichtshof später widerrufen habe (was die YUKOS-Verteidigung verschweigt).

    „Alle diese Materialien [Urteile anderer Gerichtsverfahren, Aussagen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens] stellen einen Versuch dar, die Russische Föderation durch für das Verfahren irrelevante und politisch motivierte Anklagen zu diskreditieren“, schreibt die russische Seite.

    Linguistisches Gutachten

    Russland setzt vor allem auf die Behauptung, dass die Haager Schiedsrichter, die YUKOS 50 Mrd. US-Dollar zugesprochen haben, ihr Mandat nicht in eigener Person wahrgenommen und damit ihre Berufsethik verletzt hätten, da der kanadische Jurist Martin Valasek, der offiziell nur als Assistent des Richters fungierte, entscheidenden Einfluss auf die Verhandlung genommen habe. In seiner Stellungnahme für das Bezirksgericht behauptet Russland unter Berufung auf ein vorgelegtes linguistisches Gutachten, dass der Text der Entscheidung des Haager Tribunals zum Großteil nicht von den Schiedsrichtern selbst, sondern von Valasek verfasst worden sei. Wenn dies zuträfe, wäre es ein schwerer Verstoß gegen das Mandat des Gerichtshofs, der eine Aufhebung des Urteils rechtfertigen könnte.

    Russland hat zu diesem Zweck die forensische Linguistin Carol Chaski herangezogen, die mittels statistischer Verfahren zu dem Schluss kam, dass Valasek „mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit“ (d. h. einer Genauigkeit von über 98 %) 71 % des Abschnitts zum Schadensersatz verfasst habe und dass (mit einer Fehlertoleranz von unter 5 %) 79 % des Passus zu vorläufigen Einwendungen und 65 % des Passus zu den Verbindlichkeiten von ihm stammten. Die von ihr angewandte Methode zur Autorschaftsbestimmung umfasst der russischen Verteidigung zufolge die in der theoretischen Linguistik angewandte syntaktische Standardanalyse sowie neueste statistische Verfahren. Sie wurde über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren entwickelt und unter anderem vom Justizministerium der USA gefördert.

    In dem im Januar eingereichten Prozessantrag hatte die russische Seite hervorgehoben, dass Valasek, der ursprünglich als ausschließlich für Verwaltungsarbeiten zuständig vorgestellt worden war, tatsächlich erheblich mehr Zeit auf das Schiedsgerichtsverfahren verwendet hätte als jeder der Schiedsrichter. Nach den Aufzeichnungen des Gerichtssekretärs hat er eine Rechnung über 3006,2 Arbeitsstunden ausgestellt, davon 2625 während der Hauptverhandlung. Damit ist sein Zeitaufwand um 65 % höher als der des Schiedsgerichtsvorsitzenden Fortier in der gleichen Prozessphase (1592 Stunden).

    In der Erwiderung der YUKOS-Vertreter heißt es jedoch, dass die Verdächtigungen hinsichtlich der Rolle von Valasek bei der Vorbereitung des endgültigen Urteils nicht stichhaltig seien. Sie wendet ein, dass von den Arbeitsstunden des Gerichtsassistenten während des Verfahrens nicht auf die Aufgaben geschlossen werden könne, die er in dieser Zeit wahrgenommen habe. Selbst wenn die Unterstützung durch Valasek über die Regelung rein administrativer Fragen hinausgegangen sei, handele es sich um gesetzlich zulässige Tätigkeiten, so der Anwalt der ehemaligen YUKOS-Aktionäre. Russland führt hingegen an, dass der Haager Schiedsgerichtshof sich weigert, weitere Einzelheiten der Tätigkeit Valaseks offenzulegen. Dies bekräftigt nach Auffassung der russischen Seite die Vermutung, dass der Gerichtsassistent faktisch an der Entscheidung in der Hauptverhandlung beteiligt war.

    Eine Armee von Juristen und die Taktik der Prozessverschleppung

    Die ehemaligen YUKOS-Aktionäre werfen Russland vor, den Prozess um Jahre hinausgezögert zu haben. Bei dem Schiedsgerichtsverfahren in Den Haag habe Russland eine „Armee von Juristen“ aufgefahren: Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Verfahrens waren 17 Juristen anwesend, und bei der Hauptverhandlung stieg ihre Anzahl auf 39 Personen. Dabei habe Russland alles getan, um den Prozess hinauszuzögern, so der Anwalt der YUKOSsianer.

    Die Verhandlung in dieser Sache war eine der langwierigsten in der Geschichte – es dauerte zehn Jahre, bis die YUKOS-Aktionäre ein endgültiges Urteil erwirken konnten. Der Hauptgrund für diese beispiellos lange Verfahrensdauer sei das „obstruktive Verhalten“ der russischen Seite gewesen, die versucht habe, die Verfahrensfristen zu torpedieren, und sich auch anderer Methoden der Prozessverschleppung bedient habe. Sie habe darum ersucht, den Prozess in drei separate Verfahren aufzuspalten und sich geweigert, an der Festsetzung der Verhandlungsdaten mitzuwirken, schreibt der Vertreter der ehemaligen YUKOS-Aktionäre. Schließlich wurde der Prozess in zwei Verfahren aufgeteilt, die jeweils fast fünf Jahre dauerten. Anschließend versuchte Russland, die Hauptverhandlung ein weiteres Mal zu unterteilen – in ein Verfahren zu den Verbindlichkeiten und in eines zur Frage des Schadensersatzes. Dieser Antrag wurde zwar abgelehnt, aber er führte zu drei Verhandlungsrunden, in denen Dokumente vorgelegt wurden, und zwei verfahrensrechtliche Verhandlungen, wodurch der Prozess nach Angaben des YUKOS-Verteidigers unnötig hinausgezögert wurde. Wenn dem Ersuchen stattgegeben worden wäre, würde das Schiedsgerichtsverfahren bis heute andauern.

    Eine weitere Prozessverschleppungstaktik der russischen Seite bestand den YUKOSsianern zufolge darin, dass sie Vorauszahlungen für die Inanspruchnahme des Gerichts nicht rechtzeitig leistete. Dies gefährdete die Fortführung der Verhandlungen und den Zeitpunkt der Vorentscheidung und der endgültigen Urteilsverkündung. So weigerte sich Russland zwischen Ende 2008 und Mitte 2009 – während der Vorbereitung der Vorentscheidung und der Verhandlung über die Zuständigkeit des Gerichts – seinen Anteil an den Kosten in Höhe von 750.000 Euro zu zahlen. Das hätte den Prozess fast zum Stillstand gebracht. Letztlich wurde der Betrag auf Ersuchen des Gerichts von den Klägern beglichen, denen Russland das Geld mit neunmonatiger Verspätung und erst nach zweimaliger Mahnung durch das Haager Schiedsgericht erstattete. Dieses Szenario wiederholte sich vor der Verkündung des endgültigen Urteils im Sommer 2014. Die ehemaligen YUKOS-Aktionäre hinterlegten für die beklagte Partei 250.000 Euro, von denen Russland nach Angaben der YUKOS-Vertretung 20.000 Euro noch immer nicht getilgt hat.

    Die Vertreter der russischen Seite erklären diese Verzögerung mit Verfahrensanforderungen der staatlichen Bürokratie und der Notwendigkeit, zahlreiche Genehmigungen einzuholen. Sie bestreiten kategorisch, dass Russland bewusst versucht habe, den Prozess in die Länge zu ziehen.


    Die Entschädigungen in der YUKOS-Sache in Zahlen
    114,174 Mrd. $
    an Entschädigungszahlungen haben die ehemaligen YUKOS-Aktionäre – Yukos Universal Limited, Hulley Enterprises Limited und Veteran Petroleum Limited – gefordert.
    50 Mrd. $
    muss Russland den ehemaligen YUKOS-Aktionären nach dem Urteil des Ständigen Schiedshofs in Den Haag als Entschädigung zahlen.
    1,86 Mrd. €
    Entschädigung muss Russland den YUKOS-Aktionären aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zahlen.
    300.000 €
    muss Russland den YUKOS-Aktionären als Rückvergütung ihrer Auslagen beim EGMR erstatten.
    Um 2,6 Mio. $ pro Tag
    steigt seit dem 15. Januar [2015 – dek] aufgrund des Zahlungsverzugs die gemäß der Entscheidung des Haager Schiedsgerichts an die YUKOS-Aktionäre auszuzahlende Summe.
    887 Mio. $ pro Jahr
    betragen die Verzugszinsen für Russland, wenn es die 50 Mrd. $ im Jahr 2015 nicht zahlt.
    130 Mrd. Rubel (knapp 2 Mrd. €)
    für die Zahlung der Entschädigung aus dem YUKOS-Verfahren am EGMR finden sich nicht im Entwurf für den Haushalt 2016.
    500 Mio. Rubel (7,5 Mio. €)
    sind im Haushaltsplan für das Jahr 2016 für die Zahlung von Entschädigungsgeldern im Zusammenhang mit den Entscheidungen des EGMR vorgesehen.
    1,242 Mrd. Rubel (18,6 Mio. €)
    sind im Haushaltsplan 2016 für juristische Dienstleistungen zur Vertretung der Interessen Russlands am EGMR vorgesehen.
    2,695 Mrd. Rubel (40 Mio. €)
    aus dem Haushalt sind im Jahr 2016 zur Gewährleistung des Schutzes der Interessen der Russischen Föderation „in internationalen Urteilen“ eingeplant.​

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  • Blindlings strategisch

    Blindlings strategisch

    Dank des Staatsfernsehens ist heute jeder in Russland auf dem Laufenden darüber, wieviele Raketen während der letzten 24 Stunden in Syrien abgefeuert worden sind. Geopolitik ist zum Partygespräch geworden, schafft nationale Identität und hebt das Selbstwertgefühl. Jedenfalls kurzfristig, sagt Juri Saprykin in seinem Kommentar. Denn die globale Machtverteilung wird längst nicht mehr von den Schachzügen der Militärs bestimmt: Wer sich in strategische Planspiele verrennt, stellt sich schnell selbst ins Abseits.

