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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wie Putin lernte, die Ukraine zu hassen

    Wie Putin lernte, die Ukraine zu hassen

    Wie kam Putin zu der Entscheidung, die Ukraine zu überfallen? Welche Schlüsselmomente gab es, und wer hat ihn dabei beeinflusst? Ilja Sheguljow hat darüber mit aktiven und ehemaligen Beamten und Funktionären aus dem Staatsapparat in Russland und der Ukraine gesprochen. In einer aufwändigen und vielbeachteten Recherche auf Verstka rekonstruiert der Journalist, „wie sich das Denken des russischen Staatsoberhauptes entwickelt und in die Tragödie geführt hat“.

    Illustration © Dimitri Ossinnikow/Verstka
    Illustration © Dimitri Ossinnikow/Verstka

    1. Der erste Versuch, die Ukraine zu spalten

    2. Wie Putin sich von Amerika gekränkt fühlte

    3. Welche Philosophen den russischen Präsidenten lehrten, gegen die Ukraine zu sein

    4. Wie Putin entschied, die Krim zu ergreifen

    5. Warum Putin sich von Selensky gekränkt fühlte

    6. Wann die Kriegsentscheidung fiel


    Nach den Gouverneurswahlen in der Oblast Moskau im September 2013 sagte einer der Kuratoren des riesigen Stabs von Polittechnologen händereibend: „Gut gemacht, Leute, und jetzt fahrt ihr zum Training in die Westukraine“, erinnert sich ein der russischen Präsidialverwaltung nahestehender Polittechnologe im Gespräch mit Verstka. Ihm zufolge habe vor zehn Jahren noch niemand über „schlechte Chochly [Ukrainer]“ gesprochen: Die russischen Polittechnologen arbeiteten problemlos sowohl mit Viktor Janukowytschs Team als auch mit seinen eher proeuropäisch orientierten Opponenten zusammen. Sie erhielten lukrative Aufträge von allen Seiten und verdienten Geld. „Und was es an Austausch gab zwischen den russischen und ukrainischen Fußballfans, da war echte Freundschaft. Auch die Nationalisten waren untereinander befreundet“, sagt der Gesprächspartner von Verstka

    Es scheint, als hätte der Kreml seine Einstellung zur Ukraine im Februar 2014 innerhalb weniger Tage geändert, kurz bevor Putin eigenmächtig entschied, die Krim zu annektieren. Doch ganz so war es nicht: Aus Augenzeugenberichten geht hervor, dass sich diese Haltung zum Nachbarland schon sehr viel früher im Kopf des russischen Präsidenten formierte. 


    1. Der erste Versuch, die Ukraine zu spalten: „Unser Hurensohn“

    Als Leonid Kutschma [2004 – dek] nach zwei Legislaturperioden aus dem Präsidentenamt schied, bat er Moskau, seinen Nachfolger Viktor Janukowytsch zu unterstützen, was der Kreml mit Eifer tat. 

    Putin reiste eigens nach Kyjiw und trat im Pendant zum russischen Direkten Draht auf, mit dem einzigen Unterschied, dass ihm nun Ukrainer Fragen stellten (es gingen über 80.000 Fragen ein). Dort äußerte Putin sogar, dass Russland von der Ukraine lernen könne, da das ukrainische Wirtschaftswachstum unter Premierminister Janukowytsch das russische überholt habe. 

    Auf Moskauer Seite kuratierte die Wahlen Dimitri Medwedew, damals Vorsitzender der Präsidialverwaltung, und auf Kyjiwer Seite der Chef der ukrainischen Präsidialverwaltung Viktor Medwedtschuk. Im selben Jahr wurde Putin Taufpate für dessen Tochter Darja. Damals arbeitete die ukrainische Präsidialverwaltung eng mit Russland zusammen, wobei der russische Polittechnologe Gleb Pawlowski eine Schlüsselrolle in der Vermittlung zwischen den beiden Administrationen einnahm, wie er später zugab. Einer der ersten Schachzüge Moskaus im Vorwahlkampf war eine Karte über „die drei Sorten der Ukraine“, in die Viktor Juschtschenko das Land angeblich aufgeteilt hatte. An dritter und letzter Stelle standen der Süden und Osten der Ukraine.

    Doch all das half nichts: Nach den Massenprotesten der Orangen Revolution und der anschließenden Wiederholungswahl wurde 2004 Viktor Juschtschenko Präsident der Ukraine. 

    Moskau setzte jedoch weiterhin auf die Entzweiung und schließlich Abspaltung der Regionen. Noch auf dem Höhepunkt der Orangen Revolution wurde der Versuch unternommen, den Süden und Osten vom Rest des Landes abzuspalten: In Sewerodonezk fand ein prorussischer Kongress von Deputierten aller Ebenen statt, an der auch Juri Lushkow teilnahm, der Moskauer Bürgermeister war und ein zur damaligen Zeit einflussreicher Politiker. Der damalige Vorsitzende des Donezker Regionalparlaments Borys Kolesnikow forderte ohne Umschweife die Abspaltung von der Ukraine: „Wir schlagen vor, allen hochrangigen Organen der Staatsmacht, die gegen das Gesetz verstoßen haben, unser Misstrauen auszusprechen und einen neuen südostukrainischen Staat in Form einer Föderalrepublik zu gründen. Hauptstadt dieser neuen Republik – und damit die erste wiederhergestellte Hauptstadt der unabhängigen Ukraine – soll Charkiw werden“, sagte Kolesnikow. Doch dazu kam es nicht: Russland entschied sich gegen eine militärische Einmischung in die Angelegenheiten eines souveränen Staates, und ohne Unterstützung wagte es niemand, die Abspaltung voranzutreiben. Auf eine Interview-Anfrage von Verstka antwortete Kolesnikow: „Danke, kein Interesse.“ (Kolesnikows Stiftung unterstützt aktiv die Ukrainische Armee, sein Facebook-Profil ziert eine große ukrainische Flagge).

    Anfang 2010 hatte der prowestliche Präsident Juschtschenko einen großen Teil seiner Unterstützer verloren und Janukowytsch die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Diesmal stellten die Wähler das Wahlergebnis nicht massenhaft in Frage. 

    Gleich nach seinem Amtsantritt unternahm Janukowytsch Schritte, von denen Moskau selbst zu Zeiten des gemäßigten Politikers Kutschma nicht hätte träumen können: Er sprach sich gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine aus, initiierte ein Gesetz zum Status der russischen Sprache als Regionalsprache und äußerte den Standpunkt, der Holodomor sei kein Genozid am ukrainischen Volk gewesen, sondern ein allgemeines Problem der sowjetischen Geschichte

    Das Land wurde von einem Präsidenten regiert, der faktisch für uns arbeitete

    „Unsere Nachrichtendienste saßen in der ukrainischen Regierung, lenkten das Land und einzelne Unternehmen. Wieso eingreifen, wenn ohnehin alles uns gehörte?“, berichtet ein der russischen Präsidialverwaltung nahestehender Informant. Ihm zufolge war der Plan einfach: Annäherung mit der Ukraine nach dem Vorbild der Annäherung mit Belarus. „Das Land wurde von einem Präsidenten regiert, der faktisch für uns arbeitete“, erklärt der Informant. „So, wie die USA damals auf Kuba Präsident Fulgencio Batista hatten, hatten wir in der Ukraine Janukowytsch. Die Beziehungen waren die gleichen. Selbstverständlich haben wir ihm zugespielt und geholfen. Er war unser Hurensohn.“

    Janukowytsch und Putin im Dezember 2013 / Foto © kremlin.ru (CC BY 4.0)
    Janukowytsch und Putin im Dezember 2013 / Foto © kremlin.ru (CC BY 4.0)

    Gleichzeitig arbeitete Russland an der diplomatischen Front daran, Europa von einem Anbändeln mit der Ukraine abzubringen. „Russische Diplomaten reisten nach Paris und erklärten, dass wir gegen ein Assoziierungsabkommen [der Ukraine] mit der EU sind, dass es dazu nicht kommen wird und sie damit aufhören sollen“, erzählt ein Informant aus dem engeren Umfeld von Wladislaw Surkow, der von 2013 bis 2019 unter anderem für die Ukraine-Angelegenheiten des Kreml zuständig war. „Sie erklärten, es wäre ein Schlag gegen die ukrainisch-russischen Beziehungen. Das war der Anfang, noch bevor überhaupt die Rede von einer Russki Mir war.“

    Janukowytsch lehnte das Assoziierungsabkommen mit der EU ab und gab der Verführung des Kreml nach, einer Zollunion mit Russland beizutreten, was ihm den zweiten Maidan seines Lebens bescherte. 


    2. Wie Putin sich von Amerika gekränkt fühlte: „Er wurde ausfällig“

    Putins Verhältnis zur Ukraine verschlechterte sich parallel zu seinem Verhältnis zum Westen. Schnell wurde der postsowjetische Raum – allen voran Georgien und die Ukraine – für den Kremlchef zum Raum des Machtkampfs.

    Der erste Schlag für Putin war die Rosenrevolution in Georgien [2003], als nach Massenprotesten der prowestliche und für Putin unverständliche Kandidat Michail Saakaschwili der neue georgische Präsident wurde. Der zweite und schwerwiegendere Schlag war die Orange Revolution in der Ukraine. „Es ging nicht um das Verhältnis zur Ukraine. Es war ja nicht nur der Maidan, es war ein Bruch mit allen Spielregeln“, erklärt ein Informant, der Putin nahesteht, dessen Logik der Kränkung. Der Kreml nahm das Recht der Bürger, die Regierung ihres Landes durch Kundgebungen und Wahlen zu ändern, nicht ernst und sah solche Aktionen ausschließlich als Resultat einer äußeren Einflussnahme durch den Westen. 

