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  • FAQ zum Revolutionsgedenken 1917

    FAQ zum Revolutionsgedenken 1917

    Wann enden Revolutionen? In welchem Sinne war die Revolution „groß“? Und wieso ist sich in diesen Fragen keiner einig? Olga Filina hat ein FAQ zur Revolution zusammengestellt – renommierte Historiker antworten.

    Demonstranten in Petrograd im Juli 1917 / Foto © Wikipedia/gemeinfrei
    Demonstranten in Petrograd im Juli 1917 / Foto © Wikipedia/gemeinfrei

    1. Wann enden Revolutionen?

    2. Es gibt keine gemeinsame Lesart der Ereignisse. Woran liegt das? Ist die Politik schuld?

    3. Inwiefern war die Revolution „groß“?


    1. Wann enden Revolutionen?

    „Manche sind der Ansicht, dass Revolutionen so lange fortdauern, wie Historiker darüber streiten und ebenso Schriftsteller, Bildhauer und andere ‚ehrenamtliche Gedächtnishelfer‘“, sagt der Historiker Alexander Etkind. Er ist Professor am European University Institute in Florenz und leitete [2011 bis 2013 – dek] das Forschungsprojekt Memory at War: Cultural Dynamics in Poland, Russia and Ukraine (MAW).

    François Furet, einer der führenden Historiker in der Forschung zur Französischen Revolution, schrieb anlässlich ihres zweihundertsten Jahrestages: „Die Revolution ist so lange nicht abgeschlossen, wie kein nationales Einvernehmen über sie hergestellt ist.“

    Historiker haben versucht, eine Drei-Generationen-Regel aufzustellen, die besagt, dass Einvernehmen zwischen ehemaligen Feinden drei Generationen nach einer Katastrophe erreicht wird. De facto weiß jedoch niemand, wie viel Zeit im konkreten Fall erforderlich ist.

    Allgemeine Ratlosigkeit

    Auch wir wissen offenbar nicht, ob uns die vergangenen hundert Jahre dafür ausgereicht haben. Russland hat sich dem hundertsten Jahrestag zu 1917 mit Ratlosigkeit genähert: Was feiern wir? Wie sollen wir gedenken?

    Auf offizieller Ebene heißt es, der tragische Jahrestag sei versöhnlich zu begehen. Doch weder ist dieser Vorschlag neu – schon Jelzin hat den 7. November zum Tag des Einvernehmens und der Versöhnung umgewidmet – noch ist klar, was er bewirken kann.

    Wer soll mit wem versöhnt werden? Und vor allem, worüber wurde damals gestritten? Und weswegen werden heute die Klingen gewetzt? Darüber gehen unsere Vorstellungen immer noch weit auseinander – trotz aller Versuche, eine „einheitliche Version der Geschichte“ zu schaffen. Und so will das mit dem Jubiläum nicht so recht klappen.

    Die Revolution am besten vergessen

    „Irgendwann träumte die neue russische Führung davon, die Revolution komplett vergessen zu machen“, so Boris Kolonizki, Professor an der Europäischen Universität Sankt-Petersburg. „Als Vorbild galt bei uns in den 1990er Jahren der spanische Pakt des Vergessens, der nach Francos Tod 1977 geschlossen wurde. Er untersagte beiden Bürgerkriegsparteien, in der Vergangenheit herumzuwühlen. Heute ist jedoch offenkundig, dass sich diese Strategie nicht bewährt hat, weder in Spanien noch in Russland. Der Pakt funktioniert vorne und hinten nicht – das Bedürfnis nach Vergangenheitsbewältigung ist stärker.“

    Alle mit allen zu versöhnen, ohne in Details zu gehen, und „keine historischen Rechnungen aufzumachen“, wie es die Historische Gesellschaft Russlands klar vermerkt hat, die für die Vorbereitung der diesjährigen Jubiläumsaktivitäten zuständig ist – das ist de facto eine Neuauflage der Strategie des Vergessens.

    Man muss der Revolution den Zündstoff nehmen. Das ist womöglich der Haupt-Konsens der postsowjetischen Eliten in Russland, der in den politischen Wünschen an die „Architekten des Gedenkens“ dokumentiert ist.

    Zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution hat Boris Jelzin diesen Wunsch auf denkbar einfache und aphoristische Art und Weise ausgedrückt. Statt den 7. November zu feiern, so empfahl er seinen Landsleuten, sollten sie doch besser Sauerkraut einlegen, die Fenster abdichten und sich auf den Winter vorbereiten – als ob nichts gewesen wäre.

    Befriedung durch Totschweigen?

    Jelzin wusste es vielleicht nicht, doch die Taktik der Befriedung durch das Totschweigen brisanter Themen ist den Menschen seit der Antike bekannt. So erfanden etwa die alten Athener nach dem Peloponnesischen Krieg, der den zerbrechlichen Frieden zwischen den wichtigsten griechischen Stadtstaaten zerstört hatte, ein neues Gebot des Vergessens, eine neue Bezeichnung: me mnesikakein (Nicht an Übles erinnern). Danach war es bei Strafe verboten, öffentlich an das Leid zu erinnern, das eine Seite der anderen zugefügt hatte.

    Landesweite Lähmung

    Angst vor solcher Strafe für das bloße Gedenken kennen die heutigen russischen Staatsbürger nicht. Gleichwohl sind sie nicht in der Lage, über schwierige und tragische Dinge zu reden. Sie haben es verlernt, können es nicht, haben es nie versucht. Deshalb führt ein Jahrestag, bei dem es nichts zu feiern gibt, aber etwas Wichtiges zu würdigen ist, bis heute landesweit zu einer Starre. Man ist unfähig, die Sache zu verdauen und zu einer „gemeinsamen Lesart“ zu gelangen.


    2. Es gibt keine gemeinsame Lesart der Ereignisse. Woran liegt das? Ist die Politik schuld?

    Tatsächlich hat die Revolution im postsowjetischen Russland nie Eingang in die Sprache der Mächtigen gefunden. Sie war eine zu starke Metapher.

    „Anfangs, in den 1990er Jahren, wurde der Oktober als Geburtsstunde des Kommunismus verurteilt – wobei die Kommunisten natürlich weiterhin die traurige alte Leier vom Beginn eines neuen Zeitalters anstimmten“, so der Gedenkforscher Nikolaj Kopossow, Gastprofessor an der Universität Emory. „Dann, in den 2000er Jahren, verdammte man die Revolution als Akt des Landesverrats und erzählte davon, wie Lenin auf einem Berg deutschen Goldes im plombierten Waggon nach Russland zurückgekehrt sei. Die Revolution war die ganze Zeit ein heikles Gesprächsthema …“

    Schlimmer noch – sie war ein unkontrollierbares, antagonistisches, ja, extremistisches Thema.

    „Der Punkt ist, dass die Kulturpolitik und ihr kleiner, aber wichtiger Teil, die Gedenkpolitik, weniger zentralisiert sind als andere Bereiche der Außen- und Innenpolitik“, so Alexander Etkind. „Selbst in einer Diktatur fügen sich die Menschen dem Willen des Herrschers ebenso wenig wie unsere Träume sich unseren Wünschen fügen. Künstler, Romanautoren, Journalisten und nicht zuletzt professionelle Historiker prägen das kulturelle Gedächtnis stärker als Minister oder Institutsdirektoren, auch wenn deren Budget noch so groß ist“, befindet Nikolai Kopossow, und sagt weiter:

    „Was heute im kulturellen Gedächtnis Russlands vor sich geht, wird daher nicht allein durch die Regierungsdirektiven und Maßnahmen staatlicher Institute bestimmt. Sondern zum Beispiel auch durch einen Doktoranden, der herausfindet, wo sein Großvater zu Tode kam, oder durch einen Aktivisten, der an einem Haus, aus dem vor 80 Jahren Menschen abgeführt und in den Tod geschickt wurden, eine kleine stählerne Gedenktafel anbringt.

    Auch die anderen Aktivisten spielen eine wichtige Rolle – diejenigen, die Ausstellungen verwüsten oder Ranglisten von ‚Russophoben‘ aufstellen. Hier ist alles voller Leben, die Zusammenstöße sind äußerst heftig …“

    In den 1990er Jahren wurde der Oktober als Geburtsstunde des Kommunismus verurteilt – In den 2000er Jahren verdammte man die Revolution als Akt des Landesverrats

    Man kann sich leicht denken, wie ungemütlich es für die Verkünder von Versöhnung und Harmonie in einer solchen Atmosphäre ist. Und wie oft hat die Revolution unsere Politiker in den vergangenen 25 Jahren nicht schon in die Enge getrieben!

    Kaum hatten die Demokraten der 1990er Jahre versucht, sie an die Peripherie des Gedächtnisses zu verbannen, als der 7. November sich aufbäumte – mit Märschen der kommunistischen Opposition, die ihren wichtigsten Feiertag in ein mächtiges Symbol der russischen Sehnsucht nach Großmachtstellung verwandelt hatte, in ein Symbol für den Verlust des großen Landes.

    In den 2000er Jahren besann sich die Regierung und sprach dann selbst von diesem großen Land. Olga Malinowa, Professorin an der Higher School of Economics und Forschungsprojektleiterin am INION, weist darauf hin, dass Wladimir Putin im Jahr 1999 – damals noch als Ministerpräsident – in einer Rede vor Studenten der Staatlichen Universität Moskau sehr deutlich seine Einstellung zur Revolution von 1917 zum Ausdruck gebracht hatte. Die diente dann auch in den kommenden Jahren als Leitmotiv: „Weshalb hat in Russland die Revolution von 1917 stattgefunden – oder der Oktoberumsturz, wie sie auch gern genannt wird? Weil die Staatsgewalt ihre Einheit eingebüßt hatte.“

    Es überrascht nicht, dass sich in der vom neuen Präsidenten ausgerufenen Doktrin der totalen Kontinuität alles Mögliche unterbringen ließ: die demokratische Trikolore ebenso wie der zaristische Doppeladler oder die Melodie der sowjetischen Hymne. Doch nie hätte sich ein Platz für die Revolution gefunden, welche die Machtvertikale zum Einsturz gebracht hatte. Deshalb wurde ihr Mitte der 2000er Jahre das Prädikat „groß“ aberkannt. Im Kalender stand nur noch „Tag der Oktoberrevolution“, und der offizielle Feiertag wurde auf den 4. November verlegt – den Tag der Einheit des Volkes.

    Schließlich wurde im Kampf gegen die Revolutionsromantik das schwere Geschütz des 9. Mai aufgefahren. Der offiziellen Interpretation zufolge (vom Präsidenten verkündet im Jahr 2012)  hatte der 7. Oktober einen „Akt des Landesverrats“ nach sich gezogen: die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die die Bolschewiki erst während des Großen Vaterländischen Krieges „gegenüber dem Land gesühnt“ hätten. Damit blieb dem Jahr 1917 nur noch die wenig beneidenswerte Rolle, durch seine Nichtswürdigkeit die Größe und Glorie des Jahres 1945 umso heller erstrahlen zu lassen.

    Diese Geschichte ist allerdings bis heute nicht zu Ende: Als das Projekt eines „einheitlichen Geschichtslehrbuchs“ erörtert wurde, erlangte die Revolution das Attribut „groß“ zurück, allerdings in leicht abgewandelter Form – als Große russische Revolution der Jahre 1917 bis 1921 schließt sie nebenbei  auch den gesamten Zeitraum des Bürgerkriegs mit ein.

    Auch die Aufmerksamkeit, die Politiker, Experten und Journalisten dem anstehenden Jahrestag widmen, widerspricht der Überlegung, das Datum zu streichen. Trotz allem hat es etwas an sich, wovor man nicht die Augen verschließen kann.


    3. Inwiefern war die Revolution „groß“?

    „Wir stecken in der Misere, dass Feiern und Gedenken für uns Synonyme sind“, sagt Boris Kolonizki. „Ein konkretes Beispiel: Im Leningrader Gebiet hat eine ‚Vertreterin der jungen Generation‘ es fertiggebracht, den Überlebenden der Leningrader Blockade zum Jahrestag des Blockadebeginns zu gratulieren – was man an einem ‚roten Tag im Kalender‘ eben so macht. Das heißt, wir wollen an allen Gedenktagen stolz sein, und wenn es keinen Grund für Stolz gibt, sehen wir auch keinen Anlass zum Gedenken.“

    Doch die Revolution lässt sich nicht vereinfachen, und ihr Gehalt lässt sich nicht auf einen Glückwunschkarten-Vierzeiler reduzieren. Damit beginnen die Probleme: Wie kann ein Ereignis „groß“ sein, das keinen Anlass zur Freude gibt?

    Man kann diese Frage so beantworten, wie es die postkolonialen Länder tun, die ihre Identität um einen Mythos der Niederlage herum konstruieren. Sie gedenken der tragischen Daten in ihrer Geschichte, an denen sie dem Einfluss äußerer Kräfte unterworfen und zum Opfer eines fremden Willens wurden, damit sie den Wert ihrer Freiheit und Unabhängigkeit umso stärker empfinden.

    Für ein postimperiales Land, so Olga Malinowa, ist diese Herangehensweise jedoch wenig brauchbar. Ein Mythos der Niederlage ist den hier vorherrschenden Stimmungen zu fremd und bringt bizarre Selbstparodien hervor, wie etwa die Verschwörungstheorien, die in den Bolschewiki irgendwelche Außerirdische sehen, die auf die Erde gekommen seien, um das russische Staatswesen zu zerstören.

    Wenn es keine lebenden Zeugen mehr gibt, kann man abstrakt reden. Doch sobald man 1917 im Zusammenhang mit dem gesamten „sowjetischen Projekt“ sieht, wird das Thema schmerzlich brisant

    Für Länder wie Russland bleibt ein noch kaum beschrittener Weg: Die Verantwortung für Geschehenes zu übernehmen. Oder, wie die bekannte deutsche Historikerin Aleida Assmann schreibt, den „Gedächtnishorizont zu erweitern“: das Erinnerungsschema „entweder/oder“ durch ein „sowohl als auch“ zu ersetzen, um der Größe der Bedeutung der Revolution ebenso wie der Tragik ihrer Folgen gerecht zu werden.

    „Russland ist ein Land mit einer sehr vielfältigen Geschichte. Wir haben Erfahrung mit der Verarbeitung einer schwierigen Vergangenheit“, so Boris Kolonizki. „In eindimensionale Muster der Selbstwahrnehmung abzugleiten und alles Erlebte pauschal zu heroisieren wäre ein intellektueller Niedergang.“

    Die „Verarbeitung einer schwierigen Vergangenheit“ geht im Unterschied zur brachialen Versöhnung aller mit allen davon aus, dass eine Versöhnung nicht ganz so einfach ist. Wenn es keine lebenden Zeugen der Revolution mehr gibt, kann man über die Weißen und die Roten abstrakt reden. Doch sobald man die Folgen des Jahres 1917 im Zusammenhang mit dem gesamten „sowjetischen Projekt“ sieht (was sich aufdrängt, wenn man über die Grenzen der offiziellen Rhetorik hinausgeht), wird das Thema aktuell und schmerzlich brisant.

    „Wir sprechen über die Versöhnung so gelassen, weil wir uns als einzige Form der Versöhnung von Feinden vorstellen, dass Patriarch Kirill und Sjuganow Küsse austauschen“, sagt Nikolaj Kopossow. „Das ist natürlich keine große Sache: So werden wir zu Friedensstiftern, wo niemand mehr versöhnt werden muss. Doch was ist mit den zentralen Fragen des historischen Gedächtnisses, die sich direkt aus dem Jahr 1917 ergeben? Mit der Versöhnung von Stalinisten und Anti-Stalinisten? Oder, ganz provokativ gefragt, mit unserer Versöhnung mit den Banderowzy – wenn schon Frieden mit den Roten (oder Weißen) möglich ist? Wo ist hier die Grenze?“

    Diese Grenze fehlt, und deshalb wird jedes ernsthafte Gespräch über die Revolution revolutionär.

    Opfer oder Täter?

    „Die neue russische Geschichte ist zudem noch dadurch verworren, dass die sowjetischen und postsowjetischen Machthaber für sich seit über einem halben Jahrhundert, seit 1956, nicht klären können, wer ihnen sympathischer ist: die Henker oder die Opfer der vorangehenden Periode? Sie wissen nicht, mit wem sie sich eher identifizieren wollen“, sagt Alexander Etkind. „Aber diese Entscheidung muss getroffen werden. Viele Henker wurden selbst zu Opfern, als neue Henker sie folterten und umbrachten. Und doch besteht zwischen Opfern und Henkern ein gewaltiger Unterschied – der größte, den es im menschlichen Universum gibt.“

    Der Jahrestag von 1917 ist so gesehen ein Fass ohne Boden. Er ist nur der Beginn einer Reihe von schwierigen Bildern der Vergangenheit, an die wir uns ungern erinnern. Alle betreten die Geschichte lieber über die Paradetreppe – mit dem Tag des Sieges oder, sagen wir, dem Tag der Einheit des Volkes. Aber es gibt auch den Hintereingang, Jahreszahlen wie 1917, 1921 oder 1937. Was sollen wir damit machen? Ihn verrammeln?