    In Zeiten wie diesen sind wir alle ein bisschen Geopolitiker. Noch vor einem Monat sah es so aus, als ob unsere Kenntnisse über Syrien sich auf dem Niveau der sprichwörtlichen Blondine bewegen, die fragt, wie man denn richtig schreibt: Iran oder Irak. Jetzt hingegen kann man jeden Schüler nachts um drei aus dem Bett holen, und wenn er vor dem Schlafengehen die Nachrichtensendung Wremja gesehen hat, wird er munter drauflosreden: über Hama und Homs, die Militärbasen in Latakia und Tartus, was die Saudis damit zu tun haben und was der Iran darüber denkt, und vor allem – welche Bedeutung das alles im Kontext des Großen Kriegs der Kontinente hat. Natürlich sind die Militärschläge auf die Stellungen des IS aus Sicht dieser schülerhaften Geopolitik nicht etwa deshalb wichtig, weil sie den Stellungen des IS schaden, sondern vielmehr, weil wir es denen gezeigt haben, weil man uns deshalb wieder beachtet, weil jetzt ohne uns nichts mehr geht. Und die Beachtung steigt nach dieser Logik mit der Anzahl der Bombardements: So hat etwa der Schriftsteller German Sadulajew bereits verkündet, dass der Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch den Schiffen der Kaspischen Flottille zu verdanken sei – „nur 26 Marschflugkörper – und schon interessierte sich die ganze Welt wieder dafür, was sich in der Welt der russischen Sprache und der russischen Literatur tut.“ (Ich sehe direkt vor mir, wie die Mitglieder der Schwedischen Akademie in einer außerordentlichen Sitzung panikartig slawische Namen in die Kandidatenliste eintragen und dabei aus den Augenwinkeln die Nachrichten im CNN verfolgen).

    Die schon rein rechnerischen Unstimmigkeiten dieser Interpretation (wie etwa der Umstand, dass die Kräfte der Anti-IS-Koalition im Laufe des letzten Jahres hundertmal mehr Angriffe gegen den IS unternommen hat als dies Russland bisher gelungen ist) brauchen unseren Geopolitiker nicht weiter zu kümmern – schließlich gilt: Wer im Besitz der Wahrheit ist, ist auch der Stärkere. Und er muss sich auch nicht daran erinnern, dass wir noch vor ein paar Monaten die gleichen geopolitischen Ziele (dass man uns beachten, mit uns rechnen, sich mit uns verständigen soll) in den Regionen Donezk und Lugansk verfolgt haben: Geopolitiker, auch wenn sie in die Tiefe der Jahrhunderte blicken, haben heute ein kurzes Gedächtnis. Aber stellen wir uns einmal auf den von unseren Protagonisten schmerzvoll erkämpften weltanschaulichen Standpunkt, zumal dieser ja richtig ist: Russland ist in der Tat ein zu großer und bedeutender Faktor auf der Weltkarte, als dass Fragen der globalen Weltordnung ohne seine Beteiligung entschieden werden könnten. Bringen Bombensalven auf Hama und Homs das Land diesem Status näher?

    Wer die Mitte der 80er Jahre bewusst miterlebt hat, wird es bezeugen: Gegen Ende der Sowjetzeit wurden ähnliche Ziele verfolgt (allerdings von einer ungleich eindrucksvolleren Ausgangsposition aus) – dass man uns respektieren, uns nicht bedrohen, unsere vitalen Interessen nicht verletzen, sich mit uns verständigen soll. Und in den Jahren vor der Perestroika war sehr klar, wie man diese Ziele erreichen kann: Wenn die Amerikaner anfangen, in einer für uns wichtigen Region Unruhe zu stiften, werden Waffen, im Notfall auch Truppen, dorthin geschickt; wenn Europa auf unerfreuliche Ideen verfällt, werden die Atomraketen an die äußersten Grenzen verlegt; wenn plötzlich Waffen in den Weltraum geschafft werden sollen, muss eine asymmetrische, aber gleich starke Reaktion im interstellaren Raum gefunden werden. In letzter Zeit herrscht die Ansicht vor, dass der Fall des Ölpreises der Wirtschaftskraft der UdSSR den entscheidenden Schlag versetzt hat. Dabei ist ein anderer Faktor in Vergessenheit geraten, der in dieser Zeit eine Rolle spielte: das Wettrüsten, dem die zunehmend schwächere Sowjetunion weder finanziell noch technologisch standhalten konnte. Die Erinnerung daran ist peinlich, weil das Programm „Star Wars“ ein grandioser Bluff war – die Reagan-Regierung zwang die Sowjetunion zum Wettbewerb auf einem Feld, auf dem sie gar nicht erst vorhatte, selbst anzutreten. Man hat auch deshalb keine große Lust, die Vergangenheit wieder hervorzukramen, weil unsere bereits eingetretene Zukunft zeigt: Im Wettbewerb zwischen den beiden Systemen waren letztlich nicht mehr die Pläne entscheidend, die im Generalstab oder im Pentagon entworfen wurden, sondern die Mikrochips, die bärtige junge Männer im Silicon Valley zusammenlöten. Der Gedanke, dass ausgerechnet diese leicht verpeilte Division die maßgebliche geopolitische Vormacht sichern würde, lag jenseits der Vorstellungskraft der Patriarchen im Kreml.

    Auch Sofa-Geopolitik hat ihre Zyklen, die so unerbittlich sind wie der Wechsel der Jahreszeiten: Der Begeisterungsrausch über die Stärke, die das Land plötzlich zeigt, die Überzeugung, dass Marschflugkörper absolut alle Probleme lösen, die in den sozialen Netzwerken geteilten Agitationsberichte darüber, wie Tausende von IS-Kämpfern schon beim Anblick eines russischen Flugzeugs entsetzt auseinanderrennen – all dies ist nur das erste Stadium. Am Ende wird zwangsläufig das Gefühl stehen, dass wir global übertölpelt worden sind, dass man uns in eine Sackgasse gelockt hat, aus der es keinen Ausweg gibt und uns veranlasst hat, Zeit und Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Und das wäre im Prinzip noch in Ordnung und man könnte es ruhig abwarten, wenn der Preis für diesen Weg sich nicht, wie immer in der Geschichte, in Hunderten von Leben nichtsahnender Menschen bemessen würde.

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  • Die Propagandamacher (Teil 2)

    Die Propagandamacher (Teil 2)

    Wie werden Nachrichten in Propaganda verwandelt? Das Kulturportal Colta.ru hat Erfahrungsberichte von Mitarbeitern aus dem Inneren russischer TV-Sender veröffentlicht. Hier nun der zweite Teil dieser Materialien auf dekoder.

    Sergej Semjonow (Name geändert), Producer (REN TV)

    Ich habe bei der Sendung Sonderprojekt gearbeitet und bin dann vor einem Jahr gegangen. Aber den April und Mai habe ich noch mitbekommen – wie sich die Krim abspaltete und die ersten Säuberungen nach dem Maidan anfingen. Wir hatten den Auftrag für den Film Liebling, ich mach grad Revolution! Wir wollten da das aktuelle Thema Ukraine aus einer etwas anderen, persönlichen Perspektive angehen: Wir haben alle Revolutionsführer genommen, unsere guten Jungs von der Krim und die bösen Anführer des Maidan, und wollten zeigen, wie ihre Ehefrauen sich fühlen, wenn der Mann sagt: „Liebling, ich mach grad Revolution!“, wie die Familie das erlebt.

    Natürlich haben wir bei den bösen Figuren nicht nach guten Eigenschaften gesucht – dass sie eine Ehefrau, Kinder und eine Mutter haben – sondern nach einer Geliebten, nach abträglichen Seiten im Privatleben. An die Anführer der antirussischen Revolution heranzukommen war für russische Sender völlig unmöglich. Wir konnten unser Aufnahmeteam nicht dorthin schicken. Eine Akkreditierung hatten nur die Nachrichtenredaktionen. Alle anderen, auch Dokumentarfilmer, wurden damals wie heute nicht in die Ukraine gelassen. Also mussten wir uns was ausdenken. Deshalb wurde alles über Freelancer erledigt, aber kein ukrainischer Freelancer wollte etwas mit russischen Sendern zu tun haben.

    Als wir an einem Beitrag über den mittlerweile toten Musytschko alias Sascha Bilyj arbeiteten, haben wir uns einer jungen Freelancerin nicht als russischer, sondern als amerikanischer Sender vorgestellt. Wir haben gesagt, dass wir ihn als dynamischen Menschen zeigen möchten, der gut ist und Gutes will. Kurz, wir haben sie angelogen.

    Es war schwierig, Leute vom Maidan vor die Kamera zu bekommen. Aber diese Freelancerin kannte Musytschko persönlich und hat einen Termin mit ihm organisiert gekriegt, zwischen zwei Veranstaltungen. Er hat sich natürlich in gutem Licht dargestellt, aber wer sich mit Schnitt auskennt, weiß, dass man alles so zusammenschneiden und montieren kann, wie man es gerade braucht. Eine große Hilfe dabei war sein Background: Auf öffentlich zugänglichen Videos benahm er sich wie ein Verbrecher, mit Maschinenpistole schnappt er sich Beamte und packte sie bei der Krawatte. Das alles haben wir mit den Gesprächsaufnahmen gegengeschnitten, in denen er mit seinem bedrohlichen, vernarbten Kopf zu sehen ist und erzählt, wie nett und puschelig er ist, wie sehr er das Angeln, Eichhörnchen und seine Liebste mag. Außerdem haben wir noch ein Video hervorgeholt (das erstmals einige Tage zuvor auf NTW gezeigt worden war – Anm. Colta), in dem jemand auf dem Boden liegt, der dem armen Musytschko von weitem sehr ähnlich sieht, dahinter ein Mädchen im Sessel, die ihm mit einem schwarzen Stiefelabsatz ins Gesicht tritt – so Sadomaso-Zeug. Diese Bilder haben wir zwischen zwei Aufnahmen gepackt, in denen er besonders eifrig einen auf netter Kuschelbär macht – das Ergebnis war ein Porträt eines kompletten Perverslings.