    Aktionen wie die Orange Revolution sah der Kreml ausschließlich als Resultat westlicher Einflussnahme

    Diese Ereignisse mündeten in Putins Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, die vom Westen kritisch aufgenommen wurde. „Er wurde ausfällig, sein Auftritt war politisch inkorrekt“, sagt ein kremlnaher Informant heute. „Der Westen sagte dazu, ja, wie unfreundlich von ihm, er flucht, soll zum Teufel gehen, grober, ungehobelter Mistkerl. Das war in etwa das Ergebnis dieser Rede.“


    3. Welche Philosophen den russischen Präsidenten lehrten, gegen die Ukraine zu sein: Die neue Philosophie

    Neben dem veränderten Verhältnis zum Westen wurde Putin auch von innenpolitischen Ereignissen beeinflusst. Mit den Protesten von 2012 fing Putin an, sich verstärkt mit der Literatur einer bestimmten Geisteshaltung zu beschäftigen. In kremlnahen Kreisen wurde gemunkelt, Putin würde immer mehr Zeit in Archiven verbringen. Etwa zur selben Zeit wurde eigens eine Arbeitsgruppe in der Präsidialverwaltung gebildet, die Bücher und ausgewählte Texte zu von Putin vorgegebenen Themen zusammenstellte, erzählt ein ehemaliger Polittechnologe des Kreml. 

    Noch vor den Ereignissen auf dem Bolotnaja-Platz hatte sich Putin für den weißgardistischen Philosophen Iwan Iljin interessiert. Nach den missglückten Protesten vertiefte sich der russische Präsident noch mehr in Texte von Autoren, die Iljins Ansichten teilten. Unter anderem fand er Gefallen an für Wassili Rosanow, einem Religionsphilosophen des frühen 20. Jahrhunderts.

    Iljin hatte keinerlei Respekt vor der Ukraine als eigenständigem Staat. „Die Ukraine ist jener Teil Russlands, der am stärksten von Abspaltung und Eroberung bedroht ist“, schrieb der Philosoph 1938 in der Resolution eines Kongresses der Weißen Emigration. „Der ukrainische Separatismus ist eine künstliche Erscheinung, die realer Grundlagen entbehrt. Er entstand aus der Geltungssucht von Rädelsführern und einer internationalen Eroberungsintrige.“

    Dort ist alles ganz simpel aufgebaut: Die Ukrainer werden mit List und Manipulation vom Westen herangezüchtet, um ein Anti-Russland zu schaffen

    Zitate aus Reden von Iljin, Rosanow und anderen imperial ausgerichteten – auch zeitgenössischen – Autoren, tauchten schließlich auch in Putins öffentlichen Reden auf. „In diesem Pantheon der Götter ist alles ganz simpel aufgebaut“, erläutert ein ehemaliger Technologe aus dem Kremlumfeld das Prinzip: „Die Ukrainer werden mit List, Täuschung, Manipulation und Technologie von den westlichen Staaten herangezüchtet, um ein Anti-Russland zu schaffen. Für Russlands Feinde sind sie die idealen Russen. Der ukrainische Staat wurde innerhalb der UdSSR geschaffen, um der russischen Bevölkerung zu schaden.“


    4. Wie Putin entschied, die Krim zu ergreifen: Gepfiffen auf die Folgen

    Noch im Januar 2014 hatte Putin nicht vor, die Krim zu annektieren. Das berichten drei Quellen – eine in der Präsidialverwaltung, eine aus dem Umfeld der kremlnahen Polittechnologen und eine aus Putins engerem Kreis. Die Entscheidung fiel spontan im Februar, als der Kreml erkannte, dass die Protestierenden im Zentrum Kyjiws die Regierung Janukowytsch bezwingen würden. Moskau setzte zunächst wieder auf einen Kongress von Deputierten, der zu einer Abspaltung von Teilen der Ukraine führen könnte. Laut einer Quelle aus dem Umkreis von Wladislaw Surkow waren Polittechnologen aus Russland an der Vorbereitung beteiligt. Den Vorsitz des Kongresses der Abgeordneten aus der Südostukraine sollte Janukowytsch persönlich übernehmen. Er war per Hubschrauber überstürzt aus Kyjiw abgezogen und nach Charkiw geflogen.

    Im letzten Moment weigerten sich jedoch die Regierenden der Stadt und der Oblast Charkiw, Hennadi Kernes und Mychailo Dobkin, dieses Spiel mitzuspielen. „Als ihnen klar wurde, dass Russland den Zerfall der Ukraine anstrebte, ergriffen sie vehement eine proukrainische Position und verweigerten Janukowytsch ihre Unterstützung“, berichtet ein Mitorganisator des Kongresses. Obwohl Janukowytsch am 22. Februar bereits in Charkiw war, ließ er sich auf der Versammlung nicht blicken – er hatte erkannt, dass der Plan gescheitert war. So waren dort keine Abspaltungsforderungen zu vernehmen; stattdessen riefen Kernes und Dobkin zu Frieden auf und versprachen, die Einheit der Ukraine zu wahren. Die russische Operation war gescheitert. Am selben Tag wurde Janukowytsch von der Werchowna Rada entmachtet.

    Putin sagte: ‚Das ist unsere letzte Chance, ich übernehme die Verantwortung‘

    In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar, nachdem Janukowytsch nun auch aus Charkiw geflohen war, fiel Putins Entscheidung, die Krim zu annektieren. Das geht aus seinen eigenen Schilderungen hervor und wird von Quellen aus seinem Umfeld bestätigt. In Sotschi, wo gerade die Olympischen Winterspiele zu Ende gingen, besprach er sich bis sieben Uhr morgens mit seinen vier engsten Vertrauten aus den Sicherheitsorganen. Wie ein naher Bekannter von Putin berichtet, sollen sie zunächst versucht haben, ihn von seinem Plan abzubringen. „Aber Putin sagte: ‚Das ist unsere letzte Chance, eine weitere wird es nicht geben, ich übernehme die Verantwortung.‘“

    Später äußerte ein anderer Vertrauter Putins im Gespräch mit ihm, die Krim-Annexion sei eine Katastrophe und werde schlimme Folgen nach sich ziehen. Putin soll erwidert haben, er pfeife darauf: „Russland hat einen großen Teil seines historischen Territoriums wiederbekommen, und das praktisch ohne Blutvergießen. So etwas hat es seit 1000 Jahren nicht gegeben. Was auch immer geschieht, die Krim wird russisch bleiben.“ Dass die Krim-Annexion in Russland auf solch breite Unterstützung stoßen würde, hatte Putin zunächst nicht erwartet.

    Anfang März begannen russische Beamte, inkognito die Krim und die an Russland grenzenden Donbass-Regionen zu besuchen. „Fast aus jedem Ministerium wurde ein Stellvertreter entsandt, um das Terrain zu erkunden“, erinnert sich ein ehemaliger Angehöriger des Regierungsapparats. Die Beamten sollten in Putins Geheimauftrag die künftige „Eingliederung der ukrainischen Regionen in Russland“ vorbereiten. Nach Angaben des Ex-Mitarbeiters ging es in den Regierungsdokumenten nicht nur um die Krim; auch die Kosten eines „Beitritts der Oblaste Donezk, Luhansk und Charkiw“ seien analysiert worden. Doch diese Vorstellungen ließen sich damals nicht realisieren.

    Man hatte gedacht, auch die Bevölkerung in Donezk genauso mobilisieren zu können, wie auf der Krim

    Einen stringenten Plan zur Eroberung dieser Gebiete gab es nicht. Versuche, Rebellengruppen zu versammeln, gab es unter anderem auch in Odessa und Dnipro. Aber nur in Donezk und Luhansk ging der Plan halbwegs auf. „Das mit dem Donbass war ein Fehler. Man hatte gedacht, auch die Bevölkerung in Donezk genauso mobilisieren zu können wie auf der Krim“, berichtet ein Insider. „Aber der Versuch, das Volk aufzuwiegeln, war nicht besonders erfolgreich.“

    Die Abspaltung des Donbass ging nicht auf Putins persönliche Initiative zurück. „Das war eine Aktion von FSB-Leuten, die die Situation ausnutzen wollten und die ganze Sache losgetreten haben“, berichtet ein anderer Informant aus Putins engerem Umfeld. Eine weitere Quelle aus der Präsidialverwaltung bestätigt das: „Die Krim war eine Spezialoperation, der Donbass nicht – es gab Akteure, die zu Putin sagten: Wir sollten eingreifen, eine Gegenkampagne starten. In der Ukraine gibt es prorussische Kräfte, wir dürfen die Leute nicht allein lassen.“ Dazu gehörten der FSB-nahe russisch-orthodoxe Unternehmer Konstantin Malofejew, [Putins Berater] Sergej Glasjew, der bereits seit über einem Jahr ein Netzwerk prorussischer Kräfte in der Ukraine aufbaute, sowie der Geschäftsmann Sergej Kurtschenko aus dem Umfeld von Viktor Janukowytsch. „Jeder spielte sein eigenes Spiel, es gab praktisch niemanden, der diese Aktivitäten koordiniert hätte“, so ein kremlnaher Informant.

