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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Eskalationsspiele

    Eskalationsspiele

    2000 bis 4000 Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien sitzen im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus bei Temperaturen um den Gefrierpunkt fest. Immer wieder versuchen Gruppen, die Zäune und Grenzvorrichtungen in Richtung EU zu durchbrechen. Mittlerweile stehen rund 15.000 polnische Soldaten an der Grenze, die ein Durchkommen der Flüchtlinge zu verhindern versuchen, sie immer wieder in Richtung Belarus zurückdrängen. Belarussische Grenzer treiben die Flüchtlinge dagegen immer wieder in Richtung Polen. In Minsk protestierte eine große Gruppe von Migranten am Sportpalast im Zentrum der Hauptstadt.

    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wirft den belarussischen Machthabern vor, mit der Flüchtlingskrise „einen hybriden Angriff” auf die EU gestartet zu haben. Polen wertet Alexander Lukaschenkos Rolle in der Krise als „Staatsterrorismus”, der deutsche Außenminister Heiko Maas nennt ihn einen „Schleuser”. Der belarussische Außenminister Wladimir Makej dagegen hält die Krise an der Grenze für eine Provokation durch die NATO und droht mit Vergeltung. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow sagte: „Die Lage ist definitiv angespannt, alarmierend – sie erfordert ein verantwortungsvolles Handeln aller Beteiligten.” Unterdessen telefonierte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Wladimir Putin und bat ihn, auf Lukaschenko einzuwirken. Die Lage an der östlichen EU-Grenze spitzt sich weiter zu. Weitere EU-Sanktionen sollen den belarussischen Machthaber zusätzlich unter Druck setzen. Lukaschenko droht im Gegenzug, den Warenverkehr durch sein Land und den Transit von Öl und Gas in Richtung EU zu blockieren.

    In Politik und Medien wird derweil auch in Belarus debattiert, wie der Konflikt zu lösen und zu bewerten sei. In der staatlichen Zeitung SB.Belarus segodnja meint der Politikanalyst Juri Schewzow ganz im Sinne der offiziellen Rhetorik des Machtapparats, dass Polen die Schuld an dem Konflikt trage: „Dieses Land lebt mit monströsen Vorstellungen von sich selbst und der Realität. Und deshalb haben die Polen kein Recht, sich als Europäer zu bezeichnen. Indem sie an der Grenze Gräueltaten begehen, verletzen sie europäische und christliche Werte.” Die belarussische Führung inszeniert sich in einer Krise, die sie selbst geschaffen hat, als „Beschützerin von humanitären Werten”. Darauf spielte die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja mit ihrer Aussage auf Twitter an: „Erinnern wir uns: Die Migrantenkrise an der Grenze zwischen Belarus und der EU hat nicht erst gestern oder vor einem Monat begonnen. Sie begann mit der politischen Krise in Belarus im letzten Jahr.” Im eigenen Land geht Lukaschenkos Machtapparat seitdem brutal gegen die eigene Bevölkerung vor. Die polnische Regierung hat sich schon früh auf die Seite der Protestbewegung in Belarus gestellt. Polen war einer der EU-Staaten, die die Sanktionen gegen Lukaschenko vorangetrieben haben. Durch den Flüchtlingsstrom, der von den belarussischen Machthabern seit Anfang Juli lanciert und flankiert wird, soll also nicht nur die EU, sondern auch Polen abgestraft werden. Polen erwägt nun, seine Grenzen zu Belarus vollständig zu schließen. Auch die Ukraine, die auf 1000 Kilometern an Belarus grenzt, überlegt, ihre Grenzvorrichtungen zu verstärken. 

    In seinem Text für das Medium Naviny.by rückt der Journalist Alexander Klaskowski vor allem die belarussische Sichtweise auf den Konflikt in den Vordergrund. Dabei fragt er, ob es Lukaschenko gelingen kann, die EU mit seiner Taktik zu schwächen, welche Rolle Putin in Lukaschenkos Eskalationsplan spielt und ob der Kreml überhaupt Interessen an einer weiteren Eskalation der Krise hat.

    Schadenfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Aber hat Minsk auch rationale Gründe, diese Krise zu eskalieren? Wird es Lukaschenko gelingen, Europa „zu beugen“, wie er es ausdrückt? Und wie wird sich Russland angesichts dieser Eskalation verhalten – das Land, das zweifellos weit mehr Einfluss auf die belarussische Führung hat als die anderen Beteiligten?

    „Und ihr Halunken, ihr Verrückten, wollt, dass ich euch beschütze?“

    Die belarussische Führung gibt sich unschuldig: Die Menschen aus den Problemländern seien legal eingereist, sie begingen keine Verstöße und so weiter und so fort. Das ist natürlich pure Heuchelei.

    Lassen wir die Frage, wie diese Leute nach Belarus gebracht wurden einmal beiseite. Zumindest gibt es strenge Regeln für das Betreten von belarussischen Grenzgebieten durch Ausländer. Doch während Hunderte von Belarussen, die in geschlossenen Kolonnen durch die Straßen liefen, das mit Gefängnis bezahlen mussten, wird es dahergelaufenen Gestalten aus irgendeinem Grund nicht verwehrt. Die belarussischen Sicherheitskräfte präsentieren sich bei solchen unerlaubten Aktionen als reinste Knuddelbären.

    Lukaschenko hat am 9. November ein Interview mit Igor Korotschenko, dem Chefredakteur der russischen Zeitschrift Nazionalnaja oborona (Nationale Verteidigung) genutzt, um ziemlich durchsichtige Botschaften an Europa zu übermitteln: „Ihr habt Sanktionen gegen mich verhängt, gegen die Belarussen. Ihr habt einen hybriden Krieg gegen Belarus angezettelt – Medien, Wirtschaft, Politik, jetzt seid ihr schon beim Militärischen und der Sicherheit angelangt. Und ihr Halunken, ihr Verrückten, wollt, dass ich euch beschütze, und das auch vor Migranten?“

    Die Hoffnungen anderer Gegner Lukaschenkos, Putin könne ihn zähmen oder gar ganz absetzen, sind derweil naiv.“ / © Viktor Tolochko / Sputnik Images

     

    Nach Lukaschenkos Meinung ist es von der EU ein wenig töricht, „von mir zu verlangen, dass ich, wie bislang, das aus eigener Tasche bezahlen und stoppen soll“. Kurz und gut: Ändert eure Politik gegenüber dem Regime, setzt euch an den Verhandlungstisch und zahlt, wenn ihr dieses Problem loswerden wollt. Die Propagandisten des Regimes erklären klipp und klar, Lukaschenko könne diesen Albtraum „mit einem Fingerschnippen“ beenden.

    Bislang scheint Europa jedoch nicht geneigt, vor Minsk in die Knie zu gehen. Polen und Litauen verhalten sich trotz Kritik von der UN und Menschenrechtlern hart gegenüber den ungebetenen Gästen und schlagen ihnen die Tür vor der Nase zu.

    Zudem arbeitet Brüssel an einem fünften Sanktionspaket, um Minsk für diese Politik zu maßregeln. Das Image des Regimes auf der internationalen Bühne wird immer abstoßender; es wird vom Westen immer deutlicher als Bedrohung der Sicherheit in der Region wahrgenommen, als Quelle der Instabilität für die Gemeinschaft der demokratischen Länder.

    Das Regime setzt auf die Schwäche der europäischen Politiker

    Kann man also sagen, dass Lukaschenkos Spiel zum Scheitern verurteilt ist? Wie lässt sich die Hartnäckigkeit des Regimes bei der Eskalation der Migrationskrise erklären?

    Die belarussische Regierung, die darauf abzielt, Europa zu verärgern, wendet hier „dieselbe Logik an wie bei ihren inländischen Gegnern“, so der Politikexperte Waleri Karbalewitsch in einer Stellungnahme gegenüber Naviny.by. Seiner Meinung nach ist die Regimeführung vor allem von einem Bedürfnis nach „elementarer Rache“ getrieben.

    Es gebe aber auch ein rein rationales Kalkül – nämlich, Europa zu den Bedingungen des Regimes an den Verhandlungstisch zu zwingen. „Lukaschenko hält europäische Politiker für Schwächlinge“, so Karbalewitsch. Und wenn etwa der österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg im Vorfeld einer Konferenz zu Belarus in Wien erklärt, man könne mit Minsk nicht nur in der Sprache der Sanktionen sprechen, gibt er der belarussischen Führung Grund zu der Annahme, dass es sinnvoll sei, den Druck auf Europa zu verstärken. Zwar sei es Lukaschenko bisher nicht gelungen, die EU „zu beugen“, aber es gebe auch keine starke Reaktion aus Europa. „Die Europäische Union ist ratlos“, so Karbalewitschs Fazit.

    Auch Pawel Ussow, Leiter des Zentrums für politische Analyse und Prognose in Warschau, äußerte gegenüber Naviny.by die Meinung, dass „es zurzeit in Europa keine politischen Führer gibt, die die volle Verantwortung übernehmen und die willensstarke Entscheidung treffen könnten, das Lukaschenko-Regime ohne Rücksicht auf die Folgen zunehmender Spannungen zu bezwingen“.

    Lukaschenko, so der Politologe, „handelt nach dem Prinzip der maximalen Spannungseskalation“. Er setze auf die Erfahrung, dass europäische Politiker bei steigendem Leidensdruck dazu neigen, „den Weg des Kompromisses zu gehen, eine Möglichkeit zum Dialog zu suchen“. Zudem habe der belarussische Regent „nichts mehr zu verlieren“, was das Image eines zivilisierten Politikers angeht.

    Putin spielt sein eigenes Spiel

    Im Kontext dieser Eskalation wird klar, dass Moskau Minsk die Bälle zuspielt. Am 10. November versuchte die weiterhin amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Migrationskrise mit Wladimir Putin zu besprechen. Dieser jedoch, so teilt der Pressedienst des Kreml mit, „schlug vor, eine Erörterung der entstandenen Probleme im direkten Kontakt der offiziellen staatlichen Vertreter – der EU-Mitglieder und Minsk – in die Wege zu leiten“. Kurz gesagt, er hat Europa gepflegt zu Lukaschenko geschickt.

    Tatsächlich wäre es eine starke Vereinfachung anzunehmen, dass Putin nur daran denkt, wie er in seinem Konflikt mit dem Westen am besten Lukaschenkos Interessen vertreten kann. Moskau spielt sein eigenes Spiel. Ussow weist unter anderem darauf hin, dass mittlerweile Kampfflugzeuge vom Typ Tu-22M3 der russischen Luftstreitkräfte im belarussischen Luftraum patrouillieren.

    „Ist die Migrationskrise vielleicht nur ein Deckmantel, um russisches Militär nach Belarus zu schicken?“, fragt der Leiter des Zentrums für politische Analyse und Prognose Pawel Ussow. Ihm zufolge könnte Putin höchstpersönlich der Europäischen Union die Vermittlerrolle in der Lösung der Krise aufnötigen und daran die Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland knüpfen, indem er eine Art Normandie-Format einfordert, in dem Moskau als vollwertiger Partner für Europa agiert.

    Mit anderen Worten, der Kreml wäre auf diese Art in der Lage, sein Problem der politischen Kontrolle über Belarus zu lösen und gleichzeitig „Lukaschenko zur Realisierung der eigenen Außenpolitik im Hinblick auf die EU zu instrumentalisieren“, erklärt Ussow zusammenfassend.

    Die Führungselite ist es nicht gewöhnt, Schritte vorauszuberechnen

    Generell ist die Behauptung, in dieser Situation würde der Schwanz mit dem Hund wedeln, zumindest bestreitbar. Ja, Lukaschenko trumpft mit dem russischen Atomschild auf und muss sich tatsächlich, trotz all seiner Kunststücke, nicht vor einer Intervention des Westens fürchten (obwohl man immer wieder – auch im Gespräch mit Korotschenko – an die Schicksale von Saddam Hussein und Muammar Gaddafi denkt, die die westlichen „Halunken“ „einfach getötet“ haben).

    Die Hoffnungen anderer Gegner Lukaschenkos, Putin könne ihn zähmen oder gar ganz absetzen, sind derweil naiv. Die beiden autoritären Regime sind artgleich und geistesverwandt, zudem hat der Kreml bislang weder einen wirklichen Ersatz für den belarussischen Führer noch ein zuverlässiges Instrumentarium für einen solchen Machtwechsel. 

    Auf einem anderen Blatt steht, dass der Kremlchef seine Mission keinesfalls in der Schaffung möglichst bequemer Bedingungen für den belarussischen Problempartner sieht, und auch nicht in seiner Rettung um jeden Preis. Im Gegenteil, Moskau nutzt dessen wachsende Konfrontation mit dem Westen aus und verstärkt seine militärische Präsenz in Belarus (was nicht in Lukaschenkos Interesse und noch weniger im Interesse der belarussischen Souveränität liegt). Erweitert man den Blick, wird klar, dass die russische Führung Belarus in ein Netz von Abhängigkeiten verstrickt hat, aus dem es auch eine neue Führung nicht herauslösen kann.

    Gleichzeitig ist der Kreml bereit, den skandalträchtigen Verbündeten beim Wort zu nehmen: Ah, du sagst, die Polen und andere Aggressoren werden gleich mit ihren „Leoparden“ in den Unionsstaat einfallen? Dann lass uns doch mit ein paar Militärbasen und einigen „Iskander“-Raketensystemen an den Grenzen zum heimtückischen NATO-Monster aushelfen. Und du könntest dann eigentlich, nachdem du bezüglich der Krim-Anerkennung schon A gesagt hast, endlich mal B sagen (was die Beziehungen zur Ukraine automatisch erheblich verschlechtern und Minsk weiter isolieren würde).

    Hinzu kommt noch, dass die fortgesetzte strikte Abweisung der illegalen Migranten durch Polen und Litauen zu einer Ansammlung dieser Menschen in Belarus führen kann, die zum innenpolitischen Problem für das Regime würde. Dadurch wäre die belarussische Regierung, so Karbalewitsch, notgedrungen zu einer „Drosselung dieser Operation“ gezwungen.

    Doch aktuell beobachten wir noch immer eine Erhöhung der Einsätze. Die belarussische Führungselite ist es nicht gewöhnt, viele Schritte vorauszuberechnen und hofft scheinbar nach wie vor darauf, Europa „beugen” zu können.
    Im Endeffekt riskiert Minsk, sich in jeder Hinsicht zu verrechnen. Die Beziehungen zum Westen werden endgültig begraben und Belarus rutscht noch tiefer in Moskaus imperiale Falle.

  • Erinnerung an den Holocaust im heutigen Russland

    Erinnerung an den Holocaust im heutigen Russland

    „Die Russen haben mich gerettet und durchgebracht.“ So heißt es in einem Brief des Auschwitzgefangenen Otto Frank an seine Mutter in Basel. Er ist datiert auf den 23. Februar 1945, also weniger als einen Monat nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee. Frank konnte gerade wieder einen Stift in der Hand halten. Dass eben jener Otto Frank im Jahr 1947 das Tagebuch seiner Tochter Anne veröffentlichte, ist bekannt. Dass er selbst von sowjetischen Soldaten und Ärzten gerettet und behandelt wurde, hingegen weniger.

    Geschichten wie diese, die einen Bezug zwischen der Sowjetunion und dem Holocaust herstellen, blieben in der Sowjetunion und später auch in Russland lange unerzählt. Die UdSSR sah sich selbst als Hauptopfer der nationalsozialistischen Verbrechen, weswegen der Begriff Holocaust aus politischen Gründen nicht benutzt und der Mord an den europäischen Juden nicht öffentlich thematisiert wurde – obwohl zahlreiche Opfer des Holocausts sowjetische Staatsbürger waren. In Russland gab es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lange ebenfalls kein staatliches Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust, sodass zivilgesellschaftliche Gedenkinitiativen einerseits und Holocaustleugner andererseits das Feld besetzten. Mittlerweile ist es russischen Politikern zwar ein Anliegen, die Rolle der Roten Armee bei der Rettung der Juden zu betonen, doch weiterhin gibt es in Russland bis heute keinen Gedenktag an die Opfer des Holocausts, keinen eigenen Strafrechtsparagraphen für seine Leugnung und nur wenige Denkmäler für die auf dem Gebiet des heutigen Russlands ermordeten Juden. 