    Würden wir uns ernsthaft darauf einlassen, dann könnte der hundertste Jahrestag der Revolution Anlass geben, nach neuen Möglichkeiten des Sprechens und Nachdenkens über die unbequeme Vergangenheit zu suchen. Eine Menge Bürgerinitiativen, die mit dem Jahrestag zu tun haben – Unsterbliche Baracke, Letzte Adresse, Aufrufe zur „nationalen Buße“ – stellten plötzlich fest, dass die Stimmen der Opfer noch laut sind in der russischen Gedächtnispolitik und diese beeinflussen können.

    „Diese Stimmen müssen berücksichtigt werden“, sagt Boris Kolonizki. „Es ist ganz einfach: Wodurch unterscheidet sich ein Mensch, der seine Krankheiten kennt, von einem, der sie nicht kennt? Ersterer kann mit der Therapie beginnen.

    Weder die Revolution, noch der Bürgerkrieg, noch der darauf folgende Terror sind ohne eine lang andauernde kulturelle Vorbereitung, ein Heranreifen innerhalb Russlands vorstellbar.


    Wir haben vor der Revolution eine Kultur des Konflikts geschaffen und unterstützt, eine Kultur, in der kleine oder kalte Bürgerkriege an der Tagesordnung waren. In vieler Hinsicht sind wir bis heute Träger dieser Kultur.

    Was können wir jetzt tun? Wir müssen eine gesunde Lebensweise einführen und ständig, Jahr für Jahr, unserer wunden Punkte gedenken. Dafür sind alle unbequemen Daten der russischen Geschichte gut geeignet.“

    Das Jahr 1917 ist zumindest insofern groß, als es uns eine sehr klare Vorstellung davon vermittelt, wie wir sein können. Nicht davon, was mit uns passieren kann oder was man mit uns machen kann – sondern davon, wie wir, die Russen, sein können. Und aus dieser Vorstellung heraus erwächst ein Bild davon, wie wir sein wollen (oder nicht sein wollen) – damit die Revolution tatsächlich zu Ende geht.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    „Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen“, erklärt Boris Kolonizki, renommierter Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg, über die dramatischen Ereignisse vor 100 Jahren im damaligen Petrograd.

    Im zweiten Teil des Longread-Interviews, das The Village zum Jahr 1917 mit ihm geführt hat, hinterfragt er die Bedeutung zentraler Personen.

    Welche Rolle spielte der Zar selbst bei seinem Sturz in der Februarrevolution? Welche politischen Kräfte rangen danach um die Macht, wie bedeutend war Lenin? Und warum drohte abermals ein politischer Umbruch?

    V. Zur Rolle Nikolaus II.

    „Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen.“ Zar Nikolaus in der sibirischen Verbannung, nach seiner Abdankung / Foto © Library of Congress
    „Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen.“ Zar Nikolaus in der sibirischen Verbannung, nach seiner Abdankung / Foto © Library of Congress

    Alexey Pavperov: Die gängige Meinung ist, dass Zar Nikolaus II. die Hauptschuld an der Februarrevolution trägt. Gerade seine Inkompetenz, sein Konservatismus, seine Fehler und der katastrophale Mangel an Respekt gegenüber dem kaiserlichen Thron hätten die Revolution erst ermöglicht.

    Boris Kolonizki: Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen. Andererseits, wie ich schon sagte, in den Jahren des Ersten Weltkriegs steckten alle beteiligten Länder in einer sehr schwierigen Lage. Die Lage Russlands kann man allerdings als besonders schwierig bezeichnen. Objektiv gesehen stellte das Land damals die größte Armee der Welt, ohne dabei der fortschrittlichste, führende Staat zu sein. Dafür war eine gigantische Mobilisierung nötig.

    Eine Frontlinie aufzubauen, das ist eine ingenieurtechnische Mammutaufgabe, vergleichbar mit dem Bau der Sibirischen Eisenbahn, eine riesige nationale Baustelle. Eine Zehn-Millionen-Mann-Armee musste versorgt werden: Verlegung, Waffen, Nahrung und medizinische Versorgung, Abtransport der Verletzten. Selbst einem erstklassigen Politiker hätte das große Probleme bereitet.

    Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form.

    Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form

    Nikolaus II. hat haufenweise Fehler gemacht. Zum Beispiel personelle: Manche Leute waren, wie die Februarrevolution gezeigt hat, eindeutige Fehlbesetzungen, was zu unprofessionellem Verhalten oder sogar zu Illoyalität gegenüber dem Zaren geführt hat.

    Schwere Fehler machte er im Kampf um die öffentliche Meinung. Heute wird viel zu viel über die Ermordung Rasputins gesprochen, wichtig ist jedoch nicht der Mord an sich, sondern wie das Regime darauf reagierte. Da ist ein Mensch getötet worden, aber es wird nicht ermittelt. Was für eine Regierung ist das bitte?

    In Ewa Bérards Buch Pétersbourg impérial [dt. Das imperiale Petersburgdek] wird die These aufgestellt, der Zar hätte Petersburg nicht besonders gemocht und den Großteil seiner Zeit in Zarskoje Selo verbracht. Er hätte die öffentliche Meinung ignoriert und sich während offizieller Veranstaltungen zurückgezogen. Der Zar soll die Stadtbevölkerung, die Bourgeoisie, missachtet und gefürchtet haben.

    Könnte man sagen, dass das fehlende Verständnis zwischen der Stadt und dem Zaren eine bedeutende Rolle während der Revolution gespielt hat?

    Kriegsminister Alexander Kerenski. „Als der Zar Kerenski kennenlernte, sagte er: ‚Wie schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.‘ Aber wer hatte sie denn daran gehindert?“ / Foto © Kommersant-Archiv

    Es gab ein Petersburg, das er nicht mochte. Und es gab eins, das er durchaus mochte. Die Paraden auf dem Marsfeld, und die Gesellschaft der Gardeoffiziere, die liebte er zweifelsohne. Petersburg war zu diesem Zeitpunkt eine sehr militärische Stadt.

    Manchmal gelangen ihm auch kluge Schachzüge, da nutzte er die politische Infrastruktur der Stadt. Im Februar 1916 besuchte er die Staatsduma und sorgte damit für einen Medienhype, der wochenlang anhielt.

    Ich denke, es hat nicht so sehr mit der Stadt zu tun, sondern vielmehr mit seiner Einstellung zu Russland insgesamt, zu dessen Geschichte, dessen sozialer Struktur. Er liebte ein imaginäres Russland der Bauern, die er den gebildeten, vom westlichen Einfluss verdorbenen Klassen gegenüberstellte.

    Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an

    Er und – in noch größerem Maße – Zarin Alexandra Fjodorowna glaubten an die Existenz eines ungemein religiösen Bauernvolks als Träger von höchsten moralischen Werten und monarchistischer Gesinnung, und betrachteten alle anderen als eine Art Sperre, die nur stört.

    Das Volk versteht den Zaren, und das wird Russland auf ewig retten – so sah das imaginäre Land aus, das Nikolaus in Wirklichkeit nicht besonders gut verstand.

    Aus dem Schriftwechsel zwischen dem Zaren und seiner Gattin geht ihr Verhältnis zum Geschehen deutlich hervor: Petersburg und Moskau lärmen, sind voller Klatsch und Tratsch, aber diese beiden Städte sind nur zwei kleine Punkte auf der riesigen Landkarte Russlands.

    Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an.

    Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. [Die Dichterin Sinaida – dek] Hippius bezeichnete ihn als „Charmeur“: Er konnte die Menschen in seinen Bann ziehen. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme – dem eines zurückhaltenden, durchaus intelligenten Menschen. Er konnte mit seinem Charme bestechen.

    Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme

    Dabei zeichnete ihn eine gewisse Unbeständigkeit aus. Manchmal ließ er wichtige Mitarbeiter gehen, ohne ihnen noch ein Hintertürchen offen zu lassen. Man muss jedoch die Kunst beherrschen, sich von jemandem zu verabschieden und ihn sich zugleich für den Notfall noch warmzuhalten. Außerdem verkannte er mitunter den Einfluss der öffentlichen Meinung, der Oppositionsparteien und der Geschäftswelt  – seine Denkweise war nicht sehr modern.

    Als er Kerenski kennenlernte, sagte er: „Wie schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.“ Aber wer hatte sie denn daran gehindert?

    Gut, Kerenski war vor der Revolution eine absolute Randfigur. Aber was ist mit dem Kadettenführer Pawel Nikolaewitsch Miljukow?! Man kann sagen, was man will, aber der war ein russischer Patriot. Sein Sohn, ein Offizier, war im Ersten Weltkrieg gefallen. Stellen Sie sich vor, der Imperator hätte einen Brief an ihn gerichtet, oder ihn sogar eingeladen, irgendwie seine Unterstützung geäußert, von Mensch zu Mensch – ein halbes Jahr später hätten die Kadetten strammgestanden und den Kaiser hochleben lassen.

    Politische Zugeständnisse waren eine Zeit lang gar nicht so wichtig, ein paar simple kommunikative Gesten hätten schon gereicht.


    VI. Über die Helden der Revolution und den Weg zum Bürgerkrieg

     „Der kritische Punkt war der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung  herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt.“ / Foto © Kommersant-Archiv
    „Der kritische Punkt war der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt.“ / Foto © Kommersant-Archiv

    Lassen sich denn mit Gewissheit Personen nennen, deren Handeln im Zeitraum zwischen den beiden Revolutionen eine maßgeblich negative Rolle spielte und letztlich zur Verstärkung des Konflikts, zur Gewalteskalation und zur Zerrüttung der Lage in Petrograd geführt hat?

    Das kommt auf den Blickwinkel an. Für die einen war die Fortsetzung des Krieges ein positiver Faktor, für die anderen war es gerade umgekehrt. Genauso ist es mit der gewaltsam durchgeführten Agrarreform. Die Antwort hängt vom jeweiligen Interesse ab.

    Ich glaube, Wörter wie „positiv“ und „negativ“ sind sowieso nicht sehr gut als Erkenntnisinstrumente geeignet. Und trotzdem benutzen wir sie.

    Aus meiner Sicht gibt es nichts Schlimmeres als den [Russischen – dek] Bürgerkrieg. Das ist ein in höchstem Maße wichtiges Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, es hat uns stark beeinflusst und tut das immer noch. In gewissem Sinne befinden wir uns bis heute in seinem Wirkungsfeld.

    Die große Frage ist für mich der Weg von der Revolution zum Bürgerkrieg. Jede Revolution ist ein potentieller Bürgerkrieg. Und in der Regel wird jede Revolution von kleinen, lokalen Bürgerkriegen begleitet. Sie können ganz unterschiedliche Ausmaße annehmen.

    In Russland war der kritische Punkt der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Deswegen überschätzen wir die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen.

    Wir neigen generell dazu, die Geschichte zu personifizieren – Kerenski, Kornilow, Lenin, Nikolaus II. – und ebenso den Konflikt zwischen Kerenski und Kornilow auf einen psychologischen zu reduzieren. In Wirklichkeit ist die Vorstellung naiv, dass da irgendein Staatsoberhaupt sitzt und alles entscheidet. Er hat immer einen Kreis von Unterstützern, eine Referenzgruppe, er muss manövrieren. Er arbeitet in einem Team, es ist ein großes Orchester.

    Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins

    Wir sind ein kulturell sehr gespaltenes Land. Es herrscht völliges Unvermögen, sich gegenseitig zuzuhören: Alle fordern lauthals einen Dialog, aber es endet immer in vielen verschiedenen gleichzeitigen Monologen, die auch noch extrem laut vorgetragen werden. Wir reden von einer nationalen Aussöhnung, aber alles endet mit grob aufgezwungener Buße. 


    VII. Von der Februar- zur Oktoberrevolution

    Mitglieder der Provisorischen Regierung. „Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten“ / Foto © Wikipedia/gemeinfrei
    Mitglieder der Provisorischen Regierung. „Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten“ / Foto © Wikipedia/gemeinfrei

    Was war der Grund für das Chaos und die Desorganisation im politischen Leben Russlands nach der Februarrevolution? Warum fanden sich keine Kräfte, die entschlossen die Macht übernehmen und die Situation unter Kontrolle halten konnten?

    Darüber sind sich die Historiker nicht einig. Faktisch entstand während der Februarrevolution eine Konstellation, die mit dem nicht sehr präzisen Begriff Doppelherrschaft bezeichnet wird.

    Das Schlüsseldokument, das die Konturen dieser Ordnung vorgab, war der Befehl Nr. 1 des Petrograder Sowjets, mit dem die Armee praktisch demokratisiert und das System der Kompaniekomitees eingeführt wurde. Von Anfang erhoben sie einen Regierungs- und Machtanspruch. Diese Macht konnte in verschiedenen Landesteilen und Regionen unterschiedliche Gestalt annehmen, aber sie war überall präsent.

    Manche Historiker sagen, dass es keine Doppelherrschaft war, weil in einigen Regionen eine gewisse Zusammenarbeit stattfand. In anderen Gebieten war die Lage noch verworrener. In Kiew beispielsweise wurde die Macht von den Organen der Provisorischen Regierung, dem Kiewer Sowjet und der Zentralna Rada beansprucht. In Finnland gab es die Machtorgane des Großfürstentums Finnland, die Militär- und Zivilorgane der Provisorischen Regierung und die Komitees, die dort besonders stark waren.

    Gewinner und Akteure waren keineswegs immer die Bolschewiki. Im Gouvernement Kasan beispielsweise begann der örtliche Bauernsowjet, der von Sozialrevolutionären geleitet wurde, mit einer Landreform, ohne sich groß an Petrograd zu orientieren.

    Das Machtsystem des Zarismus war also zerfallen, und auf seinen Trümmern begann der Kampf zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Kräfte.

    Ja. Wobei es einen Konsens gab in Bezug auf einige wichtige strukturelle Entscheidungen: Die Polizei wurde abgeschafft und durch eine Volksmiliz ersetzt. Man ging davon aus, dass eine ständige Polizei etwas Schlechtes sei. Stattdessen sollte jeder freie Bürger zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. Eine Miliz, also praktisch eine Volkswehr. So eine naive, utopische Idee.

    Jeder freie Bürger sollte zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. So eine naive, utopische Idee

    Außerdem wurde die lokale Machtstruktur abgeschafft – anstelle der Gouverneure wurden Kommissare ernannt. Diese Maßnahmen waren unumgänglich: Die Revolutionäre wollten die neue Ordnung festigen und absichern. 

    Ein weiterer wichtiger Punkt war die Abschaffung der Todesstrafe – eine humanitäre Forderung, für die alle Parteien eintraten, die der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Sowjet angehörten. Zu Kriegszeiten war das eine äußerst  schwierige Entscheidung, weil sie die Herrschaftsinstrumente einschränkte.
     
    Nach der Julikrise und dem ersten erfolglosen Versuch der Bolschewiki, die politische Macht zu ergreifen, schwang die gesellschaftliche Stimmung massiv nach rechts um. Im September jedoch, bei der Niederschlagung des Kornilow-Aufstands, musste Kerenski bolschewistische Aktivisten aus dem Gefängnis entlassen, sich bolschewistischer Agitatoren bedienen und Waffen an die Arbeiter verteilen. Danach lag die Initiative im politischen wie im gesellschaftlichen Bereich wieder bei den Bolschewiki, die sich kurz zuvor noch in der Illegalität befunden hatten und von der Gesellschaft als negative, destabilisierende Kraft wahrgenommen wurden.

    Was sagen diese Umschwünge über die Situation in Petrograd aus?

    Wenn es um die Revolution geht, sollten wir nicht allein von den Bolschewiki reden. Ich würde eher von den Bolschewiki und ihren Verbündeten sprechen. Während der Julikrise spielten etwa die Anarchisten eine große Rolle. Sehr wichtig für die Bolschewiki war das Bündnis mit den linken Sozialrevolutionären. Dann gab es noch verschiedene Organisationen der Menschewiki-Internationalisten, verschiedene nationale Gruppen, parteilose Aktivisten und andere.

    Die Radikalisierung war nicht unbedingt immer eine Bolschewisierung. In den Sowjets und Komitees, von denen die Legalisierung der Revolution entscheidend abhing, gehörten viele nicht der Partei der Bolschewiki an. In manchen Fällen zum Beispiel sprachen sich die gleichen Leute, die Kerenski im Juli noch unterstützt hatten, im September gegen ihn aus.

    Ich würde nicht sagen, dass sich die Partei der Bolschewiki vollständig in der Illegalität befand. Die Situation war überall im Land unterschiedlich. Aber selbst in Petrograd schaffte es die Partei, eine Zeitung herauszubringen, die zwar immer wieder eingestellt wurde, aber jedesmal unter anderem Namen neu erschien.

    Am Anfang sehen wir den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen

    Und eigentlich geht es nicht um die Bolschewiki, sondern um die Macht. Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten – und das Verhalten derjenigen, die demobilisiert wurden. Wir schauen – glücklicherweise meist im Fernsehen – auf Revolutionen in anderen Ländern. Am Anfang sehen wir eine ungeheure Begeisterung, den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen – die Wirtschaft, die Kriminalität und so weiter und so fort.