    Jeder spielte sein eigenes Spiel

    Nachdem sich in Donezk und Luhansk separatistische Gruppierungen gebildet hatten, stellte Putin weitere Leute ab, die auf den Prozess einwirken sollten. So beispielsweise Wladislaw Surkow, der sich mit dem Aufbau eines Regierungssystems in den aufständischen Regionen um die politische Seite kümmerte.

    Trotz der inoffiziellen Beteiligung russischer Truppen im August 2014 gab es damals weder Pläne noch die Bereitschaft zu einem groß angelegten Krieg. Der Kreml wollte die ukrainische Regierung überlisten. Das Minsker Abkommen kam Moskau dabei entgegen, wie ein ehemaliges Mitglied der Verhandlungsdelegation berichtet: „Putin war persönlich an der Abfassung des Textes beteiligt. Einige Punkte, die den Status und die politische Regulierung betreffen, hat er selbst formuliert.“

    Wenn das Minsker Abkommen umgesetzt worden wäre, hätte man den Donbass instrumentalisiert, um die gesamte Ukraine nach seinem Muster umzubauen

    Im Weiteren brauchte er dann nur noch zur Umsetzung des Abkommens aufzurufen. „Worin bestand diese Umsetzung? Die Ukraine sollte ein Gesetz zum Sonderstatus der DNR und der LNR erlassen und eine Verfassungsreform durchführen. Die Republiken sollten formell wieder der Ukraine unterstellt werden, samt den beiden Armeekorps und den unter russischer Herrschaft gewählten politischen Organen“, so die Quelle, die auf Seiten Russlands direkt an der Ausarbeitung beteiligt war. „Das alles sollte legalisiert werden. Damit würde es in der Ukraine zwei Fremdkörper geben, die sich Kiew nicht unterordnen. So war es im Minsker Abkommen vorgesehen. Wenn es umgesetzt worden wäre, hätte man den Donbass instrumentalisiert, um die gesamte Ukraine nach seinem Muster umzubauen. Das war der Plan.“

    Aus Putins Sicht – so eine weitere Quelle aus seinem Umfeld – hatte er den damaligen ukrainischen Präsidenten Poroschenko schlicht übertölpelt: „Erst Wahlen, dann die Wiederherstellung der Kontrolle über die Grenzen, nicht umgekehrt. Damit war klar, wer bei diesen Wahlen gewinnen würde. Poroschenko kam es in diesem Chaos darauf an, den Krieg zu beenden, die Einzelheiten hat er nicht durchschaut.“ Der Kreml fror den Konflikt ein. Ende 2014 wurden die aggressivsten und militantesten Kräfte in den beiden separatistischen Donbass-Republiken ausgeschaltet oder ins Abseits gedrängt. Die Präsidialverwaltung stellte die Kriegsrhetorik für lange Zeit ein.

    Bei Besprechungen sei oft der Satz gefallen: ,Putin will die ganze Ukraine.‘ Doch das habe niemand ernst genommen

    „Niemand, der mit dem Kreml zusammenarbeitete, nahm das Wort ‚Krieg‘ in den Mund. Man hatte das Gefühl, der Krieg sei vorbei, die Regierung hatte ja auch den eigenen Bürgern erklärt, Russland wolle keinen Krieg“, erinnert sich ein Politologe, der damals für den Kreml tätig war. Zugleich, sagt er, sei bei Besprechungen oft der Satz gefallen: „Putin will die ganze Ukraine.“ Doch habe das niemand ernst genommen: „Wollen kann einer ja vieles.“ Einer anderen Quelle zufolge war der Konflikt um die selbsternannten Volksrepubliken im Donbass gerade deshalb von Nutzen, weil er auf niedriger Flamme köchelte: „Er schwelte vor sich hin und konnte nicht erlöschen, weil das in niemandes Interesse lag. Er ernährte alle und eröffnete ihnen politische Perspektiven.“

    Der Konflikt im Donbass konnte nicht erlöschen, weil das in niemandes Interesse lag. Er ernährte alle und eröffnete ihnen politische Perspektiven

    Dass Putin selbst keinesfalls vorhatte, das Thema Ukraine auf sich beruhen zu lassen, konnte man in den folgenden Jahren an den Politsendungen im russischen Staatsfernsehen ablesen: „Es gab einen Haufen Probleme, es war viel los in der Welt. Aber diese Idioten haben ständig über die Ukraine geredet“, erzählt eine Quelle aus Putins Umgebung. „Nicht über Syrien oder das missliebige Amerika, sondern über die Ukraine. Sie stand nicht auf der Tagesordnung, aber es war dauernd die Rede von ihr.“ Der Quelle zufolge könne das nicht eine fixe Idee des Fernsehkurators der Präsidialverwaltung gewesen sein, sondern war definitiv eine Anweisung von ganz oben.

    Putin suchte weiter hartnäckig nach Verbindungen zwischen der Ukraine und den USA. „Er war überzeugt, dass die Ukraine faktisch durch die NATO und die USA kontrolliert wird“, sagt ein Informant aus seinem damaligen Umkreis.


    5. Warum Putin sich von Selensky gekränkt fühlte: Der Friedensstifter des Krieges

    2019 gewann überraschend Wolodymyr Selensky die Präsidentschaftswahl. Er hatte so vielfältige Beziehungen zu Russland wie wohl keiner seiner Vorgänger. Als einziger ukrainischer Präsident hatte er sogar eine Zeit lang in Moskau gelebt, als er in der russischen TV-Show KWN mitwirkte. Zum Jahreswechsel 2013/2014 hatte er gemeinsam mit dem russischen Komiker Maxim Galkin die Neujahrsshow des TV-Senders Rossija 1 moderiert.

    Mit seiner Wahlkampfrhetorik, man müsse mit Putin eben eine Lösung finden, und dem Versprechen von Frieden in der Ukraine, erregte er höchstes Misstrauen bei entschiedenen Gegnern einer Annäherung an Russland und vorsichtigen Optimismus in Moskau. Beim ersten Telefonat mit Selensky gab sich Putin respektvoll. „Man merkte, dass er Berührungspunkte finden wollte“, erzählt der ehemalige Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Bohdan.

    Selensky schlug in dem Gespräch vor, seinen Assistenten Andrij Jermak zum neuen Unterhändler bei den Donbass-Verhandlungen zu machen. Diese Funktion hatte bisher Putins persönlicher Freund Viktor Medwedtschuk innegehabt. Einer Quelle aus dem Umkreis der russischen Präsidialverwaltung zufolge meinte Selensky, dass Medwedtschuk „einfach Geld scheffelt, seine Beziehungen nutzt, um Kohle zu machen.“

    Putin ging davon aus, er könne den politischen Neuling Selensky leicht austricksen

    Der Kreml gab damals nach und ließ Medwedtschuk ersetzen.
    „Er [Selensky] war offensichtlich begabt und lernfähig. Und er ging mit der recht naiven Vorstellung an die Sache heran, er werde jetzt mit Putin vernünftig über alles reden“, erzählt eine Quelle aus dem Umfeld der russischen Regierung. „Natürlich war er nicht proamerikanisch, er war proukrainisch. Und er wollte aufrichtig etwas Gutes bewirken.“ Wie drei Quellen übereinstimmend berichten, wollte Selensky die Beziehungen mit Moskau tatsächlich erneuern. Sein Team wandte sich an verschiedene Personen, um Rat einzuholen, wie das am besten anzugehen sei. So rief etwa Jermak Alexander Woloschin an, den ehemaligen Leiter der russischen Präsidialverwaltung. Auch Putin erwartete eine mögliche Einigung mit Selensky. Er ging davon aus, den politischen Neuling leicht austricksen und endlich die Umsetzung des Minsker Abkommens erreichen zu können, was für Russland einem großen Sieg gleichgekommen wäre.

    Als Putin im Dezember 2019 nach Paris reiste, war er sicher, dass nun endlich Bewegung in die seit Jahren festgefahrene Angelegenheit kommen würde. Doch mit Selensky gestalteten sich die Verhandlungen noch schwieriger als mit seinem Vorgänger. Er verweigerte die Durchführung von Wahlen im Donbass vor der Wiederherstellung der Kontrolle über die Grenzen, und Mitglieder seiner Delegation versuchten sogar, den entscheidenden Absatz des Minsker Abkommens dahingehend zu revidieren, dass der Donbass-Region kein dauerhafter, sondern nur ein vorübergehender Sonderstatus zuerkannt werden sollte. Surkow, der an den Friedensverhandlungen teilnahm, drohte damit, sie ganz abzubrechen. Nach Angaben eines ukrainischen Ministers war er kurz davor, mit den Fäusten auf Andrij Jermak loszugehen, brüllte und stampfte mit den Füßen.