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Noch während des Zweiten Weltkriegs wurde in der UdSSR der offizielle Standpunkt formuliert, alle Bewohner des Landes hätten – unabhängig von ihrer Nationalität – gleichermaßen unter den NS-Verbrechen gelitten. Schon im Februar 1944 war in der amtlichen Untersuchung des Massakers von Babyn Jar nur die Rede von der Ermordung „friedlicher Sowjetbürger“1. Vor dem Hintergrund des spätstalinistischen Antisemitismus und der anschließenden Verschlechterung der Beziehungen zu Israel kam es dann faktisch zum „Vergessen des Holocausts“. Darüber, dass der Genozid an den Juden eine besondere Stellung unter den NS-Gräueltaten einnimmt, wurde kaum gesprochen; das Wort Holocaust kam weder in der Propaganda noch in Schulbüchern oder in der Kunst vor.

    Erst während der Perestroika trat allmählich ein Wandel ein. Doch selbst 1992, im Gründungsjahr des Russischen Forschungs- und Bildungszentrums Holocaust, war dieser Begriff noch weitgehend unbekannt. Und es dauerte bis Mitte der 1990er Jahre, ehe das Gedenken an den nationalsozialistischen Genozid als Anliegen des russischen Staates – und nicht nur als eines der jüdischen Gemeinden – erörtert wurde. 

    Zugleich konnte man Russland noch zu Beginn der 2000er Jahre als internationale Hochburg der Holocaustleugnung bezeichnen. Zwar gehörte die sowjetische Politik eines staatlichen Antisemitismus der Vergangenheit an, doch man ging nicht konsequent gegen antisemitische Bestrebungen vor: Insbesondere Schriften westlicher Holocaustleugner konnten in Russland offen publiziert und verkauft werden.

    Erst 2003 tauchte der Begriff „Holocaust“ erstmals im staatlichen Rahmenplan für den Geschichtsunterricht an weiterführenden Schulen auf.2 Das führte dazu, dass in vielen Schulbüchern einzelne Aspekte der Shoah dargestellt wurden.3 Doch Bestandteil der Einheitlichen Staatlichen Abschlussprüfung ist das Thema erst seit 2011. 

    Widersprüchliche Erinnerungspolitik

    Dass so viel Zeit verging, bis der Holocaust Eingang in den schulischen Lehrplan fand, entspricht dem komplizierten Verhältnis der russischen Regierung und Gesellschaft zu dem Thema. Einerseits hebt die russische Führung in offiziellen Verlautbarungen immer wieder die Bedeutung des Gedenkens an dieses NS-Verbrechen hervor. So hat Wladimir Putin den Holocaust letztes Jahr nicht nur in seinem Artikel 75 Jahre Großer Sieg: Gemeinsame Verantwortung für Geschichte und Zukunft4 erwähnt, sondern auch in seiner Rede bei der Siegesparade 2020.5 Das zeigt, dass der Holocaust auf Staatsebene erstmals überhaupt als integraler Bestandteil des Großen Vaterländischen Krieges wahrgenommen wird.

    In diesen Reden werden jedoch immer wieder drei Thesen vorgebracht. Erstens wird der Holocaust zwar als schreckliches Verbrechen bezeichnet. Doch wird dabei darüber hinweggegangen, dass er sich nicht nur in Europa, sondern auch auf dem Territorium der UdSSR und des heutigen Russland abgespielt hat.6 Zweitens wird die Beteiligung baltischer und ukrainischer Kollaborateure an diesem Verbrechen benannt, während die russischen und belarussischen keine Erwähnung finden. Und drittens wird schließlich auf die entscheidende Rolle der Roten Armee bei der Rettung der europäischen Juden hingewiesen. 

    Erbe der sowjetischen Geschichtsschreibung

    Das Schweigen über den Holocaust auf dem Territorium Russlands ist offenkundig ein Erbe der sowjetischen Geschichtsschreibung, die die Vernichtung der sowjetischen Juden verschwieg. Die beiden anderen Thesen stehen hingegen im Zusammenhang mit der heutigen politischen Lage. Russlands Beziehungen zu vielen postsowjetischen Ländern gestalten sich äußerst schwierig. Dabei wird der Holocaust als Argument herangezogen, um die russische politische Position zu rechtfertigen. Darauf beruht auch das russische Vorgehen gegen die Heroisierung von NS-Erfüllungsgehilfen in den betreffenden Ländern, die dort mitunter vor allem als Kämpfer gegen die Sowjetunion gelten und entsprechend positioniert werden (etwa durch die Verleihung hoher staatlicher Auszeichnungen, Umbenennung von Straßen und Stadien, Errichtung von Denkmälern oder Kundgebungen von SS-Legionären). 

    Auch das Verhältnis Russlands zu den westlichen Ländern ist kompliziert. Russische Politiker und Medien heben daher immer wieder die Rolle der Roten Armee bei der Rettung der europäischen Juden hervor und bedienen zugleich die Vorstellung, diese werde in den USA und Europa totgeschwiegen. 

    Zugleich ist die UNO-Resolution zur Einführung eines internationalen Holocaust-Gedenktages in Russland bis heute nicht umgesetzt worden, obwohl es 2005 selbst zu den Initiatoren dieser Resolution gehörte.7 Auch wiederholte Appelle des Holocaust-Zentrums sowie jüdischer und Menschenrechtsorganisationen, die sich immer wieder einzeln und gemeinsam an die russischen Behörden wandten, konnten daran nichts ändern. Dabei war das neue Datum als Nationaler Gedenktag für die Opfer des Holocaust und die soldatischen Befreier der Nazi-Todeslager vorgeschlagen worden – sprich, in einer Formulierung, die mit dem offiziellen Diskurs über den Krieg sehr gut vereinbar gewesen wäre. Doch die letzte offizielle Antwort der russischen Präsidialverwaltung lautete, es gebe in Russland bereits einen Gedenktag, der alle mit einbeziehe: nämlich den 22. Juni, den Beginn des Großen Vaterländischen Krieges

    Vor diesem Hintergrund der widersprüchlichen Erinnerungspolitik ist es nicht allzu verwunderlich, dass die Leugnung des Holocaust in Russland, anders als in vielen europäischen Ländern, nicht strafrechtlich verfolgt wird.8 Sie steht vielmehr in einer Reihe mit der „Heroisierung“ von Kollaborateuren und der „Leugnung der Rolle der UdSSR beim Sieg über den Nationalsozialismus“. So leugnen denn auch einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und sogar Universitätsprofessoren offen den Holocaust. Der Versuch, den Permer Aktivisten Roman Juschkow wegen Rehabilitierung des Nationalsozialismus strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, endete mit seinem Freispruch durch die Geschworenen. Juschkow forderte daraufhin zynisch eine Entschädigung in Höhe von 6 Millionen Rubel – eine Anspielung auf die angeblich „erdichtete“ Zahl der Holocaust-Opfer.9

    Wladimir Matwejew, Professor an zwei Sankt Petersburger Universitäten, erklärte bei einem Vortrag vor Lehrern in der Region Leningrad am Vorabend des Internationalen Holocaust-Tages 2021 rundheraus, der Genozid an den Juden sei eine Erfindung. Den russischen Staatsorganen ist zugute zu halten, dass der Leugner in diesem Fall umgehend entlassen und vor Gericht gestellt wurde.10

    Museen, Wissenschaft, Bildung

    Das ambivalente Verhältnis zum Gedenken an den Holocaust zeigt sich auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. So wurde 1998 in Moskau das Museum für jüdisches Erbe und den Holocaust eröffnet, wobei auch der damalige russische Präsident Boris Jelzin anwesend war. Trotz der Bezeichnung wird dem Genozid an den Juden in der Ausstellung nur wenig Platz eingeräumt. Auch die Initiative des Holocaust-Zentrums, in Moskau ein eigenes staatliches „Holocaust-Genozid-Toleranz“-Museum einzurichten, wurde nicht umgesetzt. Allerdings entstand daraus zunächst eine kleine Dauerausstellung über den Holocaust im (2005 eröffneten) Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges, und später wurde in Moskau das Jüdische Museum und Zentrum für Toleranz gegründet. An den Veranstaltungen dieses Museums hat wiederholt der russische Präsident teilgenommen, was breiten Niederschlag in der Berichterstattung der russischen Medien fand. In den Geschichts- und Heimatmuseen der ehemals von NS-Deutschland besetzten Regionen kommt das Thema Holocaust bis auf wenige Ausnahmen hingegen nicht vor.

    Wladimir Putin bei einem Besuch des Jüdischen Museums und Zentrums für Toleranz in Moskau, 2019 / Foto © kremlin.ru
    Wladimir Putin bei einem Besuch des Jüdischen Museums und Zentrums für Toleranz in Moskau, 2019 / Foto © kremlin.ru

    Ein weiteres Beispiel ist die wissenschaftliche Erforschung des Holocaust. Einerseits konnten russische Wissenschaftler in den letzten Jahren Dokumente auswerten, die bis Anfang der 1990er Jahre unter Verschluss waren, und konnten so die Forschung erheblich voranbringen.11 Dank ihrer Arbeit entstand die Enzyklopädie Der Holocaust auf dem Territorium der Sowjetunion12 – ein Nachschlagewerk von über 1000 Seiten, an dem fast 100 Forscher mitgewirkt haben, darunter Vertreter von 15 russischen Universitäten.13 Andererseits findet diese Enzyklopädie in der akademischen Geschichtsschreibung immer noch selten Verwendung, und in allgemeinen Darstellungen zur Geschichte des NS-Besatzungsregimes wird dem Holocaust nicht der ihm zustehende Stellenwert eingeräumt. Auch in Schul- und Universitätslehrbüchern weist die Darstellung des Genozids nach wie vor erhebliche Lücken auf. 

    Bis heute ist die wissenschaftliche und pädagogische Literatur ganz überwiegend nicht bereit, anzuerkennen, dass der Holocaust als Versuch, ein ganzes Volk vollständig auszulöschen, ohne Beispiel ist. Die Juden werden unter den übrigen Opfern aufgeführt, in der Regel nach den slawischen Völkern. Nicht durchgesetzt hat sich in Russland auch die These von der Universalität des Holocausts, die im Westen für die Erforschung des Zweiten Weltkriegs und die Genozidforschung eine zentrale Rolle spielt. Dabei geht es um die Bedeutsamkeit der Erkenntnisse aus dieser Tragödie für die Auseinandersetzung mit anderen Genoziden der jüngeren Geschichte.14 

    „Friedliche Sowjetbürger“

    Die sowjetische Tradition, die Opfer des Holocaust unter die umgekommenen „friedlichen Bürger“ zu subsumieren, macht sich auch dort bemerkbar, wo der ermordeten Juden gedacht werden soll. Es gibt in Russland Hunderte von Stätten, an denen Massenexekutionen von Juden stattfanden. In den allermeisten Fällen befinden sich an diesen Orten keine Denk- und Mahnmäler, die auf die ethnische Zugehörigkeit der Opfer hinweisen. Das Bestreben, daran etwas zu ändern, geht von der russischen Zivilgesellschaft aus. 2009 wurde das Projekt Die Würde zurückgeben ins Leben gerufen. Dank dieser Initiative konnten mit Unterstützung der lokalen Behörden bereits rund 90 Mahnmale mit den Namen der Opfer sowie Gedenktafeln errichtet werden. So wurde 2011/2012 im Dorf Ljubawitschi in der Region Smolensk, das vor einigen Jahrhunderten ein bedeutendes Zentrum des Judentums war, ein eigenes Denkmal für die Opfer des Holocaust eingeweiht.

    Etwa zur gleichen Zeit, im November 2011, wurde jedoch auch erstmals in der Geschichte des heutigen Russlands eine bereits errichtete Gedenktafel mit einem Text zu den Opfern des Holocaust wieder demontiert. Dies geschah in Rostow am Don, am Ort des „russischen Babyn Jar“ – der größten Massenerschießung von Jüdinnen und Juden auf dem Territorium, das heute russisches Staatsgebiet ist. Die Tafel wurde auf Beschluss des Bürgermeisters angebracht und von dem ihm unterstellten Leiter des Kulturamts wieder entfernt. Auf der neuen Tafel war anstelle von Juden wieder die Rede von „friedlichen Sowjetbürgern“. Dieser Akt der „Entjudaisierung des Holocaust“15 führte zu Diskussionen in der Region und im Internet und sogar zu einem Gerichtsverfahren. 2014 wurde schließlich noch einmal eine neue Gedenktafel angebracht, auf der zwar die Juden genannt werden, nicht jedoch das Wort „Holocaust“.

    Holocaust oder „Genozid am sowjetischen Volk“

    Diese ablehnende Einstellung gegenüber dem Wort „Holocaust“ ist im jetzigen Russland jedoch eher die Ausnahme. Der Begriff ist nicht mehr tabu wie zu Sowjetzeiten; im Gegenteil wird reger Gebrauch von ihm gemacht. Paradoxerweise lässt seine Popularisierung sich sehr gut mit der Renaissance der sowjetischen Interpretation der Geschehnisse in Einklang bringen. Man muss das Wort „Holocaust“ dazu nur auf andere Tragödien ausweiten. 

    So veröffentlichte die Russische Militärhistorische Gesellschaft (RWIO) unter der Leitung des früheren Kulturministers Wladimir Medinski 2019 die Zusammenfassung eines Fachvortrags unter der Überschrift „In der RWIO wurde berichtet, wie die Nazis den slawischen Holocaust vorbereiteten“16. Formulierungen, die das Wort „Holocaust“ verwenden, sind keine Seltenheit. Sie können sich auf Ereignisse aus verschiedenen historischen Perioden beziehen und müssen nicht einmal im Zusammenhang mit dem Krieg stehen. Von dem Historiker Michail Mjagkow, dem wissenschaftlichen Direktor der RWIO, stammt die Aussage: „Faktisch waren die Sowjetbürger ebenso Opfer eines Genozids wie das jüdische Volk.“17

    Diese begriffliche Dehnung und Gleichsetzung aller in den besetzten Gebieten von den Nationalsozialisten ermordeten Menschen mit den Opfern des Genozids wird auch durch Ermittlungen befördert, bei denen NS-Verbrechen 75 Jahre nach Kriegsende neu untersucht werden. 1942 fanden bei dem Dorf Shestjanaja Gorka in der Region Nowgorod Massenerschießungen statt. Die Opfer stammten aus der lokalen Bevölkerung und nur eine relativ kleine Anzahl von ihnen war jüdisch. Im Jahr 2019 leiteten die Ermittlungsbehörden eine Untersuchung dieses Falls ein. Das Geschehen selbst und die Hinrichtungsstätte waren bereits 1947 bei einem Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher festgehalten worden. Die Entscheidung des lokalen Gerichts am 27. Oktober 2020 stützte sich – erstmals bei einer Verhandlung über die Hinrichtung von Zivilisten – auf den Artikel über Genozid.18 Damit war ein Präzedenzfall geschaffen, auf dessen Grundlage die Ermittlung- und Justizbehörden Russlands derzeit etwa zehn weitere Verfahren durchführen. Das Gericht bezeichnete die Verbrechen in der Urteilsbegründung als „Genozid an nationalen und ethnischen Gruppen, die die Bevölkerung der UdSSR, die Völker der Sowjetunion, repräsentieren“. Sie seien „Teil eines Plans“ gewesen, „mit dem NS-Deutschland sich der gesamten örtlichen Bevölkerung der Sowjetunion entledigen wollte“19

    Erinnerungskriege, auch innerhalb der russischen Gesellschaft

    Die neuerliche Untersuchung war unter anderem dadurch motiviert, dass einige der Täter aus Lettland kamen (wobei diese allerdings zum Teil russischer Abstammung waren und der KGB die Namen der NS-Handlanger bereits vor 50 Jahren erfahren hatte). Viele der Medien, die diese Ereignisse als Genozid darstellten, thematisierten deshalb nicht die ethnische Identität der Opfer, sondern die der Täter.20 Die gleiche Tendenz zeigte sich in den russischen Medien, als Dokumente über Massenexekutionen veröffentlicht wurden, die 1941 in Südrussland stattfanden. Auch diese Ereignisse wurden als „Genozid“ bezeichnet und in den Berichten wurden ukrainische Täter erwähnt.21 Dabei waren die Erschießungen von der deutschen Geheimpolizei durchgeführt worden, und auf der Liste der Kollaborateure standen überwiegend russische Nachnamen.