    Ohne diese naive Begeisterung ist beispielsweise das Phänomen Kerenski gar nicht vorstellbar – ein Führer und Retter, an den alle glauben. Nach einiger Zeit sind dann die einen nach rechts abgewandert, in Richtung Konterrevolution. Sehr viele (ich würde sogar sagen, die meisten) haben die Politik ganz aufgegeben: Sie hatten die ständigen Diskussionen satt, waren müde davon. Der Winter stand vor der Tür, die Leute kümmerten sich um Heiz- und Lebensmittel sowie um ihre Lieben, und dann nahm auch noch die Kriminalität zu.

    Bei einigen hielt sich die Revolutionsbegeisterung. Etwas klappt nicht? Dann muss man eben noch härter und entschlossener handeln. Eine solche Radikalisierung der Linken spielte den Bolschewiki und ihren Verbündeten in die Hände.

    Ja, unser Bild von diesen Geschehnissen ist wohl tatsächlich zu stark vereinfacht. Und es ist normal, dass zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Kräfte die Initiative übernehmen und die Sympathie der Gesellschaft gewinnen.

    Es geht nicht nur um Sympathie, es geht um den Grad der Beteiligung. Die einen unterzeichnen per Mausklick eine Petition. Andere nehmen an Kundgebungen teil. Und wieder andere beteiligen sich an Protestaktionen. Das sind sehr unterschiedliche Dinge.

    1917 drückten die einen ihre Sympathien aus, indem sie zu Hause Zeitung lasen und die Passagen, die ihnen gefielen, rot anstrichen. Andere gingen auf die Straße. Manche nahmen die Organisationsarbeit in die Hand. Manche stellten Geld zur Verfügung.

    Die Sympathie für eine populäre Person kommt nicht immer in Form aktiver politischer Handlungen zum Ausdruck. Politik ist eine vielschichtige und mehrdimensionale Angelegenheit.


    dekoder dankt Robert Kindler für seine Unterstützung bei der Aufbereitung des Interviews.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Der imaginäre Putin

    Der imaginäre Putin

    „Gut ist der Zar, böse sind die Bojaren“, so lautet ein bekanntes russisches Sprichwort. Verkürzt könnte man es so erklären: Passiert etwas Gutes, dann dank dem guten Zaren, passiert etwas Schlechtes, so sind die bösen Bojaren schuld. Gleiches scheint auch im Russland unter Putin zu gelten. Dies legen unter anderem auch Umfragen nahe, die das unabhängige Lewada-Zentrum regelmäßig erhebt.

    Lew Gudkow, Direktor des Zentrums, erklärte dazu unlängst im Interview mit Radio Svoboda, dass für innere oder wirtschaftliche Probleme des Landes eher Minister und Gouverneure verantwortlich gemacht würden. Putin dagegen sei als „symbolische Führerfigur“ etabliert, die für das weltweite Ansehen Russlands als Großmacht Sorge trage. Gudkow schreibt der Medien-Propaganda dabei eine wesentliche Rolle zu.

    Im Politsovet interessiert sich Alexej Schaburow allerdings weniger für die Medienfigur, sondern vor allem für das Phänomen des „imaginären Putin“ in den Köpfen vieler Russen.

    Die Medienfigur „Präsident Wladimir Putin“ hat kaum etwas mit dem wirklichen Menschen Wladimir Putin zu tun. Das ist längst kein Geheimnis mehr, beschreibt die Sache aber nicht erschöpfend. Putin ist schon so lange an der Macht, dass in den Köpfen der Russen ein „imaginärer Putin“ entstanden ist – eine höhere Instanz, die immer recht hat. Dieser „imaginäre Putin“ kann alles Mögliche sein. Vor allem ist er wohl fast unsterblich.

    Der „imaginäre Putin“ kann alles Mögliche sein. Vor allem ist er wohl fast unsterblich / Foto ©  Alexander Tschishenok/Kommersant
    Der „imaginäre Putin“ kann alles Mögliche sein. Vor allem ist er wohl fast unsterblich / Foto © Alexander Tschishenok/Kommersant

    Neulich fiel mir zufällig die Zeitung Nazionalny kurs sa suverenitet! in die Hände. Sie wird von der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD) herausgegeben – einer Organisation, deren Vorsitzender der Duma-Abgeordnete Jewgeni Fjodorow ist. Sie vertritt die Theorie, dass Russland von Amerika okkupiert sei, und sie ruft dazu auf, eine neue, „souveräne“ Verfassung zu verabschieden und dem Präsidenten Sondervollmachten zu geben.

    Der Phantasie-Putin vertritt immer die Ideologie desjenigen, der ihn sich zurechtphantasiert

    Diese Zeitung zu lesen, ist völlig sinnlos. Aber mir fiel das Putin-Bild auf der Titelseite auf. Daran ist zunächst nichts verwunderlich: Die NOD ist seit jeher für Putin; er ist ihrer Theorie zufolge der einzige Kämpfer gegen die Okkupation durch die Vereinigten Staaten. Unter dem Porträt des Präsidenten steht ein Zitat von ihm, das ich hier vollständig wiedergebe: „Der Westen soll ruhig weiter Kapriolen schlagen und Szenen machen. Russland schert sich nicht mehr darum. Wir haben unsere Wahl getroffen und werden sie jetzt konsequent umsetzen. Es gibt noch jede Menge zu tun. Rückwärts nimmer, vorwärts immer. Das bedeutet, dass wir uns von unseren nationalen und staatlichen Interessen leiten lassen. Und wenn wir dafür in den Kampf ziehen müssen, dann werden wir das tun. W. W. Putin, Präsident der Russischen Föderation“.

    Das Zitat als solches passt gut zum patriotischen Geist der Post-Krim-Ära. Und doch irritiert da etwas: Die Ausdrücke „in den Kampf ziehen“ und „Kapriolen schlagen“ sind nicht ganz Putins Sprachstil, den wir in 17 Jahren so gut kennengelernt haben. Bleibt nur noch, das Zitat in die Suchmaschine einzugeben, um festzustellen, dass Putin diese Worte nie gesagt hat.

    Auf der Website des Kreml sind sie nicht zu finden. Die Aussage ist auf zahlreichen patriotischen Seiten anzutreffen, allerdings meist in Texten ohne Autorenangabe. Die weitere Suche fördert die vermutliche Primärquelle zutage: Die Kolumne eines gewissen Juri Barantschik auf der Website Regnum, in der Putins Rede auf der Waldai-Konferenz von 2014 kommentiert wird. Die NOD hat also in ihrer Zeitung einen Kommentar zu Putins Rede veröffentlicht und ihn Putin selbst zugeschrieben.

    Der imaginäre Putin war auch aktiv an den jüngsten Wahlen beteiligt

    Man kann sich hier natürlich ausgiebig über die russische Propaganda mokieren, die sich so sehr in die Fake-Produktion verstrickt hat, dass sie jetzt schon gefälschte Putin-Reden veröffentlicht. In gewisser Hinsicht ist das ein propagandistischer Rekord, der schwer zu übertreffen ist.

    Bei gründlicherem Nachdenken wird jedoch klar, dass wir es hier mit einem spezifischen politisch-psychologischen Phänomen zu tun haben – mit einem imaginären Putin. Ob die Herausgeber der NOD-Zeitung das Fake-Zitat absichtlich verwenden oder angesichts der immer gleichen patriotischen Texte einfach den Überblick verloren haben, tut nichts zur Sache. Entscheidend ist: Putin hat diese Sätze in ihrer Vorstellung nicht nur sagen können, er musste sie sagen. Putin sagt in ihrer Vorstellung immer das, was sie wollen und hat deswegen immer recht, genau wie sie.

    Der imaginäre Putin existiert nicht nur in den Köpfen irgendwelcher Randfiguren, wie es die NOD-Leute sind. Er war auch aktiv an den jüngsten Wahlen zur Staatsduma beteiligt. Man braucht nur an die Kampagne der Partei Gerechtes Russland zu erinnern. Sie verwendete den Slogan Sagen wir Putin die Wahrheit und behauptete, dass die „schlechte“ Regierung der Russischen Föderation dem „guten“ Präsidenten zuwider handele. Die Parteiideologen selbst glaubten das natürlich nicht. Aber der imaginäre Putin war für sie äußerst nützlich. Dieser Putin war unzufrieden mit der Regierung – und natürlich kannte er nicht die ganze Wahrheit, weil die Beamten sie stets vor ihm verbergen. Und selbstverständlich war er für das Gerechte Russland. Der imaginäre Putin ist immer für all jene, in deren Kopf er existiert.

    Putin ist schon seit langem bestrebt, die Wahrheit in letzter Instanz zu sein

    Dazu muss man sagen, dass der wirkliche Präsident Wladimir Putin selbst sehr viel Mühe darauf verwandt hat, seinen imaginären Zwilling hervorzubringen. Er ist schon seit langem bestrebt, die Wahrheit in letzter Instanz zu sein, der letztgültige Schiedsrichter in allen Streitigkeiten und Konflikten. Putin (der wirkliche Putin) tritt an die Stelle des Gerichts. Dafür genügt es, sich zu erinnern, wie schnell die Justizbehörden kürzlich die Revision des Lipezker Gerichtsurteils beschlossen haben, nachdem der Präsident es öffentlich kritisiert hatte.

    Unter diesen Bedingungen, da Putin zum höchsten Träger der Wahrheit geworden ist, liegt die Verlockung sehr nahe, ihn bei jedweder ideologischen Auseinandersetzung als Hauptargument anzuführen. Und an diesem Punkt schaltet sich die Phantasie ein. Sie konstruiert das Bild eines Putin, der die gleiche Ideologie vertritt wie derjenige, der ihn sich zurechtphantasiert.

    Natürlich hasst er den Westen und Amerika und ist bereit, für Russland in den Kampf zu ziehen

    Natürlich hasst er den Westen und Amerika und ist bereit, für Russland in den Kampf zu ziehen. Umso besser, wenn sich ein Zitat findet, das genau das bestätigt. Falls nicht, tut es auch jedes andere – wir wissen ja, dass Putin genau so denkt (nämlich so wie wir).

    Auch wenn der wirkliche Putin etwas anderes sagt, können wir immer behaupten, dass er wieder einmal ein paar Züge im Voraus denkt, weil wir ja wissen, was er tatsächlich meint (nämlich das Gleiche wie wir).

    Der imaginäre Putin ist übrigens nicht immer ein Hurra-Patriot. Manchmal ist er sogar ein bisschen ein Liberaler. Gut zu beobachten war das bei den jüngsten Auseinandersetzungen um das Jelzin-Zentrum. Als finales Argument diente hier der Umstand, dass das Jelzin-Zentrum von Putin eröffnet wurde und dass sein Präsidialamtsleiter dem Kuratorium vorsteht. Was gibt es da noch zu streiten?

    Je länger der wirkliche Putin an der Macht ist, desto imaginärer wird er in den Köpfen der russischen Bürger. Man könnte sogar einen fantastischen Roman schreiben, in dem der wirkliche Putin schon nicht mehr existiert, sein Abbild aber weiterhin Russland regiert. Oder wäre ein solcher Roman etwa gar nicht so fantastisch?

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  • Außerhalb von Schwarz und Weiß

    Außerhalb von Schwarz und Weiß

    Konturen der früheren Sowjetunion werden in der Forschung vielfach entlang der Bruchlinie von Repression und Widerstand aufgezeigt. Der Kulturanthropologe Alexei Yurchak hat in seinen Untersuchungen den Fokus verschoben. Er hat die offiziellen Strukturen und Rituale des früheren Sowjetstaates in den Blick genommen – und das, was die Menschen in ihren Alltagspraktiken daraus gemacht haben.

    Sein Buch Everything Was Forever, Until It Was No More (dt. Alles war für immer, bevor es verschwand) über die sowjetische Generation unter Breshnew ist inzwischen auf Russisch erschienen und Yurchak für seine Studie im vergangenen Jahr mit dem renommierten Buchpreis Proswetitel (dt. Aufklärer) in Russland geehrt worden. Das junge Medienprojekt Gorky traf ihn nun für ein Interview, sprach über Vererbtes ins Heute, Vergleiche mit den USA und verschobene Wahrnehmungen der Gesellschaft.

    Kulturanthropologe Alexei Yurchak über die Freiheit des Außerhalbseins, Repression und Widerstand und seinen Verzicht auf die Arbeit mit solchen Binärschemata – Foto © Alexei Yurchak
    Kulturanthropologe Alexei Yurchak über die Freiheit des Außerhalbseins, Repression und Widerstand und seinen Verzicht auf die Arbeit mit solchen Binärschemata – Foto © Alexei Yurchak

    Felix Sandalow: Beginnen wir mit einem zentralen Begriff Ihres Buchs – Freiheit des Außerhalbseins. Glauben Sie, dass es in der jetzigen russischen Gesellschaft Räume des Außerhalbseins gibt? Oder ist diese Erscheinung nur ein Charakteristikum des Lebens in der späten Sowjetunion?

    Alexei Yurchak: Das Bestreben, über die Beschränkungen des Gegensatzpaares Systemzugehörigkeit / Systemgegnerschaft hinauszugehen, ist in der postsowjetischen Zeit nicht verschwunden. Durch die Erfahrung aus der UdSSR im freien Umgang mit Gesetzen wurde ja die Entwicklung von Unternehmernetzwerken im frühen postsowjetischen Russland sehr  befördert. Eigentlich ist unsere gesamte Geschäftswelt aus diesen Räumen des Außerhalbseins hervorgegangen. Nehmen wir zum Beispiel die Entstehung des neuen Unternehmertums in den 1990er Jahren: Man kaufte im Westen Computer, brachte sie her und verkaufte sie. Und über den Preisunterschied wurde Kapital gebildet. Bei näherem Hinsehen stellt man fest: Das lief alles vorschriftsmäßig; es gab für alles Unterlagen und Zolldeklarationen – aber zugleich wurden normale Diskettenlaufwerke als viel teurere deklariert und vertrieben. Oder nehmen Sie das Verhalten der Zollbeamten: Ich habe damals in den USA studiert und bin oft nach Russland geflogen. Es gab ein Gesetz, nach dem Leute, die mehr als acht Monate im Ausland lebten, steuerfrei ein Auto einführen durften. Ich brauchte kein Auto, aber die Zollbeamten haben mir jedes Mal angeboten, eines auf meinen Namen einzutragen. Dafür gab es 1000 Dollar. Das heißt, man konnte in dieser Situation als Instrument fungieren, damit jemand anders Geld sparen kann. So kommt es zu einer performativen Verschiebung: Man kann die Form des Gesetzes reproduzieren und dabei dessen Sinn immer wieder ändern. Solche Verschiebungen gab es millionenfach.

    Und wie sieht es damit in den USA aus?

    Auch dort gibt es solche Zonen des Außerhalb. Zum Beispiel das Lager Guantanamo auf Kuba. Dorthin sind mutmaßliche Terroristen verbracht worden, die während des Irak-Feldzugs gefangengenommen wurden. Und da sich Guantanamo außerhalb des Hoheitsgebietes der Vereinigten Staaten befindet, gelten die US-Gesetze dort nicht. Man kann dort Menschen beliebig lange ohne Gerichtsverfahren und Ermittlung einsperren. Oder jemanden töten, ohne dass es als Mord gilt wie im demokratischen Amerika. Das ist das, was Giorgio Agamben als den Raum des Ausschlusses bezeichnet – und der US-amerikanische Staat nutzt ihn aktiv. Aber die Prinzipien, nach denen der Raum des Ausschlusses und der Raum des Außerhalbseins konstruiert sind, unterscheiden sich etwas voneinander, auch wenn die Erscheinungen selbst verwandt sind. Dieser Unterschied gleicht dem zwischen der liberalen und der sozialistischen Gesellschaft. In der liberalen Gesellschaft funktionieren die grundlegenden Bereiche über ein festgelegtes System aus Gesetzen und transparenten Institutionen. Aber es gibt Zeiten – etwa im Krieg – oder Orte, in denen sie außer Kraft treten. Diese Räume des Ausschlusses sind für liberale Gesellschaften sehr wichtig, weil sie sich dadurch ihre souveränen Grenzen vergegenwärtigen. Räume des Außerhalbseins waren hingegen ein wichtiger Bestandteil einer anderen Gesellschaft, nämlich der spätsozialistischen. Überhaupt war das Prinzip des Außerhalbseins die Funktionsgrundlage für das gesamte System des Spätsozialismus. Es gab in der Sowjetunion keine vom Staat abgesonderten, autonomen Zonen, auch nicht in Form der Küchen. Das ist Unsinn. Es gab vielmehr das Außerhalbsein als Prinzip, nach dem das gesamte sowjetische System funktionierte. Das heißt, es existierten keine autonomen Räume der Freiheit, die aus dem sowjetischen System herausgefallen wären. Dafür gab es aber jede Menge Räume des Außerhalb, in denen sich das System formal vollständig reproduzierte, aber der Sinn sich laufend verschob, manchmal bis hin zum völligen Gegenteil dessen, was ideologisch verkündet wurde.

    Ich brauchte kein Auto, aber die Zollbeamten haben mir jedes Mal angeboten, eines auf meinen Namen einzutragen. Dafür gab es 1000 Dollar

    Im Titel Ihres Buches ist von der „letzten sowjetischen Generation“ die Rede. Was denken Sie über die Generationentheorie? Sie ist plötzlich wieder populär geworden. Alle Welt spricht von den „Millenials“, und auch der Begriff „Putin-Generation“ ist im Umlauf. Inwieweit ist es überhaupt zulässig, mit solchen Konstrukten zu arbeiten?