    Putin war von seinen Höhen herabgestiegen, um die Kapitulation der Ukraine entgegenzunehmen, und fand sich nun faktisch in der Rolle der sitzengelassenen Braut wieder

    Putin hatte mit einem warmen Empfang gerechnet und eine kalte Dusche bekommen. „Er war von seinen Höhen herabgestiegen, um die Kapitulation der Ukraine entgegenzunehmen, und fand sich nun faktisch in der Rolle der sitzengelassenen Braut wieder“, so die Einschätzung Olexander Charebins, der in Selenskys Wahlkampfteam an der Erarbeitung der außenpolitischen Strategie mitgewirkt hatte. „Selensky und seine Delegation waren besser vorbereitet als erwartet. Der große Zar der gesamten Rus stand auf einmal fast als Witzfigur da.“ Selensky trug seinen Teil dazu bei. Als Putin auf der Pressekonferenz sagte, es sei ein Dokument zur strikten Einhaltung des Minsker Abkommens angenommen worden, wiegte Selensky lächelnd den Kopf, und bei der Erwähnung des Sonderstatus zeigte er sich unverhohlen erheitert und hielt sogar die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. „Das kam für alle überraschend und zum ersten Mal so offenkundig“, so der ukrainische Berater Charebin. „Es war praktisch eine öffentliche Ohrfeige für Putin. Und diese Erfahrung war womöglich traumatisch für ihn.“ Am Gesichtsausdruck des russischen Präsidenten ließ sich ablesen, dass er die gemeinsame Pressekonferenz nur mit Mühe ertrug. Er würdigte Selensky keines Blickes und blätterte immer wieder in seinen Unterlagen. Selensky und Putin sind seither nie mehr zusammengetroffen, und Surkow wurde zwei Monate später als Beauftragter für die Ukraine und die Donbass-Region entlassen. Nach dem Pariser Desaster setzte der Kreml nun auf Soft Power – und sein wichtigster Gewährsmann wurde Viktor Medwedtschuk.

    Putin hatte in Paris 2019 mit einem warmen Empfang gerechnet und eine kalte Dusche bekommen / Foto © kremlin.ru (CC BY 4.0)
    Putin hatte in Paris 2019 mit einem warmen Empfang gerechnet und eine kalte Dusche bekommen / Foto © kremlin.ru (CC BY 4.0)

    6.Wann die Kriegsentscheidung fiel: Das Fass läuft über

    Mit Medwedtschuk, dem ehemaligen Leiter der Präsidialverwaltung unter Kutschma, war Putin auch nach dessen Abgang aus der Politik in Verbindung geblieben. 2012 kam Putin zu einem Treffen mit dem damaligen Präsidenten Janukowytsch vier Stunden zu spät und stattete Medwedtschuk danach demonstrativ einen Besuch zu Hause ab. Dieser führte ihm beim Abendessen seine Aqua-Disco vor – bunte Springbrunnen, deren farbige Beleuchtung im Rhythmus der Musik wechselte. „Dort wurden professionelle Aufnahmen gemacht, nicht von einem Paparazzo, sondern ganz offen von einem persönlichen Kameramann“, erinnert sich der Fernsehmoderator Jewgeni Kisseljow im Gespräch mit dem Autor. Die Bilder von Putin und Medwedtschuk wurden im ukrainischen Fernsehen gezeigt.

    Nach 2014 war Medwedtschuk aufgrund seiner großen Nähe zu Moskau für die Organisation der Verhandlungen der Trilateralen Kontaktgruppe und für den Gefangenenaustausch zuständig gewesen. Gegen Ende von Poroschenkos Amtszeit erwarb Taras Kosak, ein Mitstreiter Medwedtschuks, drei TV-Nachrichtensender. Sie sollten später zum Anlass für einen Konflikt zwischen Medwedtschuk, der in der Ukraine als wahrer Eigentümer der Sender galt, und Selensky werden.

    Die Sender verbreiteten die prorussischen Ansichten ihrer Eigentümer. Laut Medienexperte Otar Dowshenko behauptete die dort ausgestrahlte Propaganda, „es habe keinen Angriff auf die Ukraine gegeben, es herrsche ein Bürgerkrieg, an dem die Ukraine selbst schuld sei, sie müsse sich nur zur Freundschaft mit Russland entschließen, die Krim habe sich selbst abgespalten, weil sie nicht wertgeschätzt worden sei, auf dem Maidan habe ein bewaffneter Putsch stattgefunden“. Zugleich wurde auf diesen Sendern immer wieder Selenskys Politik kritisiert. Steigende Wohnkosten und soziale Probleme waren ein ständiges Thema. Selenskys Umfragewerte gingen zurück, dafür stieg die Beliebtheit von Medwedtschuks Partei Oppositionsplattform – Für das Leben. Im Oktober 2020 belegte sie bei den Regionalwahlen in sechs Regionen den ersten Platz und überholte Selenskys Partei Diener des Volkes. Selbst nach Beginn des umfassenden Krieges sollte Selensky auf diese Ereignisse zurückkommen. In seinem ersten Interview mit russischen Journalisten, das Ende März 2022 während der Kämpfe um Mariupol stattfand, sprach er lange darüber, wie Medwedtschuk in den Regionen gesiegt hatte.

    Im Februar 2021 wurde eine Sonderoperation zur Ausschaltung Medwedtschuks unternommen. Sie richtete sich gegen die Sender 112 Ukraine, NewsOne und ZIK und ihren Eigentümer, Taras Kosak. Selensky erklärte, die Sender verbreiteten antiukrainische Propaganda und behinderten die Integration der Ukraine in die EU. Sie wurden mit einem Sendeverbot belegt, das auf einer kurzfristig anberaumten Sitzung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates beschlossen wurde. Das Präsidialamt erklärte damals, die drei Sender würden als „Instrumente fremder, ausländischer Propaganda in der Ukraine“ eingesetzt. Mychailo Podoljak, der den Leiter des Präsidialamts berät, ergänzte, sie würden für die „Besatzer“ arbeiten. Zugleich hieß es, es gebe „Fragen“ zur Finanzierung der Sender.
    Selensky hatte bereits anderthalb Jahre zuvor erklärt, er wisse, aus welchem Land sie finanziert würden, und Iwan Bakanow, Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU, hatte von einer „antiukrainischen Informationskampagne des Angriffsstaates“ gesprochen.

    Auch gegen Medwedtschuk persönlich wurden Sanktionen verhängt. Der SBU setzte ihn und seine Frau auf seine Rechercheliste zur Finanzierung von Terrorismus. Am 11. März 2021 führten der SBU und die ukrainische Steuerbehörde einen Sondereinsatz in Objekten des Tankstellennetzes Glusco durch, das ebenfalls mit der Familie Medwedtschuks in Verbindung gebracht wird.

    Als sie Medwedtschuk die Sender wegnahmen, hat das Putin richtig in Rage versetzt

    Die Zerschlagung von Medwedtschuks Medien und die „Schikanen“ gegen ihn gaben den endgültigen Ausschlag für Putins Entscheidung zu einer Militäroperation, wie drei Quellen aus seinem Umkreis bestätigen. Der Kreml setzte nun nicht mehr auf Soft Power.

    „Als sie Medwedtschuk die Sender wegnahmen und seiner Partei die Luft abdrückten, hat das Putin richtig in Rage versetzt“, so ein langjähriger Bekannter des russischen Präsidenten. „Er fühlte sich persönlich angegriffen. Medwedtschuk und seine Sender waren eine Art Brückenkopf, sie standen für die Hoffnung auf eine politische Lösung der Situation. Und da fängt die Ukraine an zu eskalieren. Ach, ihr wollt auf die Pauke hauen? Ihr wisst wohl nicht, mit wem ihr euch da anlegt!“

    Medwedtschuk hat Märchen erzählt, das Geld eingesackt, das er für die Organisation des politischen Widerstands erhielt, und Putin blindlings in die Irre geführt

    Zu Putins Entschluss trug auch bei, dass Medwedtschuk ihm immer wieder erzählt hatte, wie stark die Unterstützung für seine Person und die prorussische Stimmung in der Ukraine sei. „Er hat Märchen erzählt, das Geld eingesackt, das er für die Organisation des politischen Widerstands erhielt, und nicht gedacht, dass das jemals auf den Prüfstand gestellt werden würde“, erinnert sich eine Quelle aus dem Umkreis der Präsidialverwaltung. „Er hat erzählt, wie loyal die Territorien seien, und Putin blindlings in die Irre geführt.“

    Im Kreml zweifelte man nicht an Medwedtschuks Darstellung. „Anstatt das nachzuprüfen und zu erkennen, dass sie hier ganz offensichtlich nicht erwünscht sind, haben sie sich von Kränkung und Zorn verblenden lassen“, sagt der ukrainische Politikberater Charebin. Allerdings, so eine Quelle aus Medwetschuks Bekanntenkreis, habe dieser nicht ahnen können, dass Putin aufgrund seiner Angaben beschließen würde, mit einer kleinen Spezialoperation schnell mal die Regierung in Kyjiw auszutauschen. Putin habe ernsthaft damit gerechnet, in der gesamten Ukraine Unterstützung zu finden, ganz wie sein Vertrauter es ihm erzählt hatte. „Für Medwedtschuk war Putins Entscheidung zum Krieg die denkbar katastrophalste Entwicklung“, sagt jemand aus dem Umfeld des russischen Präsidenten.