    Solche Darstellungen bedienen natürlich die ideologische Konfrontation mit den postsowjetischen Ländern, und auch in Russland selbst entfalten sie eine Art mobilisierende Wirkung. Aber sie provozieren dabei zwangsläufig Erinnerungskriege, auch innerhalb der russischen Gesellschaft. 
    Wer den Begriff „Genozid am sowjetischen Volk“ bejaht, erkennt die 6 Millionen Opfer des Holocaust zwar an, setzt ihnen jedoch faktisch die „27 Millionen getöteten Bürger unseres Landes“ entgegen. Damit zählen dann die etwa 2,6 Millionen Juden, die während der deutschen Besatzung der Sowjetunion und in Kriegsgefangenenlagern ermordet wurden, nicht mehr als Opfer des Holocausts. Als Teil des „sowjetischen Volks“ werden sie zu ermordeten „friedlichen Sowjetbürgern“, wie in Vor-Perestroika-Zeiten. Das kaschiert, dass die Juden gezielt aufgrund ihrer „rassischen Eigenschaften“ vernichtet wurden. 

    Die Beispiellosigkeit des Holocaust

    Die Invasoren haben Millionen sowjetischer Menschen umgebracht – sowohl aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit (so die Juden und auch die Roma), aber auch aus anderen Gründen – Widerstandskämpfer, Staats- und Parteifunktionäre, Geiseln, Kriegsgefangene. Die Opfer des Holocaust sind nicht die einzigen sowjetischen Menschen, die getötet wurden; sie stellen nicht einmal zahlenmäßig die Mehrheit. 

    Doch zum Holocaust gehört neben Massenmord und Hunger auch die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Diskriminierung der Opfer. Gegen die Juden wurden besondere Zwangsmaßnahmen ergriffen, von denen die restliche sowjetische Bevölkerung nicht betroffen war: Die Feststellungung der ethnischen Zugehörigkeit, die Umsiedlung ins Ghetto, die Markierung mit besonderen Abzeichen, das Verbot, Kinder zu bekommen, besonders perfide Formen der Zwangsarbeit, das Verbot, religiöse Bräuche zu praktizieren und vieles mehr, was für die restliche Bevölkerung nicht galt.

    Historiker und Juristen müssen alle Hinweise auf Völkermord auf dem besetzten Territorium der Sowjetunion gemeinsam sorgfältig untersuchen. Dabei sind auch Tatsachen zu berücksichtigen, die sich kaum als „Genozid am sowjetischen Volk“ einstufen lassen. So wurden unter der Besatzung zahlreiche Kirchen eröffnet, kulturelle Einrichtungen, Institute und Gymnasien betrieben und mehr als 400 Zeitungen auf Russisch und in anderen Sprachen publiziert. Für die Juden gab es das alles nicht. Für sie war die vollständige Auslöschung vorgesehen.

     
     
    Zum Weiterlesen
    Altman, Ilja (2005): Shoah: Gedenken verboten! Der weite Weg vom Sowjettabu zur Erinnerung, in: Osteuropa, 55, 2005, H.4/5/6, S.149-164
    Subotic, Jelena (2019): Yellow Star, Red Star: Holocaust Remembrance after Communism. Ithaca, New York
    Karlsson, Klas-Göran (2013): The Reception of the Holocaust in Russia: Silence, Conspiracy, and Glimpses of Light, in: Himka, John-Paul/Michlic, Joanna Beata (Hrsg.): Bringing the Dark Past to Light: The Reception of the Holocaust in Postcommunist Europe, S.  487-515
    Rebrova, Irina (2020): Re-Constructing Grassroots Holocaust Memory: The Case of the North Caucasus. Oldenbourg
    Winkler, Christina (2020): The Holocaust on Soviet Territory—Forgotten Story? Individual and Official Memorialization of the Holocaust in Rostov-on-Don, in: Brooks, Crispin/Feferman, Kiril (Hrsg.): Beyond the Pale: The Holocaust in the North Caucasus, S. 241-262
    Winkler, Christina (2015): Der russische Blick auf die Shoah, in: S:I.M.O.N. Shoah: Intervention. Methods, Documentation 2 (2), 25-37.
     

     


    1. Jewish Currents: Nurturing Holocaust Studies in the Former Soviet Union: An Interview with Ilya Altman ↩︎
    2. Der Rahmenplan wurde nicht offiziell eingeführt und blieb über zehn Jahre Gegenstand von Diskussionen zwischen Lehrern und Bildungsbehörden. Doch auf Grundlage dieses Dokuments wurden neue Lehrbücher für weiterführende Schulen zur Landesgeschichte und allgemeinen Geschichte sowie zur Gesellschaftskunde erarbeitet. ↩︎
    3. vgl. Tema Cholokosta v škol’nych učebnikach: posobie dlja učitelja. Moskau, Centr «Cholokost», 2010 ↩︎
    4. vgl. kremlin.ru: 75 let Velikoj Pobedy: obščaja otvetstvennost‘ pered istoriej i buduščim ↩︎
    5. vgl. kremlin.ru: Parad Pobedy na Krasnoj ploščadi ↩︎
    6. Als Ausnahme kann die 2020 anlässlich des 5. World Holocaust Forums in Jerusalem getätigte Aussage Wladimir Putins gelten, wonach es sich bei nicht weniger als 40 Prozent der Opfer des Holocausts um Staatsbürger der Sowjetunion gehandelt habe. Diese Zahl ist umstritten. ↩︎
    7. Mit einem solchen Vorschlag trat auch bereits 2002 General Vasilij Petrenko an die Regierung heran. Dieser hatte 1945 eine der Divisionen befehligt, die das Konzentrationslager Auschwitz befreiten, vgl. Petrenko, V. J. (2000): Do i posle Osvencima. Moskau, Centr «Cholokost». 2002 erschien eine französische Ausgabe unter dem Titel: General Petrenko: Avant et après Auschwitz: suivi de Le Kremlin et l’Holocauste, 1933-2001 ↩︎
    8. Im Jahr 2000 erschien in der Reihe Russische Bibliothek des Holocausts die erste diesem Thema gewidmete Arbeit, vgl.: Al’tman, M. М. (2000): Otricanie Cholokosta v Rossii, Moskau, Centr «Cholokost» ↩︎
    9. vgl. Kalich, A. (2020): Permskoe delo ob otricanii Cholokosta: reakcija obščestva i SMI, in:Al’tman, I.A. /Verbnaja, V.V./Gileva, M.V./Tichankina, S.A. (Hrsg.): Voprosy protivodejstvija ksenofobii i ėtničeskoj neterpimosti na primere istorii Cholokosta i terrora: Metodičeskie rekomendacii dlja žurnalistov, Moskau, Centr «Cholokost», S. 51-59 ↩︎
    10. vgl. Komsomol’skaja Pravda: «Peterburgskogo professora, otricavšego cholokost, uvolili iz instituta» ↩︎
    11. vgl. etwa Krinko, E. F. /Kropačev, S. A. (2013): Otečestvennaja istoriografija Cholokosta o čislennosti ego žertv, in: Rossijskaja istorija, 2013, №4, S. 136-151 ↩︎
    12. Ėnciklopedija Cholokosta na territorii SSSR (Red. I.A. Al’tman): Moskau, ROSSPĖN und Centr «Cholokost», 2009 ↩︎
    13. In dem Band sind über 2000 Artikel zu jüdischen Siedlungen auf dem Gebiet der UdSSR in den Grenzen vom 22. Juni 1941 und über 300 thematische Artikel zum Holocaust an den sowjetischen Juden und zu Opfern und Tätern mit anderer Staatsangehörigkeit auf dem Territorium der UdSSR während des Holocausts versammelt. ↩︎
    14. So formulierte bereits einige Jahre vor dem Erscheinen ähnlicher Arbeiten im Westen der Philosoph und erste Präsident des Zentrums Holocaust, Mikhail Gefter, Gedanken zur Universalität des Holocaust: „Einen Genozid gegen ein einzelnes Volk gibt es nicht; Genozide richten sich immer gegen alle.” Bezeichnend ist auch der Titel des ersten Buches in der Reihe Russische Bibliothek des Holocausts: Das Echo des Holocausts und die jüdisch-russische Frage [M Ja. Gefter (1995): Ėcho Cholokosta i russkij evrejskij vopros, Moskau, Centr “Cholokost”]. ↩︎
    15. In der Forschung zu Erinnerungskultur finden sich einige Arbeiten zu diesem Phänomen, vgl. etwa Berger, R. J. (2012): The Holocaust, Religion and Politics of Collective Memory, New York, S. 163. Symbole dafür waren das Museum in Auschwitz bis Ende der 1980er Jahre und das Denkmal in Babyn Jar Mitte der 1970er Jahre. ↩︎
    16. vgl. Rossijskoe voenno istoričeskoe obščestvo: V RVIO rasskazali, kak nacisty gotovili slavjanskij cholokost ↩︎
    17. vgl. RIA Novosti: Michail Mjagkov: Zapad spustja 75 let zabyl uroki Njurnberga ↩︎
    18. Ugolovnyj kodeks Rossijskoj Federacii ot 13.06.1996 N 63-FZ (red. ot 05.04.2021, s izm. ot 08.04.2021): Stat’ja 357: Genocid ↩︎
    19. vgl. Russkij Dozor:„’Fakt, imejuščij juridičeskoe značenie’: sud priznal genocidom ubijstva sovetskich graždan nacistami v Žestjanoj Gorke” ↩︎
    20. vgl. etwa Krasnaja Wesna:SK RF ustanovil pričastnost‘ latyšskich karatelej k genocidu v SSSR ↩︎
    21. vgl. etwa: Žurnalistskaja Pravda: FSB rassekrečena informacija o genocide na juge SSSR ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von:

    Sie entstand mit der Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

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  • Alyona Kochetkova: Als ich krank war

    Alyona Kochetkova: Als ich krank war

    Eine junge Fotografin bekommt Brustkrebs – und fotografiert ihren Heilungsprozess. „Es ist nicht leicht, Empfindungen zu zeigen, die sich im Inneren abspielen und von außen nicht sichtbar sind.“ Eine Fotoserie von Alyona Kochetkova.

     

     

    Fotos © Alyona Kochetkova
    Fotos © Alyona Kochetkova

    An meinem 29. Geburtstag bekam ich die Diagnose Brustkrebs. Es war ein Schock. Wie konnte ausgerechnet ich diese Krankheit bekommen, wo ich doch immer auf eine gesunde Lebensweise geachtet hatte? Krebs ist weltweit die zweithäufigste Todesursache. Jede achte Frau in den USA und der EU erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Und dennoch wusste ich nichts darüber, und ebenso wenig wusste ich, wie es jetzt weitergehen sollte.

    Ich war seit mehr als zehn Jahren Fotografin. Die Geschichten, an denen ich bisher gearbeitet hatte, handelten von Dingen, die sich außerhalb von mir abspielten. Als ich die Krebsdiagnose bekam, war es Zeit, mich selbst zum Gegenstand meiner Arbeiten zu machen. Dabei wollte ich nicht nur die Stadien der Krankheit dokumentieren oder eine beängstigende Geschichte erzählen. Ich wollte Bilder machen, die einen starken visuellen Eindruck erzeugen. Sie sollten das Stigma der Diagnose durchbrechen und Verständnis dafür wecken, wie sich Menschen fühlen, die mit einer schweren Erkrankung konfrontiert sind. Ich hoffe, dass meine Geschichte andere Krebspatienten ermutigt, ihren Weg durch diese schwierige Lebensphase zu finden.

    Erst hatte ich Angst um mein Leben und war zu erschöpft, um zu fotografieren. Aber mein Therapieplan gab mir Hoffnung auf Besserung – eines von vielen Gefühlen, die ich empfand, während ich versuchte, meinen Körper von der Krankheit zu befreien. Es gab Phasen der Depression, Phasen der festen Zuversicht, dass alles in Ordnung kommen würde, scheinbar endlose Phasen der Müdigkeit und Phasen morbider Selbstbeobachtung. Durch die Krankheit sah ich mein ganzes Leben mit neuen Augen. All das wollte ich in meinen Bildern erfassen.

    Anfangs habe ich die Fotos nur für mich selbst gemacht. Aber als ich im Krankenhaus anderen Krebspatienten begegnete – und besonders, nachdem ich die Bilder einer Mitpatientin zeigte, die mittlerweile eine Freundin geworden war – begriff ich, dass viele von ihnen ähnliche Gedanken und Ängste hatten wie ich. Heute sind einige gute Freunde von mir. 

    Eine der wichtigsten Eigenschaften der Fotografie ist für mich, dass sie von Dingen spricht, die sich mit Worten schwer ausdrücken lassen. Sie ist eine Universalsprache, die auf der ganzen Welt verstanden wird.

    Während der Chemotherapie war mein Immunsystem geschwächt. Ich habe Selbstporträts gemacht, während ich mit Übelkeitsanfällen auf meinem Bett lag. Ich begann mit meiner roten Nachttischlampe zu experimentieren. Die Farbe traf genau meine Gefühle. Das war interessant, weil eines der wichtigsten Medikamente, die ich bei der Chemotherapie einnehmen musste, auch rot war.

    Ich konnte nicht mehr herumfahren und im Freien fotografieren wie früher. Es gab Zeiten, in denen ich nicht einmal das Haus verlassen konnte. Meine eigene Wohnung war für mich zum Gefängnis geworden. Fotografie war das einzige, womit ich mich noch beschäftigte und was mich mit dem Leben vor der Krankheit verband. Sie war auch eine Art Kunsttherapie. Das war besonders wichtig, als ich mich krank fühlte, auf mein aufgedunsenes Gesicht und meine frische Glatze starrte und mich nur noch abschotten wollte.

    Ich habe meine Haare immer lang getragen. Während der Chemo begann es auszufallen, also schnitt ich mir den Zopf ab. Das war ein schmerzloser, jedoch sehr emotionaler Verlust. Dieses Bild ist eines der einprägsamsten in meinem Projekt. Es symbolisiert die körperlichen und seelischen Veränderungen, die ich in Kauf nehmen musste.

    Ich hatte auch ein Chemobrain. Mit diesem Ausdruck beschreiben Krebspatienten und Überlebende kognitive Schwierigkeiten und Gedächtnisprobleme, die während und nach der Krebstherapie auftreten können. Ich konnte mich auf nichts mehr konzentrieren. Manchmal fühlte ich mich wie zerbrochenes Glas.

    Es ist nicht leicht, die Empfindungen zu zeigen, die sich ganz im Inneren abspielen und von außen nicht sichtbar sind. Nach dem ersten Chemotherapie-Zyklus spürte ich heftige Knochenschmerzen. Es fühlte sich an, als ob in verschiedenen Körperteilen glühende Asche lodert. Ich konnte nur mit Mühe eine erträgliche Körperhaltung finden. Ich habe mir einen Laserpointer gekauft und angefangen zu experimentieren.

    Ich habe versucht, meine Kräfte beisammen zu halten, und ich wusste, wie wichtig es ist, zu essen, aber ich hatte keinen Appetit. Eigentlich mag ich Borschtsch, eine nahrhafte und kräftigende Suppe mit Roter Bete und Rindfleisch, die in Russland sehr beliebt ist. Aber nach einer Chemotherapie ekelst du dich vor dem Essen. Etwas so Selbstverständliches wurde plötzlich wegen der starken Übelkeit und der Geschmacksveränderungen zu einem ernsten Problem. Deshalb habe ich Fotos von der Essenszubereitung immer wieder aufgeschoben.

    Manche ehemalige Krebspatienten möchten die Zeit ihrer Erkrankung am liebsten vergessen. Mir geht es nicht so. Das Leben ist komplex. Schmerz, Krankheit und Tod gehören ebenso dazu wie Freude, Hoffnung, Glaube und Liebe. Während meiner Therapie hat meine Schwester geheiratet. Ich habe mir eine knallrote Perücke gekauft, eines meiner Lieblingskleider angezogen und bin zur Hochzeitsfeier gegangen. Das war nicht leicht, aber es hat Spaß gemacht und ich hatte das Gefühl, dass ich trotz allem mein Leben lebe.