    Als wir das alles zusammengeklatscht hatten, kriegte ich plötzlich große Angst: Was wird denn jetzt mit dieser armen Freelancerin, die das Ganze organisiert hat? Musytschko war ja knallhart – sein Großvater war Nationalist und Verfolgter [während der stalinschen Repressionen – dek], sein Vater ist da im Norden, im Lager aufgewachsen und hat dann später gesessen. Der Hass auf die Sowjetmacht war bei ihm erblich bedingt, er verband sie mit der russischen Besetzung der Ukraine. Für ihn waren die Russen immer schon Feinde und alle, die gegen sie sind, Freunde. Wir hatten echt Angst: Wenn er sieht, was wir da bringen, schlägt er diese Freelancerin ganz einfach tot, mit einer Eisenstange auf den Kopf und das war's.

    Die Sendung sollte am Mittwoch kommen. Am Montag haben wir angefangen zu überlegen, wie wir die Freelancerin da raushauen, haben einen ausführlichen Plan gemacht, aber in der Nacht auf Dienstag wurde er erschossen. Und so kam es, dass wir das letzte Interview mit ihm hatten – über sein Privatleben und Sexualexzesse.

    Das Einzige, was ich bei seinem Tod spürte, war Erleichterung wegen des Schicksals der Journalistin. Ich bin ein gläubiger Mensch, ich hatte gebetet: „Gott, wie kann ich sie retten? Gott, soll diese Sünde wirklich auf meiner Seele lasten? Für mich ist das einfach nur noch ein Film, aber sie wird erschlagen und Schluss.“ Aber die himmlische Hand hat alles gefügt, obwohl wir danach im Studio noch lange rumgescherzt haben, dass ich den Mord an Musytschko bestellt habe.

    Bei unserer Sendung änderte sich vor allem das Themenspektrum: Vor den aktuellen Ereignissen waren unsere Hauptfeinde solche wie die Rothschilds, Morgans und die ganze übrige Verschwörung des Weltkapitals, das uns mal mit schlechtem Essen vergiftet, mal den Ölpreis erhöht oder senkt. Als die Ereignisse in der Ukraine anfingen, wurde aus dem allgemeinen ein konkreter Feind. Aber das Redaktionsklima bei den Produktionen hat sich nicht verändert. Alles war wie immer, wir haben zur üblichen Zeit Mittagspause gemacht und zur üblichen Zeit die Bahn genommen. Bei uns waren auch Leute beschäftigt, die aus dem Donbass oder der Ukraine stammten, aber sie hatten keinerlei Probleme damit, die Dinge im gewünschten Licht darzustellen. Journalisten und Prostituierte unterscheiden sich nur dadurch, dass die einen es mit dem Körper tun und die anderen mit dem Kopf. Auch unsere finanzielle Lage hat sich nicht verändert. Das gibt es nur in schlechten Propagandafilmen: „Sie werden jetzt besser bezahlt und laufen schneller.“ Warum sollte ein Arbeitgeber das tun? Die Sendezeit bleibt gleich, der Produktionsumfang bleibt gleich. Es gibt einfach nur ein neues Brennpunktthema. Aber natürlich war das viel interessanter zu bearbeiten als die Rothschilds und Rockefellers. Es gab hier weniger Hirngespinste und mehr echten Stoff, emotionaleres Material.

     

    Stanislaw Feofanow, Producer (NTW, REN TV, TWZ)

    Zu Beginn der Ereignisse in der Ukraine habe ich für Die Woche gearbeitet, bei Marianna Maksimowskaja, von der Besetzung des Maidans bis zum Abzug der [ukrainischen – dek] Truppen von der Krim. Die Sendung unterschied sich sehr von dem ganzen Mist, der sonst auf REN TV lief. Wir haben versucht, objektiv zu berichten. Ich weiß noch, als das Regionalverwaltungsgebäude in Donezk besetzt wurde, sprachen wir erst mit den [separatistischen – dek] Milizen und fuhren dann viele Kilometer, um mit den ukrainischen Militärs zu reden. Ich staune immer, wenn erzählt wird, dass man nicht von zwei Seiten aus filmen kann. Alles geht, man muss es nur wollen! Ich erinnere mich, wie Puschilin uns erzählte: „Die Soldaten aus Kiew fressen der hiesigen Bevölkerung die Haare vom Kopf.“ Wir dachten: Ja, interessante Geschichte. Wir fuhren in ein Dorf, sprachen mit den alten Mütterchen dort, und die sagten: „Niemand wird armgefressen, wir kommen gut miteinander aus.“ Dann gingen wir zu den Soldaten, sie gruben gerade einen Panzer ein. Wir dachten, dass die uns auf der Stelle festnehmen, aber sie sagten gleich: „Wir können gern reden, worum geht‘s? Ob wir den Leuten was wegfressen? Ach wo, wir haben doch eine Feldküche.“ Während des Gesprächs kamen zwei Autos vorbei – in einem brachten Einheimische den Soldaten Borschtsch, im anderen wurde leckerer Speck rangekarrt. Wenn du natürlich mit der Vorstellung ankommst, dass hier Strafkommandos sind – mit denen braucht man gar nicht erst zu reden, ihre Gesichter sprechen für sich – dann sehen die Bilder hinterher auch so aus. Aber bei uns wurden die Themen ausgewogen dargestellt, wir haben beide Seiten zu Wort kommen lassen.

    Ich kann mich an keine Fälle von direkter Zensur bei der Woche erinnern. Die Leitung des Senders hat vielleicht bestimmte Fragen mit Marianna diskutiert, aber ich habe so etwas nicht mitbekommen. Trotzdem war klar, dass die Sendung an einem seidenen Faden hing, das Ende der Woche kam nicht unerwartet. Nach dem Abschuss der Boeing wurde es völlig unmöglich, so zu berichten, wie wir es bisher getan hatten. Aus allen Kanälen dröhnte und polterte es über die Junta, die Strafkommandos, die das Flugzeug abgeschossen hätten. Wir waren gerade im Urlaub, als die SMS von Marianna kam: „Liebe alle! Es ist soweit, unsere kleine, stolze Sendung wird abgesetzt. Vor uns liegt eine schöne neue Welt, in der das Leben anders sein wird.“ Heute arbeiten einige aus dem Team als Freelancer, andere gar nicht, wieder andere sind im Nachrichtenbereich von REN TV geblieben. Ich habe einen Kompromiss gefunden.

    Die Sendung Die Verteidigungslinie bei TWZ, bei der ich jetzt arbeite, ist ein Grenzfall. Es gibt bei uns Filme wie Die fünf Versprechen von Poroschenko, aber sie sind eher ironisch als propagandistisch. Ich selbst mache Beiträge zu abseitigeren Themen. Direkte Propaganda zu drehen, wird mir nicht angetragen, und ich würde das auch nicht machen. Ich hab jetzt Angebote vom Film und sollten die mir im Sender sagen: „Du musst das und das tun“, dann werd ich sagen: „Müssen muss ich gar nichts, auf Wiedersehen.“

    Natürlich ist die Verteidigungslinie nach der Woche ein Rückschritt. Aber was soll man machen? Man muss ja irgendwie leben. Ein Haufen talentierter Leute finden für sich beim Fernsehen keinen Platz mehr, wie zum Beispiel Roman Super oder Andrej Loschak, der kürzlich in einem Interview gesagt hat: „Vielen jungen Journalisten sagt mein Name vielleicht nichts mehr, weil ich vom Bildschirm verschwunden bin.“ Und Wadim Kondakow ist zu einem beschissenen Wirtschaftsforum gefahren, um dort Werbung zu drehen. Ich habe Angebote von den Sendern LifeNews und Swesda gekriegt, aber damit will ich gar nichts zu tun haben.

    Bei TWZ muss ich mich nicht verbiegen. Aber mir passt es nicht, dass im Umfeld unserer Arbeit zweifelhafte Sachen ausgestrahlt werden – keine regelrechte Propaganda, aber mit einem deutlichen Beigeschmack. Für mich ist das Fernsehen nicht mehr kreativ. Das betrifft vor allem die Themenwahl. Es gibt eine Zensur unter dem Deckmäntelchen: „Das Thema bringt keine Quote.“ Ich habe vorgeschlagen, darüber zu berichten, wer an den Bändchen und Schirmmützen zum 9. Mai verdient hat. Die haben teilweise 300 Rubel pro Stück gekostet – bei 100.000 Käufern sind das 30 Millionen Rubel. Also lasst uns einen Film darüber machen, wie man mit dem Patriotismus Geschäfte macht. Nein, das bringt keine Quote. Wir machen lieber was über eine russische Wanga, irgendein altes Mütterchen, das Vorhersagen macht. Bei TWZ werden von einem Dutzend Themen, die dich reizen, bestenfalls ein oder zwei genehmigt, ansonsten muss man an Sachen arbeiten, die man nicht mag.