    Putin hatte sich vor seiner Entscheidung nicht mit Medwedtschuk beraten – und auch mit niemandem sonst. Der einzige, mit dem er ständig Kontakt hielt , war sein Freund Juri Kowaltschuk. Wie zwei Quellen bestätigen, hatte Kowaltschuk einen bedeutenden Anteil an Putins Entschluss zur Spezialoperation. Während der Pandemie hielt er sich als Einziger ununterbrochen in der Residenz des Präsidenten auf, um nicht in Quarantäne zu müssen. Kowaltschuk hat nie ein Hehl aus seiner antiwestlichen Einstellung gemacht. Möglicherweise hat er Putin die Schriftsteller nähergebracht, die dieser ab den 2010er Jahren zu studieren begann. Laut einem Bericht der Zeitung The Wall Street Journal führten die beiden Männer ab März 2020 stundenlange Gespräche über den Konflikt mit dem Westen und Russlands Geschichte. Auch die von Verstka befragten Quellen bestätigen das: „Putin hatte damals nur wenig Umgang mit besonnenen Menschen. Er vermied nach Möglichkeit jede Begegnung, und wenn es doch dazu kam, waren die Leute nach der zweiwöchigen Quarantäne so abgestumpft, dass kein normales Gespräch möglich war. Außerdem lässt sich aus fünfzehn Metern Abstand keine vertrauliche Unterredung führen.“

    Putin hatte damals nur wenig Umgang mit besonnenen Menschen

    Laut einer kremlnahen Quelle war es Kowaltschuk, der Putin davon überzeugte, Europa sei von Widersprüchen zerrissen und der Zeitpunkt sei ideal für eine schnelle Operation.

    Der Entschluss zur Vorbereitung der Operation fiel ein Jahr vor Beginn des Krieges, Ende Februar/Anfang März 2021. Schon im April fanden an den Grenzen der Ukraine die ersten Drohmanöver statt.

    Die Vorbereitung unterlag strengster Geheimhaltung. Trotzdem war die Möglichkeit eines Krieges schon ab Sommer ein gängiges Thema im näheren Umkreis des Kreml. Am 12. Juni 2021 wurde auf der Kreml-Website Putins Artikel Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer veröffentlicht. Nach den Informationen, die Verstka vorliegen, war der Artikel viele Male geändert worden. Eine Version enthielt eine offene Drohung mit einer möglichen Militärintervention, die jedoch nicht in die Endfassung einging.

    Laut einem Bericht des britischen Forschungsinstituts RUSI (Royal United Services Institute for Defence and Security Studies) vom 29. März 2023 begann der FSB ab Juli 2021 mit den Vorbereitungen zur Besetzung der Ukraine. Zu diesem Zweck wandelte man das 9. Referat des Ressorts für operative Information in eine vollwertige Abteilung um und erweiterte den Stab von zwei Dutzend Beschäftigten auf über zweihundert. Sie wurden in Sektionen aufgeteilt, die sich um die einzelnen Regionen der Ukraine kümmern sollten. Eine thematische Sektion befasste sich mit dem Parlament der Ukraine, eine weitere mit ihrer kritischen Infrastruktur.

    Drei Monate vor dem Krieg wurde bereits besprochen, wie die Ukraine unter den Großkonzernen aufzuteilen sei

    Eine Quelle aus dem Umkreis der Präsidialverwaltung berichtet, auf der Tagung des Waldai-Klubs im Oktober 2021 habe ein dort anwesender Repräsentant der staatlichen Machtorgane in privaten Gesprächen bestätigt, dass die westlichen Befürchtungen, Russland plane einen Krieg, nicht unbegründet seien: „Es stimmt, wir wollen in der Ukraine einen Regimewechsel herbeiführen.“ Dabei sei explizit von militärischen Mitteln zur Erreichung dieses politischen Ziels die Rede gewesen. Einer weiteren Quelle zufolge wurde bereits drei Monate vor dem Krieg, im Dezember 2021, besprochen, wie die Ukraine unter den Großkonzernen aufzuteilen sei. In jeder Region der Ukraine sollte jeweils ein russisches Staatsunternehmen oder ein kremlnahes Privatunternehmen für die Entwicklung zuständig sein. Eine Woche vor Beginn der Invasion tagte der nichtöffentliche Expertenrat für Außen- und Verteidigungspolitik, ein einflussreiches Gremium, das dem Außenministerium nahesteht. Ein kremlnaher Politologe erklärte dort offen, im Laufe der kommenden Woche werde eine Spezialoperation starten, um einen Regimewechsel in Kyjiw herbeizuführen; sie werde nicht lange dauern.

    Putin glaubte tatsächlich, dass sich ein Austausch der Kyjiwer Regierung schnell und schmerzlos bewerkstelligen lassen würde. Kowaltschuk hatte ihn von der Schwäche des Westens überzeugt, und Medwedtschuk hatte ihm eingeredet, die Ukraine sei schwach und werde sich loyal verhalten.

    Putin glaubte tatsächlich, dass sich ein Austausch der Kyjiwer Regierung schnell und schmerzlos bewerkstelligen lassen würde

    Eine einfache Rechnung genügt, um zu erkennen, dass kein langer Krieg vorbereitet wurde: „Man kann ein Land mit 44 Millionen Einwohnern doch nicht mit 160.000 Soldaten erobern“, staunt eine Quelle, die dem politischen Flügel der Präsidialverwaltung nahesteht. „Wer eine solche Operation mit so wenigen Streitkräften beginnt, zählt darauf, dass in der Ukraine massenhaft russlandtreue Kräfte kollaborieren. Und unter dieser Annahme wurde die Aktion in Angriff genommen, geplant und ausgearbeitet.“

    Die Quellen berichten, dass viele Vertreter der Sicherheitsorgane – wie schon bei der Krim-Annexion – gegen die Invasion gewesen seien. Davon zeugen sowohl der Brief des Generalobersten und Vorsitzenden der Allrussischen Offiziersversammlung, Leonid Iwaschow, als auch Publikationen aus dem Umfeld des Verteidigungsministeriums.

    Verteidigungsminister Schoigu hatte allerdings nichts gegen Putins Entscheidung einzuwenden und zeigte sich sogar erfreut. „Ihm war nicht klar, in welchem Zustand die Armee war, und er fand die Sache interessant. Er glaubte, Putin wisse mehr als er selbst, und dachte tatsächlich, es würde nicht viel schlimmer kommen als bei der Annexion der Krim“, berichtet ein alter Freund Putins. Die restlichen Eliten wurden am Tag des Einmarschs vor vollendete Tatsachen gestellt.


    „Das ist ein merkwürdiger Krieg, praktisch die gesamte Elite ist dagegen. Ich spreche mit hochrangigen Leuten in Russland, in den obersten Machtetagen gibt es niemanden, der dafür wäre. Aber sie begreifen, dass sie im Team arbeiten müssen“, sagt ein ehemaliger Beamter des Kreml unter Berufung auf private Gespräche mit russischen Regierungsvertretern.

    Denen, die das nicht begreifen wollen, wird klargemacht, dass sie es müssen. Nach Angaben einer Quelle suchte ein „hoher Beamter“ der Staatsduma im Frühling 2022 den Kreml-Beauftragten für die Innenpolitik, Sergej Kirijenko, auf und sagte, er könne nicht mehr und wolle aufhören. „Am nächsten Tag bekam seine Frau Besuch vom FSB, und bei seinem Sohn, der ein Unternehmen hat, tauchten Uniformierte auf. Nach einer Woche ging der Beamte wieder zu Kirijenko und sagte, er habe es sich anders überlegt.“ „Gut so“, habe Kirijenko lächelnd erwidert, um dann zur Besprechung des Tagesgeschäfts überzugehen.

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  • Bystro #43: Wird Belaja Rus zur Einheitspartei im System Lukaschenko?

    Bystro #43: Wird Belaja Rus zur Einheitspartei im System Lukaschenko?

    Belaja Rus, deren Name sich auf die historische Bezeichnung belarussischer Gebiete bezieht, war ursprünglich als eine angebliche soziale Bewegung für die Staatspolitik Alexander Lukaschenkos gegründet worden. Nun hat sie sich als Partei konstituiert. 

    Warum dieser Schritt, ausgerechnet in diesem Jahr? Soll sie als Einheitspartei eine Rolle in der Umstrukturierung des belarussischen politischen Systems spielen? Wer ist ihr Vorsitzender? Und ist Lukaschenko wirklich daran interessiert, seine Macht zu teilen? Diese und weitere Fragen beantwortet der Politikwissenschaftler Kamil Kłysiński.

    1. Wie kam es zur Gründung von Belaja Rus?

    Im Unterschied zu vielen anderen undemokratischen Machtapparaten stützt sich das belarussische Modell nicht auf eine Partei. Die Entwicklung eines Parteiensystems hat Alexander Lukaschenko in den 1990er Jahren bewusst unterbunden. Er fürchtete, ein solches System könnte die Position der belarussischen Nomenklatura zu sehr stärken, vor allem die mittleren und hohen Beamten in zentralen Regierungsbehörden und die lokalen Führungskräfte. Da die staatlichen Funktionäre ohne institutionelle Repräsentation ihre (Gruppen)Interessen nicht artikulieren und schon gar nicht voranbringen konnten, blieben sie vom Präsidenten als faktisch einzigem Machtzentrum im Staat abhängig. Im Bewusstsein ihrer schwachen Stellung gründete die belarussische Beamtenschaft 2004 in Grodno die Bewegung Belaja Rus. Nachdem sie überall im Land Strukturen aufgebaut hatte, wurde sie 2007 schließlich als gesellschaftliche Organisation registriert. Dabei machten ihre Gründer von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie letztlich eine politische Partei etablieren wollten, die den Präsidenten und seine Politik bedingungslos unterstützt.