    Wie viele andere habe auch ich mich gefragt: Warum ausgerechnet ich? Auf diese Frage gibt es keine wirkliche Antwort. Aber als gläubiger Mensch bin ich überzeugt: Krankheit kann eine Prüfung sein, eine Strafe ist sie nicht. Sie erinnert dich an das, was dir wirklich wichtig ist – Sinnvolles zu tun, etwas zu schaffen, anderen zu helfen, statt nur zu konsumieren. Und sie ist ein Teil des Lebens, der uns etwas lehrt und zu spirituellen Wandlungen führt. Vieles, was ich für wichtig gehalten habe, hat sich als unwesentlich erwiesen und ist verblasst. Ich bemühe mich jetzt, freundlicher zu den Menschen in meiner Umgebung zu sein und mehr Zeit mit meinen Verwandten zu verbringen.

    Meine Therapie war auch für meine Familie und Freunde belastend. Und doch haben sie mir immer ihre Liebe gezeigt, mir Hoffnung und Kraft gegeben. Das ist nicht die Zeit, um zu streiten, auch wenn es vielleicht schwer fällt. Selbst die beste Behandlung garantiert keine Heilung.

    Es geht mir nicht darum, den Menschen Angst einzujagen, die in ihrem Leben keine Erfahrung mit Krebs gemacht haben. Ich will zeigen, dass meine Geschichte kein Einzelfall ist. Sie ähnelt den Geschichten vieler anderer Menschen auf der ganzen Welt, die an Krebs erkrankt sind. Nicht alle können darüber sprechen, aber alle brauchen Liebe und Unterstützung.


    Fotos: Alyona Kochetkova
    Bildredaktion: Andy Heller
    Text: Alyona Kochetkova
    Übersetzung: Anselm Bühling
    Veröffentlicht am 05.03.2020

     

     

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    Treffen sich neun Staats- und Regierungschefs, und nur einer spricht – rund eine Schulstunde lang. Über diese Episode, die sich Ende Dezember in Moskau ereignet hat, sind in Russland viele Anekdoten entstanden: Über die verdutzten Vertreter von GUS-Staaten, die der russische Präsident als Schuljungen dastehen lasse. Und über Putin selbst, der in seiner sogenannten „Geschichtsstunde“ neueste Erkenntnisse über die vermeintlich eigentlichen Verursacher des Zweiten Weltkriegs präsentiere. 

    Die Episode wiederholte sich kurze Zeit später im russischen Verteidigungsministerium, außerdem kündigte Putin an, einen Artikel zu der Schuldfrage zu veröffentlichen. Die Angelegenheit scheint dem Präsidenten offenbar so wichtig, dass einige Beobachter seine Ausführungen nun auch als „neue Münchner Rede“ bezeichnen. Diese Rede von 2007 gilt vielerorts als die antiwestliche Wende in der russischen Außenpolitik.

    Vor allem aus Polen hagelt es nun Kritik an Putins Worten: Politiker, Historiker und jüdische Gemeinden stemmen sich vehement gegen die Deutung des russischen Präsidenten, der sagte, die Schuld am Holocaust trügen mehr oder weniger alle. Polens Präsident Andrzej Duda hat nun sogar angekündigt, nicht nach Israel zum World Holocaust Forum zu fliegen – weil Putin daran teilnehmen werde. Zum Auftakt der Gedenkfeiern zur Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren werden dort am 23. Januar 47 Staats- und Regierungschefs erwartet, Putin soll eine Rede halten.

    Worin besteht die neue geschichtspolitische Offensive des russischen Präsidenten? Und warum sind die Menschen in Polen so verärgert darüber? Diese Fragen hat die Novaya Gazeta Alexej Miller gestellt, Geschichtsprofessor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg.

    Bereits im Jahr 2005 besuchte Putin die Gedenkstätte in Yad Vashem / Foto © kremlin.ru
    Bereits im Jahr 2005 besuchte Putin die Gedenkstätte in Yad Vashem / Foto © kremlin.ru

    Andrej Lipski: Putin hat wiederholt auf das Münchner Abkommen von 1938 verwiesen. Damit wird der Auffassung, die „beiden Totalitarismen“ seien für den Kriegsausbruch verantwortlich, eine andere gegenübergestellt: Demnach sind alle politischen Akteure der Vorkriegszeit auf ihre Weise mitschuldig – alle haben Dreck am Stecken.

    Im gegenwärtigen Stadium trifft das vor allem die ratlosen und verärgerten Polen – die ersten Opfer des Zweiten Weltkriegs und des Molotow-Ribbentrop-Pakts, die ihrerseits das Narrativ von den „zwei Verantwortlichen“, das der Kreml kategorisch ablehnt, besonders aktiv vorantreiben.

    Alexej Miller: Putins Vorschlag war: Sprechen wir doch über den Molotow-Ribbentrop-Pakt, das Münchner Abkommen und andere Umstände der Vorkriegsgeschichte mit Blick darauf, dass alle mehr oder weniger schuldig sind. In gewissem Sinn entspricht das der alten, vormaligen Nachkriegstradition der europäischen Erinnerungskultur. Auch hier ging man davon aus, dass alle auf die eine oder andere Weise Mitschuld am Holocaust tragen.

    Die osteuropäischen Länder, vor allem Polen und die baltischen Staaten, lehnen jedoch jede Mitverantwortung ab. Das alles hat schon vor recht langer Zeit begonnen. 2009 hat das EU-Parlament beschlossen, den 23. August zum Europäischen Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus zu erklären. Im ursprünglichen Entwurf war die Rede vom Gedenken an die Opfer „totalitärer und autoritärer Regime“. Im Abschlussdokument wurde das Wort „autoritär“ jedoch gestrichen – auf Druck der Vertreter osteuropäischer Länder, in denen es in der Vorkriegszeit autoritäre Regime gab, mit allem was dazugehört, einschließlich antisemitischer Ausschreitungen.

    Statt sich auch mit den eigenen Verfehlungen auseinanderzusetzen, schlug man lieber das bequeme Konzept der ‚beiden totalitären Systeme‘ vor

    Statt sich auch mit den eigenen Verfehlungen auseinanderzusetzen, schlug man lieber das bequeme Konzept der „beiden totalitären Systeme“ vor: Sie sind für alles verantwortlich und sonst niemand.
    Den Vorschlag, alle sollten miteinander über ihre gemeinsame Schuld sprechen, hat Putin in seiner Rede bei den Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs am 1. September 2009 auf der Westerplatte in Polen gemacht.

    Aber dort hat er sich zum Molotow-Ribbentrop-Pakt ganz anders geäußert, als es die Vertreter der russischen Regierung heute tun. 

    Es ist ein schwerer Fehler, dass wir nicht daran festgehalten haben und jetzt stattdessen von einem großen Sieg der Sowjetdiplomatie geredet wird. Man muss schon sehr weltfremd sein, um den Molotow-Ribbentrop-Pakt so zu beschreiben.

    Man muss schon sehr weltfremd sein, um den Molotow-Ribbentrop-Pakt als großen Sieg der Sowjetdiplomatie zu beschreiben

    Putin und [der damalige polnische Ministerpräsident] Tusk traten 2009 übrigens quasi als Duett auf: Es gehe darum, das schwere Erbe der Vergangenheit zu überwinden und sich um Versöhnung und gegenseitiges Verständnis zu bemühen. So stellte Tusk damals fest, die Sowjetarmee habe zwar keine Freiheit bringen können, da sie selbst nicht frei gewesen sei; sie habe jedoch die Befreiung vom Nationalsozialismus gebracht. Putin stand daneben und nickte. Und dann kam [der damalige polnische Staatspräsident Lech – dek] Kaczynski, der gleich am nächsten Tag demonstrativ eine Resolution in den Sejm einbrachte, die forderte, das Massaker von Katyn als Völkermord anzuerkennen.

    Wir sprechen oft von einer „politischen Instrumentalisierung der Vergangenheit“. Aber die kann auf sehr unterschiedliche Art stattfinden. Putin und Tusk haben die Vergangenheit „instrumentalisiert“, um zur Entspannung und zum Streben nach Versöhnung beizutragen. Kaczynski hat sie benutzt, um diese Bemühungen offen zu torpedieren. 

    Leider hat Letzteres, die Logik der Konfrontation, heute gesiegt. Wozu sich verständigen, „einen Schlussstrich ziehen“, „weiße Flecken“ ausfüllen und die „schwarzen Flecken“ auswaschen, wozu sich versöhnen, die Vergangenheit überwinden und Freundschaft schließen? … Heute hat der Rückgriff auf die Vergangenheit einen anderen Sinn: Es ist ein Vernichtungskrieg; keine Seite hat vor, Frieden zu schließen.

    Was hat Putin denn jetzt zu seiner „Geschichtsstunde“ bewogen?

    Ich kann da nur Vermutungen anstellen. Zunächst wohl die Resolution des EU-Parlaments, die am 19. September 2019 angenommen wurde. Sie hat nicht nur Wut ausgelöst, sondern wegen ihrer schwerwiegenden politischen Implikationen auch für ernsthafte Besorgnis gesorgt. 

    Als sich Putin die Resolution genau ansah, wurde ihm bewusst, dass das eine Initiative von polnischen Abgeordneten im Europäischen Parlament war. So kann man erklären, wie es in Putins Geschichtsstunde zu der Kritik an Polens Politik vor dem Zweiten Weltkrieg kam, und weshalb er den damaligen polnischen Botschafter in Deutschland als Antisemit beschimpfte.

    Ein weiterer naheliegender Grund ist Putins bevorstehende Israel-Reise zum Welt-Holocaust-Forum im Januar [am 23.1.2020 – dek]. Angenommen, das war reine Taktik, so ist sein Plan aufgegangen: Der polnische Präsident Andrzej Duda wird nicht dorthin fahren. Das hat auch eine Vorgeschichte: Als sich letztes Jahr der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal jährte, haben die Polen Putin nicht zur Gedenkveranstaltung eingeladen.

    Schon früher gab es Resolutionen oder Ähnliches, in denen „die beiden totalitären Regime“ für die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs verantwortlich gemacht wurden. Warum jetzt auf einmal eine solche Reaktion auf die Resolution des EU-Parlaments vom September? 

    Diese Resolution ist nicht einfach eine von mehreren; sie ist speziell. Wenn das Thema früher vor allem für Osteuropa (vor allem für Polen und die baltischen Länder) wichtig war, haben diesmal bis auf die paar Dutzend linke Abgeordnete alle Parlamentarier dafür gestimmt. Das ist das eine.

    Pelewin: „Demnächst wird man uns auch noch die Verantwortung für den Holocaust zuschieben“

    Außerdem sieht der Kreml die Sache womöglich so: Im September wurde die Resolution vom Europäischen Parlament angenommen. Bis Dezember hat sich kein einziger europäischer Staats- oder Regierungschef dazu geäußert – also finden das offenbar alle in Ordnung. Wenn wir nun nicht darauf reagieren, wird diese Position zur neuen Norm.

    Viktor Pelewin hat schon 2015 geschrieben: „Man hat uns schon zusammen mit Hitler für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich gemacht, demnächst wird man uns auch noch die Verantwortung für den Holocaust zuschieben.“
    Wenn das damals vielleicht ein bisschen komisch erschien, so gibt es heute darüber nichts mehr zu lachen – die Tendenz ist ja wirklich spürbar. Und in dieser Situation kann man Putins Entscheidung, die Diskussion auf die höchste Ebene zu bringen, als Kampfansage an andere Staatslenker und führende Politiker verstehen: „Wenn ihr glaubt, dass ihr damit einfach so durchkommt, ohne harte Diskussion, dann habt ihr euch getäuscht.“

    Du beschäftigst dich schon seit Langem mit dem Phänomen der Geschichtspolitik und auch mit den „Erinnerungskriegen“, die daraus hervorgehen. Wozu ist das gut?

    Als ich mich diesem Thema in den frühen 2000er Jahren zuwandte, geschah das aus dem Interesse des Historikers heraus, der feststellte, dass die Berufung auf die Geschichte zunehmend der Konfrontation dient statt der Verständigung und Versöhnung. Als Wendepunkt sehe ich das Jahr 2004. Damals haben die Polen begonnen, die Geschichtspolitik offen als wesentlichen Teil des politischen Instrumentariums zu bezeichnen.

    Jahrelang war mein wichtigstes Motiv, meine wichtigste Botschaft: „Leute, was soll das? Begeben wir uns doch nicht in diesen Sumpf!“ Aber irgendwann war klar, dass wir schon mittendrin stecken.

    ‚Begeben wir uns doch nicht in diesen Sumpf!‘ Aber irgendwann war klar, dass wir schon mittendrin stecken

    Dann fängst du an, die Mechanismen dieser Erinnerungskriege zu erforschen – wer sie betreibt und wie sie geführt werden. Und du begreifst, dass dein Land so oder so in all das verstrickt ist. Du kannst nicht sagen: „Streitet ihr euch nur, wir halten uns da raus“, weil der Streit zu dir nach Hause kommt. Du äußerst dich dazu, wie sich dein Land unter diesen Umständen hätte verhalten sollen. Du wirst nicht zum offiziellen Geschichtskrieger, aber du sagst öffentlich, was deiner Meinung nach zu tun wäre. Und schon bist du in gewissem Sinn selbst in die ganze Sache verwickelt. Das ist ein sehr schwerwiegendes berufliches und moralisches Problem.

    Mit welchen Mechanismen und Instrumenten wird Geschichtspolitik umgesetzt? Wer befasst sich damit und wer ist dafür verantwortlich?

    Erstens gibt es in einigen Ländern staatliche Einrichtungen, die als Institute für Nationales Gedenken bezeichnet werden (zum Beispiel in Polen und in der Ukraine), oder beispielsweise Kommissionen zur Untersuchung der Schäden durch die sowjetische Besatzung. Es gibt Museumseinrichtungen, etwa die Museen zur Besatzungsgeschichte in Riga, Vilnius, Tallinn, Tbilissi und Kiew. Manche waren ursprünglich privat und sind dann zu staatlichen Institutionen geworden. 
    Dann gibt es auch Aktivitäten von außenpolitischen Behörden, sowohl öffentliche als auch nichtöffentliche.

    Die offiziellen Erklärungen der Außenministerien kennen wir. Aber wie agieren sie nichtöffentlich?

    Wenn etwa in Deutschland jemand etwas sagt, das dem litauischen Außenministerium missfällt, bombardiert die litauische Botschaft in Deutschland verschiedene Institutionen mit Briefen, unter anderem auch Universitäten. Ich spreche hier von realen Geschehnissen. Das ist kein konstruiertes Beispiel.

    Haben sich neben Putin auch andere führende Politiker an Erinnerungskriegen beteiligt?

    Bis vor kurzem kam das öffentlich praktisch nicht vor. Allerdings hat der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin im September 2016 eine Rede in der Werchowna Rada der Ukraine gehalten, in der er an die aktive Beteiligung ukrainischer Nationalisten an der Ausrottung der Juden während des Krieges erinnerte.

    Und was sehen wir in Russland?

    Russland war sehr spät dran. In den 1990er Jahren war der Hauptakteur des historischen Gedächtnisses die NGO Memorial. Und ein wenig auch die Russisch-Orthodoxe Kirche. Dann hat die Regierung so idiotische Institutionen geschaffen wie die Kommission beim Präsidenten zur Bekämpfung von Versuchen der Geschichtsfälschung, die von 2009 bis 2014 bestand und dann sang- und klanglos wieder verschwand. 
    2012 erschienen Organisationen auf der Bildfläche, die offiziell als NGOs auftreten, aber eng mit der Regierung verbunden sind und von ihr kontrolliert werden: Die Historische Gesellschaft Russlands und die Russische Militärhistorische Gesellschaft. Die 2008 gegründete Stiftung Historisches Gedächtnis erweiterte ihr Tätigkeitsfeld und wurde gezielt auf die Erinnerungskriege ausgerichtet.

    Ebenfalls 2012 wurde das Gesetz über „ausländische Agenten“ verabschiedet, das vor „schädlichen“ Einflüssen und Fördergeldern aus dem Ausland schützen sollte, auch auf dem Gebiet des historischen Gedenkens. Zugleich fing der Staat an, erhebliche Mittel in diesen Bereich zu pumpen, und zwar nicht nur in die größten Non-Profit-Organisationen.

    Seither erhalten viele Leute staatliche Fördermittel für historische Forschung, und das wirkt sich irgendwann darauf aus, wie sie ihre Fragen formulieren.