    Vor REN TV war ich zusammen mit Katja Gordejewa und Andrej Loschak bei Beruf – Reporter auf NTW. Wir haben dort aufgehört, als sie nach unserem Film über die Proteste 2011–2012 die Daumenschrauben angezogen haben. Die Sendung ist praktisch gesprengt worden. Geblieben ist nur die Marke – sie wird zwar immer noch gesendet, aber gemacht wird sie von der NTW-Leuten aus der Kriminalabteilung. Wir hatten gehofft, dass die Demonstrationen, die Welle der Empörung den Niedergang aufhalten würde, dass sie den Damm brechen würde und daraus ein freies Fernsehen entsteht. Damals hatten die Leute noch zwischen NTW als Sender und der Sendung Beruf – Reporter unterschieden. Doch einer der letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten, war ein Gespräch auf der Kundgebung Beerdigung von NTW am Ostankino-Gebäude. Ich wurde gefragt, wie ich mich als anständigen Menschen betrachten kann, wenn ich da arbeite, wo Anatomie des Protests gemacht wird. So ein Gefühl wie „Wem haben wir da nur den Sender überlassen?“ kam gar nicht erst auf – es war schon klar, wem.

    Wer beim Ersten Kanal und bei Rossija 24 richtige Propaganda macht, dem ist alles sonnenklar. Hypotheken, Schulden, Probleme zu Hause. Trotzdem kann ich das nicht nachvollziehen. Ich bin in einer ähnlichen Lage: Ich lebe in einer Mietwohnung, im Herbst werde ich einen Kredit für eine Wohnung aufnehmen, aber ich begreife nicht, wie man den Leuten Scheiße in die Ohren kippen kann. Ich muss in solchen Fällen immer an meine Mutter denken. Sie ist sowieso schon so gehirngewaschen, dass ich manchmal nicht weiß, worüber ich mit ihr reden soll, außer über Haushalt. Bei ihr läuft dauernd der Fernseher, Kisseljow schwadroniert, Mamontow orakelt, und ich denke mir: „Wie kann ich bloß meine eigene Mutter belügen?“ Ich merke, dass ich auch mein Scherflein dazu beitrage.

    Früher haben wir über die Leute gelacht, die die Kriminalsendungen bei NTW machen. Es war widerlich, wenn ein irgendein Korrespondent unter irgendeinem Vorwand in eine Wohnung eindrang und das dann landesweit ausgestrahlt wurde und die Mitkowa allen eine Mail schickte: „Schaut mal, Leute, was für coole Arbeit die Kriminalabteilung abgeliefert hat!“ Wir dachten: Das geht nicht – Sicherungen rausdrehen, damit die Leute dir die Tür aufmachen, und dann alles mit versteckter Kamera aufnehmen. Aber die, die so etwas nicht fertigbrachten, wurden von einer Welle skrupelloser Journalisten schlichtweg verdrängt.

    In dieser Zeit jetzt denkt man nicht so sehr an Status als vielmehr ans Gewissen. Wie kann man sich in die Augen schauen? Wenn man in den Spiegel blickt. Du wachst morgens auf und denkst: „Gestern habe ich ja ganz schön Blabla produziert, was?“ Und kannst du damit weiterleben? Aber die meisten tun das natürlich.


    Diese Gespräche mit Mitarbeitern russischer Fernsehsender wurden aufgezeichnet und für Colta zum Druck vorbereitet von Dimitri Sidorow.

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  • Die Propagandamacher (Teil 1)

    Die Propagandamacher (Teil 1)

    Russland informiert sich aus dem Fernsehen, doch das Fernsehen liefert nicht nur Information. Das Kulturportal Colta.ru veröffentlichte im August eine Serie von Berichten aus dem Inneren der staatlichen TV-Sender, in denen Mitarbeiter schildern, wie Nachrichten in Propaganda verwandelt werden. Wir bringen Teile dieser Serie auf dekoder.

    Die folgenden Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK wurden aufgezeichnet von Alexander Orlow und Dimitri Sidorow. Orlow war stellvertretender Chefredakteur der Fernsehsender Rossija 24 und Rossija 2 und wurde im Juli 2013 wegen facebook-Postings entlassen, die Alexej Nawalny unterstützten. Er plant nun ein Buchprojekt zu den Arbeitsumständen bei den Staatssendern und hat uns [dem Internetprojekt Colta, Anm. dek.] einen Teil seines Materials im Voraus zur Verfügung gestellt.

    Ein ehemaliger Mitarbeiter der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK berichtet:

    Im Februar 2014 gab es eine Besprechung, bei der der Chefredakteur sagte, der Kalte Krieg fängt an. Nicht der Informationskrieg – der lief schon längst, darüber wussten sowieso alle Bescheid. Sondern so ein richtiger Kalter Krieg, etwas, das den meisten wie ein Atavismus vorkam. Er sagte, es beginnt eine Epoche, gegen die die 70er und 80er Jahre Kinderkram waren. Deshalb sollten sich die, die da nicht mitmachen wollten, besser gleich ein anderes Betätigungsfeld suchen, außerhalb des Nachrichtensenders. Und für alle anderen gilt: Welcome to the Club. Gegangen sind nur ein paar und auch nicht sofort, allmählich, nach und nach, ohne groß Porzellan zu zerschlagen oder ein Drama draus zu machen. Respekt für ihre Haltung und ihren klaren Kopf. Alle anderen sind geblieben.

    Die Leute im Top-Management waren ja nicht dumm. Alle heiklen Fragen wurden im engsten Kreis besprochen und nicht auf den großen Redaktionskonferenzen mit 25–30 Ressort- und Abteilungsleitern. Nach den Freitags-Briefings im Kreml kamen die Chefs zurück in den Sender, holten ihre engsten Vertrauten zusammen und hielten Besprechungen ab, zu zweit oder dritt. Sie legten die Kernthemen fest. Dann wurde alles nach unten weitergegeben. Die Politik im Sender war völlig undurchschaubar. Auch das war Teil des Kalten Krieges – alles lief extrem verschlossen ab, keinerlei offene Diskussionen.

    „Junta“, „Ukropy“ oder „Banderowzy“: Diese Begriffe sollten die Moderatoren benutzen – die, die vor der Kamera stehen. Extra für sie wurden solche Formulierungen bei den Treffen im engen Kreis zurechtgeschnitzt. Aus dem Mund des Chefredakteurs habe ich sie nie als Vorgabe gehört. Auf den Redaktionskonferenzen wurde eine Agenda formuliert. Es war klar, dass die Berichterstattung zur Ukraine voll aufgedreht werden sollte – unbedingt je eine Geschichte pro Tag von der Krim, aus Donezk und aus Kiew. Im März 2014, nach dem Referendum, war die übliche Ansage: jeden Tag mindestens ein neues Thema von der Krim, möglichst mehr. Jeden Tag musste berichtet werden, wie die Krim sich entwickelt, wie Wissenschaft und Gewerbe florieren und wie der Wohlstand und die Freude unserer neuen Mitbürger wachsen.

    Die Frage, von welcher Seite man das beleuchten sollte und ob man diejenigen erwähnt, die unzufrieden sind, stellte niemand, das war sinnlos, wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Das Gleiche mit den Korrespondenten. Sie erfüllten eine rein technische Funktion – der richtigen Person das Mikro hinhalten, das richtige Statement aufnehmen, die richtige Info rausbringen.

    Die, die im Kriegsgebiet waren, die Kriegsberichterstatter, konnte man menschlich verstehen. Erstens wurden sie von ihren großen und kleinen Chefs mit massiver Propaganda zugedröhnt. Zweitens: Wenn du an der Front bist und auf dich geballert wird, dann hasst du nach ein, zwei oder drei Wochen die, die auf dich schießen – und die Jungs hockten dort anderthalb bis zwei Monate ohne Pause. Klar, dass sich in ihren Berichten die Akzente verschoben. Es gab aber moderate Korrespondenten, die aus einer Mücke keinen Elefanten machten. Wenn eine Granate fiel, sprachen sie auch von einer und nicht von einem Bombenteppich.

    Wie schon gesagt, alles wurde von Hand kontrolliert. Als die ersten Minsker Gespräche liefen und es hieß, dass wohl irgendein Frieden kommt,  gab es ein Verwendungsverbot für die Wörter „Faschisten“, „Banderowzy“ oder „Junta“. Danach schwang das Pendel zurück und alles ging von vorn los. Als Strelkow anfing, Städte einzunehmen, standen ihm sämtliche Kanäle offen, er wurde rauf- und runtergesendet. Später musste er dann weg aus dem Scheinwerferlicht, und wir haben ihn einfach nicht mehr so oft gezeigt.

    Die Propagandamaschine brachte es im Zusammenhang mit diesem Krieg zu unglaublichen Zuschauerzahlen. Die Quoten von Rossija 24 stiegen immer weiter – auf das Anderthalb-, Zwei- und Dreifache der Zeit vor dem Krieg. Wir beide wissen ja, Fernsehleute sind Adrenalinjunkies. Plötzlich ist Krieg. Richtiger Krieg – mit Blut, zerfetzten Eingeweiden und Einschlaglöchern von Geschossen im Boden und den Häusern. Kann sein, dass manche das als Spiel sahen, so was Postmodernes. Andere hatten einfach begriffen, dass sich damit richtig Kohle machen lässt – nicht mit dem Krieg als solchem, sondern damit, ihn im richtigen Licht darzustellen: Dass man so letztlich neue Hebel in die Hand kriegt und neue Finanzströme anzapfen kann. Und die setzen alles daran, ihr Ziel zu erreichen.

    Es tauchten auch sofort eine Menge Freelancer auf, die uns zugearbeitet haben, ein Haufen kleiner Produktionsfirmen. Sie haben Videos gemacht, keine besonders guten: Jemand schickte einen 45-minütigen Film über Donezk, in dem einfach Milizen hin- und herlaufen und rauchen, mit schlecht verständlichen Livepassagen und Synchronisierungen. Absolut wertlos, selbst unter Propagandagesichtspunkten, einfach verworrenes Zeug à la schlechtes Autorenkino. Und das wurde zur Primetime gesendet und am Wochenende viermal wiederholt. „Was soll dieser Mist?“, habe ich gefragt und kriege als Antwort: „Alter, du kapierst das nicht, das bringt Riesenquoten.“

    Anders als beim Krieg mit Georgien war das perfekt vorbereitet, ganz systematisch. So eine Vorbereitung ist nicht innerhalb von drei Tagen oder bei einer einzigen Besprechung zu machen. Das waren Wochen, Monate und Jahre.