    Die Rede von den Generationen beschreibt nicht notwendig ein Objekt, das von vornherein existiert. Sie erlaubt es auch, Generationen im Nachhinein zu schaffen. Dabei werden die Objekte zunächst im Diskurs hergestellt und treten dann in der Realität in Erscheinung. Dass Menschen im gleichen Jahr geboren wurden, bedeutet nicht, dass sie eine bestimmte Gruppe bilden. Manchmal ist es so und manchmal nicht. Generationen entstehen nicht einfach durch das gemeinsame Alter, sondern durch gemeinsame Erfahrungen oder Erlebnisse. Beispiele dafür sind die Kriegsgeneration oder die Generation der Kinder der Leningrader Blockade.

    Aber es gibt nicht immer zwangsläufig eine wichtige und gemeinsame Erfahrung, die alle Gleichaltrigen verbindet. Menschen sind bekanntlich verschieden. Sie beschäftigen sich mit unterschiedlichen Dingen und haben unterschiedliche Ansichten, auch wenn sie zur gleichen Altersgruppe gehören. Zudem werden ständig neue Menschen geboren, und die Generationsschichten sind nicht immer durch markante Stufen voneinander getrennt. Die klassische Theorie des Soziologen Karl Mannheim, der die Idee der Generationen als erster formuliert hat, ist schon vor langer Zeit kritisiert worden. Sie hat als erster Versuch auf diesem Gebiet einen bleibenden Wert, aber ihr Problem ist ein gewisser Positivismus. Sie betrachtet Generationen als soziale Objekte und setzt voraus, dass sie immer real existieren. Aber das stimmt nicht.

    In letzter Zeit sind Sie in Kalifornien tätig, an der Universität von Berkeley. Aber Sie halten auch Vorlesungen in Russland. Wie unterscheidet sich Ihrer Ansicht nach die akademische Welt in Russland von der in den USA?

    In Russland gibt es, grob gesagt, zwei akademische Welten. Eine ist mehr oder weniger traditionsverhaftet und findet sich vor allem in den Institutionen, die aus dem akademischen System der Sowjetunion hervorgegangen sind. Die Mitglieder dieser Welt publizieren vor allem in Russland und auf Russisch. Viele von ihnen sprechen keine andere Sprache. Das führt zu einer gewissen Isolation von der internationalen akademischen Gemeinschaft. Zwar werden ausländische Texte im Bereich der Sozialwissenschaften und der Philosophie nach und nach ins Russische übersetzt. Aber mit der Übersetzungsarbeit in die umgekehrte Richtung, aus dem Russischen in die internationalen Sprachen, steht es weitaus schlechter.

    Es gibt jedoch noch eine zweite akademische Welt, die sich aktiv am internationalen Wissenschaftsdiskurs beteiligt und regelmäßig zumindest auf Russisch und Englisch (oder Französisch und so weiter) arbeitet. Dazu gehören etwa die Europäische Universität St. Petersburg, die Higher School of Economics in Moskau und St. Petersburg und einige weitere Hochschulen in diesen Städten. Sie sind Auslandserfahrung gegenüber offener: Man reist in die wissenschaftlichen Zentren im Ausland. Man hat kein Problem damit, Professoren zu beschäftigen, die einen Teil ihrer Ausbildung im Westen erhalten haben, also etwa einen Doktorgrad in England oder den USA. Und manchmal werden sogar Ausländer eingestellt.

    Es gab in der Sowjetunion keine vom Staat abgesonderten, autonomen Zonen, auch nicht in Form der Küchen. Das ist Unsinn

    Das ist nicht deshalb nötig, weil die ausländische Ausbildung zwangsläufig besser wäre – sie ist es nicht immer, und darum geht es auch nicht. Diese Herangehensweise ist aus anderen Gründen wichtig. Sie ermöglicht es, sich aus dem geschlossenen Feld einheimischer Traditionen, Ansätze, sozialer Netze, Beziehungen und so weiter zu lösen und nicht nur den Forschungsgegenstand kritisch zu betrachten, sondern auch das akademische Feld, in dem er untersucht wird. Das führt zu einer offeneren und kritischeren Diskussion über Arbeiten, Forschungen, Konzepte und Methoden.

    Denn wenn Ideen nicht der Kritik unterzogen werden, weil die Grenzen des geschlossenen Bereichs von Traditionen und Überzeugungen dies nicht zulassen, dann kommen alle möglichen unwissenschaftlichen Theorien auf, wie etwa Lew Gumiljows Theorien zur Ethnogenese.

    Es gibt noch einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen dem akademischen Milieu im Westen und dem in Russland. Die meisten Hochschullehrer in Russland haben – anders als etwa die Dozenten der führenden Universitäten in den USA – eine sehr hohe Lehrbelastung. Sie müssen ein extrem hohes Pensum an Unterrichtsstunden absolvieren. Es bleibt ihnen kaum Zeit, um wissenschaftlich zu arbeiten, Aufsätze zu schreiben und in den führenden Zeitschriften zu publizieren. Zugleich sind sie angehalten, den Zitationsindex für ihre Arbeiten kontinuierlich zu verbessern. Ihr Gehalt, ihre Karriere und so weiter hängen davon ab. Das führt bisweilen dazu, dass das Publizieren zum Selbstzweck wird, statt der wissenschaftlichen Arbeit zu dienen. Es erscheinen Publikationen in verschiedenen unseriösen Zeitschriften, die nur dazu da sind, dass man schnell und häufig gegen Bezahlung darin veröffentlichen kann.

    Jede Reform des Systems, die die russischen Universitäten auf internationalen Stand bringen soll, muss bei gleichbleibender oder höherer Bezahlung der Universitätsprofessoren ihr Unterrichtsdeputat stark reduzieren, damit das Niveau der wissenschaftlichen Arbeit steigen kann. Hier liegt einer der offenkundigsten Unterschiede zwischen den westlichen und den russischen Universitäten. Das wäre letztlich auch für die Studenten viel vorteilhafter. Sie kommen auch mit weniger Unterrichtsstunden pro Woche aus, wenn sie dafür mit den Professoren unter vier Augen oder in kleinen Gruppen zusammenarbeiten können und in ihre Forschung einbezogen werden.

    Wie hat sich die Neuauflage des Kalten Krieges, die mit dem Konflikt in der Ukraine begann, auf die Sowjetologie ausgewirkt? Hat sie Einfluss auf das Interesse an Russland in den USA, auf Anzahl und Art der Publikationen?

    Die Sowjetologie als einheitliche Wissenschaft gibt es nicht. Das ist eher Wissenschaftsjargon für unterschiedliche Forschungsaktivitäten zur Sowjetunion. Die waren früher in der Regel stark von der Ideologie des Kalten Krieges beeinflusst. Häufig stehen sie in der Tradition von Hannah Arendts Konzept des Totalitarismus.

    Leider enthielten viele politologische und ökonomische Arbeiten zur UdSSR eine Menge unreflektierter ideologischer Postulate. Zum Beispiel wurde die sowjetische Gesellschaft als atomisierte Masse betrachtet, die keine politischen Inhalte hatte und vom Staat unterdrückt wurde. Auf den ersten Blick scheint es angemessen, in solchen Begriffen über die Sowjetunion zu sprechen. Aber sobald man näher hinschaut, zeigt sich, dass dieser Ansatz die Realität nicht nur vereinfacht, sondern völlig verfälscht.

    Die traditionelle amerikanische Sowjetologie hat derartige Modelle und Annahmen immer wieder in großer Zahl hervorgebracht und die Beschreibung der sowjetischen Gesellschaft auf die binären Kategorien der politischen Repression und des Widerstands reduziert. Es gab in der Sowjetologie auch eine andere Schule – die sogenannten Revisionisten, die sich mit der Erkundung der komplexen Gesellschaft innerhalb der Sowjetunion befassten. Durch ihren Verzicht auf den Totalitarismusbegriff förderten sie viele wichtige und interessante Erkenntnisse zutage. Aber auch sie konzentrierten sich auf den Widerstand als das grundlegende Paradigma der politischen Existenz in der Sowjetunion.

    Mein Buch rief eine Wirkung hervor, die einige als Schockeffekt bezeichnet haben, wohl gerade deshalb, weil die Brille Repression/Widerstand, durch die die Geschichte der UdSSR sehr lange betrachtet worden ist, darin offensiv hinterfragt wird. Die englische Ausgabe des Buches hat auf dem Gebiet der Sowjetstudien einen Wandel herbeigeführt. Die Wissenschaftler verwenden eine andere Sprache und verzichten auf binäre Modelle.

    Nun ist zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung in den USA die erweiterte russischsprachige Ausgabe in Russland erschienen. Und auch diesmal ernte ich viel Dankbarkeit für den Versuch, Methoden zur Analyse des sowjetischen Systems zu finden, die vom üblichen Binärschema abweichen. Das freut mich.

    Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Heute taucht die Binarität in den meisten westlichen und russischen Beschreibungen des Geschehens in Russland erneut auf. Oft hat man es mit Beschreibungen zu tun, nach denen die russische Gesellschaft in zwei Gruppen zerfällt. In der Sprache der Staatsmedien werden diese Gruppen als Patrioten (die Mehrheit) und als Fünfte Kolonne (die liberale Minderheit) bezeichnet. Und in der Sprache der liberalen Intellektuellen und Journalisten heißen sie „Watniki“  (oder „die 86 Prozent“) und „aufgeklärte, liberale Gemeinschaft“. Ich denke, dass diese binäre Beschreibung absolut nicht die Wirklichkeit widerspiegelt und entlarvt werden muss. In gewissem Sinne ist sie wirklich eine Rekonstruktion der Sprache des Kalten Krieges.

    Leider enthielten viele politologische und ökonomische Arbeiten zur UdSSR eine Menge unreflektierter ideologischer Postulate

    Noch einmal nachgefragt: Hat die Zuspitzung der politischen Lage irgendwelche Auswirkungen auf Ihr Forschungsgebiet?

    Das ist eine interessante Frage. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre gab es sehr viele Studenten, die sich mit Slawistik, russischer Geschichte und dem modernen Russland befassen wollten. Zur Jahrtausendwende waren es bereits deutlich weniger. An einigen Universitäten ging die Zahl der Studenten so stark zurück, dass die Lehrstühle für russische Literatur und Sprache einfach abgeschafft wurden. Bei den Lehrstühlen für Geschichte sah es schon immer besser aus. Dort bewerben sich traditionell mehr Doktoranden, die sich mit Russland beschäftigen wollen, als etwa bei den Anthropologen.

    In letzter Zeit stelle ich aber auch dort fest, dass das Interesse an Russland unter den Doktoranden wieder wächst. Teilweise liegt das offensichtlich an der aktuellen politischen Situation. Trotzdem ist das Interesse an Russland in der anglo-amerikanischen Anthropologie weit geringer als das an vielen anderen Themen. Ein Beispiel: An der Fakultät für Sozialanthropologie in Berkeley bewerben sich jährlich vierhundert Leute für ein Promotionsstudium. Davon wollen sich vier oder fünf mit Russland beschäftigen. Weitere fünf bis sieben möchten zu anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas forschen. Das ist um eine Größenordnung weniger als die Anzahl der Doktoranden, die sich mit der Erforschung des Islam, des Finanzkapitalismus oder der Veränderung der menschlichen Gesellschaft durch neue Biotechnologien befassen wollen.

    Und noch etwas ist hier hervorzuheben: Der abrupte Abbau der Russlandforschung in den USA in der postsowjetischen Zeit war nicht nur durch einen objektiven Rückgang des Interesses an Russland bedingt, sondern auch dadurch, wie die US-Regierung die Bedeutung dieser Forschung interpretiert hat. So hat etwa der US-Kongress in den letzten Jahren die Mittel für Forschungsprogramme zu Russland und der ehemaligen Sowjetunion erheblich reduziert. Auch das hat zu nachlassendem Interesse an solchen Forschungsvorhaben beigetragen.

    Und dann stieg das Interesse an Russland plötzlich wieder heftig an, weil man nicht verstand, was dort tatsächlich geschieht und warum sich das so stark auf die internationalen Beziehungen auswirkt. Es war vorgesehen, dass Russland den Weg der postkommunistischen Demokratisierung geht. Und auf einmal zeigte sich, dass das alles nicht so einfach ist. Diese Erkenntnis reifte ab 2011. Das begann mit den damaligen Wahlen in Russland und der Massenprotestbewegung gegen die Wahlmanipulationen. Darauf folgte die politische Abkühlung, dann die Entwicklungen in der Ukraine, auf der Krim und in Syrien. Plötzlich wurde deutlich, dass es in den USA einen haarsträubenden Mangel an Experten für Politik, Soziologie und Kultur des heutigen Russland gab. Diese Einsicht hat im akademischen Milieu zu zahlreichen Diskussionen geführt. So wird der Kongress jetzt wieder einige große und wichtige Forschungsprogramme zu Russland und der ehemaligen Sowjetunion finanzieren.

    Die russischsprachige Community auf facebook versucht zurzeit ständig, sich danach einzuteilen, ob man sich für oder gegen bestimmte historische Figuren positioniert. Die Binarität, von der Sie gesprochen haben, lässt sich am Beispiel der Internetgemeinschaft sehr deutlich verfolgen.

    Diese Art, die Vergangenheit zu analysieren, ist sehr verbreitet. Man wird aufgefordert, sich mit einer von zwei Rollen zu identifizieren: Konformist oder Nonkomformist. Aber eine solche Aufteilung vereinfacht die historische Wirklichkeit und ist in vieler Hinsicht durch moralische Einstellungen gegenüber der Sowjetzeit diktiert, die sich erst in der postsowjetischen Zeit herausgebildet haben.

    Für viele ist es wichtig, sich nachträglich den Nonkonformisten zuzurechnen – zu sagen, dass man nie an irgendetwas geglaubt hat, immer dagegen war, den ganzen Sowjetmief hasste und so weiter. Das ist eine heroische Position. Man kann verstehen, dass sie heute wichtig ist, dass sie ein moralisches Kapital darstellt.

    Aber in der Sowjetzeit war das alles anders, und die Einstellung der meisten Bürger zum System war weder konformistisch noch nonkonformistisch. Sie war komplexer. In meinem Buch analysiere ich sie eingehend. Generell existierte damals für die Mehrheit weder der Begriff „Nonkonformismus“ noch das Ziel, sich in dieser Hinsicht zu definieren. Die sowjetische Geschichte wird heute nicht nur in den Sozialen Netzwerken vereinfacht, sondern auch auf der Ebene der staatlichen Rhetorik – und, wie schon gesagt, auf der Ebene der westlichen Rhetorik über die sowjetische Vergangenheit.

    Sehen Sie sich beispielsweise an, wie die sowjetische Vergangenheit in den sogenannten Besatzungsmuseen in den baltischen und osteuropäischen Staaten dargestellt wird. Das ist eine unglaubliche Vereinfachung, eine Wiederholung des binären Schemas. Das sozialistische Projekt und seine komplexe Geschichte kommen dort gar nicht erst vor. Es gibt nur sie und uns ihre Besatzungstruppen und unsere freie Nation, die immer eine Nation von Nonkonformisten war.

    Diese Methode ermöglicht es, die Geschichte unabhängig von unserer eigenen Rolle darzustellen. Wir werden weißgewaschen, die anderen werden angeschwärzt. Und so wird alles einfach. Dabei geht es nicht darum, zu behaupten, dass es in Wirklichkeit gar keine Unterdrückung durch die Sowjetunion gegeben habe. Es geht darum, dass man die Geschichte des sowjetischen und osteuropäischen Kommunismus nicht auf das Schema von Repression und Widerstand reduzieren kann. Das ist ein großes politisches und ethisches Problem. Es ist wichtig, dem etwas entgegenzusetzen.

    Für viele ist es wichtig, sich nachträglich den Nonkonformisten zuzurechnen – zu sagen, dass man immer dagegen war, den ganzen Sowjetmief hasste und so weiter

    Wenn über die Gegenwart gesprochen wird, kommt man gleich auf die 1990er Jahre: War es damals soundso oder nicht? Kehren sie wieder oder haben sie nie aufgehört? Und so weiter. Sie sind regelmäßig in Russland. Haben Sie den Eindruck, dass sich die gesellschaftlichen Gegensätze in den letzten Jahren verschärft haben?

    Um das zu verstehen, muss man sich ansehen, wie die aktuellen politischen Ereignisse beschrieben werden – und zwar nicht nur in den Staatsmedien, sondern auch in der Sprache der sogenannten liberalen Opposition. Ihr dominierender rechter Teil, der, der zwischen Watniki und freien Menschen unterscheidet, propagiert ein Schema, demzufolge 86 Prozent der Einwohner Russlands keinen Verstand haben und gebändigt gehören.