    Zur gleichen Zeit setzte übrigens auch die Arbeit an einem historischen und kulturellen Bildungsstandard ein. Und 2013 markiert auch den Beginn der Großausstellungsreihe Russland – Meine Geschichte. Diese Ausstellungen werden dann unter derselben Bezeichnung in ständige Geschichtsparks umgewandelt.

    Das offizielle Russland hat spät mit der Institutionalisierung der Erinnerungspolitik begonnen. Sie ist hierzulande in vielerlei Hinsicht reaktiv.

    Erinnerungspolitik ist hierzulande in vielerlei Hinsicht reaktiv 

    Ist der einzige Verbündete Russlands bei der Interpretation des Gedenkens an den Krieg heute der Staat Israel, für den der Holocaust nach wie vor das zentrale Thema darstellt?

    Für Russland ist das Thema Holocaust im Zusammenhang der Erinnerungskriege eher von Vorteil, weil die sowjetische Armee den Holocaust im Endstadium gestoppt und die Nazis besiegt hat. Und obwohl es durchaus auch Russen gab, die am Holocaust beteiligt waren, ist das nicht zu vergleichen mit dem, was in der Ukraine und in den baltischen Staaten geschah. Vor allem werden solche Leute in unserem Land nicht heroisiert, und das unterscheidet unsere Geschichtspolitik grundlegend von derjenigen dieser Länder. Natürlich hat nicht jedes Mitglied der ukrainischen OUN Juden ermordet.
    Aber wir wissen, dass in der Ukraine heute Hunderte von Denkmälern und Gedenktafeln für Menschen stehen, die sich am Holocaust beteiligt haben. Das ist der entscheidende Punkt. Von daher können wir gerade bei diesem Thema Seite an Seite mit Israel stehen.
    Und wenn Sie sich den Ablauf der Feierlichkeiten anschauen, die am 23. Januar in Israel stattfinden, dann sehen Sie, dass dort das frühere Kriegsnarrativ festgeschrieben wird. Es werden die Führer der Großmächte der Anti-Hitler-Koalition sprechen, natürlich die Israelis selbst und offenbar auch die Deutschen. Warum fährt der polnische Präsident Duda nicht dorthin? Nicht nur, weil Putin Polen „beleidigt“ hat. Sondern weil die Israelis ihm klargemacht haben, dass er nicht reden wird – schon gar nicht nach Putin als Erwiderung auf dessen Rede.

    Ich möchte noch einmal auf Putins Geschichtsstunde zurückkommen. War es nötig, dass der russische Staatschef selbst in die Erinnerungskriege eingegriffen hat?

    Ich halte das für einen Fehler. Wenn man sich im Kriegszustand befindet, überlegt man natürlich, wie man den Gegner möglichst schmerzhaft treffen kann – auch bei Erinnerungskriegen. Aber das sind taktische Erwägungen. 

    Wenn man sich im Kriegszustand befindet, überlegt man natürlich, wie man den Gegner möglichst schmerzhaft treffen kann – auch bei Erinnerungskriegen

    Die andere Frage ist, wie man aus dem Krieg wieder herauskommt. Man kann ja nicht davon ausgehen, dass er endlos weitergeht – kein Krieg dauert ewig. Außerdem hat ein solcher Krieg es an sich, dass man zu seiner Geisel werden kann. Bis vor kurzem – als Russland zusah, wie die osteuropäischen Länder die Erinnerungskriege vom Zaun brachen – appellierte es noch an die Führer der größeren westlichen Mächte …

    … an die Mächte des sogenannten Alten Europa …

    … sie sollten ihren „Juniorpartnern“ klarmachen, dass das falsch ist. Und jetzt müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Juniorpartner praktisch allen ihre Agenda aufgezwängt haben, weil die Seniorpartner sich da heraushalten wollten und glaubten, sie könnten hier nachgeben, um die westliche Solidarität nicht zu verletzen. Wenn man in einer solchen Situation auf höchster Ebene interveniert, trägt das nur dazu bei, die allgemeine Konfrontation zwischen Russland und dem Westen noch zu verschärfen. Es wird sehr schwer, da wieder herauszukommen. 

    Wozu sind denn all diese NGOs gegründet worden? Es gibt doch mit Wladimir Medinski, dem Kulturminister und Vorsitzenden der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft eine sehr effektive Waffe. Lasst ihn alles sagen, was er innerhalb der Logik der Erinnerungskriege für nötig hält, und haltet das Staatsoberhaupt aus diesem Streit heraus, der verheerend ist, vor allem für die Reputation. 
    Aus strategischer Sicht ist es wichtig, dass der Staatschef Manövrierraum hat, dass er über den Querelen steht und die Möglichkeit wahrt, einen Ausweg aus dem Krieg zu finden. Das zählt mehr als taktische Erfolge – wobei noch gar nicht erwiesen ist, dass die überhaupt erzielt wurden.

    Es ist noch zu früh, um die Folgen abzuschätzen, aber es ist immer eine schwache Entscheidung, wenn in der Politik die Taktik über die Strategie siegt.

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  • Surkow: „Der langwährende Staat Putins“

    Surkow: „Der langwährende Staat Putins“

    „Es scheint nur so, als hätten wir eine Wahl“, zitiert Wladislaw Surkow, ja, wen eigentlich? Rund ein Jahr nach seinem kontroversen Artikel 100 Jahre geopolitische Einsamkeit hat der angebliche „Chefideologe“ des Kreml, einen neuen verfasst. Am Montag erschien sein Text Dolgoe gosurdastwo Putina (Der langwährende Staat Putins) in der Nesawissimaja Gaseta sowie in anderen russischen Medien. Kaum eine der unabhängigen Stimmen Russlands hat es seitdem versäumt, den Artikel zu kommentieren.

    Ist es ein Manifest, das ein i-Tüpfelchen auf das angeblich von ihm erdachte Programm zur Sakralisierung Putins setzt? Oder eine Antwort auf die zunehmenden Abgesänge auf das Regime? Ist es ein Sinnangebot? Oder hat er den Text nur für Putin geschrieben?

    Diese und andere Fragen beschäftigen gerade vor allem die unabhängigen Medien. In den staatsnahen kann man dagegen kaum etwas zu Surkows Artikel finden. Kremlsprecher Dimitri Peskow sagte jedenfalls, dass Putin über den Text informiert worden sei. Dass der Staatschef aber darauf reagiert, das bezweifelt Peskow – der Präsident arbeite gerade nämlich an seiner alljährlichen Botschaft an die Föderationsversammlung am 20. Februar.

    dekoder hat bislang leider keine Abdruckerlaubnis für den Gesamttext bekommen. So bringen wir kontextualisierte Ausschnitte aus dem Text (Übersetzung: Anselm Bühling) und aus der Debatte russischer Liberaler.

    [bilingbox]„Es scheint nur so, als hätten wir eine Wahl.“ Diese Worte frappieren durch ihre Tiefe und Verwegenheit. Sie wurden vor anderthalb Jahrzehnten ausgesprochen. Heute sind sie vergessen und werden nicht mehr zitiert. Doch nach den Gesetzen der Psychologie beeinflusst uns das, was wir vergessen haben, viel stärker als das, woran wir uns erinnern. Diese Worte haben den Kontext, in dem sie ursprünglich erklangen, längst verlassen und wurden schließlich zum ersten Axiom der neuen russischen Staatlichkeit, auf dem alle Theorien und Praktiken der aktuellen Politik aufbauen.

    Die Illusion der Wahl ist die wichtigste aller Illusionen. Sie ist der Paradetrick der westlichen Lebensart im Allgemeinen und der westlichen Demokratie im Besonderen […].~~~

    «Это только кажется, что выбор у нас есть». Поразительные по глубине и дерзости слова. Сказанные полтора десятилетия назад, сегодня они забыты и не цитируются. Но по законам психологии то, что нами забыто, влияет на нас гораздо сильнее того, что мы помним. И слова эти, выйдя далеко за пределы контекста, в котором прозвучали, стали в итоге первой аксиомой новой российской государственности, на которой выстроены все теории и практики актуальной политики.  

    Иллюзия выбора является важнейшей из иллюзий, коронным трюком западного образа жизни вообще и западной демократии в частности, […].[/bilingbox]

    So beginnt Surkows Text Der langwährende Staat Putins, der am 11. Februar in der Nesawissimaja Gaseta erschienen ist. Die Frage, woher der Ausspruch „Es scheint nur so als hätten wir eine Wahl” stammt, wurde anschließend vielfach diskutiert. Es sei ein Zitat aus dem Buch Schwarze Stadt des russischen Schriftstellers Boris Akunin, sagt eine Theorie, eine andere wiederum ist, dass Surkow es einfach erfunden habe. Doshd-Journalist Michael Fischman bringt es in Verbindung mit der Rede Putins nach dem Terroranschlag von Beslan 2004. Wladislaw Surkow soll sie geschrieben haben, vielerorts gilt sie als ein Startschuss der autoritären Konsolidierung Russlands. 
    Darin sagt Putin: „Es scheint so, als hätten wir eine Wahl: entweder wir stellen uns [den Terroristen – dek] entgegen oder wir erfüllen ihre Ansprüche. Wir ergeben uns und lassen es zu, Russland zu zerstören und zu ,zerfleddern', in der Hoffnung, dass sie uns letztendlich in Ruhe lassen.“

    Nach dieser Rede, so Fishman, habe Putin die Gouverneurswahlen ad acta gelegt und angefangen, ein personalisiertes Regime aufzubauen.

    Auf sie könnte Surkow also zu Beginn seines Textes Bezug genommen haben. Die „Illusion der Wahl”, so führt er in der Nesawissimaja weiter aus, habe Russland abgelegt:

    [bilingbox]Es taten sich Wege zu einer freien Staatsbildung auf, die nicht von importierten Hirngespinsten geleitet waren, sondern von der Logik historischer Prozesse und damit der „Kunst des Möglichen“.~~~Открылись пути свободного государственного строительства, направляемого не импортированными химерами, а логикой исторических процессов, тем самым «искусством возможного».[/bilingbox]

    Den Umstand, dass westliche Demokratien die Vorbestimmung ablehnen, versteht Surkow als eine Art Verstoß gegen die Logiken und Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Der russische Staat unter Putin habe demgegenüber den „anti-historischen Zerfall Russlands“ gestoppt und den einzig wahren historischen Weg erwählt – den vorbestimmten. 

    Solche teleologischen Vorstellungen entnimmt der Autor der Historiosophie. Diese Geschichtstheorie gehört für manche Historiker zu populärsten Formen der Geschichtsschreibung in Russland. Da die Historiosophie die Geschichte als ganzheitlich und unverbrüchlich versteht, werfen ihr Kritiker jedoch fehlende Wissenschaftlichkeit vor, sehen in ihr einen „Gegenstand des Glaubens“ und nicht der „kritischen Analyse“.

    Eben an dieser Stelle wurde Surkow auch in der Debatte unter russischen Liberalen mehrfach kritisiert:

    Novaya Gazeta: Mit dem Verstand nicht zu begreifen

    „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“, so ungefähr kommentiert der Politikredakteur der unabhängigen Novaya Gazeta, Kirill Martynow, Surkows Traktat:

    [bilingbox]Erstens wird hier jegliches Wissen ignoriert, das die Menschheit bis ins 21. Jahrhundert angehäuft hat, von der Geschichtswissenschaft bis hin zur Verhaltenspsychologie. Und man ist auch noch stolz darauf: Wo Russland nun einen Sonderweg geht, haben westliche Schlauköpfe uns nichts zu sagen, westliche Theorien sind auf unseren Erfahrungsschatz nicht anwendbar. In der Wissenschaftssoziologie wird ein solcher Denkstil abwertend als „endemische Wissenschaft“ bezeichnet.
    Zweitens gibt es keine Methode, mit der eine derartige Historiosophie bestätigt oder entkräftet werden kann – man kann sie nur mit dem Herzen begreifen.~~~Во-первых, они игнорируют все социальное знание, накопленное человечеством к XXI веку, от истории экономики до поведенческой психологии. И даже гордятся этим: раз уж у России особенный путь, то и западные умники нам не указ, никакие западные теории к нашему опыту неприменимы. В социологии науки такой стиль мышления называется обидными словами «туземная наука». Во-вторых, не существует никакого способа подтвердить или опровергнуть подобную историософию, ее можно только «принять сердцем».[/bilingbox]

    erschienen am 12.2.2019, Original

     

    Für Surkow dagegen ist der russische Staat unter Putin ein „auf organische Weise entstandenes politisches Organisationsmodell, [das …]

    [bilingbox][…] ein effektives Mittel für das Überleben und Erheben der russischen Nation sein wird – und dies nicht nur auf Jahre, sondern auf Jahrzehnte hinaus, wahrscheinlich aber für das gesamte kommende Jahrhundert”.~~~[…] явится эффективным средством выживания и возвышения российской нации на ближайшие не только годы, но и десятилетия, а скорее всего и на весь предстоящий век.[/bilingbox]

    Während manche Kritiker spotteten, weshalb Surkow nicht gleich vom „Tausendjährigen Reich“ spreche, betrachtet Politikwissenschaftler Grigori Golossow die Ausführungen Surkows distanzierter. 

    Facebook/Grigori Golossow: Gefundenes Fressen

    Es sei irreführend, Surkows Thesen in die Nähe des Faschismus zu rücken, schreibt Golossow auf Facebook. Außerdem sei es zu viel der Ehre, wenn man seine Gedanken gar als „russische Ideologie” auffasse.

    [bilingbox][…] Es gibt die Kategorie „westliche Russlandexperten“ und denen hat Surkow wahrlich ein Geschenk gemacht. Dabei geht es nicht nur um die, die sich wissenschaftlich beschäftigen mit der „russischen Ideologie“ (die es gar nicht gibt, nach Meinung der Mehrheit von Wissenschaftlern mit gesundem Menschenverstand), sondern gerade um die, die den faschistischen Charakter dieser Ideologie nachweisen wollen. Für die ist das ein gefundenes Fressen.~~~[…] есть категория зарубежных специалистов по России, которым Сурков сделал настоящий подарок. Это – не просто те, кто занимается изучением "российской идеологии" (по мнению здравомыслящего большинства ученых, ее нет), но именно те их них, кто обосновывает фашистский характер этой идеологии. Для них там каждое лыко в строку.[/bilingbox]

    erschienen am 11.2.2019, Original


    Mit seiner Kritik an der wissenschaftlichen Belastbarkeit bezieht sich Golossow vermutlich auch auf Passagen wie folgende: In der russischen Geschichte, so Surkow, habe es insgesamt vier Grundmodelle des Staates gegeben […]

    [bilingbox][…] die durchaus nach ihren Schöpfern benannt werden können: Der Staat Iwans des Dritten; der Staat Peters des Großen, der Staat Lenins und der Staat Putins.

    Dies sind große politische Maschinen, die, um es mit Gumiljow zu sagen, von Menschen des langen Willens erschaffen wurden. Sie haben einander abgelöst, wurden dabei immer wieder repariert und adaptiert und haben die russische Welt über die Jahrhunderte auf einen Weg gebracht, der unbeirrbar aufwärts führt.~~~[…]которые условно могут быть названы именами их создателей: государство Ивана Третьего (Великое княжество/Царство Московское и всей Руси, XV–XVII века); государство Петра Великого (Российская империя, XVIII–XIX века); государство Ленина (Советский Союз, ХХ век); государство Путина (Российская Федерация, XXI век). Созданные людьми, выражаясь по-гумилевски, «длинной воли», эти большие политические машины, сменяя друг друга, ремонтируясь и адаптируясь на ходу, век за веком обеспечивали русскому миру упорное движение вверх.[/bilingbox]

    Neben heilsgeschichtlichen Versatzstücken bemüht der Autor hier das sogenannte Ethnogenese-Konzept des russischen Philosophen Lew Gumiljow (1912–1992). Es gilt als einer der Vorläufer des gegenwärtigen Neo-Eurasismus, dessen bekanntester Vertreter Alexander Dugin ist.
    Das „stereotype Verhalten“ einer Ethnie sieht Gumiljow als „empfindungs-abhängig“ von vorherrschenden klimatisch-geographischen Faktoren. Die daraus bezogene „biochemische Energie“  sei für die Integration einer Ethnie entscheidend und dieser Integrationsprozess durch eine „kosmische Strahlung“ beeinflusst. Wenn Menschen in der Lage sind, mehr von dieser Strahlung aufzunehmen als für sie nötig ist, dann könnten sie dieses Übermaß an ihre Umwelt weitergeben. Solche Menschen sind für Gumiljow Menschen langen Willens beziehungsweise Passionare

    Facebook/Grigori Judin: Immer aus der gleichen Mottenkiste

    An solchen Passagen entzündete sich die Kritik mehrfach. Soziologe Grigori Judin etwa konstatiert auf Facebook, dass die ideologischen Versatzstücke, derer sich Surkow bedient, immer derselben Mottenkiste entsprängen:

    [bilingbox]Nun, natürlich: Das existentielle Grauen vor jeglichen Veränderungen, aus dem heraus der Surkowsche Text geschrieben ist und mit dem die russische Elite das alles betrachtet, ist schon beeindruckend. Allein Putin ist ewig. Und wenn Putin das nicht versteht und dagegen ist – dann bringen wir ihn dazu, dass er es versteht.