    Einen Krieg der Sender untereinander, also einen Wettbewerb, gab es schon nicht mehr. Aus der Präsidialverwaltung kam die Anweisung: Schluss. Jetzt geht’s nicht mehr darum, wer hier der Tollere ist und mehr Exklusivmaterial hat. Exklusivbeiträge gingen nur dort, wo der eine die Großmutter von jemandem gefunden hat und der andere den Großvater von jemand anders. Alles andere floss zusammen in einen einzigen massiven Strom. Alle haben wild alles untereinander ausgetauscht – Bildmaterial, Sprecher, Kontakte. Alles wurde ein großes Ganzes. Aus unterschiedlichen Holdings, unterschiedlichen Aktionären, unterschiedlichen Medienstrukturen entstand ein gemeinsamer Propaganda-Organismus.

    Im Sender kamen keinerlei Diskussionen auf. Manchmal emotionale Ausbrüche im Raucherzimmer – aber auch das nur zwischen Leuten, die sich einigermaßen vertrauten. Nicht jeder redete mit jedem. Ein Klima des Misstrauens – die ständige Möglichkeit, dass jemand denunziert. Aber alle wussten eh alles voneinander. Der Chefredakteur kannte meine Überzeugungen, lud mich zu Besprechungen gar nicht erst ein, ihm war klar, dass ich da etwas nicht mögen würde. Mir war das absolut recht.

    Von den wirklich überzeugten Leuten, wie Mamontow oder Semin, die das alles tatsächlich glauben, gibt es nicht so viele. Im Grunde genommen sind alle so ähnlich wie Dimitri Kisseljow, Stufe-50-Trolle oder wie auch immer er sich da nennt. 40–50 Prozent von ihnen waren auf dem Bolotnaja-Platz, ihnen war das Ganze absolut zuwider. Aber gekündigt haben sie nicht, aus ganz trivialen Gründen – die Familie, Kredite. Außerdem war allen klar, dass man nirgendwohin wechseln kann. Manche haben ihren Kummer im Wein ersäuft, andere Drogen genommen. Oder sie haben sich stattdessen in die innere Emigration begeben, am Wochenende Bücher gelesen und versucht, alles von Montag bis Freitag zu vergessen. Für mich selbst war das alles – ich scheue das Pathos nicht – eine Tragödie. Mir war klar, dass ich mich seit anderthalb Jahren mit ziemlich beschämenden Sachen beschäftigte.

    Aber 25 % waren überzeugt und glaubten, dass sie das Richtige taten. Ich und meine Freunde – die echten, nahen, von denen die allermeisten nichts mit dem Fernsehen zu tun haben – wir haben uns sofort darauf geeinigt, über dieses Thema einfach nicht zu sprechen. Allen ist klar, in welcher Scheiße wir stecken, was im Land vor sich geht. Da muss man nicht noch weiter Salz in die Wunden streuen. Aber wenn du das Zeug selbst produzierst und innerlich nicht so stark bist, dann fängst du womöglich nach einer Weile an, es zu glauben. Die 86 % Zustimmung für Putin sind ja schließlich real.

    Meine persönliche, nur durch meine Gefühle belegte soziologische Analyse ist: 50 % der Leute im Sender waren ähnlich wie ich, 25 % waren überzeugt und den restlichen 25 % ist einfach alles komplett egal. Wenn Chodorkowski an die Macht käme und seinen Sender aufbauen würde, würden sie dort arbeiten – und wenn ein Faschist an die Macht käme, dann eben für den … Diese Leute wären, wenn sich die Lage mal grundsätzlich ändert, nicht in der Lage, zu einem normalen Journalismus und zu normalen Standards zurückzukehren – einfach deshalb, weil sie sie gar nicht kennen. Irgendwann wird man die alle durchsortieren müssen, aus dem Beruf werfen. Man muss völlig neue Leute auswählen und sie anders ausbilden.

    Ehemaliger Mitarbeiter im Nachrichtenbereich der WGTRK:

    Freitags um 12 Uhr mittags gab es ein Briefing im Kreml, zu dem alle Chefredakteure kamen. Der Chefredakteur unseres Senders erhielt einen gedruckten Plan, in dem alles stand: Wie und was und wer als Experte eingeladen werden sollte. Praktisch eine Anleitung, ein Stapel A 4-Blätter, 1 Zentimeter dick. Bei dieser Besprechung notierte der Chefredakteur Anmerkungen, die Korrekturen wurden direkt mit Bleistift eingetragen. Ich erhielt einen Teil dieses Stapels und arbeitete danach wie nach Plan.

    Die Besprechungen im Kreml wurden von verschiedenen Leuten geleitet. Ganz früher war das Alexej Alexejewitsch (Gromow – Anm. der Red.). Bei Surkow bin ich mir nicht sicher. Dann hat Dimitri Sergejewitsch (Peskow – Anm. der Red.) sie abgehalten. Als er anfing, war das zunächst ganz in Ordnung. Aber später kam man nicht mehr einfach so an ihn heran – hier per Brief, dort mit extra Anmeldung. Es entstand eine Art Kult um Peskow, er verhielt sich à la Putin – das bin ich. Er hat das nie gesagt, aber es wirkte so. Alexej Alexejewitsch hat dagegen immer gesagt: „Leute, wendet euch an mich, ich helfe bei allem, was nötig ist.“

    Jetzt gab es plötzlich „Telefonkonferenzen mit Peskow“, morgens und abends. Ich weiß nicht, ab wann. Ich glaube, es war frühestens zwei Wochen nachdem Putin zuerst verschwunden und dann triumphal zurückgekehrt war. Die liefen über die direkte Regierungsleitung, das gelbe Wählscheibentelefon. Da geht etwas vor sich. Keine Ahnung, was, ich bin zum Glück nicht dabei.

    Früher gab es bei unserer Arbeit keine großen Veränderungen. Man hatte das Gefühl, alles ist ruhig und friedlich, und dann kamen plötzlich ohne Ende Instruktionen von oben. Inzwischen gibt es immer Anrufe von oben oder nach oben, wenn im Sender solche Entscheidungen und derartige Fragen besprochen werden. Der Chefredakteur kann frei entscheiden, ob über einen Unfall im Moskauer Umland berichtet wird oder nicht. Aber was die große Politik, Krieg und Frieden, angeht, hat er keine Freiheit.

    Zum Beispiel war da diese Parade in Serbien. Nicht direkt zu Ehren von Putin, zu Ehren des Sieges [im Zweiten Weltkrieg; dek.]. Aber Putin war, sagen wir mal, anwesend, auch wenn er sich etwas verspätete. Die Parade war wirklich flott, wahnsinnig schön. Rossija 24 nahm das Signal vom serbischen Fernsehen auf und übertrug es nach Moskau. Die Serben hatten alles organisiert, wir nur eine Dolmetscherin für den Moderator der Parade besorgt. Es gab lediglich eine kleine Beschwerde, weil die Dolmetscherin eine Frau war. Der Chefredakteur war gerade nicht da, aber sein Stellvertreter. Der Chefredakteur hatte ihm vorher gesagt: „Wir zeigen die Parade so und so lange, dann gehen wir raus und machen Bild im Bild weiter.“ Offenbar hatte er diese Frage nicht abgestimmt, und es passierte Folgendes: Die Parade läuft, sie ist wirklich gewaltig, niemand hätte das erwartet. Und dann macht der stellvertretende Chefredakteur, was sein Chef ihm gesagt hat: Er lässt die Parade eine Zeitlang übertragen und verlegt sie dann in ein kleines Fensterchen.

    Da bricht die Hölle los, Dobrodejew ruft drei oder vier Mal an und brüllt wie von Sinnen, dass die Parade sofort wieder gezeigt und bis zum Ende übertragen werden soll. Zugleich regt er sich über die weibliche Dolmetscherin auf – warum übersetzt kein Mann? Es gab einen derartigen Zirkus wegen dieser Parade … Wir haben natürlich alles rückgängig gemacht und die Parade bis zum Schluss übertragen. Danach gab es wieder Anrufe: „Wie konntet ihr nur, was macht ihr da eigentlich für Mist?“ Die Festreden waren lange vorbei, er (Putin – Anm. der Red.) war längst nach Mailand weitergeflogen, und wir übertrugen immer noch. Bitte sehr, die Entscheidung hat der Chefredakteur getroffen – und obwohl er eigentlich Herr über den Sender ist, hatte er falsch gelegen und kriegte aufs Dach.

    Einmal haben wir über ein Arbeitstreffen zwischen Putin und dem kirgisischen Präsidenten berichtet, das noch gar nicht stattgefunden hatte. Die Sache ist die: Früher gab es die Richtlinie, dass wir Veranstaltungen, an denen der Präsident teilnimmt, nicht ankündigen, mit Ausnahme bedeutender und internationaler oder wichtiger nationaler Anlässe, zum Beispiel mit der Botschaft an die Föderalversammlung. Bei regulären Arbeitstreffen wird weder die Region bekannt gegeben, in der sie am Folgetag stattfinden, noch irgendetwas anderes. Solche Treffen wurden nur äußerst selten und auf besondere Weisung vorher angekündigt. In der Regel haben wir am gleichen Tag darüber berichtet, und fast immer im Nachhinein. Es hatte einmal ein Riesenproblem gegeben, als der Korrespondent während einer Liveübertragung sagte, dass das Flugzeug gelandet sei, obwohl es noch gar nicht gelandet war. Es ging um einen Unterschied von fünf Minuten, aber es war ein höllischer Skandal. Bei der Sache mit Kirgisistan war die Dame, die im Sender darüber berichtete, ohnehin keine große Leuchte. Sie schreibt selbst kaum Texte, sondern beschäftigt sich lieber mit ihrem Make-up. Die Regel, dass nichts vorab angekündigt werden darf, hatte sich ihr mit den Jahren fest eingebrannt, nachdem sie deshalb früher schon Ärger gehabt hatte. Und nun sah sie plötzlich die im Futur formulierte Meldung, dass das Treffen voraussichtlich nächste Woche stattfinden wird und sagte aus alter Gewohnheit „stattgefunden hat“. Und als es weiter unten im Text hieß „sie werden besprechen“, machte sie daraus in Gedanken „haben besprochen“.