    2. Welche Rolle spielt die Organisation im politischen System von Belarus?

    Die Belaja Rus entwickelte sich rasch zur größten und am stärksten verankerten gesellschaftlichen Organisation der belarussischen Nomenklatura. Damit war und ist sie eine Stütze des belarussischen Herrschaftssystems. Ihre circa 200.000 Mitglieder werden in sämtliche Wahlkommissionen berufen, von den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bis hin zu den Kommunalwahlen. Zugleich werden die personellen Ressourcen und die Büroräume der Organisation für die Wahlkampagnen regimetreuer Kandidaten genutzt, insbesondere zur regelmäßigen Wiederwahl Lukaschenkos. Ein erheblicher Teil der Abgeordneten des belarussischen Parlaments gehört außerdem der Belaja Rus an, auch wenn dies nicht offiziell bekanntgemacht wird. Zudem haben die meisten Mitglieder gleichzeitig Staatsämter inne, was das Potenzial der Organisation noch weiter stärkt. Da auch regierungstreue Künstler und Wissenschaftler dazu gehören, kann sie viele soziale Projekte umsetzen, die in den staatlichen Medien beworben werden. Sie zielen vor allem auf gesellschaftliche Gruppen ab, die der Regierung besonders wichtig sind, etwa Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Kinder und Jugendliche oder Bauern.

    3. Wer ist Oleg Romanow, der Vorsitzende von Belaja Rus?

    Oleg Romanow wurde im Juni 2022 zum Vorsitzenden von Belaja Rus ernannt und ist bereits der dritte Leiter seit der Gründung. Anders als seine Vorgänger Alexander Radkow und Gennadi Dawydko hat Romanow bis dahin keine hohe Position in der Machthierarchie innegehabt. Er ist Professor für Philosophie und war Rektor der Universität Polazk, die nicht zu den führenden belarussischen Hochschulen gehört. In Polazk blieb er als radikaler Vertreter der imperialen russischen Ideologie der Russki Mir im Gedächtnis, der hart gegen die meisten pro-belarussischen Hochschullehrer vorging. Er sorgte persönlich für die Entlassung regimekritischer Beschäftigter und bevorzugte diejenigen, die sich nach Russland orientierten und sogar die kulturelle und nationale Identität der Belarussen leugneten. Dass ein so rückhaltloser Befürworter der Annäherung an Russland zum Vorsitzenden der Belaja Rus aufsteigen konnte, hat vor allem mit der politischen Gesamtkonstellation zu tun, in der sich Belarus seit 2020 befindet. In diesem Jahr kam der Dialog mit dem Westen völlig zum Erliegen. Einzig von Russland, seinem zentralen Wirtschafts- und Handelspartner und politischen wie militärischen Verbündeten, wurde Lukaschenko weiterhin unterstützt.

    4. Warum hat Lukaschenko eine Einheitspartei immer abgelehnt?

    Es kennzeichnet Lukaschenkos Regierungsstil, dass er den Anspruch der Nomenklatura auf institutionelle Repräsentation abblockt. Seit seinem Amtsantritt als Präsident 1994 hat er immer wieder betont, er wolle direkt mit den Bürgern kommunizieren, ohne politische Parteien als seiner Ansicht nach unnötige „Zwischenglieder“. Dies ist ein ideologisches Grundmerkmal des belarussischen Autoritarismus, in dem der Präsident als wichtigster (wenn nicht einziger) Garant für die Sicherheit der Bürger gilt. Nichts fürchtet Lukaschenko mehr als den Aufstieg einer im Staatsapparat verankerten Herrschaftspartei, die in der Lage wäre, die Interessen der Elite zu artikulieren und zu fördern. Denn eine solche Partei könnte seine Position im Staatsgefüge auf lange Sicht schwächen. Deshalb hat sich in Belarus während Lukaschenkos fast dreißigjähriger, ununterbrochener Regierungszeit kein Parteiensystem entwickelt. Die meisten Abgeordneten im – ohnehin unbedeutenden – Parlament sind parteilose Vertreter gesellschaftlicher Organisationen. Auch die Belaja Rus trat als solche auf.

    5. Warum fand die Transformation von Belaja Rus in eine Partei ausgerechnet in diesem Jahr statt?

    Die Belaja Rus hat wiederholt versucht, sich als politische Partei aufzustellen, stieß dabei aber jedes Mal auf Lukaschenkos Widerstand. Der Gründungskongress am 18. März 2023 war nun offenbar der entscheidende Wendepunkt in ihrer fast sechzehnjährigen Geschichte. Im Zuge der laufenden Rekonstruktion des belarussischen politischen Systems konnte sich Belaja Rus als Partei konstituieren. Ende 2022 sorgte Lukaschenko dafür, dass nur mehr Parteien anerkannt werden, die die politische Strategie des Regimes akzeptieren und kündigte die Auflösung aller noch zugelassenen Oppositionsparteien an. Im Februar 2023 wurde dann ein Verifikationsverfahren auf Basis der neuen Gesetze initiiert. Für den Frühling 2024 ist der erste Kongress der Allbelarussischen Volksversammlung angesetzt, die im Zuge der Verfassungsänderung von 2022 als neues Regierungsorgan eingeführt wurde. Diese Pseudo-Volksvertretung soll aus Abgeordneten bestehen, die unter anderem von einzelnen politischen Gruppierungen ernannt werden. Daraus erklärt sich die Notwendigkeit, ein der Regierung bedingungslos untergeordnetes Parteiensystem zu schaffen.

    6. Welche Rolle wird die Partei im Machtgefüge von Belarus spielen?

    In den letzten zwei Jahren hat Lukaschenko mehrfach öffentlich angedeutet, dass er das chinesische Modell bevorzugen würde, bei dem der Präsident nicht vom Volk, sondern von einer Delegiertenversammlung gewählt wird. Dies ist offenbar die Folge der Massenproteste gegen die abermalige Fälschung der Ergebnisse nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020, die er zweifellos als traumatisch erlebt hat. Bislang versichert die Regierung, das gegenwärtige Verfahren zur Wahl des Staatsoberhaupts werde beibehalten. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass es irgendwann zu einer weiteren Verfassungsänderung kommt, bei der die Allbelarussische Volksversammlung mit zusätzlichen, entscheidenden Vollmachten ausgestattet wird. Allerdings hat Lukaschenkos Begeisterung für das chinesische Modell ihre Grenzen. Er möchte nach wie vor keine politische Partei hochkommen lassen, die ähnlich erfolgreich agieren könnte wie in China und in anderen autoritären Systemen, etwa im Nachbarland Russland. Bei seiner jährlichen Rede zur Nation am 31. März 2023 hat er solchen Bestrebungen eine entschiedene Absage erteilt. Die Belaja Rus wird somit – trotz der Ambitionen ihrer Vertreter – im sterilen neuen System nur eine regimetreue Partei unter mehreren sein.  

     

    Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Kamil Kłysiński
    Übersetzung: Anselm Bühling

    Veröffentlicht am 02.05.2023

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    FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

    Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?

    Lukaschenkos Furcht vor der Mobilmachung

    „Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff“

    Diktatur ohne allmächtigen Diktator

  • „Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“

    „Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“

    Wegen der Gewalt und der Repressionen in Belarus, sei es gegen Andersdenkende, sei es gegen Aktivisten, haben zehntausende Belarussinnen und Belarussen ihre Heimat verlassen. Auch im Zuge des Angriffskrieges, den Russland gegen die Ukraine führt, kehrten viele ihrer Heimat den Rücken. So ist im Ausland eine neue Diaspora entstanden, die aktiv versucht, von außen einen Demokratisierungsprozess weiterzuentwickeln, um bei einer etwaigen politischen Öffnung die neuen Impulse in Belarus selbst zu nutzen. Das in Warschau ansässige Künstlerkollektiv Heartbreaking Performance hat sich dabei der persönlichen Ebene vieler im Exil Lebender gewidmet und in einer Fotoausstellung das Gefühl von Heimweh thematisiert. In diesem Visual zeigt dekoder eine Auswahl von Bildern aus dieser Ausstellung und die Gründerin der Künstler-Gruppe, Ana Mackiewicz, beschreibt die Motivation für das Fotoprojekt.

    dekoder-Redaktion: Wie ist die Idee zu der Ausstellung entstanden?

    Ana Mackiewicz: Die Idee zu der Fotoausstellung kam mir vor etwas mehr als einem halben Jahr, noch vor Kriegsbeginn. Plötzlich wurde mir klar, dass ich die Straßen meiner Heimatstadt Minsk vor mir sehe, wenn ich die Augen schließe. Ich kann nicht zurück dorthin, ich würde festgenommen werden für das, was ich in der Immigration mache – wegen meiner Kunst, meines Engagements und dafür, dass ich die Wahrheit sage. Und ich dachte: Seltsam, ob das wohl allen so geht, wenn sie ihre Heimat längere Zeit nicht sehen? Ich kenne noch ein Phänomen: Wenn wir eine Person sehr lange nicht sehen, vergessen wir nach und nach, wie sie aussah, auch wenn sie uns wirklich nahestand. 
    Ich habe dann angefangen, die Menschen danach zu fragen und festgestellt, dass es nicht nur mir so geht. Ich wusste, dass viele ihr Zuhause vermissen, aber nicht groß darüber reden – es ist sehr schwer. Deshalb dachte ich: Vielleicht könnten Fotos von ihren Lieblingsorten ihnen ein bisschen helfen?

    So sah Minsk für Ana Mackiewicz aus, wenn sie aus dem Fenster ihres Wohnhauses blickte / Foto © Ana Mackiewicz
    So sah Minsk für Ana Mackiewicz aus, wenn sie aus dem Fenster ihres Wohnhauses blickte / Foto © Ana Mackiewicz

    Sie bezeichnen die Ausstellung als exhibition-experience. Was ist damit gemeint?