    Alle offiziellen Ideologen sind mittlerweile vollkommen voraussag- und berechenbar. Alle Schritte sind im Voraus bekannt, sie sind durchschaubar, und es ist völlig klar, wie so eine Art von Ideologie funktioniert.~~~Ну и, конечно, экзистенциальный ужас перед любыми переменами, из которого написан сурковский текст и из которого смотрит российская элита – он впечатляет. Только Путин навсегда. А если Путин не понимает и будет против – мы его заставим.

    Вообще официальные идеологи стали полностью предсказуемы и легко просчитываемы – все шаги заранее известны, все швы видны, и хорошо понятно, как эта идеология работает.[/bilingbox]

    erschienen am 11.2.2019, Original

    Als würde Surkow einer solchen Kritik der Rückwärtsgewandtheit vorgreifen, erklärt er, dass Putinismus eine Ideologie der Zukunft sei:

    [bilingbox]Das Erkennen, das Durchdenken, das Beschreiben des Regierungssystems Putin sowie des gesamten Komplexes der Ideen und Dimensionen des Putinismus als Ideologie der Zukunft, ist notwendig. „Der Zukunft“, weil der gegenwärtige Putin wohl kaum Putinist ist – ebenso, wie etwa Marx kein Marxist war und nicht unbedingt einer hätte sein wollen, wenn er erfahren hätte, was das ist. Es ist für all jene notwendig, die nicht Putin sind, aber gerne wären wie er. Um seine Methoden und Ansätze auf künftige Zeiten übertragen zu können.~~~Необходимо осознание, осмысление и описание путинской системы властвования и вообще всего комплекса идей и измерений путинизма как идеологии будущего. Именно будущего, поскольку настоящий Путин едва ли является путинистом, так же, как, например, Маркс не марксист и не факт, что согласился бы им быть, если бы узнал, что это такое. Но это нужно сделать для всех, кто не Путин, а хотел бы быть, как он. Для возможности трансляции его методов и подходов в предстоящие времена.[/bilingbox]

    Snob: ***

    Viele Beobachter sehen in Surkows Text den Versuch eines Manifests, das nur dazu da sei, den wahren Messias zu preisen. Der Journalist Ilja Milstein fragt auf Snob, wie ein solch exaltiertes Loblied mit der Realität in Einklang gebracht werden kann:

    [bilingbox]Putin, der kein Marxist ist, genauer – kein Putinist. Putin, der Putin nicht das Wasser reichen kann. Ich preise den Putin, wie er ist, doch dreimal mehr preise ich den, der noch kommen wird. 
    Was kann man da sagen, wie kommentieren? Dazu kann man gar nichts sagen, außer die höchst leidenschaftlichen russischen Worte, die man nicht drucken darf.~~~Путин, который не марксист, вернее, не путинист. Путин, недотягивающий до Путина. Путина славлю, который есть, но трижды — который будет. Что тут скажешь, как прокомментируешь? Ничего тут не скажешь, кроме предельно восторженных русских слов, как назло непечатных.[/bilingbox]

    erschienen am 12.2.2019, Original

    Surkow sieht das politische System Russlands dabei auch als ein Modell für andere Staaten:

    [bilingbox][…] das in Russland erschaffene politische System taugt nicht nur für die Zukunft des eigenen Landes, sondern hat offenkundig ein erhebliches Exportpotenzial. Es gibt bereits Nachfrage danach oder nach einzelnen seiner Bestandteile. Seine Erfahrungswerte werden untersucht und seine Praxis wird teilweise übernommen; Regierungs- und Oppositionskreise in vielen Ländern ahmen es nach.~~~[…] сделанная в России политическая система пригодна не только для домашнего будущего, она явно имеет значительный экспортный потенциал, спрос на нее или на отдельные ее компоненты уже существует, ее опыт изучают и частично перенимают, ей подражают как правящие, так и оппозиционные группы во многих странах.[/bilingbox]

    Desweiteren geht er auch auf den Vorwurf ein, Russland habe sich in Wahlen eingemischt – und setzt diesem sogar noch eins drauf:

    [bilingbox]Tatsächlich ist es noch ernster als das: Russland mischt sich in ihre Gehirne ein, und sie wissen nicht, was sie mit ihrem veränderten Bewusstsein tun sollen. […] Aus Ratlosigkeit haben sie die Invasion des Populismus verkündet. So kann man es auch nennen, wenn einem die Worte fehlen.~~~Россия вмешивается в их мозг, и они не знают, что делать с собственным измененным сознанием. […] Растерявшись, они объявили о нашествии популизма. Можно сказать и так, если нет слов.[/bilingbox]

    Solche Kritik am Westen ist bei Surkow nicht neu. Bereits im November 2017 veröffentlichte er einen Artikel mit dem Titel Die Krise der Heuchelei – I hear America singing. Nach dem Zusammenbruch von Sinn-Konstruktionen im Westen, so hieß es darin, seien „soziale Energien“ freigeworden. Und es sei fraglich, ob es den westlichen Regierungen gelingen werde, diesen Werteverfall durch Sport-Shows, Konzerte oder andere Unterhaltungen zu kompensieren. Falls nicht, so prognostizierte Surkow 2017, münde das westliche System in Revolution und großen Krieg. 

    Auch in seinem neuen Text schreibt der Autor über „soziale Energien“ –  die Menschen im Westen dürsteten förmlich nach Propheten wie Putin, ihre Regierungen setzten ihnen stattdessen aber den „tiefen Staat“ vor – eine Art Staat im Staate, der wider seiner demokratischen Verfassung Machenschaften triebe und Trugbilder oktroyiere: 

    [bilingbox]Die Illusion der Wahl, das Gefühl der Freiheit, die Vorstellung von der eigenen Überlegenheit und so weiter.~~~[…] иллюзия выбора, ощущение свободы, чувство превосходства и пр.[/bilingbox]

    Russland sei demgegenüber „ehrlicher“, es gebe hier keinen „tiefen Staat“. Dagegen lebe in Russland ein „tiefes Volk“, und dieses sei aufs engste mit dem obersten Regenten verbunden. Die Beziehung zwischen beiden regeln demnach nicht demokratische Institutionen, die eher einem Ritual glichen und allein der Außenwirkung dienten, sondern sie basiert laut Surkow auf dem Vertrauen, das das Volk diesem Regenten entgegenbringt. Darin sei das russische Modell dem westlichen schließlich auch überlegen: 

    [bilingbox]Die Fähigkeit, das Volk zu hören und es zu verstehen, es in seiner ganzen Tiefe zu durchschauen und entsprechend zu handeln – das ist der einzigartige und wichtigste Verdienst des Putinschen Staates. Er entspricht dem Volk und geht mit ihm, deshalb ist er keiner destruktiven Überlastung durch Gegenströmungen der Geschichte ausgesetzt. Aus diesem Grund ist er effektiv und langlebig.~~~Умение слышать и понимать народ, видеть его насквозь, на всю глубину и действовать сообразно – уникальное и главное достоинство государства Путина. Оно адекватно народу, попутно ему, а значит, не подвержено разрушительным перегрузкам от встречных течений истории. Следовательно, оно эффективно и долговечно.[/bilingbox]

    Rosbalt: Nun sei bitteschön glücklich!

    Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin meint auf Rosbalt, das „tiefe Volk“, von dem Surkow philosophiert, sei ein Volk hinter Gittern:

    [bilingbox]Welch stille freudige Welt entsteht, wenn alle Ideologen im Fernsehen immer wieder behaupten, es gäbe keine Wahl, du seiest nun mal auf Gedeih und Verderb dazu verdammt, in einem Staat zu leben, der schon lange aufgehört hat sich weiterzuentwickeln, und sollst bitteschön glücklich sein, dass dein Leben unter der wohlmeinenden Führung des unabsetzbaren Herren nicht schlechter geworden ist?
    Genau diese Weltsicht vermittelt uns Surkows Philosophie. Eine Philosophie der Angst vor dem Leben. Eine Philosophie der absoluten Zerrüttung. Die Philosophie vom [Volk als einem – dek] Tier im Käfig, das schon dankbar ist, wenn man es wenigstens noch gelegentlich füttert.~~~Каково строить свой тихий радостный мир, когда всякие идеологи твердят тебе с телеэкрана, будто бы никакого выбора нет, будто ты обречен на убогость в государстве, давно уже переставшем развиваться, и должен радоваться тому, что при благословенном правлении бессменного государя тебе не стало хуже?

    Именно такое мировоззрение предлагает нам философия Суркова. Философия страха перед жизнью. Философия полной деградации. Философия зверя в клетке, благодарного уже за то, что его еще хотя бы изредка кормят.[/bilingbox]

    erschienen am 11.2.2019, Original

    Dabei hat Surkow dieses Programm schon in seinen früheren Schriften angerissen: In seinem Schlüsseltext Russische politische Kultur aus dem Jahr 2007 schlug er vor, den Holismus (Ganzheit) des russischen politischen Bewusstseins als ein Axiom zu betrachten. Daraus leitete er ab, dass die russische politische Kultur anhand dreier Kriterien zu definieren sei: „Streben zur politischen Ganzheit mittels Zentralisierung von Macht-Funktionen“, „Idealisierung der Ziele von politischen Kämpfen“ und „Personifizierung von politischen Institutionen“.

    So etwas wie der Kitt dieser Ganzheit, so führt er nun aus, sei das „Vertrauen“: 

    [bilingbox]Das moderne Modell des russischen Staates beginnt mit Vertrauen und gründet auf Vertrauen. Darin unterscheidet es sich grundlegend vom westlichen Modell, das Misstrauen und Kritik kultiviert. Und eben das ist die Stärke des russischen Modells.~~~Современная модель русского государства начинается с доверия и на доверии держится. В этом ее коренное отличие от модели западной, культивирующей недоверие и критику. И в этом ее сила.[/bilingbox]

    Facebook/Alexander Morosow: Gibts noch mehr Ideen?

    Ist Surkows Text tatsächlich ein Manifest? Steckt dahinter eine Ideologie des Systems Putin? Diese Frage sei noch nicht zu beantworten, meint Alexander Morosow auf Facebook:  

    [bilingbox]Wird es von den Putinisten ein weiteres Konzept geben, wie der Putinismus fortgesetzt werden kann? Irgendjemand von den Stakeholdern (oder den ihnen nahestehenden Publizisten) muss nach vorne treten und sagen: „Ja, Wladislaw Jurjewitsch, das sind interessante Ideen, das ist aber nicht die einzige Variante, wie es weitergehen kann. Hier, die zum Beispiel, die gefällt uns besser.“ Wenn so etwas aber nicht kommt, dann bleibt Surkows Text einfach nur ein Teil seiner unterhaltsamen Biografie. Und als einziges Ergebnis bleibt nur, dass dieser Text „von allen liberalen Hunden der ganzen Gegend angebellt“ wurde. Das aber ist ein uninteressantes Ergebnis.~~~будет ли альтернативная концепция "продолжения путинизма" со стороны самих путинистов. Кто-то из стейкхолдеров (или из близких им публицистов) должен выступить и сказать: "Да, Владислав Юрьевич, это интересные идеи, но это не единственный вариант продолжения. Вот нам, например, нравится – вот такой". А если этого не будет – то текст Суркова просто останется внутри его увлекательной биографии. И единственным результатом окажется только то, что его "облаяли либеральные собаки всей округи". Но – это неинтересный результат.[/bilingbox]

    erschienen am 12.2.2019, Original

    Vedomosti: Gibt es noch was Leckeres zu essen?

    Andrej Kolesnikow, politischer Analyst beim Carnegie-Zentrum Moskau, zeigt sich von Surkows Thesen gänzlich unbeeindruckt. Er witzelt auf Vedomosti, wie unbeholfen die Machthaber ständig nach neuen (Sinn-)Angeboten für das Volk suchten:

    [bilingbox]Die gleichgültige Mehrheit des „tiefen Volkes“ schaut sich aber auch diesen Werbespot wie in einem dunklen Kinosaal an, mit Bier und Popcorn: „Was zeigen sie uns denn noch so? Russland great again – wer will das bestreiten? Gibt es noch was Leckeres zu essen?“~~~Но и этот рекламный ролик равнодушное большинство «глубинного народа» смотрит как в темном зале кинотеатра – с пивом и попкорном: что там еще нам покажут. Россия great again, кто бы спорил, а что-нибудь еще вкусненькое есть?[/bilingbox]

    erschienen am 12.2.2019, Original

     

    Übersetzung Surkow: Anselm Bühling
    Kontextualisierung und Übersetzung der Debatten-Ausschnitte: dekoder-Redaktion

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    100 Jahre geopolitische Einsamkeit

    Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Wladislaw Surkows Name gleich an erster Stelle der US-Sanktionen stand, gleich einen Tag nach dem sogenannten Referendum über die Angliederung der Krim. Genauso wenig war es Zufall, dass Surkow rund zweieinhalb Jahre später an Putins Seite mit Merkel und Steinmeier im Kanzleramt saß, obwohl er eigentlich auch nicht in die EU einreisen darf.

    Kaum eine Abhandlung über ihn kommt aus ohne „Strippenzieher“, „Graue Eminenz“ oder „Chefideologe“. Das Konzept der Souveränen Demokratie hat er ersonnen, genauso wie das Programm zur russischen politischen Kultur.

    Im April 2018 nahm er sich im Magazin Russia in Global Affairs einer Mammutaufgabe an: der jahrhundertealten Identitätsfrage, ob Russland denn zu Europa gehöre. Viele Denker haben sich an dieser Frage den Kopf zerbrochen. Die Zeichen der Zeit scheinen für Surkow allerdings eine neue Antwort zu fordern. Denn Russland, so der Autor, stehen „hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevor“.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Der beruflichen Tätigkeiten gibt es viele. Einigen kann man nur in einem Zustand nachgehen, der vom normalen leicht abweicht. Nehmen wir etwa den Proletarier der Informationsindustrie, den gewöhnlichen Nachrichtenlieferanten: In der Regel ist das ein Mensch mit zerzaustem Hirn, jemand, der sich sozusagen im Fieberwahn befindet. Kein Wunder, denn im Nachrichtengeschäft ist Eile geboten: Es gilt, Neuigkeiten vor allen anderen zu erfahren, vor allen anderen zu verbreiten und vor allen anderen zu interpretieren.

    Die Erregung der Informierenden überträgt sich auch auf die Informierten. Menschen im Erregungszustand verwechseln ihre Erregung oft mit einem Denkprozess und ersetzen das Eine durch das Andere. Deshalb kommen langfristig nutzbare Dinge wie Überzeugungen oder Prinzipien außer Gebrauch und werden durch Einweg-Meinungen ersetzt. Deshalb erweisen sich jegliche Prognosen als hinfällig, was übrigens niemandem besonders peinlich ist – das ist eben der Preis für schnelle und aktuelle Nachrichten.

    Kaum jemand vernimmt das spöttische Schweigen des Schicksals, übertönt vom ständigen Hintergrundlärm der Medien. Kaum jemand interessiert sich dafür, dass es auch noch die langsamen, gewichtigen Nachrichten gibt, die nicht von der Oberfläche des Lebens, sondern aus der Tiefe stammen – von dort, wo sich geopolitische Strukturen und historische Epochen bewegen und aufeinandertreffen. Erst mit Verspätung wird uns ihr Sinn zugänglich. Doch ist es nie zu spät, ihn zu erkennen.