    Die manuelle Kontrolle erstreckte sich sogar auf die Wettervorhersage, es gab dazu direkte Anweisungen. Zum Beispiel, dass sofort der führende Meteorologe Wilfand eingeladen werden muss, damit er sagt, dass ein furchtbarer Winter bevorsteht und wir alle frieren werden. Man fragt: „Und was, wenn kein kalter Winter kommt?“ Denn es sieht eher nach einem milden Winter aus. Aber es gibt die allgemeine Tendenz, auf der Abhängigkeit der anderen herumzureiten. „Wartet nur, bald drehen wir euch den Gashahn ab, und ihr werdet alle frieren.“ Also war die ständige Leier: „Uns steht ein kalter Winter bevor.“

    Auch bei den Briefings hieß es ständig: „Veranstaltet mehr Höllenzauber!“ Da kommt zum Beispiel von oben die Anweisung, dass eine Kamera gebraucht wird, bei irgendeiner Veranstaltung, und die Leute in der Besprechung fragen: „Was sollen wir denn da machen? Das ist doch ziemlich öde.“ Ein Kulturzentrum einer Botschaft organisiert eine Lesung – natürlich fragt man sich: Wozu braucht es da eine Kamera? Weil dort bestellte Leute hinkommen und eine Show inszenieren. So kann etwa irgendein passender Historiker auftauchen und losbrüllen: „Sie versuchen, unsere Geschichte umzulügen!“ Man trommelt arme alte Leutchen zusammen, die seit Jahren zu solchen Anlässen gehen und schickt eine Kamera und eine bestimmte Person, faktisch einen Provokateur.

    Die TV-Fragestunde des Präsidenten wird überwiegend von der WGTRK organisiert. Vom Ersten Fernsehprogramm, von der WGTRK, jeder kriegt seinen Anteil. Eine Abordnung fährt vorher zur Präsidialverwaltung und durchläuft mehrere Instruktionsrunden – zum Was und Wie und dazu, welche Regionen und Städte ausgewählt werden. Dort fahren dann Kamerateams hin, eine Menge verschiedener Leute sind vorher da, laufen mit den Gouverneuren und anderen herum, organisieren Treffen mit den passenden Leuten, wählen Themen aus, alles wird hundert- und tausendfach abgestimmt. Es gibt eine sogenannte Voraufführung, wie beim Theater für die Mamas und Papas. Eine komplette Durchlaufprobe. Putin nimmt nicht daran teil, aber Peskow. Er beantwortet natürlich keine Fragen an Putins Stelle, aber er kontrolliert alles. Ein Aufnahmeteam stellt den Ablauf ungefähr nach. Leute, die dabei waren, haben mir gesagt, dass sie wie vor den Kopf geschlagen waren. Sie seien regelrecht vor Scham gestorben, weil alte Leute mit ihren Fragen zum Aufnahmeteam kamen und gar nicht daran zu denken war, diese Fragen in die Sendung aufzunehmen.

    Die Sache ist die, dass es das Fernsehen als solches nicht mehr gibt. Selbst wenn du im Kulturressort arbeitest, sagen sie dir: „Diesen Regisseur unterstützen wir, aber den da nicht“. Du kannst dich entweder damit abfinden und lächeln oder nicht mehr arbeiten und weggehen – wenn das Niveau endgültig in den Keller geht und dir klar wird, dass du nicht mehr bleiben kannst.

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  • Zerfall eines Konzerns: ein Szenario

    Zerfall eines Konzerns: ein Szenario

    Wladislaw Inosemzew ist ein bekannter Wirtschaftswissenschafter und Soziologe liberaler Prägung. Er war in Führungspositionen verschiedener Banken tätig und engagierte sich zuletzt immer wieder auch unmittelbar politisch. In diesem Artikel, der monatelang zu den meistgelesenen Materialien des russischen Internets gehörte, vergleicht er die russische Staatswirtschaft mit einem Unternehmen, dessen Gewinn von nur wenigen Nutznießern abgeschöpft wird und dessen erstarrte Strukturen nicht mehr auf Veränderungen des Umfelds reagieren können. Inosemzew glaubt, dass Russland nicht politische Revolutionen bevorstehen, sondern ein Abgleiten ins Chaos, wenn der Konzern zerfällt und keine Auffangstrukturen geschaffen werden.

    Die dramatischen Ereignisse an der Wirtschaftsfront Ende letzten Jahres haben Experten zu Äußerungen über eine mögliche Palastrevolution, eine soziale Explosion oder ähnliche Geschehnisse veranlasst, die in nächster Zukunft eine drastische Richtungsänderung in der Entwicklung Russlands bewirken könnten. Mir scheint, dass solche Überlegungen auf einer ungerechtfertigten Überschätzung des Potenzials sowohl der Bevölkerung als auch der Eliten in Russland beruhen. Weder diese noch jene sind derzeit in der Lage, gemeinsam überlegt zu handeln oder auch nur projektorientiert zu denken. Deshalb wird der Zerfall des Regimes, wenn es in Zukunft (und zwar einer nicht allzu nahen) zum Scheitern verurteilt ist, meiner Ansicht nach sehr viel banaler und alltäglicher verlaufen.

    Ein effektiver Konzern im Sinne seiner Stakeholder

    Russland wird unter Wladimir Putin wie ein Großkonzern verwaltet, dessen Geschäftstätigkeit ganz und gar der Bereicherung seiner Manager dient. Die Aktionäre (als die man mit gewissen Einschränkungen die Bevölkerung des Landes bezeichnen könnte) erhalten ein paar Boni – genug, um auf den von Zeit zu Zeit pro forma durchgeführten „Hauptversammlungen“ keine unerwünschten Fragen zu stellen. Der „Konzern“ Russland setzt – wie jeder andere auch – die ihm optimal erscheinende Anlagestrategie um, bildet Reserven, versucht, sich im Wettbewerb mit konkurrierenden Unternehmen durchzusetzen, und tauscht von Zeit zu Zeit die Führungskräfte aus. Durch den Verkauf seiner Waren auf dem Weltmarkt generiert er große Geldflüsse. Dabei hat der besagte Konzern jedoch ein Problem, welches sich offenkundig nicht im Rahmen des von seinen faktischen Eignern als ideal und unwandelbar betrachteten Modells lösen lässt.

    Dieses Problem besteht nicht etwa in ineffektiver Führung. Das wird von den jetzigen Liberalen zwar gern mantraartig wiederholt, hat jedoch sehr wenig mit der Realität im Land zu tun. Um zu verstehen, ob ein System effektiv ist, muss man seine eigentlichen Ziele kennen. Russland wirkt nur dann ineffizient, wenn man es als gegeben sieht, dass das Ziel darin besteht, das Wohlergehen der Bevölkerung zu steigern und die Wirtschaft auf Basis einer innovationsorientierten Ordnung zu entwickeln. Bis auf politische Sonntagsreden weist jedoch nichts darauf hin, dass das tatsächlich der Fall ist. Beurteilt man das System hingegen danach, dass es in erster Linie maximalen Ertrag aus der Rentenökonomie schlagen und äußerst unverhältnismäßig zu Gunsten der führenden Klasse umverteilen soll, dann sieht es höchst effektiv aus. In keinem Land der Welt haben sich die Beamten und die ihre Interessen vertretenden Oligarchen, die ja auch die letztendlichen Nutznießer sind, so schnell und in derart großem Umfang bereichert; nirgendwo haben so offenkundig unprofessionelle Personen derartige Erfolge erzielt. Also wird Russland sehr wohl effektiv geführt, nämlich so, dass alle Interessen der herrschenden Klasse befriedigt werden und sie weiterhin das Land ausplündern kann.

    Unflexibilität verhindert ein Reagieren auf Veränderungen am Rohstoffmarkt

    Das Problem ist anders gelagert. Jedes Unternehmen muss Gewinn abwerfen. Dieser ergibt sich aus der Differenz von Verkaufseinnahmen und Betriebskosten. Ein modernes, flexibles Unternehmen sollte im Idealfall beide Komponenten kontrollieren – die erste durch Absatzsteigerung, Einführung neuer Produkte und Preisanpassungen, die zweite durch die Reduzierung von Anzahl und Kosten der eingesetzten Ressourcen. Russland ist jedoch ein unflexibles Unternehmen, das weder die eine noch die andere Option hat.

    Die wichtigsten Rohstoffe, die das Land heute produzieren kann, sind Erdöl, Gas, Kohle und Metalle. Deren Produktionsaufkommen ist in den letzten 25 Jahren nicht gestiegen. Selbst im Rekordjahr der Erdölgewinnung, 2014, wurden mit 527 Mio. Tonnen 4,5 % weniger aus dem Erdinneren gepumpt als 1989 in der RSFSR.