    86 Prozent – das ist eine haarsträubende Zahl. Sie ist eine Erfindung sogenannter Meinungsumfragen, die in Wirklichkeit nichts beschreiben. Die Methoden zur Erhebung solcher Informationen haben sehr wenig mit dem zu tun, was in der Welt vor sich geht. Bei der Befragung werden den Menschen relativ einfache Fragen über ihre Haltung zu dieser oder jener Politik oder Tatsache gestellt. Wenn man sich jedoch mit den Leuten unterhält, oder noch besser, wenn man sich einfach anschaut, wie sie sich verhalten und wie sie sich in ganz verschiedenen Kontexten äußern, dann zeigt sich, dass sie eine Menge verschiedener, komplexer und manchmal widersprüchlicher Einstellungen zur Wirklichkeit haben, in der sie leben. Aber diese Ambivalenz passt nicht in das binäre Schema. Nur etwas Markantes, Grelles, Großes kann die Menschen durch die Medien erreichen. Und schon spricht man auf facebook von der Fünften Kolonne oder den Watniki. Ich betrachte das als ein politisches Projekt, das die Reproduktion von Macht fördert.

    In Wirklichkeit lässt sich die russische Gesellschaft nicht in die große Watte und die kleine Freiheit einteilen. Sie ist viel komplexer. Ich bin sicher, dass wir die Gesellschaft im Falle eines politischen Führungswechsels von einer ganz anderen, unerwarteten Seite kennenlernen würden. Es wird sich herausstellen, dass wir sie mit unserem Binärschema überhaupt nicht verstanden haben. Genau so war es auch am Ende der Perestroika, als die ewige Sowjetunion unerwartet zusammenbrach.

    Es entsteht der Eindruck, dass Zeitgenossen, die sich Gedanken darüber machen, was im Land vor sich geht, drei Möglichkeiten zur Auswahl haben: a) sich mit einem Plakat auf die Straße zu stellen, b) zu emigrieren, c) eine Alternative zu diesen beiden Optionen zu entwickeln. Was meinen Sie dazu?

    Der Begriff der politischen Aktivität ist ein schwieriger Begriff. Nehmen Sie die typischen Leute aus meinem Buch, die an Versammlungen teilnehmen und für das stimmen, wofür in diesem Augenblick gerade gestimmt werden soll. Sie als apolitische Konformisten zu bezeichnen, wäre völlig falsch. Zunächst muss man verstehen, was da geschieht. Das habe ich in meinem Buch unternommen, und es hat dazu geführt, dass ich neue Begriffe vorgeschlagen habe – etwa die Politik und die Freiheit des Außerhalbseins, die meiner Meinung nach die Sowjetunion von innen heraus zerstört haben.

    Die Politik des Außerhalbseins lässt sich nicht auf Konformismus oder Nonkonformismus reduzieren. Auch über die gegenwärtige Situation kann man Ähnliches sagen. Es gibt einen interessanten Sammelband, der von einem Team politischer Soziologen und Anthropologen aus Moskau und St. Petersburg herausgegeben wurde: Die Politik der Apolitischen: Die Bürgerbewegung in Russland in den Jahren 2011–2013. Dort geht es um die Frage, was eine „apolitische Haltung“ denn eigentlich ist. Denn der Begriff ist ein Etikett, der eine moralische Bewertung der Person impliziert.

    Es gibt Kontexte, in denen Menschen mit scheinbar unpolitischen Methoden um sich herum soziale Räume schaffen, die nicht von den staatlichen Machtinstitutionen kontrolliert werden. Das ist eine politische Aktion, die nicht unbedingt mit den Methoden einer direkten Politik des Widerstands durchgeführt wird und deshalb apolitisch erscheinen kann. Doch tatsächlich hat sie weitreichende politische Konsequenzen.

    Eine originär apolitische Haltung ist es, wenn jemand darauf pfeift, was mit ihm selbst und den Menschen in seiner nächsten Umgebung geschieht, wenn er nicht verfolgt, was sich um ihn herum ereignet, wenn er sich vor allem auf den Konsum konzentriert und so weiter. Also das, was manchmal als Eskapismus bezeichnet wird. Viele Menschen auf der ganzen Welt leben so, auch in liberalen Gesellschaften.

    Aber es ist etwas ganz anderes, wenn Sie bestimmte Überzeugungen haben, sich jedoch nicht politisch engagieren möchten, indem Sie an Kundgebungen teilnehmen oder an organisierten politischen Aktionen und Bewegungen. Vielleicht sind Sie nicht damit einverstanden, welche Probleme auf den politischen Demonstrationen der Opposition dargestellt werden – wenn dort beispielsweise das liberale Establishment das Wort führt, dem sich viele nicht anschließen wollen. Mir persönlich ist der neoliberale Diskurs fern, der in der Opposition den Ton angibt. Gemäßigt linke Grundsätze und die direkte Demokratie liegen mir wohl näher. Deshalb würde ich nicht mit großer Überzeugung zu Veranstaltungen gehen, wo die Redner ein neoliberales Programm vertreten.


    Die russische Originalveröffentlichung dieses Interviews wurde unterstützt durch die Initiative Buchprojekte von Dimitri Simin und den Buchpreis Proswetitel (dt. Aufklärer). Beide Initiativen führen die Arbeit der gemeinnützigen Stiftung Dinastija fort, einer der wichtigsten privaten Stiftungen Russlands, die sich vor allem im Bereich Wissenschaft engagierte. Dinastija, gegründet 2002 vom Philanthropen und Unternehmer Dimitri Simin, löste sich im Juni 2015 auf, nachdem die Stiftung in das Register der sogenannten ausländischen Agenten eingetragen wurde.

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  • Erinnerungs-Entzündung

    Erinnerungs-Entzündung

    Geschichte ist zu einem der wichtigsten Streitgegenstände geworden in Russland – die Politik spielt dabei eine aktive Rolle. Morgen, zum Tag der Einheit des Volkes in Russland, wird in Moskau eine Statue zu Ehren des Fürsten Wladimir eingeweiht. Das Denkmal ist mit einer Vielzahl historischer Konnotationen aufgeladen (Verhältnis russischer Staatlichkeit und Orthodoxie zur Kiewer Rus, Verhältnis zwischen russischer und ukrainischer Geschichte). Zugleich werden durch Gedenktafeln, Büsten und Diskussionen um die Umbenennung von Straßen oder gleich ganzen Städten Bezüge in die Sowjetzeit und zum Stalinismus hergestellt.

    Für das Webmagazin InLiberty hat sich Nikolay Epplée mit dem sensiblen Thema der Erinnerungskultur im gegenwärtigen Russland auseinandergesetzt. Seine zentrale These: Die Interpretation der Geschichte werde derzeit völlig von der herrschenden Politik instrumentalisiert. Mit der Angliederung der Krim und dem Krieg im Donbass sei dies aktiv vorangetrieben worden. Das habe gewaltige Impulse in die russische Gesellschaft hineingegeben – und Raum für eine lange nicht dagewesene Anknüpfung an Stalin freigesetzt. Ein Kurzessay.

    Illustration © Masha Krasnova-Shabaeva
    Illustration © Masha Krasnova-Shabaeva

    Was noch vor wenigen Jahren nur einige besonders feinfühlige Autoren und Forscher konstatierten, ist heute offensichtlich: Russland ist von der Vergangenheit besessen. Der Ausdruck „Kampf der Erinnerung“ war zu Beginn der 2010er Jahre nur Soziologen ein Begriff, die sich mit dem kollektiven Gedächtnis befassten. Heute ist er allgemein bekannt. Keine Woche vergeht ohne einschlägige Nachrichten: Denkmäler für Stalin, Iwan den Schrecklichen, Wladimir den Großen werden eingeweiht (bzw. bestehende Denkmäler geschändet oder demontiert). Entsprechende Museen werden eröffnet oder Gedenktafeln für bestimmte historische Figuren angebracht. Oder es wird wieder einmal eine Initiative zur Umbenennung von Wolgograd gestartet.

    Die Massenkultur überschlägt sich: TV-Moderatoren stehen in Stalinscher Feldjacke verkleidet vor der Kamera. Werber und Organisatoren kultureller Massenveranstaltungen versuchen, mit dem Thema Repressionen zu spielen. Und ein Aktionskünstler, der die Tür der Lubjanka anzündet, gilt als der wichtigste zeitgenössische Künstler Russlands. Die Historiker sehen mit ohnmächtiger Verzweiflung zu, wie ihr Forschungsgegenstand zur mächtigen Ressource für den Aufbau einer „Geschichtspolitik“ wird – was nicht heißt, dass ihr Urteil dadurch mehr Gewicht erhielte; es wird paradoxerweise erst gar nicht mehr berücksichtigt. Die Erinnerung an die Vergangenheit führt ein Eigenleben, ganz wie es die klassischen Theorien der Kultursoziologen beschreiben. Sie nährt sich von Traumata, Manien, Phobien und der alltäglichen Erbitterung und zeigt wenig Interesse an Tatsachen. Eine grundlegende Besonderheit der heutigen russischen Realität, auf die schon oft hingewiesen wurde, besteht darin, dass die Geschichte an die Stelle der Politik tritt: Im Fernsehen, in den sozialen Netzwerken, auf der Straße und in den Küchen debattiert man nicht über die Gegenwart, sondern über die Vergangenheit.

    „Diskussionen dieser Art (über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Kriege in Afghanistan oder Tschetschenien, die Repressionen und den Zusammenbruch der UdSSR) kommen ganz von selbst zustande, im Taxi, im Zug, im Wartezimmer beim Arzt – überall, wo sich die Gelegenheit zum Gespräch ergibt“, schreibt Maria Stepanowa in einem der wichtigsten journalistischen Texte des Jahres 2015. „Das Ganze erinnert ein wenig an einen Familienkrach. Nur, dass das ganze, riesige Land als Küche dient. Und dass dabei auch Tote mitwirken, die, wie sich zeigt, ‚lebendiger als alle Lebenden‘ sind.“

    Auf jemanden, der das Geschehen aus der Distanz betrachten kann, macht es einen äußerst merkwürdigen Eindruck. Ein Land, das sich mit all seinen Nachbarn überworfen hat, befindet sich in einer langwierigen Wirtschaftskrise mit unsicherem Ausgang, die Regierung kürzt die Ausgaben auf das Allernotwendigste, außer die für den Krieg – und die Gesellschaft debattiert mit paranoidem Eifer über die Vergangenheit. Die Umbenennung der Metrostation Woikowskaja in Moskau oder das Anbringen bzw. Entfernen einer Gedenktafel für Carl Gustaf Mannerheim in St. Petersburg beschäftigt die Einwohner der beiden Hauptstädte mindestens genauso, wenn nicht sogar mehr als die Erhöhung der Lebensmittelpreise und die anhaltenden Kampfhandlungen auf dem Territorium des benachbarten Bruderstaates.

    Es lohnt sich, den Gründen für dieses Phänomen nachzugehen. Die Vergangenheit hält uns in Bann, weil sie nicht abgeschlossen ist – weil es nicht möglich war, die Toten gebührend zu begraben und zu betrauern, ihr Erbe anzutreten, Erkenntnisse aus der Geschichte zu ziehen und nach Vollendung eines Zyklus den nächsten zu beginnen. Um sich diesem Problemkomplex anzunähern, sollte man sie genau beobachten, diese Entzündung unseres Erinnerungsapparates.

    Reaktivierung des Stalinkomplexes

    Die Denkmäler für Stalin und seinesgleichen sind nicht auf einmal aus dem Boden geschossen. Sie sind seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer wieder aufgetaucht – mal hier, mal dort. Aber während man in den 2000er und den frühen 2010er Jahren versuchte, sie in den Gedenkräumen von Schulen, in Vorgärten oder auf geschlossenen Betriebsgeländen vor den Blicken Außenstehender zu verbergen, sind sie seit Anfang 2014 auf öffentliche Plätze vorgedrungen. Im Februar 2015 wurde in Jalta in Anwesenheit des Vorsitzenden der Staatsduma, Sergej Naryschkin, das Monument Die großen Drei eingeweiht – das erste offizielle Denkmal seit der von Chruschtschow eingeleiteten Ent-Stalinisierung, das auch Stalin gewidmet ist.

    Die russische Staatsmacht, die die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan als ernsthafte Gefahr für sich selbst empfand, begann, nach einer möglichst universellen Sprache zu suchen, welche die innerlich zutiefst gespaltene (oder vielmehr absichtlich und systematisch aufgespaltene) Nation zusammenführen konnte. Der universalistische Tonfall, der bei der Eröffnungs- und Abschlussfeier der Olympischen Spiele in Sotschi angeschlagen wurde, erwies sich als schlecht geeignet für die Mobilmachung. Es bedurfte einer patriotischen und isolationistischen Sprache, die an die Erfahrung des Sieges über äußere und innere Feinde appellierte.

    In Russland ist die einzige derartige Sprache traditionell die der Beschwörung des Sieges im Zweiten Weltkrieg. Ein Problem ist dabei, dass sich die Vertreter aus der offiziellen Sphäre diese Sprache zu sehr aneignen und die innere Bereitschaft, ihr zu folgen, auf persönlicher Ebene an Kraft verliert. Zudem eignet sie sich zwar zur Abarbeitung einer „positiven Agenda“, etwa wenn es um das Zusammenstehen gegen einen äußeren Feind geht. Aber für eine negative Mobilisierung, bei der an Gefahr und nicht an Größe gemahnt werden muss, ist sie kaum brauchbar.

    Die gleichzeitige Berufung auf Stalin und die Repressionen öffnet dem aufgestauten Negativen hingegen die Tür. Sie bietet einen kritischen, ja sogar einen Protest-Diskurs an und fügt sich in eine Auseinandersetzung mit inneren Feinden ein. Die staatliche Propaganda benutzte diese Sprache nicht gerade heraus; sie begann einfach nur, von äußerer und innerer Bedrohung, von Strafkommandos und Aufständischen, Bandera-Anhängern und Verrätern der Nation zu sprechen. Die Macht gab ihrer Stimme einen metallischen Beiklang, sie drohte und demonstrierte Stärke. Das genügte, um den Komplex zu aktivieren, der im Bewusstsein der russischen Bürger schlummerte.

    „Die abrupte Änderung der nationalen Politik hat bei vielen Leuten zu einer Veränderung der historischen Wahrnehmung geführt. Das Geschehen ließ sich für sie am folgerichtigsten in der Sprache der Sowjetunion unter Stalin beschreiben“, sagt der Historiker Ivan Kurilla. „In dieser Ära hat die Sowjetunion ihr Territorium erweitert, und das wurde damals als positiver Prozess gesehen. Nach Stalin hatte es das nicht mehr gegeben. Die Expansion des Landes, die Annexion der Krim, erwies sich also für einen Großteil der Mitbürger als Anstoß, zu einem Weltbild zurückzukehren, das wir aus der Sowjetunion aus der Mitte des 20. Jahrhunderts kennen.“

    Die Staatsmacht hat dieses Bild nicht absichtlich evoziert. Es entwickelte jedoch eine Eigendynamik, und bereits im Frühjahr 2014 bekannten sich mehr Russen als zuvor zu einer sympathisierenden Haltung Stalin gegenüber. Wie in der alten Geschichte vom Zauberlehrling waren die entfesselten Kräfte unkontrollierbar für diejenigen, die sie aus Nützlichkeitserwägungen heraus freigesetzt hatten. Und ihre Wucht und Bedeutung ging weit über den ursprünglichen Anlass hinaus. Aus dem Abgrund stieg ein Problem empor, das weit größer war als Krim und Maidan. Die Staatsmacht war beim Tasten nach einer einenden Sprache auf einen allumfassenden Schmerz gestoßen. Sie hatte auf sensible Stellen im Körper abgezielt, aber den traumatischen Punkt getroffen.

    Sowjetische Ideologie-Versatzstücke

    Gerade das Trauma ist das wichtigste einigungsstiftende Moment dieses wieder zum Leben erweckten Gebildes. Was auf den ersten Blick aussieht wie die Wiedergeburt eines Kolosses, wie die Rückkehr des Staatsmodells der UdSSR unter Stalin, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Reihe heterogener Elemente, denen die innere Einheit fehlt.

    Besonders deutlich wird dies in der Außenpolitik – zum Beispiel in der Wiederbelebung von Ideen und Reaktionsweisen, die mit dem Kalten Krieg zusammenhängen. Anders als die UdSSR kann das heutige Russland – das den wirtschaftlichen Wettbewerb und den Rüstungswettlauf verloren hat und der Welt kein alternatives politisches System, keine alternativen Werte und Ideale mehr zu unterbreiten hat – den eigenen Bürgern nur die Sehnsucht nach einer solchen Alternative und solchen Werten bieten und dem Rest der Welt nur ein Imitat der sowjetischen Bedrohung. Da der Staat den Status als Weltmacht nicht auf natürliche Weise wiedererlangen kann, nutzt er eine Art Analogiezauber. Er legt Kostüme der Vergangenheit an, um in eine Zeit zurückzukehren, in der das Gras grüner war – und er selbst stärker und erbarmungsloser. Interessanterweise spielt die Bevölkerung dabei gerne mit. Die Erinnerung an das Leben im Kalten Krieg ist ja noch recht frisch und leicht wiederzubeleben. Und dass wir anstelle einer Ideologie und eines starken Staates etwas äußerst Amorphes haben, entgleitet der Aufmerksamkeit der meisten Leute, scheint gleichsam irrelevant zu sein.