    Das Jahr 2014 ist durch Großtaten von hoher und höchster Bedeutung im Gedächtnis geblieben. Alle kennen sie, und es ist alles dazu gesagt worden. Doch das bedeutsamste der damaligen Ereignisse erschließt sich uns erst jetzt – die langsame, tiefgreifende Nachricht erreicht erst gerade jetzt unsere Ohren. Das besagte Ereignis bildet den Abschluss der epischen Reise Russlands in Richtung Westen, den Schlusspunkt der zahlreichen und fruchtlosen Versuche, ein Teil der westlichen Zivilisation zu werden und in die „gute Familie“ der europäischen Völker einzuheiraten.

    Das Jahr 14 unseres Jahrhunderts ist der Beginn einer neuen Ära von unbestimmter Dauer – die Epoche 14 +, in der uns hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevorstehen.

    Das Jahr 2014 ist der Beginn einer neuen Ära von unbestimmter Dauer – die Epoche 14 +, in der uns hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevorstehen

    Die Verwestlichung ist vom falschen Dimitri leichtsinnig begonnen und von Peter dem Großen entschlossen fortgesetzt worden – über 400 Jahre wurde alles auf jegliche Art probiert.

    Was hat Russland nicht alles getan, um mal Holland zu werden, dann Frankreich, mal Amerika, dann wieder Portugal. Von allen erdenklichen Seiten hat Russland versucht, sich in den Westen hineinzudrängen. Alle Ideen, die von dorther kamen und alle Erschütterungen, die sich dort ereigneten, hat unsere Elite mit großer, teils vielleicht zu großer Begeisterung aufgenommen.

    Die Autokraten heirateten eifrig deutsche Frauen, und der kaiserliche Adel und die Bürokratie wurden emsig mit „umherziehenden Fremdlingen“ aufgefüllt. Doch während die Europäer in Russland rasch und gründlich russisch wurden, wollten die Russen sich einfach nicht europäisieren.

    Die russische Armee kämpfte siegreich und aufopferungsvoll in allen großen Kriegen des Kontinents, der, wie die Erfahrung gezeigt hat, wohl mehr als alle anderen zu Massengewalt und Blutrünstigkeit neigt. Die großen Siege und die großen Opfer haben Russland viele westliche Gebiete eingebracht, aber keine Freunde.

    Die großen Siege und die großen Opfer haben Russland viele westliche Gebiete eingebracht, aber keine Freunde

    Um der europäischen Werte willen (die zu jener Zeit religiös und monarchisch waren) wurde St. Petersburg zum Initiator und Garanten der Heiligen Allianz der drei Monarchien Russland, Österreich und Preußen. Und es hat seine Bündnispflichten gewissenhaft erfüllt, als es galt, die Habsburger vor der ungarischen Revolution zu retten. Als sich dann jedoch Russland selbst in einer schwierigen Lage befand, verweigerte Österreich seinem Retter nicht nur die Hilfe, sondern wandte sich sogar gegen ihn.

    Später wurden die europäischen Werte in ihr Gegenteil verkehrt. In Paris und in Berlin kam nun Marx in Mode. Gewisse Leute aus Simbirsk und Janowka wollten, dass es bei ihnen so ist wie in Paris. Sie fürchteten so sehr, hinter dem vom Sozialismus besessenen Westen zurückzubleiben. Sie fürchteten so sehr, die angeblich von den europäischen und amerikanischen Arbeitern angeführte Weltrevolution werde ihr Provinznest auslassen. Also gaben sie ihr Bestes.

    Nachdem sich die Stürme des Klassenkampfs gelegt hatten, stellte die unter unglaublichen Mühen errichtete UdSSR fest, dass die Weltrevolution ausgeblieben war: Der Westen war keineswegs eine Welt der Arbeiter und Bauern, sondern, ganz im Gegenteil, kapitalistisch geworden. Und die immer stärker zutage tretenden Symptome des autistischen Sozialismus mussten sorgfältig hinter dem Eisernen Vorhang verborgen werden.

    Ende des vergangenen Jahrhunderts hatte das Land sein Abgesondertsein satt und fing wieder an, beim Westen vorstellig zu werden. Wobei einige dabei offenbar den Eindruck hatten, dass die Größe eine Rolle spielt: Wir passen nicht in Europa rein, weil wir zu groß und erschreckend raumgreifend sind. Also mussten Territorium, Bevölkerung, Wirtschaft, Armee und Ambitionen auf die Maßstäbe eines mitteleuropäischen Landes zurechtgestutzt werden. Dann würden sie uns bestimmt als ihresgleichen aufnehmen.

    Wir stutzten alles zurecht. Begannen, genauso fanatisch an Hayek zu glauben wie früher an Marx. Wir halbierten das demografische, industrielle und militärische Potenzial. Wir trennten uns von den Unionsrepubliken und begannen uns von den autonomen Republiken zu trennen … Doch auch ein derart verkleinertes und herabgesetztes Russland eignete sich nicht für die Hinwendung zum Westen.

    Endlich beschlossen wir, mit dem Verkleinern und Sich-Herabsetzen aufzuhören und darüber hinaus Rechte anzumelden. Die Geschehnisse im Jahr 2014 wurden unausweichlich.

    Endlich hörten wir mit dem Verkleinern und Sich-Herabsetzen auf und meldeten Rechte an. Die Geschehnisse 2014 wurden unausweichlich

    Das russische und das europäische Kulturmodell haben bei aller äußeren Ähnlichkeit unterschiedliche Software und inkompatible Schnittstellen. Sie fügen sich nicht in ein gemeinsames System. Heute, wo dieser uralte Verdacht zur offenkundigen Tatsache geworden ist, werden Vorschläge laut, wir sollten uns in die andere Richtung aufmachen, nach Asien, nach Osten.

    Besser nicht. Und zwar deshalb nicht, weil Russland da schon einmal war.

    Das Moskauer Protoimperium entstand in einem komplexen militärisch-politischen Coworking mit der asiatischen Horde, das manche als Joch, andere lieber als Union bezeichnen. So oder so, freiwillig oder unfreiwillig: Der östliche Entwicklungsschwerpunkt ist ausgewählt und erprobt worden.

    Sogar nach dem Stehen an der Ugra blieb das russische Zarenreich im Grunde ein Teil von Asien. Es annektierte bereitwillig Gebiete im Osten. Es beanspruchte die Nachfolge von Byzanz, dem asiatischen Rom. Es stand unter starkem Einfluss hochstehender Familien, die der Goldenen Horde entstammten.

    Russland ist vier Jahrhunderte lang Richtung Osten und weitere vier Jahrhunderte lang Richtung Westen gegangen. Weder da noch dort hat es Wurzeln geschlagen

    Höhepunkt des Moskauer Asiatentums war die Ernennung von Simeon Bekbulatowitsch, dem Khan von Kassimow, zum Souverän von ganz Russland. Historiker, die Iwan den Schrecklichen einfach für eine Art Oberiuten mit Monomachkappe halten, schreiben diese Posse lediglich seinem naturgemäßen Hang zu Scherzen zu. Die Realität war ernster. Nach Iwans Tod bildete sich am Hof eine gewichtige Partei, die versuchte, Simeon Bekbulatowitsch nun tatsächlich auf den Zarenthron zu befördern. Boris Godunow musste den Bojaren bei ihrer Vereidigung das Versprechen abnehmen, dass sie „den Zaren Simeon Bekbulatowitsch und seine Kinder nicht als Herrscher wollten“. Der Staat stand also kurz davor, in die Herrschaft einer Dynastie getaufter Dschingisiden überzugehen und das östliche Entwicklungsparadigma zu zementieren.

    Doch weder Bekbulatowitsch noch die Godunows, die [laut Legende – dek] von einem Mirza, einem Fürsten der Goldenen Horde abstammten, hatten eine Zukunft. Die polnisch-kosakische Invasion begann, und mit ihr kamen neue Zaren aus dem Westen nach Moskau. Die Herrschaft des falschen Dimitri, der den Bojaren lange vor Peter dem Großen durch sein europäisches Gebaren das Leben schwermachte, und die Regentschaft des polnischen Königssohns Władysław sind trotz ihrer Kurzlebigkeit von hoher symbolischer Bedeutung. Die Zeit der Wirren erweist sich in ihrem Licht als eine Krise, die weniger dynastischen als zivilisatorischen Charakter hat.

    Die Rus wandte sich von Asien ab und begann sich in Richtung Europa zu bewegen.

    Russland ist also vier Jahrhunderte lang Richtung Osten und weitere vier Jahrhunderte lang Richtung Westen gegangen. Weder da noch dort hat es Wurzeln geschlagen. Beide Wege sind abgeschritten. Jetzt werden Rufe nach der Ideologie eines dritten Weges, eines dritten Zivilisationstyps, einer dritten Welt, eines dritten Rom, erklingen müssen.

    Und doch sind wir wohl kaum eine dritte Zivilisation. Eher eine doppelgerichtete und zweigleisige. Die sowohl den Osten als auch den Westen in sich enthält. Wir sind europäisch und gleichzeitig asiatisch und daher weder ganz asiatisch noch ganz europäisch.

    Wir sind europäisch und gleichzeitig asiatisch und daher weder ganz asiatisch noch ganz europäisch

    Unsere kulturelle und geopolitische Zugehörigkeit erinnert an die unstete Identität eines Menschen, der aus einer Mischehe hervorgegangen ist. Er ist überall ein Verwandter, aber nirgends Familie. Daheim unter Fremden, fremd unter den Seinen. Er versteht alle und wird von niemandem verstanden. Ein Halbblut, ein Mestize, ein seltsames Wesen.

    Russland ist ein west-östliches Halbblutland. Mit seinem doppelköpfigen Staatswesen, seiner hybriden Mentalität, seinem interkontinentalen Territorium und seiner bipolaren Geschichte ist es, wie es sich für ein Halbblut gehört, charismatisch, begabt, schön und einsam.

    Charismatisch, begabt, schön und einsam

    Die denkwürdigen Worte, die Alexander III. nie gesagt hat – „Russland hat nur zwei Verbündete, seine Armee und seine Flotte“ – sind die wohl eingängigste Metapher für seine geopolitische Einsamkeit. Und es ist längst an der Zeit, sie als Schicksal anzuerkennen. Die Liste der Verbündeten kann natürlich nach Belieben erweitert werden: Arbeiter und Lehrer, Öl und Gas, die kreative Schicht und patriotisch gesinnte Bots, General Frost und der Erzengel Michael … An der Aussage selbst ändert sich dadurch nichts: Wir sind uns selbst die engsten Verbündeten.

    Wie wird diese Einsamkeit aussehen, die uns bevorsteht? Werden wir als armer Schlucker eine kümmerliche Randexistenz fristen? Oder erwartet uns die glückliche Einsamkeit des Leaders, der Alpha-Nation, die allen davonzieht und der „die andern Völker und Reiche ausweichen und ihren Lauf nicht hemmen“? Es hängt von uns ab.

    Einsamkeit bedeutet nicht völlige Isolation. Unbegrenzte Offenheit ist ebenso wenig möglich. Beides würde bedeuten, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Die Zukunft aber kann die Fehler der Vergangenheit nicht brauchen, sie hält ihre eigenen Fehler bereit.

    Russland wird zweifellos Handel treiben, Investitionen anziehen, Wissen austauschen, kämpfen (auch Krieg ist eine Form der Kommunikation), sich an gemeinsamen Projekten beteiligen, in Organisationen vertreten sein, konkurrieren und kooperieren und Angst, Hass, Neugier, Sympathie und Bewunderung hervorrufen. Nur eben ohne trügerische Ziele und Selbstverleugnung.

    Es wird schwer werden, und immer wieder wird uns ein Klassiker der russischen Poesie in den Sinn kommen: „Ringsum nur Dornen, Dornen, Dornen … Sch***e, wann kommen die Sterne?!

    Es wird interessant. Und die Sterne werden kommen.

     

     

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Stalin: eine aufgezwungene Liebe

    Stalin: eine aufgezwungene Liebe

    Wie ist das zu erklären: Das renommierte Lewada-Institut hatte im vergangenen Jahr nach der herausragendsten Persönlichkeit Russlands gefragt. 38 Prozent der Befragten nannten Stalin, damit landete der einstige Diktator auf Platz 1, vor Puschkin und Putin.

    Die Politologin Ekaterina Schulmann geht auf Inliberty diesen Zahlen nach und damit der Frage: Warum ist Stalin so beliebt? Und sie stellt die Gegenfrage: Ist er das überhaupt?

     

    Schon seit 2002 gibt es in einer Stadt in Dagestan eine Straße namens Stalin-Prospekt. Sie erhielt diesen Namen auf Initiative des Bürgermeisters – und nicht etwa, weil die Bürger gedroht hätten, andernfalls das Rathaus in Brand zu setzen.

    Wenn man die Aktionen, Maßnahmen und Bekundungen anschaut, die sich als Anzeichen einer schleichenden Re-Stalinisierung oder einer Rehabilitierung Stalins deuten lassen, dann zeigt sich: Jeder dieser Fälle ist direkt oder indirekt von staatlicher Seite initiiert. Das sind keine private Initiativen. So werden die Stalin-Denkmäler, die in letzter Zeit auftauchen und deren Anzahl tatsächlich wächst, meist unter der Ägide des jeweiligen KPRF-Ortsverbands errichtet.

    Jeder dieser Fälle ist direkt oder indirekt von staatlicher Seite initiiert. Das sind keine privaten Initiativen

    Im Jahr 2009, in einer anderen politischen Epoche unter Präsident Medwedew, wurden bei der Restaurierung der Moskauer Metrostation Kurskaja folgende Worte der sowjetischen Hymne wiederhergestellt: „Uns erzog Stalin – zu Treue zum Volk“. Das rief Empörung hervor, wobei die Behörden argumentierten, dass das der historischen Wahrheit entspreche, dass lediglich in ursprünglicher Form wiederhergestellt werde, was hier einst gewesen sei.

    Die Moskauer Metro ist seither bekanntlich zu einem mächtigen Instrument der prosowjetischen und stalinistischen Propaganda geworden: Züge mit Stalinportraits oder Aktionen wie solche im Rahmen des Geschichtsfestivals Zeiten und Epochen 2017. Dabei ist klar, dass all das nicht von unten, aus dem Volk, kommt, sondern von der Metro-Administration und dem politischen Management der Stadt Moskau und der Russischen Föderation.

    2015 wurde in einem Holzhäuschen im Dorf Choroschewo ein Stalin-Museum errichtet, unter der Ägide des Kulturministeriums und mit persönlicher Billigung des Kulturministers.

    In den Jahren 2014, 2015 und 2016 gab es in Moskau Kunstausstellungen mit Stalinportraits und Bildern aus der Stalinzeit, die die bolschewistischen Führer verherrlichten. Diese Kulturschätze wurden nicht etwa auf Verlangen des Kunstpublikums oder der Museumsmitarbeiter in der Tretjakow-Galerie gezeigt. Natürlich gibt es durchaus Menschen – und es ist wichtig sich darüber im Klaren zu sein – die aus eigener Initiative eine Stalinbüste auf ihrem Datschengrundstück aufstellen oder sogar bereit sind, für die Wiedererrichtung eines Stalindenkmals zu spenden.

    Natürlich gibt es durchaus Menschen, die aus eigener Initiative eine Stalinbüste auf ihrem Datschengrundstück aufstellen

    Worin besteht denn die Funktion der Staatspropaganda? Indem sie von einer hierarchisch höheren Position aus agiert, etabliert sie von oben eine Norm. Sie sagt dem Publikum, was richtig, was akzeptabel und was überhaupt möglich ist. Sie schafft den Kontext, der den Leuten klarmacht: dass es ungefährlich, wenn nicht gar lobenswert ist, mit einem Stalin-Plakat herumzulaufen. Dass die zahlreichen Schriften zu seiner Rehabilitierung, die in den Buchhandlungen aller russischen Städte ausliegen, nicht als extremistisch eingestuft werden. Dass all das normal ist, dass es nicht strafbar, sondern womöglich unterstützenswert ist.