    Beim marktfähigen Gas wurde ein moderates Wachstum von 5,4 % verzeichnet, bei Kohle ein Rückgang um 14 %, beim Stahl um 22 %. Diese Entwicklung fand statt, während der Verbrauch der besagten Ressourcen weltweit um jeweils 37 %, 78 % und 64 %  bzw. um das 2,05-fache stieg und unsere Wettbewerber ihr Produktionsvolumen sehr stark erhöhten (Kasachstan produziert heute 3,5-mal so viel Öl wie 1989 und Katar 26-mal so viel Gas wie Ende der 80er Jahre). Doch Russland ist nicht nur nicht in der Lage, die Liefermenge zu erhöhen, sondern verfügt zudem auch nicht über neue Technologien (im Gegensatz etwa zu den USA mit ihrer Schiefergasgewinnung, Kanada mit seinem Ölsandabbau und sogar Japan, das am Meeresboden aufgelöste Erdgasvorkommen fördert). Und natürlich kontrolliert Russland auch nicht die Preise für die von ihm produzierten Güter – nicht zuletzt aufgrund seiner Unfähigkeit, Abkommen mit Partnern zu schließen, aber auch, weil es sich seit Jahren weigert, seine langfristigen Verträge auf Spotmarkt-Verkäufe und die Beförderung über Pipelines auf Seetransporte umzustellen. Der Konzern „Russland“ ist somit nicht fähig, die inneren und äußeren Herstellungs- und Absatzbedingungen seiner grundlegenden Erzeugnisse zu ändern.

    Zugleich zeigt sich, dass der Konzern auch seine eigenen Betriebskosten nicht unter Kontrolle hat. Bei einem praktisch unveränderten Produktionsaufkommen in fast allen Feldern (bis auf Handel, Bankdienstleistungen, Mobilkommunikation und einige andere Branchen) sind die Kosten für die Basisressourcen auf dem Binnenmarkt von 2000 bis 2013 um das 8–16-fache des US-Dollarpreises, das Durchschnittseinkommen um das 13,5-fache, die Renten um das knapp 18-fache und die Kosten für die Aufrechterhaltung der eigenen Sicherheit (durch die Ministerien für Inneres und Verteidigung) um das 10,7-fache gestiegen. Die Führung des Landes sagt oft, dass sie keine Reduktion der Finanzierung der geschützten Haushaltsposten plant, und das darf man ihr glauben: Die Folgen eines solchen Schrittes könnten katastrophal sein. Die einzige Option ist die Abwertung der Verbindlichkeiten gegenüber den Mitarbeitern des Konzerns – die Präsident Putin in diesem Herbst genehmigt hat. Und dann stellt sich die Frage, wie sehr diese Abwertung letztlich den Betrieb der restlichen Systemkomponenten verteuert, deren Nutznießer es nicht gewohnt sind zu sparen (und auch die Frage, ob Renten und Gehälter angesichts einer Inflation von 30 % nicht fieberhaft angeglichen werden müssen, bleibt offen). Die Wirtschaft kennt keine Beispiele dafür, dass ein Konzern überlebt hätte, dessen Umsatz auf die Hälfte bis ein Drittel sinkt und der praktisch keinerlei Kostenschnitte vornehmen kann.

    „Wenn der Geldfluss ins Stocken kommt, verliert die Herrschaft Russlands ihren Sinn.“

    Die Schlussfolgerung ist einfach. Ein unflexibler Konzern, der mit der Situation konfrontiert ist, dass die Preise für seine Produkte beständig sinken und weder die Produktion diversifiziert noch die Kosten gesenkt werden können, geht dem Ruin entgegen. Erst entledigt er sich eines Teils seiner internen Verpflichtungen, dann hört er auf, externe Verbindlichkeiten zu bedienen, bis er entweder – unter normalen Bedingungen – unter den Schutz des Insolvenzrechts fällt (wie er in den USA durch Chapter 11 garantiert wird) oder – unter abnormalen Bedingungen – von seinen Wettbewerbern zerstört wird. Ein Staat kann weder den ersten noch den zweiten Weg gehen, doch es geht hier auch nicht um das Schicksal eines Landes, sondern um das Verhalten seiner herrschenden Klasse.

    Über die letzten fünfzehn Jahre hat sich die Politik in Russland untrennbar mit dem Business verflochten. Sie ist heute die rentabelste Form des Unternehmertums. Die Bürokratie kontrolliert direkt und indirekt einen Großteil der Wirtschaft – weniger durch den Besitz von Vermögenswerten, als über die Regulierung der Geldflüsse. Wenn der Geldfluss ins Stocken kommt, verliert die Herrschaft Russlands ihren Sinn. Der Kampf um die Macht im jetzigen System ist ein Kampf um die Kontrolle über das Geld. Wenn Macht jedoch keinen Reichtum mehr einbringt und nur noch für Verantwortung steht, wird sie nicht nur für die heutige russische Führungsriege nicht mehr interessant sein, sondern – so fürchte ich – auch für die meisten ihrer Gegner aus dem liberalen Lager.

    Eben deshalb, so scheint mir, wird ein Zusammenbruch des Regimes (der nur bei und infolge einer weiteren Verschlechterung der Wirtschaftslage möglich ist) weder von Massenprotesten noch von Palastrevolutionen begleitet sein. Es ist nicht bekannt, dass man sich auf sinkenden Schiffen an die Gurgel gegangen wäre, um für die letzten ein oder zwei Stunden das Steuer zu übernehmen. Passagiere und Besatzung fallen in solchen Situationen entweder in Schockstarre und gehen unter, oder sie versuchen jeder für sich, das eigene Leben zu retten und die besten Plätze in den Rettungsbooten zu besetzen – und je pöbelhafter die Gesellschaft sich ausnimmt, desto öfter geschieht Letzteres. Die Kontrolle über ein Unternehmen, das keinen Gewinn bringt, ist sinnlos, und deshalb – um es noch einmal zu sagen – wird die Kommandobrücke des sinkenden Schiffes ganz einfach verlassen werden.

    Nur gesellschaftliche Transformation kann die Entstehung von Chaos verhindern

    Etwas Ähnliches ist in unserem Land schon vor einem Vierteljahrhundert geschehen, als die Strukturen der Sowjetmacht praktisch keine Kontrolle über Geldflüsse und Vermögenswerte gewährleisteten. Die Macht ging damals sofort auf andere, schon bestehende Strukturen über, die zuvor nicht bedeutend schienen. Die heutige Situation unterscheidet sich in wenigstens drei Punkten von damals. Erstens sind keine entsprechenden Reservestrukturen vorhanden (ein Zerfall Russlands ist wenig wahrscheinlich). Zweitens sind die Möglichkeiten, aus dem System auszusteigen, sehr viel einfacher und vielfältiger (es gibt mehr Geld, die Grenzen sind offen). Drittens ist der Appetit des Repressionsapparats weitaus größer. Das bedeutet: Das entstehende Chaos wird erstens nicht von kleinräumigeren Organisationsstrukturen aufgefangen; zweitens wird es an den zu seiner Überwindung benötigten qualifizierten Führungskräften fehlen, weil diese sich lieber zurückziehen oder ausreisen; drittens wird der Krieg aller gegen alle wegen der zahlreichen skrupellosen und gierigen Silowiki besonders grausam ausfallen. Und deshalb werden die 90er Jahre, von deren Wiederkehr man jetzt zu sprechen beginnt, als eine vergleichsweise passable Zeit erscheinen, was das Ausmaß der sozialen Erschütterung angeht.

    Der einzige – wenn auch schwache – Trost ist, dass nur eine solche radikale Zerstörung die Wiedererrichtung des „Konzerns“ Russland in einer weiteren Gestalt verhindern und Ausgangspunkt für die Entstehung einer normalen Gesellschaft sein kann, die von unten aufgebaut wird und in der eine harte Führung nicht als Segen gilt, sondern als Bedrohung, nicht als Beschützer, sondern als Feind. Einen anderen Weg in die Zukunft als die konsequente Vollendung der Transformationen der 90er Jahre gibt es in Russland nicht. Und man möchte glauben, dass sich hierzulande Menschen finden werden, die – nicht jetzt, sondern aus dem bevorstehenden Chaos heraus – Wege für den Aufbau einer neuen russischen Gesellschaft sehen. Denjenigen Vertretern der Elite, die es vorziehen, allein sich selbst zu retten, kann man hingegen nur noch raten, bei ihrem Abgang das Licht hinter sich zu löschen. Im Hinblick auf die meisten der jetzigen Landesherrscher würde ich sagen: Dies ist dies das Beste, was sie tun können.

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    Die Vertikale der Gewalten

    Pawel Tschikow, Gründer und Leiter der Menschenrechtsorganisation AGORA, analysiert, wie der Geheimdienst alle Organe der Rechtsordnung unter seine Kontrolle gebracht hat.

    Vorige Woche hielt Wladimir Putin die Jahresversammlung des FSB ab und gab den Mitarbeitern der Staatssicherheit folgende Worte mit auf den Weg: „In diesem Jahr werden Arbeitsbelastung und Verantwortung wachsen. Und Ihre Aufgabe wird es sein, die Effektivität in allen Tätigkeitsbereichen zu steigern.“ Dass heute niemand anders als der FSB in allen Tätigkeitsbereichen oberster Willensvollzieher des Kreml ist, steht außer Zweifel. Die früheren Unterschiede und Zuständigkeitsgrenzen zwischen den Behörden sind ausgelöscht.

    Der Wettbewerb um die Macht ist beendet

    Es gibt keine Checks and Balances und keinen Wettbewerb mehr – nicht nur zwischen den verschiedenen Staatsgewalten, sondern auch unter den Silowiki. Im Jahr 2006 hatte eine Periode der Auseinandersetzungen begonnen: zwischen Verteidigungsminister Sergej Iwanow und Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow, zwischen dem Leiter des FSB Nikolai Patruschew und dem Leiter der Drogenkontrollbehörde (FSKN) Viktor Tscherkessow, zwischen Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow und Generalstabschef Juri Balujewski, zwischen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika und dem Chef des Ermittlungskomitees (SKR) Alexander Bastrykin – seit dem letzten Jahr ist sie beendet.