    Das Gleiche geschieht in der Innenpolitik. Die staatlichen Repressionsorgane sind desintegriert und schwach. Ihnen fehlen die ideologische Motive und der Glaube an die Gerechtigkeit der eigenen Sache, sie sind allein von Gier und Angst angetrieben. Der Staat spielt die starke Hand nur – und seine Bürger spielen bereitwillig das Leben unter der starken Hand. Innerhalb dieser Logik erklärt sich, weshalb der abrupte Anstieg der Verfahren wegen „Extremismus“ und „Staatsverrat“ sowie die Kampagnen gegen „ausländische Agenten“ und die Fünfte Kolonne funktionieren und von der Mehrheit akzeptiert werden (fast die Hälfte derer, die über das ziemlich schnell eingestellte Verfahren gegen die mehrfache Mutter und „Staatsverräterin“ Swetlana Dawydowa informiert waren, gaben den Daten des Meinungsforschungsunternehmens WZIOM zufolge an, dass sie eine Gefängnisstrafe verdient habe). Selbst rein technische Maßnahmen wie die Einführung gebührenpflichtiger Parkplätze, der Abriss von Verkaufsbuden oder Straßenbaumaßnahmen im Zentrum von Moskau werden nach dem Muster stalinscher Mobilisierungskampagnen durchgeführt.

    Für die mangelnde Zukunftsfähigkeit und die Gebrechlichkeit der Konstrukte, mit denen wir es heute zu tun haben, spricht auch ihr hoffnungslos eklektischer Charakter. Sowjetische Ideologie-Versatzstücke verbinden sich mit monarchistischen, Orthodoxie mit Faschismus, Kommunismus mit Kapitalismus und Erscheinungen der Moderne mit offenkundigem Postmodernismus. Der „weltanschaulichen Rahmen“ beherbergt ein Konstrukt aus äußerst heterogenen Erscheinungen, die je nach Situation aus Ängsten und Traumata  zusammenmontiert wurden.

    Aber wenn das so entstandene Bündel künstlich, unvollständig und nicht lebensfähig ist, wenn es keine Ressourcen für eine echte Renaissance des stalinistischen Modells gibt – woher kommt dann die offensichtliche und augenfällige Energie, mit der dieses Gebilde Lebenszeichen von sich gibt?

    Erstens liegt der schmerzhaft aufbrechenden Erinnerung an die Sowjetunion, wie schon gesagt, ein Trauma zugrunde, das die Zeit nicht heilen kann, wenn es nicht verarbeitet wird. Zweitens erinnert das Phänomen mit seiner Intensität und seinem verkrampften Bemühen stark an eine Agonie. Agonie im medizinischen Sinn bedeutet ja immer eine Aktivierung der Lebenskräfte – Atmung, Herzrhythmus und Durchblutung des Sterbenden funktionieren plötzlich wieder. Verantwortlich dafür sind jedoch nicht das Gehirn und der obere Bereich des Nervensystems, sondern Hirnstamm und Rückenmark. Es handelt sich um eine von Krämpfen begleitete Verbrennung der letzten Ressourcen im Vorgriff auf das unvermeidliche Ende. Das, was heute zu beobachten ist, erinnert bei aller scheinbaren Lebendigkeit und Frische genau daran.

    Der schlafende Koloss erwacht nicht, sondern liegt im Todeskampf. Das heißt jedoch keineswegs, dass das Geschehen harmlos ist. Diese Agonie von historischem Maßstab kann Jahre andauern, und der Drache kann in den letzten Zuckungen viele mit ins Verderben reißen – sowohl die tapferen Ritter als auch die Anhänger, die sich an ihn geklammert haben, sei es aus Angst, aus Dummheit oder weil sie den Todeskampf mit der Rückkehr zum Thron verwechselten.

    Er hat schon jetzt einige tausend Menschen mit sich gerissen, die – freiwillig oder auf Befehl – in den ukrainischen Krieg zogen und dort getötet haben und gefallen sind. Und einige Dutzend (anderen Angaben zufolge Hunderte) in Syrien. Dazu kommen die Opfer der Verurteilungen wegen Extremismus und anderer parapolitischer Anklagen, die infolge der Aktivierung des repressiven Systems stark zugenommen haben.

    Unheimlicher und Schmerzlicher Diskurs

    So paradox es klingt: Man kann in dieser krampfhaften Aktivierung des „Stalinkomplexes“ auch ein wichtiges Zeichen der Hoffnung sehen. Denn die Verarbeitung der traumatischen Vergangenheit, die durch zahlreiche politische, soziale und psychologische Faktoren erschwert wird, könnte sich dadurch endlich das ganze Land packen und Russland faktisch zu einem ernsthaften Umdenken zu nötigen. Die Erinnerung an den Großen Terror ist bis heute entweder weitgehend privat, in den Tiefen verborgen, aus denen heraus sie unsichtbar die Gegenwart und die Beziehung zu ihr gefärbt hat (siehe das Buch Krivoe gore – dt. Der entstellte Kummer von Alexander Etkind), oder sie wurde „extern“ bearbeitet. Jetzt kann sie mit voller Kraft erwachen. Die gemeinsame Verarbeitung des gemeinsamen Schmerzes ist eine unumgängliche Voraussetzung für die Heilung.

    Staatliche Anstrengungen allein reichen in solchen Fällen nicht aus – davon zeugt die äußerst oberflächliche offizielle Ent-Stalinisierung in den 1950er und 1960er Jahren, die als solche schon ein schmerzhaftes Ressentiment provoziert hat, und später dann die Umwertung der Werte in den 1990er Jahren. Auch die Bemühungen lediglich eines aktiven Teils der Zivilgesellschaft sind nicht ausreichend. Die Bedeutung der Tätigkeit von Organisationen wie Memorial ist nicht hoch genug einzuschätzen. Die Mitglieder von Memorial sagen jedoch selbst, dass sie ihre Aufgabe darin sehen, der Öffentlichkeit die Materialien und Fakten für die Aufarbeitung an die Hand zu geben. Sie können diese Aufarbeitung nicht anstelle der Gesellschaft und ohne Mitwirkung des Staates durchführen.

    In den beiden letzten Jahren ist zu beobachten, dass in der ganzen Gesellschaft ein Diskurs über die Repressionen und das Erbe des Stalinismus beginnt. Dieser Diskurs ist oft unheimlich und schmerzlich, er entgleitet zuweilen in unnötige und emotionale Verallgemeinerungen – aber wenn ein Geschwür aufbricht, ist das unvermeidlich. Oleg Chlewnjuks Buch über Stalin gehört zu den verlegerischen Höhepunkten des Jahres 2015, und einiges deutet darauf hin, dass es im Kreml aufmerksam gelesen wird. Posts in sozialen Netzwerken, die dem Gedenken an die Repressionen gewidmet sind, werden zu Zehntausenden geteilt (nur zwei Beispiele: Andrej Mowtschans Antwort auf einen Kommentator und Sergej Parchomenkos Erzählung über Kolpaschewski Jar); Bürgerinitiativen wie Woswraschtschenie imjon (Rückgabe der Namen) und Posledni adres (Die letzte Adresse) vermehren sich  exponentiell. Ein wichtiges Detail: In diesem Jahr wird die Aktion Woswraschtschenie imjon am Solowezki-Stein in Moskau erstmals nicht aus Fördertöpfen, sondern durch Spenden von Bürgern finanziert. Früher war so etwas nicht möglich – jetzt ist es auf einmal ganz selbstverständlich geworden.

    Man kann sogar noch etwas weiter gehen. Russland braucht nicht einfach nur einen Diskurs über die Erinnerung. Ein solcher Diskurs ist vielmehr der einzige Weg, um eine weit schwierigere Aufgabe anzugehen: den Versuch, im ganzen Land eine gemeinsame Sprache zu finden.

    Neben vielen anderen Dingen hat die Krim-Krise deutlich gezeigt, dass in der russischen Gesellschaft ein kalter Bürgerkrieg herrscht, der in einer Krisensituation ein heißer werden kann. Der Schmerz, der deutlich mit der Stalinära in Zusammenhang steht, ist wohl die einzige wirklich gemeinsame Erfahrung, die nicht nur die Russen vereint oder vereinen könnte, sondern alle Menschen im postsowjetischen Raum.

    Eine solche Vereinigung wäre von gänzlich anderer Art als das, was die Urheber der Post-Krim-Mobilisierung wachrufen wollten. Aber gerade sie könnte ein Gespräch darüber in Gang setzen, wie wichtig und notwendig eine Koexistenz in diesem Raum ist – ein Gespräch über gemeinsame Ziele und über Gemeinsamkeiten, für die es sich lohnt, Kompromisse einzugehen.

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  • Der Rubel bleibt unter der Matratze

    Der Rubel bleibt unter der Matratze

    Die jüngste Umfrage des Lewada-Zentrums zeigt, dass die Konsumbereitschaft der Privathaushalte weiter sinkt. Es mangelt an Ressourcen. Marina Krassilnikowa, Leiterin der Abteilung für Einkommens- und Konsumstudien des unabhängigen Instituts, erläutert die Daten. Alles deutet darauf hin: Die Krise ist in den Köpfen angekommen.

    Im Verlauf des vergangenen Jahres haben die von uns befragten Personen über sinkende Einkommen berichtet, die Einschätzung des eigenen Wohlstands hat sich kontinuierlich verschlechtert. Beides beeinflusste selbstverständlich das Konsumklima. Unsere Mitbürger haben endgültig realisiert, dass die Krise lange anhalten wird: 75 % der Bevölkerung sind überzeugt, dass sie erst in einigen Jahren überwunden werden kann, während der Anteil der Optimisten, die glauben, dass sich die Lage schon in etwa anderthalb Jahren verbessern könnte, bei ca. 20 %  liegt.

    Diese Stimmungen beeinflussen auch das Verhalten: Der Dezember – eigentlich der Monat, in dem seit jeher die Neujahrsgeschenke1 gekauft werden – war im Jahr 2015 geradezu ein Fiasko. Der Anstieg des Konsums fiel mit lediglich 2 % geringer aus als zu dieser Jahreszeit üblich. Hier schließe ich mich der Meinung einiger Kollegen an, dass die Konsumenten in einen Sparmodus geschaltet haben. Wobei das natürlich jeder auf seine Weise tut, je nach materieller Situation. Allerdings sparen so gut wie alle bei den Lebensmitteln.

    Ressourcenmangel zwingt zur Konsumbeschränkung

    Mit Sparen ist hier jedoch nicht gemeint, dass weniger gekauft wird. Oft versuchen die Menschen einfach, günstiger einzukaufen. Der Preis ist inzwischen das wichtigste Kriterium bei der Produktwahl. Was schade ist: Die russischen Verbraucher hatten sich gerade ein kleines Stück von diesem „Armutsschema“ entfernt und angefangen, mehr auf Qualität und Marke zu achten, und schon geht es wieder rückwärts.

    Wird das Verbraucherverhalten rationaler? In gewissem Sinne ja, aber es ist eine erzwungene Rationalität, wenn man spart, nicht, weil man geschickt mit Geld umgeht und seine Haushaltskasse kalkuliert, sondern einfach, weil man kein Geld hat.

    Einen festen Platz hat weiterhin der Geltungskonsum – die Demonstration von sozialem Status durch Anschaffungen. Allerdings können wir hier strukturelle Veränderungen beobachten. In den Nullerjahren, vor der Krise, gehörten zum demonstrativen Massenkonsum die Anschaffung von Kleidung und Urlaubsreisen ins Ausland. Heute demonstrieren Menschen, deren Geld gerade so zum Leben reicht, ihren Konsumstatus eher, indem sie teurere Lebensmittel kaufen. Das spricht natürlich Bände.

    Kaum Aussicht auf Belebung des Konsums

    Was die Prognose für die kommenden Monate angeht, gibt es bisher keine guten Nachrichten. Im Januar ist der Index des Konsumklimas, den das Lewada-Zentrum monatlich auf Basis von Umfragen unter der Bevölkerung Russlands erhebt, im Vergleich zum Dezember um 13 % gesunken. Dies deutet darauf hin, dass die Menschen vermehrt auf Konsumausgaben verzichten werden. Zugleich werden die Inflationserwartungen weiter ansteigen und der „Sparmodus“ andauern.

    Bisher hatten die Menschen in einer Wirtschaftskrise versucht, Geld auszugeben, um die Ersparnisse in Sachgüter zu verwandeln und sie so vor der Inflation zu schützen. Dieses Verhaltensmuster verschwindet jetzt. Heute hält man an seinen Ersparnissen fest, auch wenn sie bescheiden sind. Und darin liegt das Dilemma der aktuellen Krise: Es gibt Ersparnisse, aber niemand möchte sie ausgeben. Deshalb bleibt die Hoffnung, dass sich die Wirtschaft durch Ankurbeln des Konsums wieder in Schwung bringen ließe, vorerst nur eine Hoffnung.


    1.In Russland werden die meisten Geschenke nicht zu Weihnachten, sondern zum Neujahrsfest gemacht.

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  • Fernseher gegen Kühlschrank

    Fernseher gegen Kühlschrank

    Quo vadis, Russland? Die wirtschaftliche Lage ist angespannt, der Ölpreis im Keller, die westlichen Sanktionen gehen weiter. Ökonomische Schwäche durch vermeintliche außenpolitische Erfolge zu kaschieren – das könne auf Dauer nicht gut gehen, warnen zwei renommierte Experten: Alexej Lewinson vom Lewada-Zentrum und Ljubow Borussjak von der Moskauer Higher School of Economics. Für Slon skizzieren sie die unterschiedlichen politischen Perspektiven und Hoffnungen innerhalb der russischen Gesellschaft für das kommende Jahr.

    Denkt man darüber nach, was das neue Jahr wohl bringen mag, stellt sich auf die eine oder andere Weise die Frage nach möglichen Veränderungen: Die einen träumen von einer Wende zum Besseren, die anderen fürchten den Wandel zum Schlechteren. Die meisten jedoch setzen auf die Erhaltung des Status Quo, also darauf, jede Veränderung zu vermeiden.

    Immer häufiger jedoch begegnet einem der Gedanke, dass sich der gegenwärtige Zustand unmöglich aufrechterhalten lässt. Wenn es zurzeit überhaupt ein Gleichgewicht gibt, dann funktioniert es so: Wirtschaftliche Schwächen werden durch außenpolitische Erfolge ausgeglichen – und seien es nur eingebildete. Dabei ist vielen klar: Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich weiter. Und bedeutende militärische und politische Erfolge sind nicht zu erwarten.

    In dem bekannten Halbscherz von der Schlacht „Fernseher gegen Kühlschrank“ wird angedeutet, dass der leere Kühlschrank bald gewinnen wird. Danach, so darf man annehmen, kommt es zu Hungerrevolten. Und was folgt dann? Eine Revolution nach dem Muster der Februar- oder der Oktoberrevolution? Die Wenigsten sind in der Lage, sich den nächsten Schritt vorzustellen, bzw. bereit, die möglichen Szenarien zu durchdenken. Bei der einen Perspektive – dem möglichen Untergang Russlands – wäre das Höchste der Gefühle an Reaktion ein heftiges Erschrecken: Es wäre das Ende – über das, was danach kommt, möchte niemand nachdenken.

    Wir sind weder Anhänger des Schlachtszenarios zwischen Kühlschrank und Fernseher noch erwarten wir Revolution und Untergang, aber dass das derzeitige Gleichgewicht durch ein anderes ersetzt werden muss, steht außer Frage. Wissen wir, wie es aussehen wird? Nein. Was wir aber kennen, sind einzelne Utopien. Und die versuchen wir im Folgenden zu beschreiben.

    Die Utopie des Krieges

    Eine weitere Perspektive ist die Rückkehr zu der Situation, wie sie sich direkt nach der Angliederung der Krim, aber vor den Sanktionen und der Wirtschaftskrise darstellte: Russland auf dem Gipfel des Ruhms, „wir sind stark, aber friedlich“ und das wird der Westen bald anerkennen. Dies wünschen sich die Mehrheit der Bevölkerung und die Eliten am meisten. Doch es ist klar, dass dieser Zustand in den nächsten Jahren (ja, überhaupt) unerreichbar ist.

    Umfragen zufolge hat sich seit dem Krim-Anschluss in der russischen Gesellschaft das Bewusstsein durchgesetzt, nicht in „alltäglichen“, sondern in „Ausnahme-Zeiten“ zu leben. Ein solches Ausnahme-Bewusstsein denkt in den Kategorien der Heldentat. Es geht deshalb davon aus, dass weder Opfer noch Mühen gescheut werden sollten, dass der Sieg keinen Preis kennt und dass die Siegesfreude ausnahmslos alle ergreifen und vereinen wird.

    Das Alltagsbewusstsein beruht auf entgegengesetzten Prinzipien: Es muss das normale Leben in der Gesellschaft gestalten. Im Alltag muss man zwangsläufig rechnen, wie teuer gewisse Dinge sind, und Wünsche danach prüfen, ob sie überhaupt zu erfüllen sind.