    Wenn es im Fernsehen und von staatlicher Seite heißt, man solle „niemanden dämonisieren und beide Seiten sehen, den Krieg haben wir ja schließlich gewonnen“, dann ist das ein Signal: Sowohl die, die tatsächlich positive Gefühle damit verbinden als auch die, die bisher keine Gefühle hatten, werden jetzt plötzlich welche haben; die, die bisher keine Meinung hatten, haben jetzt plötzlich eine, denn man hat ihnen gesagt, dass das normal und sogar gut ist.

    Konformismus ist der psychologische Normalfall – das mag man betrüblich finden, dennoch ist es wahr. Es liegt in der Natur des Menschen, sich auf die Seite der Mehrheit zu schlagen und seine Meinung der landläufigen Meinung anzupassen. Deshalb tragen diejenigen, die im Namen des Staates, der allgemein Mächtigen sprechen, besondere Verantwortung. Das Fernsehen wird bei uns nicht als Informationsquelle, nicht als Nachrichtenmedium wahrgenommen, sondern als Stimme der Macht. So und nicht anders nehmen die Menschen es wahr.

    Fernsehen wird bei uns nicht als Informationsquelle wahrgenommen, sondern als Stimme der Macht

    2008 wurde der TV-Wettbewerb Russlands Name durchgeführt: Es ging um die hundert bedeutendsten Russen. Die Idee ging auf den BBC-Wettbewerb Hundred Greatest Britons zurück, doch sie wurde auf landestypische Weise umgesetzt. Die Fernsehzuschauer sollten die hundert bedeutendsten historischen Gestalten wählen. Von denen sollte dann am Schluss ein Sieger übrigbleiben. Damals wurde keine Mühe gescheut und hartnäckig der Eindruck erzeugt, beim Zuschauervotum habe „eigentlich“ Stalin gewonnen. Da das jedoch unerhört gewesen wäre, habe der Erste Kanal am Ergebnis herumgeschraubt und Alexander Newski zum Sieger gemacht.

    Wie ist die Abstimmung damals wohl wirklich gelaufen? Wir haben seither an Erfahrung und Wissen gewonnen und können uns ungefähr vorstellen, wie eine sogenannte Willensbekundung des Volkes vonstatten geht, vor allem im Fernsehen. Doch hier ist das Modell vielleicht erstmals in dieser Deutlichkeit zu beobachten: „Sie wollen ihren Stalin, aber wir, die Machthaber, gehen vorerst noch nicht darauf ein. Wir versuchen noch, sie irgendwie zu besänftigen.“

     

    Blicken wir der Wahrheit ins Auge: Wir haben es hier mit Staatspropaganda zu tun. Der Staat drängt uns eine bestimmte Vorstellung davon auf, was normal und akzeptabel, was gut und rühmlich, was groß und überragend ist. Diese Vorstellungen finden Anklang, weil sie im Namen der Regierung geäußert werden und sich teilweise auf tatsächlich vorhandene Bedürfnisse stützen.

    Wie lassen sich diese Bedürfnisse beschreiben, die die reale Basis von Stalins Popularität darstellen?

    Bestimmte Vorstellungen finden Anklang, weil sie im Namen der Regierung geäußert werden und sich teilweise auf tatsächlich vorhandene Bedürfnisse stützen

    Diese Frage wurde mir erstmals bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin gestellt: „Wie kann es sein, dass Stalin im Volk beliebt ist?“

    Wenn man direkt mit dieser Frage konfrontiert wird, beginnt man dieses ganz grundsätzliche Bedürfnis nach einer bestimmten Art von Gerechtigkeit zu verstehen: nach diesem paradoxen, anti-elitären Stalin. Den haben diejenigen im Sinn, die sagen: „Stalin hätte es euch schon gezeigt.“

    Stalin als Geißel der Nomenklatura, als derjenige, der sich mit den Reichen und Mächtigen anlegt und für die einfachen, armen Leute eintritt: Dieses Bild mag ein absurder Mythos sein, es existiert aber. Vielen, die so reden, geht es um die Berufung auf ein strenges Gesetz, strikte Ordnung und Gleichheit, um eine Art ursprünglicher apostolischer Einfachheit.

    Aus Gesprächen mit Taxifahrern zu zitieren, gehört sich vielleicht nicht als Wissenschaftlerin. Aber auch ich habe mir schon anhören müssen, dass Stalin nur einen Mantel und ein Paar Stiefel hatte, während die jetzigen Machthaber in Saus und Braus leben und sich alles mögliche leisten. Dieses anti-elitäre Bedürfnis spielt hier ganz offenbar eine Rolle. Aber allein die Vorstellung, dass es überhaupt möglich, normal und ungefährlich ist, sich auf ihn als Instanz zu berufen, ist durch die staatliche Propagandamaschine gegeben.

    Stalin als derjenige, der für die einfachen, armen Leute eintritt: Dieses Bild mag ein absurder Mythos sein, es existiert aber

    Anhand von Daten können wir überprüfen, inwieweit die jahrzehntelange Arbeit dieser Propagandamaschine erfolgreich war. Eine ganz einfache Frage des Lewada-Zentrums lautet: „Wie ist Ihre persönliche Einstellung zu Stalin?“ Wenn wir uns die Entwicklung der Antworten von 2001 bis 2015 ansehen, gibt es keine Anzeichen für radikale Veränderungen. Man kann nicht sagen, dass der Respekt, die Bewunderung und die Sympathie für Stalin stark zugenommen hätten.

     

     

     


    Quelle 1: Lewada-Zentrum / Quelle 2: Lewada-Zentrum. Falls die Infografiken nicht laden sollten, bitte hier aktualisieren.

     

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

    Zurückgegangen sind Abneigung und Feindseligkeit. Gleichzeitig ist die Anzahl derer, die Stalin gleichgültig gegenüberstehen, stark angestiegen. Das erklärt sich durch das Fortschreiten der Zeit. Stalin ist als historische Gestalt schon sehr stark mythologisiert. Wenn es in einer Wendung, die uns zu Ohren kommt, heißt „Die Großväter haben gekämpft“, so müssen wir uns klarmachen, dass von der Generation der heute 30- bis 40-Jährigen kein einziger Großvater gekämpft hat. Ihre Großväter und Großmütter waren im Krieg Kinder. Für die jetzt tätige Bevölkerung liegt der Krieg sehr, sehr weit in der Vergangenheit. Die Gestalt Stalins ist allmählich ähnlich in den Pantheon entrückt wie andere historische Persönlichkeiten, zum Beispiel Napoleon, bei dessen Namen man eher an eine Torte als an den französischen Kaiser denkt, oder Hitler, der als lustiges Bild-Mem im sozialen Netzwerk VKontakte herumspukt.

     

    Die Gestalt Stalins ist allmählich ähnlich entrückt wie etwa Napoleon, bei dessen Namen man eher an die Torte als an den französischen Kaiser denkt

    Man mag das richtig finden oder nicht, es ist jedenfalls unvermeidlich. Die lebendige historische Erinnerung verschwindet nach und nach. Was bleibt, ist ein symbolisches Feld. Wir sehen also: Es ist schlichtweg nicht wahr, dass das ganze Volk Stalin liebt und dass das Bedürfnis, ihn zu bewundern und zu idealisieren, immer größer wird.

    Wie schätzt die Jugend diese historische Ära ein, die für sie so weit zurückliegt? Bei einer Erhebung im Jahr 2015 wurden russische und amerikanische Studenten gefragt, auf welche historischen Ereignisse in der Geschichte ihres Landes man stolz sein könne und welcher man sich schämen müsse.

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

    Die russischen Studenten nannten als wichtigsten Grund zum Stolz den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und als wichtigsten Grund zur Scham die Repressionen unter Stalin. Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass jeder Versuch einer völligen Ent-Stalinisierung unweigerlich auf halbem Weg scheitern muss, solange der Name Stalin mit dem Sieg assoziiert wird. Dennoch können wir feststellen, dass der moralische Kompass der jungen Leute im Großen und Ganzen gut funktioniert.

     

    Jeder Versuch einer völligen Ent-Stalinisierung muss unweigerlich auf halbem Weg scheitern, solange der Name Stalin mit dem Sieg assoziiert wird

     

    Schauen wir uns die Frage an, in welcher historischen Epoche das Leben in Russland am besten war.

     

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

     

    Da sind die Ergebnisse wirklich interessant. Auffällig ist, dass nach 2014 erheblich weniger Leute in ihrer Antwort die Zeit vor der Revolution 1917 nennen. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber der Krim-Konsens hat verblüffenderweise dazu geführt, dass die gute alte Zarenzeit – die dobeszarja, wie es jetzt heißt – an Beliebtheit verloren hat. Die Stalinära wird kaum genannt, und es ist hier auch keine Veränderung festzustellen. Stalin zu verehren ist eine Sache, aber in dieser Epoche leben möchte man lieber nicht.

     

    Die Breshnew-Zeit wird als eher behaglich und ruhig angesehen, aber ihre Beliebtheit nimmt ab. Die Perestroika mag niemand, ebenso wenig die Jelzin-Zeit. Viele wissen nicht, was sie antworten sollen. Und da der zeitliche Abstand zwischen 1994 und 2017 ziemlich groß ist, finden die Leute, dass die Jetztzeit bei dieser kärglichen Auswahl doch eigentlich gar nicht so schlecht aussieht.

    Wie verhält sich die Einstellung zu Stalin und zur Stalinära – beides darf, wie wir gesehen haben, nicht gleichgesetzt werden – zu den allgemeinen sozialpolitischen Ansichten der Menschen? Aufschluss darüber geben Daten aus der Studie Protoparteiliche Gruppierungen in der russischen Gesellschaft in den 2000er und 2010er Jahren. Der Autor der Studie ist Kirill Rogow. Es handelt sich um eine zusammenfassende Auswertung von Meinungsumfragen, die das Lewada-Zentrum seit 18 Jahren durchführt.

    Besonders eng mit der Figur Stalins verbunden ist hier die Frage: „Brauchen wir jemanden, der mit harter Hand regiert?“

     

     

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

    Auch hier ist nach 2014 eine sehr seltsame Veränderung zu beobachten, für die es noch keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Vielleicht werden wir in fünf oder sieben Jahren sagen, dass sich das Jahr 2014 in Russland ganz anders auf die öffentliche Meinung ausgewirkt hat, als es uns im Fernsehen erzählt wurde. Nach 2014 sagten plötzlich immer mehr Leute, keinesfalls solle die ganze Macht einer einzelnen Person überlassen werden.

    Auch bei der Frage danach, welche Rechte den Russen am wichtigsten sind, ist in den letzten Jahren der rätselhafte, kontraintuitive „Post-Krim“-Effekt zu beobachten. Nach 2014 schätzten die Bürger das Recht auf Information und die Freiheit des Wortes drastisch höher ein. In Bezug auf das Eigentumsrecht dagegen zeigten sie sich etwas ernüchtert.

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

     

    Aus diesem Diagramm lässt sich beim besten Willen nicht schließen, dass das Volk sich Autoritarismus wünscht und von einer harten Hand träumt.

    Der Gesellschaft wird ein bestimmtes Bild von sich selbst aufgezwungen

    Der Gesellschaft wird also ein bestimmtes Bild von sich selbst aufgezwungen. Was ist der Grund dafür? Warum muss man den Leuten sagen, sie würden von der Wiedereinführung der Todesstrafe träumen, obwohl sie das gar nicht tun?
    Warum erzählt man ihnen, sie seien ein Volk, das am liebsten Stalin wieder zum Leben erwecken würde und sich über Massenrepressionen freue?

    Das Regime befindet sich in einer ziemlich vertrackten Lage: Es will Macht und Ressourcen in den eigenen Händen konzentrieren und an der Macht bleiben. Dabei ist es keine vollwertige Autokratie, es verfügt über keinen entwickelten Repressionsmechanismus, über keine herrschende Ideologie, die es den Leuten aufzwingen kann. Es will sich aber auch nicht den Verfahren demokratischer Machtwechsel unterwerfen.

    Also hält es sich durch ein ganzes Arsenal an ziemlich raffinierten Instrumenten an der Macht. Zum großen Teil sind dies verschiedene Simulationsmodelle und -schemata, die zur Propaganda gehören. Einerseits werden demokratische Institutionen und Prozesse simuliert, wie zum Beispiel Wahlen, ein Mehrparteiensystem oder Medienvielfalt. Und bei all ihrer äußerlichen Vielfalt, sagen die Medien, ein- und dasselbe. Es finden Wahlen statt, aber sie führen nicht zu einem Machtwechsel. Es gibt Parteien, aber keine Opposition.

    Es finden Wahlen statt, aber sie führen nicht zu einem Machtwechsel. Es gibt Parteien, aber keine Opposition

    Andererseits müssen Sie als Machthaber die rhetorischen Instrumente der Autokratie simulieren – also, salopp gesagt, sich im öffentlichen Raum furchterregender geben als Sie sind. Dabei sollten Sie sich nicht als schrecklicher Diktator oder blutrünstiger Tyrann präsentieren, sondern, im Gegenteil, als zivilisierte und zurückhaltende Kraft, die ein rohes Volk mit autoritären Neigungen regiert, das sie immerzu bändigen und dessen Blutrünstigkeit sie dauernd beschwichtigen muss.

    Also müssen Sie ambivalente Botschaften aussenden, à la „Wir sollten Stalin nicht dämonisieren, sondern die Sache besser von verschiedenen Seiten betrachten“. Sie müssen den Eindruck erwecken, dass Sie dem ständigen Druck der Gesellschaft, die Archaisierung, Verschärfung, Feuer und Blut fordert, zugleich nachgeben und widerstehen, und dass es nur Ihrem Widerstand zu verdanken ist, wenn hierzulande noch nicht alle an Laternenmasten aufgeknüpft worden sind. Dabei sind Sie selbst der mächtigste Akteur und haben diesen Wunsch überhaupt erst erzeugt.

    Wozu ist es nötig, dem eigenen Volk einen so schlimmen Ruf anzuhängen? Um zu rechtfertigen, dass Sie permanent seine politischen Rechte einschränken, besonders das Wahlrecht. Wenn die Leute rohe, blutdürstige Barbaren sind, kann man ihnen natürlich nicht erlauben, bei den Wahlen ihre Regierung tatsächlich selbst zu wählen. Mal heißt es, sie würden dann einen „Hitler“ wählen, ein nationalistisches Schreckgespenst, dann wieder, sie würden einen „Stalin“ wählen – ein links-etatistisches Schreckgespenst. Beides wird als Argument benutzt, um das Selbstbestimmungsrecht der Bürger einzuschränken. Genau dafür braucht es die hohen Beliebtheitswerte Stalins.

    Der Gesellschaft werden falsche Vorstellungen von sich selbst eingeimpft, damit die Regierung als einziger Europäer in Russland erscheint. Aber das entspricht längst nicht mehr der gesellschaftlichen Realität.

    Der Gesellschaft werden falsche Vorstellungen von sich selbst eingeimpft, damit die Regierung als einziger Europäer in Russland erscheint

    Unsere Gesellschaft ist komplex, vielschichtig und heterogen. Beim Versuch, eine öffentliche Meinung zu ermitteln, eine gemeinsame Wertebasis der Bewohner Russlands, ergibt sich etwa folgendes Bild: Die russische Gesellschaft teilt die gewöhnlich als „europäisch“ bezeichneten Werte. Sie ist individualistisch, konsumorientiert, in vieler Hinsicht atomisiert, kaum religiös und vorwiegend säkular geprägt. Ihre Toleranz gegenüber staatlicher Gewalt ist recht niedrig – wiederum anders als gemeinhin gesagt wird.

    Die Werte der russischen Gesellschaft werden von Forschern in der Regel als „europäisch, aber schwach“ charakterisiert. Die Russen sind im Großen und Ganzen konformistisch und eher passiv und ihre Bereitschaft, die eigene Meinung zu äußern, ist nicht sehr ausgeprägt. Aber sie sind auch nicht aggressiv oder blutrünstig, und sie streben die Einführung eines autoritären Regimes in Russland weder an noch träumen sie davon.

     

    Um eine solche Gesellschaft mit undemokratischen Mitteln zu regieren, muss man sie natürlich falsch darstellen. Man muss ihnen das Stalinfähnchen in die Köpfe hämmern, um dann mit dem Finger auf sie zu zeigen und zu sagen: „Schaut euch doch an, was das für welche sind.“

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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