    Als ich anfing, Freunden und einigen Unterstützern von der Idee zu erzählen, meinte jemand: Warum eigentlich nur Fotos? Warum nicht das Ganze mit allem Drum und Dran? Und ich dachte: Stimmt, ich möchte den Menschen wirklich gern das Gefühl geben, zu Hause zu sein, auch wenn sie nicht dorthin können. Ein Minsk 2.0, etwas, das ihnen hilft, damit abzuschließen, um Kraft zum Weitermachen zu finden. Das heißt nicht unbedingt, dass sie die Sehnsucht vergessen, eines Tages zurückzukehren. Du musst eine Geschichte beenden, damit eine neue anfangen kann und Heilung möglich ist. Wir haben versucht, die Atmosphäre von Minsk nachzubilden und den Menschen das Gefühl zu geben, als seien sie dort – und doch in Sicherheit, anders als in der Stadt, die sie irgendwann in den beiden letzten Jahren verlassen haben. Außer Fotos gibt es Geräusche aus Minsk, einen kurzen Dokumentarfilm, in dem sich Menschen, die dort gewohnt haben, liebevoll an die Stadt erinnern, eine Pinnwand, an der die Menschen Gedanken und Wünsche zu ihrer Heimat hinterlassen können und sogar einen Raum, wo man weinen oder seine Lieben anrufen kann. Also wirklich ein Erlebnis, wenn man so will. Wir haben schon ein paar Geschichten gehört. Die Menschen haben ihre Häuser und ihre Balkone erkannt, ein Freund von mir hat auf einem Foto sogar seine Mutter entdeckt!

    Die Gruppe, die die Ausstellung initiiert hat, nennt sich Heartbreaking Performance Art Group. Was ist das für eine Gruppe und wie ist sie entstanden?

    Als die Proteste begannen, habe ich sofort angefangen, Protestkunst zu machen. Manchmal allein, manchmal zusammen mit anderen, die sich für das Projekt interessierten. Nach einiger Zeit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sich das alles um eine Idee dreht: Kunst als Aktivismus, als Werkzeug, um Menschen und die Welt zu verändern. Und ich wusste, diese Idee wird ihren Weg zu den richtigen Leuten finden, und die Leute werden zu ihr finden. Das Projekt erhielt den Namen Heartbreaking Performance. Ich wollte einen Namen, der klar aussagt: Wir machen keine schicke „philosophische“ Kunst, bei der es fast schon den Betrachtern überlassen bleibt, was sie sehen wollen. Wir machen Kunst, die zählt, die einen Sinn ergibt. Kunst, die zu Empathie und Selbstreflexion aufruft und die Menschen wachrüttelt. Wir haben unterschiedliche Projekte: Filme, Konzerte, Performances, Ausstellungen. Verschiedene Menschen, die mit einer dieser Formen arbeiten, stoßen für die Dauer eines Projekts zu uns und gehören während dieser Zeit auch zu Heartbreaking Performance. Und einige haben sich entschieden, über das Projekt hinaus dabei zu bleiben, was mich wirklich freut. 

    Außer Fotos gibt es Geräusche aus Minsk, einen kurzen Dokumentarfilm, (…), eine Pinnwand, an der die Menschen Gedanken und Wünsche zu ihrer Heimat hinterlassen können und einen Raum, wo man weinen kann

    Wie wurden die Fotografen für das Projekt ausgewählt?

    Einige kannte ich schon, und außerdem hat mir jemand, der sich in der belarussischen Fotografieszene sehr gut auskennt, geholfen, Leute zu finden. Manche haben uns auch angesprochen, weil sie unsere Insta-Kampagne gesehen haben. Leider konnten wir nicht alle einbeziehen, weil wir die Prints selbst finanziert haben und auch der Museumsraum nicht sehr groß war. Wenn wir nach Belarus zurückkehren, machen wir hoffentlich regelmäßig tolle Ausstellungen mit all diesen großartigen Künstlern, die sich an uns gewandt haben.
    Alle vermissen Minsk, manche nur ein bisschen, andere wirklich sehr. Wir haben Instagram-Postings zu den Teilnehmenden gemacht, und ich habe alle gebeten, ein paar Sätze zu Minsk zu schreiben – was immer sie möchten. Und diese Texte waren wirklich allesamt herzerwärmend. 

    Stammen Sie selbst aus Minsk?

    Ja, ich bin aus Minsk. Ich habe diese Stadt von Beginn unserer Beziehung an geliebt, sie ist wie Mutter oder Vater für mich. Wie schon gesagt, ich sehe sie, wenn ich die Augen schließe, manchmal träume ich von ihr. Es ist sehr schwer, nicht dorthin zurück zu können. Einige meiner Freunde in Belarus verstehen das nicht: „Du bist doch in Sicherheit, warum siehst du das so negativ? Du hast schon vor Jahren entschieden fortzugehen, also was soll das Theater?“ Nun, das ist eine etwas längere Geschichte. Kennst du diese Filme, wo die Helden vor die Wahl gestellt werden: Entweder du gehst mit den Außerirdischen und siehst deine Heimat nie wieder, oder du bleibst und wirst den Weltraum nicht sehen? Ich habe es nie wirklich verstanden, wenn jemand beschloss, alles zurückzulassen und auf Nimmerwiedersehen fortzugehen. Ich würde mich von mir aus nie so entscheiden. Die Ereignisse in Belarus 2020 haben dazu geführt, dass das ohne mein Zutun entschieden wurde. Ich hatte plötzlich keine Wahl mehr. 

    Und warum sind Sie letztlich fortgegangen?

    Ich bin aus Belarus fortgegangen, um meiner Musik-Karriere willen – die Kultur hat es dort leider schwer, wie immer in Diktaturen. Ich bin vor Jahren hierher nach Polen gekommen, und obwohl ich zur Hälfte Polin bin, konnte ich wegen meines Imigrantinnenstatus hier leider nie wirklich Karriere machen. Ich habe es in anderen Ländern versucht, und ich glaube, ich hätte es auch geschafft. Aber Corona hatte andere Pläne mit mir, so wie mit allen Künstlern überall auf der Welt. Wie auch immer, vor dem 9. August 2020 konnte ich manchmal nach Hause fahren, um Freunde und Familie zu sehen. Als die Proteste losgingen, dachte ich, dass es mit der Diktatur bald vorbei ist. Aber selbst wenn ich das nicht geglaubt hätte, hätte ich dasselbe getan. Ich wurde Aktivistin und machte aktivistische Kunst. Laut und ohne Scheu, Gesicht zu zeigen. Es gab keine Briefe oder Hinweise, dass ich festgenommen würde, wenn ich nach Belarus gehe. Aber ich habe vieles getan, wofür Leute dort im Gefängnis sitzen. Niemand kann sich dort einen Augenblick lang sicher fühlen, der hier in Warschau auch nur an Demonstrationen teilgenommen hat. Sie verhaften die Leute einfach willkürlich. Am liebsten würden sie wohl alle einsperren, die mit dem, was sie tun, nicht einverstanden sind, selbst Kinder, aber dafür haben sie ja Kinderheime.  
    Also: Ja, mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden, der Ort, wo ich immer wieder zu mir kommen konnte. Das schmerzt, es ist auch eine Art von Gefängnis. Ich kann nicht normal leben, wenn ich nicht nach Hause kann. Mein Leben steht einfach auf Pause.

    Die Phrase Ja chatschu da domu, Ich will nach Hause, hört man häufig von den Belarussen, die ihre Heimat wegen der Repressionen verlassen mussten. Symbolisiert dieser Ausruf die Hoffnung, dass eine Rückkehr bald möglich ist?

    Ja, das glaube ich. Ich kenne viele, die zurückkehren werden, egal, wie lang sie im Ausland gelebt haben. Sie wollen nach Hause in ihr Land, um es mit aufzubauen und auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten. Ein Propagandamedium des Regimes hat zu unserer Ausstellung geschrieben: „Haha, diese Versager, jetzt stellen sie plötzlich fest, dass sie nach Hause wollen“ und so weiter. Ich finde, genau das ist unsere Stärke – offen und laut zu sagen: Ja, wir wollen nach Hause. Es ist unsere Heimat, und wir haben das Recht dazu; ihr habt sie vielleicht gestohlen, aber nicht für lange Zeit. Wir können warten. Wir werden nicht dorthin gehen, um uns von euch einsperren zu lassen. Wir werden Belarus von hier aus aufbauen und bewahren – von außen, damit es leben und zu einer modernen, wachen, reifen und selbstbestimmten Gesellschaft werden kann, wenn die Zeit für unsere Rückkehr kommt. „Asgard ist kein Ort, Asgard ist, wo unsere Leute sind“, sagt Odin in einem dieser Marvel-Filme. Belarus ist so eine Art Asgard.

    Wir werden Belarus von hier aus aufbauen und bewahren – von außen, damit es leben und zu einer modernen, wachen, reifen und selbstbestimmten Gesellschaft werden kann, wenn die Zeit für unsere Rückkehr kommt

    Wie ist die Lage in Warschau und Polen für die emigrierten Belarussen?