    Natürlich erlaubt es das epische, von Heldentaten geprägte Bewusstsein, in einem wunderbaren Zustand zu verweilen, während das Alltagsbewusstsein mit düsteren Gedanken über die Lage und die dafür Verantwortlichen beschäftigt ist. Das derzeit Fatale ist, dass mithilfe der Medien versucht wird, die Ausnahmesituation (und das entsprechende Bewusstsein) nicht nur als Normalität, sondern auch als Norm zu verankern und das Alltagsbewusstsein als subversiv zu denunzieren. Die Gesellschaft im Ausnahmezustand zu halten und den alltäglichen Zustand verbieten zu wollen, ist jedoch utopisch und deshalb nicht machbar.

    Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015

    Diese Unerreichbarkeit treibt Politiker und Normalbürger zu abenteuerlichen Entscheidungen – zur Suche nach Lösungen mittels militärischer Erfolge. Die Schwelle, die uns vom realen Krieg als dem schlimmsten Übel abhält, ist in letzter Zeit dramatisch gesunken. So viele haben mit dem Begriff „Dritter Weltkrieg“ herumgespielt, dass es an der Zeit ist zu fragen, weshalb die Staatsanwaltschaft noch kein einziges Verfahren nach Artikel 354 des Strafgesetzbuches eingeleitet hat. Alle, die politisches Kapital aus Überlegungen schlagen wollen, wie sehr ein Krieg das gesellschaftliche Wohlergehen befördern könnte, seien daran erinnert, dass im Strafgesetzbuch ein Gesetz zu dieser Frage existiert: „Öffentliche Aufrufe zur Entfesselung eines Angriffskriegs … unter Nutzung der Medien durch Personen, die ein öffentliches Amt der Russischen Föderation oder eines ihrer Bestandteile innehaben, werden mit einer Geldstrafe … oder einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren belegt.“

    Eine weitere Utopie der heutigen Zeit ist allerdings die Perspektive, die internen Probleme des Landes ausgerechnet durch solche extremen außenpolitischen Mittel zu lösen. Doch so werden diese Probleme nicht gelöst. Die Annahme, dass Russland sich auf militärischem Weg eine neue, vorteilhaftere Position in der Welt erringen könnte, ist nicht haltbar. Nicht haltbar deswegen, weil sie auf der primitiven Logik beruht, dass Frieden ein Ergebnis von Krieg ist. Die Stellung eines Landes in der modernen Weltordnung wird jedoch nicht mehr durch die Faktoren bestimmt, die in der Geopolitik relevant waren – einer Disziplin des vergangenen Jahrhunderts.

    Was ist also zu tun? Die Gelder, die im Staatshaushalt für die Verteidigung vorgesehen sind, verteilen sich letztlich auf Millionen von Beschäftigten in der Rüstungsindustrie und bei den Streitkräften. Auch wenn wir der Auffassung sind, dass es für das Wohl der Gesellschaft besser wäre, diese Mittel in andere Wirtschaftsbereiche zu lenken, darf man das nicht vergessen. Die Hauptsache ist also, dass die mit diesen Geldern hergestellten Kugeln nicht abgefeuert werden. Das Land durch militärische Erfolge zu retten, ist eine Utopie. Es ins Unglück zu stürzen, ist hingegen leider eine sehr realistische Perspektive.

    Die Atrophie des gesellschaftlichen Denkens

    Es wäre wunderbar, anstelle dieser beiden dargelegten Perspektiven, die wir zu Utopien erklärt haben, eine dritte vorzuschlagen: Nennen wir sie „freies, demokratisches Russland“. Die über 80 Prozent der Bevölkerung, die heute ihre Zustimmung zu Putin bekunden, haben schließlich früher einmal ihre Zustimmung zu Gorbatschow und dann zu Jelzin zum Ausdruck gebracht und damit deutlich gemacht, dass sie die Perspektive einer demokratischen Entwicklung im Land unterstützen. Die Verteidigung dieser Ideale ist bekanntlich schwächer und schwächer geworden, heute scheint sie aus der politischen Realität Russlands völlig verschwunden zu sein. In der Tat gibt es zurzeit keine soziale Schicht, die eine solche Agenda verfolgen würde. Und auch von einer ernstzunehmenden politischen Kraft, die sie öffentlich vertreten würde, fehlt jede Spur.

    Aber darin liegt unserer Ansicht nach gar nicht das größte Problem. Denn die Ideen von Menschenrechten, von demokratischen Freiheiten und von einer demokratischen Gesellschaft sind im öffentlichen Bewusstsein als solche präsent, wenn auch zurzeit in verdeckter Form. Die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz haben gezeigt, dass diese Ideen in jedem Moment an die Oberfläche gelangen und große Menschenmengen inspirieren können. Das Problem ist, dass sie nach wie vor fast in demselben Gewand daherkommen, wie sie die Glasnost-Ära hervorgebracht hat – das heißt so, wie sie von den russischen Demokraten der Sacharow-Generation formuliert wurden. Die Aufgaben, die das moderne Russland stellt, lassen sich jedoch nur mit einer Neufassung dieser Ideen bewältigen, die die zeitlosen Werte von Gerechtigkeit und Freiheit zeitgemäß auslegt.

    Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015

    Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen sind nicht die edlen, zeitlosen Werte der Demokratie gefragt, sondern edle und moderne demokratische Konzepte. Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten inmitten des Kulturkonflikts, der über Europa hereingebrochen ist und über Russland hereinzubrechen droht? Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten in einer Gesellschaft, in der die Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten einhellig abgelehnt wird? Wie kann sich die Gesellschaft aus der moralisch-rechtlichen Verstrickung lösen, die sich unter anderem aus dem Konflikt zwischen dem Recht der Nationen auf Selbstbestimmung und dem Verbot der Revision von Grenzen ergibt?

    Und vor allem: Wie lässt sich der friedliche Übergang bewerkstelligen, weg vom augenblicklichen – als Putinismus, Autoritarismus, Totalitarismus und so weiter bezeichneten – Zustand, hin zu diesem freien und demokratischen Russland? Uns scheint, die russische Gesellschaft hat aufgehört, über diese Frage nachzudenken. Vielleicht ist es eine Utopie, sie zu stellen? Hoffen wir, dass das neue Jahr eine Antwort auf diese Frage bringt. Oder ist auch das – eine Utopie?

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  • Bürgerrechtler im Agentenmantel

    Bürgerrechtler im Agentenmantel

    Vor drei Jahren wurde das sogenannte „NGO-Agentengesetz“ erlassen. Das Gesetz soll formal die Finanzierung von Zivilgesellschafts-Organisationen aus dem Ausland stoppen. De facto aber entzieht es unbequemen Gruppen die rechtliche Existenzgrundlage. Was machen sie daraus?

    Igor Sashin, Vorsitzender der Menschenrechtskommission Memorial in der Republik Komi, Syktywkar

    Wir sind keine „ausländischen Agenten“, wir sind Menschenrechtsaktivisten, und wir wollen als Menschenrechtsaktivisten überleben. Dieses ganze Theater mit den „ausländischen Agenten“ ist ein Versuch, uns anzuschwärzen und durch den Dreck zu ziehen. Wir finden das abscheulich, ekelhaft. Die haben versucht, uns  diesen Stempel aufzudrücken, wir finden das ungeheuerlich.1 Laut dem Gesetz, seinen Implikationen und sämtlichen gängigen Anwendungspraktiken hätten wir nicht darunter fallen dürfen. Vor diesem Hintergrund haben wir dann die Organisation geschlossen. Wir haben alle dafür nötigen Papiere eingereicht, eine Auflösungskommission eingesetzt und sämtliche Konten aufgelöst. Das sind Dinge, die parallel laufen, all so Zeug eben, soll das laufen, wie es will. Aber sämtliche Menschenrechtsaktivitäten, die mit konkreter Hilfe zu tun haben, führen wir unverändert fort.

    Wir gehen in die Gerichte, haben immer noch Sprechzeiten und unterstützen Menschen, indem wir sie beraten und unsere Öffentlichkeitsarbeit fortsetzen. Wir machen weiter mit unseren Monitorings und Nachforschungen, treffen Vertreter verschiedener Institutionen und versuchen sie zu überzeugen, dass sie etwas ändern müssen. Wir machen weiter, Arbeit gibt es genug.

    Es gibt immer Menschen, die leiden. Menschen, die den Handlungen Stärkerer zum Opfer fallen, und die müssen verteidigt werden. Daran kommen wir nicht vorbei. Die Welt geht kaputt, die Starken fressen die Schwachen. Da muss sich jemand dazwischen stellen.

    Der Rest muss einem echt total egal sein. Es wird immer Leute geben, die einem zuschauen, wie man etwas Gutes tut, und einen dann dringend mit Dreck bewerfen und ins Gesicht spucken wollen. Die werden einen ständig besudeln und stören, aber das ändert gar nichts, tut mir leid. Unsere Aufgabe bleibt es, Menschen zu helfen, egal was passiert und welche Bedingungen man uns aufzwingt. Denn es gibt sonst niemanden, der den Schwachen hilft und ihnen zur Seite steht – auch den Allerschwächsten und selbst dann, wenn es ganz üble Gestalten sind.

    In Komi haben sie zum Beispiel gerade Gajser und seine Seilschaft verhaftet. Die werden jetzt von jedem als Fußabtreter benutzt, aber man muss sich trotz allem für sie einsetzen, weil zwei von ihnen schwer krank sind. Man muss klären, warum sie inhaftiert sind – einer aus der Truppe ist schwerbehindert und ein anderer ist totkrank, er hat Krebs. Das gehört zum Leben, aber das geht so nicht.

    Wioletta Grudina, Aktivistin der regionalen Initiativgruppe Maximum, Murmansk

    Unter Menschenrechtsorganisationen wird inzwischen schon gewitzelt: Wenn du nicht auf der Liste der „ausländischen Agenten“ stehst, hast du nichts erreicht.

    Uns hat man vor etwa einem Jahr als „ausländische Agenten“ eingestuft, im Februar. Wir waren die zweite schwul-lesbische Organisation, die so eingestuft wurde – die andere ist Rakurs. Bei der Überprüfung unserer Organisation wurden ein paar Kalender von Rakurs gefunden, und das wurde dann als ein Kriterium genannt, dass wir ein „ausländischer Agent“ sind – dass wir Kalender eines anderen „ausländischen Agenten“ haben!2 Das war alles an den Haaren herbeigezogen und unglaubhaft. Selbst ganz normale Postings unseres Leiters Sergej Alexejenko im sozialen Netzwerk Vkontakte wurden als politische Aktivitäten gewertet. Das Gesetz ist so unscharf formuliert, dass es beliebig ausgelegt werden kann, und entsprechend läuft das alles auch ab.

    Wir wurden gezwungen, eine gewisse „politische Tätigkeit“ einzugestehen und erhielten eine Geldstrafe von 300.000 Rubel. Wir haben die Strafe bezahlt und unsere Organisation ist jetzt aufgelöst. Erst vor wenigen Wochen wurde die letzte Auflösungphase im Justizministerium abgeschlossen. Jetzt sind wir nur noch eine Initiativgruppe. Natürlich hat das auch Vorteile: Weil wir jetzt keine juristische Person mehr sind, kann der Staat auch keine Vorwürfe aufgrund des „Agentengesetzes“ und anderer absurder Gesetze mehr gegen uns erheben.

    Unsere Organisation kümmert sich um die psychologische und rechtliche Unterstützung in der LGBT-Community. Und ich würde nicht sagen, dass wir uns wesentlich verändert haben, abgesehen davon, dass wir offiziell aufgelöst wurden. Klar bedeutet es einen großen finanziellen Verlust und das hat uns schwer getroffen. Tee und Kekse kosten Geld, die Leute wollen ermutigt werden, die Mitarbeiter müssen ihr Gehalt bekommen.

    Wenn eine Organisation als „ausländischer Agent“ eingestuft wird, ist da sofort das Klischee „Die werden doch alle vom US-Außenministerium bezahlt“ – und so weiter und so fort. Wir wurden auch zur Zielscheibe von Provokationen. Die Leute wollen nicht hören, was wir zu Menschenrechtsverletzungen oder der weit verbreiteten Diskriminierung zu sagen haben. Sie interessieren sich nur für das Geld, das wir angeblich aus dem Ausland bekommen. Die Organisation erhält auch Geld aus dem Ausland, weil die Regierung und die Staatsorgane in Russland solche Aktivitäten nicht unterstützen, obwohl sie sich in nichts von denen der regierungsfreundlichen Organisationen unterscheiden und wir einfach nur die Idee einer demokratischen Gesellschaft fördern.

    Mit diesem Gesetz soll ganz grundsätzlich Druck auf das Engagement und die Initiative von Bürgerseite ausgeübt werden. Als wir als „ausländische Agenten“ eingestuft wurden, gab es viele öffentliche Veranstaltungen. Wir haben uns laut und deutlich zu uns selbst und zu den Rechten und Freiheiten in der Region allgemein geäußert. Ich denke, dass wir den Behörden mit unseren Aktivitäten im Weg waren und sie uns einfach vom Feld genommen haben.

    Kirill Korotejew, Anwalt des Menschenrechtszentrums Memorial, Moskau

    Wir arbeiten weiter wie bisher. Die Verwaltungsentscheidung des Justizministeriums beeinflusst unsere Tätigkeit in keiner Weise. Die Arbeit hat sich nur in einer Hinsicht verändert: Wir haben jetzt mehr damit zu tun, uns selbst zu verteidigen. Jetzt gerade zum Beispiel sprechen wir beide ja nicht über meine eigentliche Arbeit. Wir reden weder über die Opfer des Terroranschlags in Beslan oder die der Bombardierung von Katyr-Jurt noch über das Verschwinden von Personen noch über die Versammlungsfreiheit in Moskau. Wir sind gezwungen, uns selbst zu verteidigen – manchmal übrigens recht erfolgreich. Zum Beispiel haben wir den Prozess am Verfassungsgericht zu Beginn dieses Jahres gewonnen.3  Aber das Verfassungsgericht hält sich nicht gern an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, und die übrigen russischen Gerichte halten sich nicht gern an die Entscheidungen des Verfassungsgerichts.4 Deshalb schreibt das Samoskworezki-Bezirksgericht auf die direkte Anweisung des Verfassungsgerichts, unser Verfahren zu revidieren: „Das ist doch nicht wichtig genug.“

    In diesem Jahr gab es die üblichen juristischen Schikanen, außerdem fand das Justizministerium auf der Website der Internationalen Gesellschaft Memorial „eine Aussage von Mitgliedern und Mitarbeitern des Menschenrechtszentrums Memorial zum Bolotnaja-Prozess, in der diese das Urteil kritisieren.“ Daraus wird gefolgert, dass wir „die verfassungsmäßige Ordnung untergraben“.

    Auch die Entscheidung des Justizministeriums, uns in die Liste der „ausländischen Agenten“ aufzunehmen, kam auf ziemlich lächerliche Weise zustande. Im April 2013 gab es einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der besagte, dass wir mit der Kritik an der russischen Gesetzgebung und den Informationen zu den Festnahmen in Moskau eine politische Tätigkeit ausüben. Im Februar 2014 führte das Justizministerium eine Überprüfung durch, die keinen Hinweis darauf ergab, dass wir gegen das „Agentengesetz“ verstoßen. Im Juni 2014 trat ein Gesetz in Kraft, das dem Justizministerium erlaubte, Organisationen durch eigene Entscheidung in die Liste „ausländischer Agenten“ aufzunehmen. Und da wurden wir plötzlich in das Register eingetragen, und zwar unter Berufung auf den Antrag der Staatsanwaltschaft von 2013, dessen Gültigkeit eigentlich bereits im gleichen Jahr abgelaufen war.

    Die Akten des Justizministeriums taugen also zu nichts, und wenn man ein entsprechendes Ziel hat, kann man sie auch ignorieren. Die Prüfungsakte des Justizministeriums aus dem Jahr 2014, in der kein Verstoß gegen das „Agentengesetz“ festgestellt wurde, musste dem überholten Antrag der Staatsanwaltschaft weichen. Das Justizministerium hatte die Wahl zwischen zwei Akten – einer veralteten und fremden und einer eigenen und aktuelleren. Und es hat sich für die fremde und veraltete Akte entschieden. Da fragt man sich, wozu wir eigentlich überhaupt ein Justizministerium brauchen? Das alles ist im Grunde natürlich zum Lachen – das Justizministerium hat seine eigene Belanglosigkeit bestätigt. Wenn hier jemand die Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung untergräbt, dann natürlich das Justizministerium. Zu diesen Grundlagen der Verfassungsordnung gehört gemäß Artikel 13 der Verfassung zum Beispiel der weltanschauliche Pluralismus.