    Durch Gerüchte über ihre Abschaffung wurde der Drogenkontrollbehörde und dem Föderalen Migrationsdienst deutlich signalisiert, dass ihre Existenz an einem seidenen Faden hängt. Der Leiter des Föderalen Strafvollzugsdienstes Gennadi Kornijenko wartet seit über einem Jahr auf einen Bescheid zu seinem Rücktrittsgesuch. Die Rede von einer Entlassung des Innenministers Wladimir Kokolzew hält sich hartnäckig. Justizminister Alexander Konowalow erhält im Herbst mit Sergej Gerassimow einen ersten Stellvertreter zur Seite gestellt, der aus der Präsidialverwaltung kommt und faktisch die Leitungsbefugnisse übernimmt. Die Leiter des Ermittlungskomitees, des Innenministeriums und der Generalstaatsanwaltschaft treten, außer bei Gremiensitzungen ihrer Behörden, seit über einem Jahr nicht mehr öffentlich auf.

    Der FSB regelt den Rechtsvollzug

    Die Befugnis für den Rechtsvollzug liegt unterdessen ausschließlich beim FSB. Die Frage der Schuld einer bestimmten Person entscheidet sich im Augenblick ihrer Festnahme. Die Verwertung der bei operativen Ermittlungen gewonnenen Informationen hat nicht nur den längst sinnlos gewordenen Strafprozess ersetzt, sondern sogar die gerichtliche Vorermittlung.

    Mittlerweile wird das Internet nicht mehr von der Aufsichtsbehörde Roskomnadsor reguliert – jedenfalls nicht faktisch. Vielmehr ist es der FSB, dem der Präsident aufträgt, „die russische Internetsphäre auch weiterhin von illegalen, kriminellen Materialien zu säubern und dafür die modernen Technologien aktiver zu nutzen“ (Zitat aus einer Rede auf eben jener Jahresversammlung). Für die Kontrolle von NGOs ist nicht, wie im entsprechenden Gesetz vorgesehen, das Justizministerium zuständig – der FSB soll „auch weiterhin auf die Existenz von ausländischen Finanzierungsquellen bei Nichtregierungsorganisationen achten, ihre in der Satzung festgelegten Ziele mit der praktischen Arbeit vergleichen und jeglichen Verstoß unterbinden“ (gleiche Quelle).

    Für Ordnung auf dem Devisenmarkt sorgte früher die Finanzaufsicht der Zentralbank. Jetzt obliegt es der Staatssicherheit, „Versuche dunkler Machenschaften an den russischen Aktien- und Devisenmärkten, die zu Kurssprüngen führen und das Finanzsystem des Landes überhitzen, aktiver aufzudecken und zu vereiteln“.

    Das Ermittlungskomitee, das dem Innenministerium über lange Zeit immer mehr Prozessvollmachten und eine immer umfassendere Zuständigkeit für Strafrechtsfälle abgerungen hat, befasst sich heute im Grunde nur noch mit der Bearbeitung von Unterlagen für die operative Ermittlungsarbeit des FSB. Die einzige nach wie vor aktive operative Einheit des Innenministeriums ist das Zentrum zur Bekämpfung des Extremismus, das letztlich ebenfalls der Polizeiabteilung des FSB zugeordnet ist.

    Die Inhaftierung des Leiters der Vollstreckungsbehörde wegen des Diebstahls von 300 Millionen Rubel ist ein Verdienst des FSB. Die Festnahme der Personen, die den Mord an Boris Nemzow ausgeführt haben – ein Verdienst des FSB. Die Durchsuchungen bei Nationalisten in Moskau – ebenfalls. Die krasse Zunahme an Verfahren wegen Spionage, Anstiftung zum Extremismus und Verletzung der territorialen Integrität – FSB, FSB, FSB.

    Aufstieg der Geheimdienste unter Putin

    Auf den ersten Blick nichts Neues – gleich nach Putins Regierungsantritt wurden massenweise Leute mit Geheimdienstvergangenheit rekrutiert. Über seine gesamte erste Amtszeit hinweg gelangten Mitarbeiter der Staatssicherheit in Schlüsselpositionen von Staatsapparat und Wirtschaft. Eben dies war das Ziel der ersten Phase: Die Höhen einnehmen und die Stellung ausbauen. In der zweiten, langen Etappe ging es dann darum, zu beobachten und Informationen zu sammeln. Die Präsidentschaft von Dimitri Medwedew eignete sich besonders gut zum Beobachten und Aufspüren potenzieller Bedrohungen. Man ließ ihm freie Hand und nahm letztlich diejenigen ins Visier, die an die Liberalisierung glaubten und sich hervortaten – in der Politik, in der Wirtschaft und unter den Beamten. Inzwischen läuft die dritte Phase: die praktische Verwertung der gewonnenen Informationen. Die von der neuen Staatsduma in den Jahren 2012 und 2013 vorbereiteten Gesetze liefern die nötige Grundlage für diese umfassende Operation.

    So gesehen gibt es für die Verschwörungstheorien, denen zufolge irgendjemand hinter all diesen Vorgängen stecken müsse, eine recht einfache Erklärung. Der FSB hat vom Präsidenten grünes Licht für die Nutzung vorhandener operativer (sprich: kompromittierender) Informationen erhalten.

    Jetzt gibt es nur noch ein einziges Entscheidungszentrum – unter den Silowiki hat sich eine Hierarchie herausgebildet, angeführt vom Geheimdienst, der wiederum sämtliche verfügbaren Ressourcen mobilisiert hat. Die Kontrolle der Grenzübertritte läuft über die Grenztruppen. Die Kontrolle der Finanzströme über die Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring. Die Kontrolle der NGOs über das Justizministerium. Die Kontrolle des Internet über die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor. Und gerade erst haben sich das Innenministerium und die Drogenkontrollbehörde verpflichtet, Rechtsvorschriften, die ihre operative Arbeit regulieren, mit dem FSB abzustimmen.

    Nachdem Putin Präsident geworden war, hatte die Machtkonzentration begonnen. Den größten Einfluss erhielten diejenigen, die die Vorermittlungen in entscheidenden Strafprozessen leiteten – gegen Gussinski, Chodorkowski und so weiter. Über die gescheiterten Präsidentschaftsambitionen von Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow ist viel geschrieben worden. Und um das politische Gewicht der Generalstaatsanwaltschaft zu verringern, wurden ihr nach und nach die Ermittlungsaufgaben entzogen. Und allein die Ermittlungsbefugnis ohne weitere Vollmachten genügte dem Leiter der Ermittlungsbehörde Bastrykin um innerhalb weniger Jahre zum vielleicht größten politischen Schwergewicht zu werden. In den Jahren 2012–2013 bestimmten mehr und mehr Durchsuchungen, Verhaftungen und Ermittlungen in politischen Verfahren die Tagesordnung in Russland. Der Sprecher der Ermittlungsbehörde, Wladimir Markin, wurde zum wichtigsten Sprachrohr der Innenpolitik. Aber Vorermittlungen und Gerichtsverhandlungen über Ingewahrsamnahmen rufen zwangsläufig auch auf Seiten der Verteidigung Aktivitäten hervor. Beschwerden wegen Folter, Anträge auf Fachgutachten, Kommentare von Journalisten, Hungerstreiks von Angeklagten, Ohnmachtsanfälle, Notarzteinsätze im Gerichtssaal, Berufungen und Anrufungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – all das erzeugt ständigen Rummel und Gegenwind in den Medien. Zudem ließ sich durch solche Aktionen in der Regel die Situation der Angeklagten verbessern.

    Ermittlung statt Rechtsprechung: Der FSB kann heute gegen jede beliebige Person in der Russischen Föderation ein Strafverfahren mit garantierter Festnahme und Verurteilung einleiten

    Und so folgt nun die nächste Metamorphose. Die Entscheidung der Schuldfrage wird in ein noch früheres Verfahrensstadium verlagert. Ein Stadium, in dem der Zugang zu Dokumenten verboten ist und Informationen ein Staatsgeheimnis darstellen. In dem der Verteidiger keinerlei Rechte hat. Es geht um operative Ermittlungsarbeit – wer hat wem was gesagt und weitergetragen, Dienstberichte über Dienstberichte. Der gerichtliche Vorermittler sammelt dann nur noch die ihm vorliegenden Ermittlungsunterlagen und legt eine Strafprozessakte an. Die Erfindung ist nicht neu.

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auf Beschwerden von Verurteilten hin Dutzende einschlägiger Strafverfahren wegen Drogenmissbrauchs untersucht. Er stellte fest, dass sich in ihnen die Schuldfrage wegen angeblichen Drogenhandels im Moment der Festnahme entscheidet. Als Begründung dienen Informationen aus der operativen Ermittlungsarbeit, Berichte der Fahnder, Daten von Informanten, abgehörte Telefongespräche. Die Einleitung einer operativen Ermittlung, die Einhaltung der Gesetze bei der Informationsbeschaffung und die Entscheidung über die Verwertung der gewonnenen Informationen werden von niemandem wirksam kontrolliert, so der Straßburger Gerichtshof. Weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht tun dies, obwohl sie offiziell dazu verpflichtet sind.

    Der Betroffene hat in den folgenden Phasen – in der gerichtlichen Vorermittlung oder im Gerichtsverfahren – keinerlei Möglichkeit, anfängliche Befunde zu entkräften und ihre Unrichtigkeit zu beweisen. Einfach gesagt, kann der FSB heute so ungehindert wie nie gegen jede beliebige Person in der Russischen Föderation ein Strafverfahren mit garantierter Festnahme und Verurteilung einleiten. Die Behörde hat in den vergangenen Jahren eine ungeheure Menge an Informationen gesammelt und bereits grünes Licht für ihre Verwertung erhalten. In eben diesem Sinn ist die Rede von Wladimir Putin auf der letzten Jahresversammlung des FSB zu verstehen.

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