    1.Die Menschenrechtskommission Memorial wurde im Juli 2015 in die Liste des Justizministeriums aufgenommen – Takie Dela
    2.Die schwul-lesbische Hilfsorganisation Rakurs aus Archangelsk wurde im Dezember 2014 in die Liste aufgenommen – Takie Dela
    3.Im Februar hat das Verfassungsgericht anerkannt, dass das derzeitige Verfahren zur staatsanwaltschaftlichen Überprüfung von NGOs verfassungswidrig ist und das Verfahren der antragstellenden Organisationen in die Revision überwiesen – Takie Dela
    4. Mittlerweile wurde in Russland mit einem am 4. Dezember 2015 von der Duma verabschiedeten Gesetz entschieden, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur noch umgesetzt werden, wenn der Verfassungsgerichtshof zuvor geklärt hat, dass diese nicht gegen das russische Grundgesetz verstoßen – dek

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  • Bestrafter Protest

    Bestrafter Protest

    Seit Juli 2014 ist in Russland ein Gesetz in Kraft, nach dem Ordnungsverstöße gegen das Demonstrationsrecht als Straftat geahndet werden können. Nun ist das neue Gesetz zum ersten Mal angewendet worden: Für vier Protestaktionen im Laufe des vergangenen Jahres muss der Aktivist Ildar Dadin für drei Jahre ins Lager. Damit fällt die Strafe sogar höher aus, als vom Staatsanwalt gefordert. Beobachter sehen darin eine Warnung davor, sich im politischen Protest zu engagieren.

    Der politische Aktivist Ildar Dadin ist vom Basmanny-Gericht in Moskau wegen wiederholten Verstoßes gegen das Demonstrationsrecht zu drei Jahren Lagerhaft im allgemeinen Vollzug verurteilt worden. Er ist damit die erste Person in Russland, deren Verurteilung mit dem neuen Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs begründet wurde. Dieser Artikel stellt den wiederholten Ordnungsverstoß bei der Ausrichtung bzw. Durchführung von Versammlungen, Demonstrationen, Aufmärschen oder Mahnwachen unter Strafe. Der Staatsanwalt hatte nur zwei Jahre Lagerhaft im allgemeinen Vollzug beantragt – also ein weniger strenges Strafmaß, als es Richterin Natalja Dudar letztlich verhängte. Dadin lehnte es ab, sich schuldig zu bekennen.

    Ildar Dadin wurde die Teilnahme an vier Aktionen im Jahr 2014 angelastet, wobei nach Auskunft seiner Anwältin Xenija Kostromina für drei dieser Fälle bereits rechtskräftige Gerichtsentscheidungen erfolgt waren; im vierten Fall war das Verwaltungsverfahren im Hinblick auf  die Eröffnung eines Strafverfahrens eingestellt worden. Dem Aktivisten wird die Beteiligung an Protestaktionen am 6. und 23. August, am 13. September sowie am 5. Dezember 2014 angelastet. Bei der letzten Aktion hatten acht Aktivisten mit einem Transparent „Gestern Kiew – morgen Moskau“ die Straße blockiert, Fackeln angezündet und sich in Richtung Lubjanka bewegt. Dadin war am 15. Januar auf dem Manegenplatz festgenommen worden. Er erhielt 15 Tage Arrest. Am 30. Januar wurde er im Gerichtstermin dem Ermittlungsrichter überstellt, wo die ihm vorgeworfene Ordnungswidrigkeit verhandelt wurde. Am 3. Februar wurde Dadin unter Hausarrest gestellt. Der Ermittlungsrichter hatte Untersuchungshaft gefordert, mit dem Hinweis darauf, dass Dadin am Kiewer Maidan beteiligt gewesen sei. Zuvor waren Verfahren nach Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs auch gegen die Aktivisten Wladimir Ionow, Mark Galperin und Irina Kalmykowa eröffnet worden. Sie alle hatten sich an anderen oppositionellen Aktionen beteiligt.

    Die Verschärfung des Demonstrationsrechts nahm nach den Ereignissen auf dem Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 ihren Anfang. Einen Monat später wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Strafen für Ordnungverstöße bei der Durchführung von Demonstrationen drastisch erhöhte. Im Juli 2014 traten dann die Änderungen im Strafgesetzbuch in Kraft. Vorgeschlagen hatten diese Gesetzesänderungen die Staatsduma-Abgeordneten Igor Sotow (von der Partei Gerechtes Russland) sowie Andrej Krassow und Alexander Sidjakin (beide von der Partei Einiges Russland). Sidjakin sagte, die Änderungen seien notwendig, um zu verhindern, dass sich die ukrainischen Ereignisse in Russland wiederholen. Artikel 212.1 des Strafgesetzbuches sieht bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug vor. Bestraft wird der wiederholte Ordnungsverstoß bei der Ausrichtung bzw. Durchführung von Versammlungen, Demonstrationen, Aufmärschen oder Mahnwachen. Dazu müssen innerhalb von 180 Tagen mehr als zwei Ordnungswidrigkeiten nach Artikel 20.2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten erfolgt sein.

    Zu dem Urteil erklärt Sidjakin: „Es widerspricht meiner Überzeugung als Jurist, das Urteil zu kommentieren, ohne alle Seiten des Verfahrens zu kennen. Das Strafmaß hat vier Funktionen: Schutz, Wiedergutmachung, Prävention und Bestrafung. Die Verteidigung wird wohl Berufung einlegen, und das Gericht wird alle ihre Argumente prüfen“, erklärt Sidjakin. Der Präsident habe in seiner letzten Ansprache gesagt, dass für kleinere Vergehen trotz allem administrative und keine strafrechtlichen Sanktionen in Betracht kommen müssten, bemerkt der Abgeordnete Rafael Mardanschin (Einiges Russland), Mitglied des Strafrechts-Ausschusses der Duma. „Aber die Ansprache liegt noch nicht lange zurück und die Anstrengungen zur Humanisierung haben gerade erst begonnen“.

    Der Menschenrechtsaktivist Pawel Tschikow sagt, dass dies das erste Urteil nach dem neuen politischen Artikel des Strafgesetzbuches sei und dass es kurz vor Beginn des Wahljahres Angst verbreiten solle: „Ein Urteil, das nicht mit Freiheitsentzug verbunden ist, hätte eine Amnestie bedeutet. Und auch bei der Verurteilung zu einem Jahr Gefängnis wäre er freigekommen, weil er sich schon fast ein Jahr unter Hausarrest befindet. Ein solches Urteil signalisiert, dass von den Richtern in Bezug auf diesen und andere Artikel keinerlei Erbarmen und Nachsicht zu erwarten sind.“ Laut Tschikow wird bereits am Dienstag bekanntgegeben, welches Strafmaß der Staatsanwalt für Ionow beantragt: „Ionow könnte wegen seines fortgeschrittenen Alters verschont bleiben. Kalmykowa hat sich bereits schuldig bekannt. Aber Galperin muss sich leider auf eine echte Haftstrafe gefasst machen.“

    Es werden Präzedenzfälle geschaffen, um ein Signal an alle zu senden, die bereit sind, sich in der Protestbewegung zu engagieren – so der Politologe Konstantin Kalatschew. „Vor dem Hintergrund der sozialen Krise wird der politische Protest zu einer gefährlichen Sache.“ Der Politologe hält solche Methoden jedoch für sinnlos, weil „man den Menschen den politischen Protest nicht aberziehen kann. Sie wissen, worauf sie sich einlassen und sind bereit, das Risiko einzugehen.“

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  • Streichhölzer für Pyromanen

    Streichhölzer für Pyromanen

    Russland und die Türkei waren immer wieder miteinander in Kriege verwickelt. Mitte des 19. Jahrhunderts mündete der Russisch-Osmanische Krieg gar in einen weitreichenden eurasischen Konflikt, den Krimkrieg. Wie werden sich die Parteien in der derzeitigen, vom Geschehen in Syrien ausgelösten Konfrontation verhalten? Der Politologe Wladimir Pastuchow skizziert in der Novaya Gazeta zwei Szenarien – mit großer Hoffnung erfüllen ihn beide nicht. Streichhölzer, schreibt er, sind in die Hand von Pyromanen gelangt, die lustvoll mit dem Feuer spielen.

    Erdogan musste ohne einen festen russischen Händedruck aus Paris abreisen. Auch die Ansprache des russischen Präsidenten vor der Föderalversammlung ließ keinen Zweifel daran, dass die Sache allein mit der Einfuhrbeschränkung für ein paar Tomaten nicht aus der Welt zu schaffen ist. Das Thema Türkei hat die Ukraine aus der Ansprache des Präsidenten verdrängt. Doch Istanbul ist nicht lieblicher als Kiew – Russland muss schon wieder zwischen einem schlechten und einem sehr schlechten Szenario wählen. Die Münze des russisch-türkischen Konflikts schwebt weiter in der Luft, und bislang ist nicht abzusehen, was am Ende oben liegen wird: Kopf – ein zähneknirschender Frieden – oder Zahl – ein Krieg nach dem Zahn-um-Zahn-Prinzip.

    Zähneknirschender Frieden

    Bei diesem Szenario könnte Russland sein Gesicht verlieren, aber andere für Schicksalsschläge empfindlichere Körperteile würden unversehrt und heil bleiben. In diesem Fall würde nach einer gewissen Pause kontrolliert die Luft aus den PR-Blasen der antitürkischen (von der russischen Seite) und antirussischen (von der türkischen Seite) Propagandakampagnen herausgelassen werden (ähnlich wie beim fließenden Übergang vom Projekt Noworossija zur Autonomie innerhalb der Ukraine).

    Die Gesellschaft hier kann sich nie lange auf eine einzelne Tragödie konzentrieren, denn es folgt eine Tragödie nach der anderen. In wenigen Monaten wird bestimmt wieder etwas passieren, das die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zieht. Wenn nicht, so kann man auch nachhelfen, zum Beispiel indem man die Spannungen in der Ostukraine wiederbelebt – zumal man sich hierfür nicht sonderlich bemühen müsste. Vor diesem Hintergrund würden die Führer Russlands und der Türkei letztlich einen Weg finden, um miteinander zu sprechen und eine Reihe gegenseitiger Zugeständnisse zu machen: Die Türkei bewegt sich zum Beispiel wirtschaftlich bei den Gasprojekten und akzeptiert die russische Vorgehensweise zur Gaspreisbildung, dafür sichert Russland informell zu, die Intensität der Bombardierungen in den an die Türkei grenzenden syrischen Gebieten zu reduzieren, indem es, wen nötig, nicht zu Verbündeten, sondern zu Feinden des IS erklärt.

    Im Grunde wäre diese Option heute allen recht – vor allem Europa, das sich unbedingt mit Russland einigen und dabei den (im Kontext der Ukraine) besorgten Gesichtsausdruck bewahren möchten. Die Europäische Union könnte sich im Prinzip mit Putin darauf einigen, dass das abgeschossene Flugzeug ein Dolchstoß in den Rücken der Befriedungs-Politik des Kremls ist.

    Die Variante Zahn um Zahn

    Beim zweiten Szenario wahrt Russland sein Gesicht, setzt sich jedoch mit einem großangelegten Krieg fern der eigenen Landesgrenzen auf eine glühende Herdplatte. Es gibt Mutmaßungen, dass Teile der russischen Militärs und politischen Eliten zu einer Nullvariante tendieren, die auf den Abtausch einer gleichen Anzahl abgeschossener Flugzeuge zielt. Es werde die Verhandlungen beleben, so kalkuliert man, wenn beide Seiten sich in einer ähnlichen Lage befinden – dann könne man Erdogan ohne Probleme beide Hände auf einmal drücken. Allerdings, und darin liegt das Problem, ist es unmöglich vorherzusagen, wie sich Erdogans Hände in diesem Fall verhalten würden: Sie könnten sich zur Umarmung öffnen, sie könnten sich aber auch zu Fäusten ballen. Folglich spielt Moskau, wenn es diesem Szenario folgt, russisches Roulette.

    Interesse gegen Interesse

    Die Wahrscheinlichkeit, dass die Türkei auf einen Schlagabtausch inadäquat reagiert, ist heute beträchtlich – die Chancen stehen fifty-fifty. Das Problem liegt darin, dass der Konflikt zwischen der Türkei und Russland grundlegender Natur ist. Was die Länder trennt, sind nicht so sehr die Ambitionen ihrer Führer (worüber heute viel geschrieben wird), als vielmehr die Interessen beider Länder, was weitaus gravierender ist. Ambitionen kann man zurückschrauben, vor Interessen gibt es kein Entrinnen. So oder so treten sie früher oder später zu Tage und unterwerfen sich die politische Logik, entstellen und zerstören alle Pläne und Vorhaben. Genau das beobachten wir offenbar gerade in den russisch-türkischen Beziehungen.

    Für die Türkei ist Syrien eine Ukraine im eigenen Einzugsgebiet. Latakia ist für sie eben jenes Noworossija, und Assad für den türkischen Präsidenten schlimmer als Poroschenko für Putin. Genau wie Putin kämpft Erdogan gegen eine Revolution, nur nicht gegen eine orangene, sondern gegen eine grüne. Um zu überleben, muss er eine Konterrevolution exportieren. Die liefert er nach Latakia, mit genau solchen Humanitärkonvois, wie sie den Menschen im Donbass wohlbekannt sind. Um „ihren Soldaten“ Assad zu retten, bombardieren russische Flugzeuge diese Konvois und diejenigen, für die ihre „völlig friedliche Fracht“ bestimmt ist. Darum kann Erdogan es sich nicht erlauben, vor der russischen Präsenz in dieser Region die Augen zu verschließen.

    Doch auch der Kreml ist nicht aus freien Stücken zum Kämpfen nach Latakia gekommen. Das vierte Jahr in Folge ist er auf dem Rückzug vom Bolotnaja-Platz. Er machte Zwischenstopp in „Noworossija“, konnte dort die Stellung nicht halten und zog dann weiter nach Süden. Aus Latakia abzuziehen kann der Kreml sich nicht leisten: Der Donbass sitzt ihm im Rücken, und in Syrien erfüllt die russische Armee eine historische Mission mit dem Versuch, das weltweite Gleichgewicht der Kräfte auszutarieren, das nach Ansicht Moskaus nach dem Fall der Berliner Mauer ins Wanken geraten ist. Die Türkei wird in Syrien von Russland demonstrativ ignoriert und nur als weißes Rauschen im globalen großen Spiel betrachtet. Unterdessen hat die Türkei ihre eigenen Gründe, Russland nicht zu mögen, wobei es weniger um historische als um aktuelle Politik geht. Beide Seiten sind durch die Vergangenheit verbunden und können nicht frei manövrieren.

    Vergangene Kriege, aktuelle Gefahren

    Beide Seiten haben wohlüberlegt und bewusst gehandelt. Die Russen haben gezielt die Turkmenen bombardiert, um die Sicherheit des Assad-Regimes zu gewährleisten, und die Türken hat ebenso gezielt dem Flugzeug aufgelauert, um den Punkt zu markieren, ab dem die Einmischung Russlands in den Konflikt die für sie akzeptable Grenze überschreitet. Nachdem Russland die Mission übernommen hat, die Schiiten im Nahen Osten zu schützen, verhält es sich genauso wie vor 150 Jahren, als es seine Mission war, die Slawen auf dem Balkan zu schützen. Das führte damals zu einer Reihe Russisch-Türkischer Kriege, die im Großen und Ganzen positiv für Russland ausgingen (auch wenn der Westen nicht zuließ, dass es von dem militärischen Sieg in vollem Ausmaß profitierte). Die Erinnerungen an diese Kriege rufen in der Gesellschaft durchaus Illusionen und Erwartungen hervor. Ein neuer Russisch-Türkischer Krieg könnte jedoch in Wirklichkeit als Russisch-Japanischer Krieg entpuppen und wie dieser zu einer ernsten Herausforderung werden – nicht nur für die russische Armee, sondern auch für das soziale und politische System des Landes. Zumindest herrscht in Russland heute die gleiche prahlerische Siegeszuversicht wie vor 100 Jahren am Vorabend des Russisch-Japanischen Krieges.

    Wenn die Türken beschließen, va banque zu spielen, droht die russische Militärbasis in Syrien zum Port Arthur des 21. Jahrhunderts zu werden. Die militärische Überlegenheit der Türkei vor Ort ist so hoch, dass ein russisches Expeditionskorps (einschließlich der Marinekräfte) faktisch chancenlos wäre. Ein großangelegter Angriff auf die Türkei ist äußerst unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass die Türkei Mitglied der NATO ist und sich auf ihrem Territorium Atomwaffen befinden. In dieser Situation würde Russland wohl die Schande einer militärischen Niederlage ertragen müssen.

    Niederlagen prägen bekanntlich das Bewusstsein der Bevölkerung weitaus stärker als Siege. Eine Eskalation des militärischen Konflikts mit der Türkei hätte deshalb vermutlich heftige revolutionsschürende Auswirkungen auf die russische Gesellschaft zur Folge. Damit schlösse sich der politische Kreis: Was als Davonlaufen vor der Revolution begann, würde mit einem revolutionären Sturmlauf enden.

    Vorerst ist dies nur eines von mehreren möglichen unerwünschten Szenarien, und man könnte es durch besonnenes und umsichtiges Handeln vermeiden. Ein friedlicher Ausweg aus dem türkischen Gambit ist im Interesse aller, die leben wollen: Russen wie Europäer, Eurasier wie Westler, Apologeten des Regimes wie vehemente Oppositionelle. Aber das Problem ist ja gerade, dass von Abwägung und Besonnenheit bisher nichts zu spüren ist. Streichhölzer sind in die Hand von Pyromanen gelangt, die lustvoll mit dem Feuer spielen – und man kann nur noch darauf hoffen, dass der Selbsterhaltungstrieb der herrschenden Elite von den Informations- und Analysesendungen des russischen Staatsfernsehens nicht komplett zerstört worden ist.

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