    Die Lage in Polen ist leider gespalten. Es gibt eine ganze Menge Leute, die uns verstehen und unterstützen. Aber ein großer Teil der polnischen Gesellschaft hat grundsätzlich etwas gegen Einwanderer und findet, dass sie entweder zurück in ihre Heimat müssen (egal, ob sie dort verhaftet oder getötet werden, solche Einzelheiten interessieren diese Leute nicht) oder die Drecksarbeit machen sollten – ihr seid ja schließlich Immigranten, oder? Was redet ihr da von guten Jobs – seid doch dankbar, dass ihr überhaupt hier sein dürft. Ich denke, der Krieg und die Tausenden von Kriegsflüchtlingen haben die Situation da sehr stark beeinflusst, und sie war vorher schon nicht besonders stabil. Also, da sind großartige Menschen, die wirklich helfen und wir sind dankbar für ihre Unterstützung und einfach dafür, dass sie da sind. Aber manchmal hat man auch schlicht Angst, im Bus oder auf der Straße auf Russisch oder Belarussisch mit der eigenen Mutter zu telefonieren. Das fühlt sich wirklich seltsam an. 

    Gibt es schon neue Pläne für weitere Kulturprojekte?

    Klar, wenn unsere finanziellen und psychischen Möglichkeiten es erlauben, möchten wir die Ausstellung gern in andere Städte bringen, wo es viele Menschen aus Belarus gibt. Und wir hoffen, dass wir so etwas später auch zu anderen belarussischen Städten und Orten machen können, für diejenigen, die nicht aus Minsk sind. Wir planen schon, die Ausstellung in Vilnius zu zeigen und sind dabei, das ehemalige Restaurant „Minsk“ in Potsdam zu kontaktieren, das vor einiger Zeit als Kunsthaus wiedereröffnet wurde. Das scheint uns der ideale Ort für ein solches Projekt zu sein!

     „Alle vermissen Minsk, manche nur ein bisschen, andere wirklich sehr“ / Foto © Ivan Uralsky
    „Alle vermissen Minsk, manche nur ein bisschen, andere wirklich sehr“ / Foto © Ivan Uralsky
    Still und friedlich – ein Abend irgendwo im Zentrum von Minsk / Foto © Anna Veres
    Still und friedlich – ein Abend irgendwo im Zentrum von Minsk / Foto © Anna Veres
    Nur noch eine Erinnerung – flirrend heiße Minsker Sommer / Foto © Ana Mackiewicz
    Nur noch eine Erinnerung – flirrend heiße Minsker Sommer / Foto © Ana Mackiewicz
    Abendliches Minsk vor dem Einschlafen hinter all diesen Fenstern / Foto © Anna Veres
    Abendliches Minsk vor dem Einschlafen hinter all diesen Fenstern / Foto © Anna Veres
    Verregnetes Minsk / Foto © Ivan Uralsky
    Verregnetes Minsk / Foto © Ivan Uralsky
    In gelb getauchte Straßen von Minsk / Foto © Ana Mackiewicz
    In gelb getauchte Straßen von Minsk / Foto © Ana Mackiewicz
    Kein Fang  / Foto © Maksim Bahdanovich
    Kein Fang / Foto © Maksim Bahdanovich
    Nach dem Regen – Minsk, wenn es aufklart  / Foto © Mikita Kiryienka
    Nach dem Regen – Minsk, wenn es aufklart / Foto © Mikita Kiryienka
    „Ich wusste, dass viele ihr Zuhause vermissen, aber nicht groß darüber reden – es ist sehr schwer“ / Foto © Ana Mackiewicz
    „Ich wusste, dass viele ihr Zuhause vermissen, aber nicht groß darüber reden – es ist sehr schwer“ / Foto © Ana Mackiewicz
    Minsker Untergrund / Foto © Ivan Uralsky
    Minsker Untergrund / Foto © Ivan Uralsky
    Chruschtschowka im Abendlicht von Minsk  / Foto © Andrey Dubinin
    Chruschtschowka im Abendlicht von Minsk / Foto © Andrey Dubinin
    Des Nachts verwaiste Straßenbahngleise / Foto © Carolina Poliakowa
    Des Nachts verwaiste Straßenbahngleise / Foto © Carolina Poliakowa
    Im Licht eines Einkaufszentrums / Foto © Anna Veres
    Im Licht eines Einkaufszentrums / Foto © Anna Veres
    Street Art / Foto © Malyavko
    Street Art / Foto © Malyavko

    Interview: dekoder-Redaktion
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Anselm Bühling
    Veröffentlicht am 08.11.2022

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    Hier kommt Belarus!

  • „Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist“

    „Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist“

    Russlands Präsident Wladimir Putin hat eine sofortige „Teilmobilmachung“ verkündet. Seine Rede war zunächst für den Dienstagabend angekündigt gewesen, das russische Staatsfernsehen strahlte sie schließlich am Mittwochmorgen, 21. September, aus.

    Wenige Stunden zuvor hatte die Duma noch Änderungen im Strafgesetzbuch beschlossen, die im Falle von „Kriegszeiten“ und „während einer Mobilmachung“ gelten sollen und verschärfte Strafen vorsehen: Demnach drohen für Fahnenflucht bis zu zehn Jahre, für Kriegsdienstverweigerung bis zu drei Jahre Haft. Beobachter werteten dies als ein weiteres Anzeichen für eine Mobilmachung in Russland. Bislang galt diese in Russland nicht, was an der Front zunehmend für Probleme sorgte: Recherchen der Novaya Gazeta Europe zufolge werden mitunter sogar Strafgefangene rekrutiert.

    Die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive hatte den Kreml massiv unter Druck gesetzt. Schon unmittelbar danach wurde das Wort „Krieg“ deutlich häufiger in Polittalkshows des Staatsfernsehens benutzt. Dies heiße allerdings nicht, dass der Kreml keine Kontrolle mehr über das offizielle Narrativ habe, erläuterte etwa dekoder-Gnosist Jan Matti Dollbaum auf 3sat Kulturzeit. Wohl aber könne das bedeuten, „dass das Narrativ sich ändert – dass es eine breitere Bevölkerungsmobilisierung vorbereiten soll“. 

    Dieses Szenario ist nun in Teilen eingetreten – die Teilmobilisierung betrifft offiziell erstmal Reservisten, dass damit auch Wehrdienstleistende in den Krieg geschickt werden, gilt unter manchen Beobachtern als wahrscheinlich. 

    Zugleich hat Russland am gestrigen Dienstag sogenannte „Referenden“ in den Kriegsgebieten DNR, LNR, Cherson und Saporishshja angekündigt. SWP-Expertin Sabine Fischer sieht darin auf Twitter Russlands Versuch, den Status Quo einzufrieren, weitere ukrainische Militäraktionen in den Gebieten als Angriff auf „russisches Territorium“ zu deklarieren und vor allem den Westen zu testen, wie weit dieser (ggf. auch angesichts weiterer nuklearer Drohungen seitens Russlands) an Waffenlieferungen und Unterstützung für die Ukraine festhält. 

    Ebenfalls auf Twitter hat der Soziologe Grigori Judin vergangene Woche kritische innerrussische Töne eingeordnet und Putins eigentliches Dilemma skizziert: Nämlich die Frage, wie lange er in Russland überhaupt eine Alltagsnormalität aufrechterhalten kann angesichts des Krieges, den Russland in der Ukraine führt. Wie lange der „Spagat“ zwischen einer entpolitisierten Mehrheit und einer mobilisierten radikalen Minderheit noch gelingt – die Antwort auf diese Frage könne entscheidend sein für die Dauer von Putins Regime.

    Der Thread von Grigori Judin ist auf Englisch verfasst. dekoder hat ihn dennoch übersetzt: Mit Grigori Judin spricht eine wichtige Stimme des kremlkritischen russischen Diskurses, der sich aufgrund der Zensur in Russland zunehmend auch in die sozialen Medien verlagert hat. Es spricht zudem ein Wissenschaftler, den dekoder mehrfach aus unabhängigen russischen Medien übersetzt hat. 

    Es gibt in Russland drei unterschiedliche Gruppen:

    1) Die Radikalen (15-25 Prozent) – eine beträchtliche, extrem laute Minderheit, die den Krieg aktiv unterstützt, sich einbringt, die Nachrichten verfolgt und in einigen wenigen Fällen sogar an die Front geht. Sie sind das Publikum von Militärbloggern, diversen Telegram-Kanälen und Vampiren wie Wladimir Solowjow oder Olga Skabejewa.

    2) Die Nicht-Einverstandenen (20-25 Prozent) – eine beträchtliche Minderheit, die den Krieg kategorisch ablehnt. Ihre Sichtweise ist in den in Russland ansässigen Medien verboten und wird generell unterdrückt.

    3) Die Laien (50-65 Prozent) – die passive, völlig entpolitisierte Mehrheit, die mit Politik und dem Krieg nichts zu tun haben will.

    Die Laien

    Die Laien bilden die Masse der Jasager, die sich für den Krieg aussprechen, wenn man sie fragt: „Sind Sie für die militärische Spezialoperation oder sind Sie ein Landesverräter, der mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft gehört?“

    Die Laien schotten sich so weit wie möglich von Nachrichten über den Krieg ab und wissen nur sehr wenig über die Niederlage in Charkiw

    Sie sind diejenigen, die sorglos ihr Leben genießen, während in der Ukraine Menschen sterben. Das ist natürlich beklagenswert, doch die Kehrseite davon ist, dass sie auch keinesfalls gewillt sind, sich irgendwie selbst aktiv am Krieg zu beteiligen. Sie schotten sich so weit wie möglich von Nachrichten über den Krieg ab und wissen nur sehr wenig über die Niederlage in Charkiw (viele von ihnen könnten nicht einmal sagen, wo die Stadt eigentlich liegt).
    Die offiziellen Radio- und Fernsehnachrichten schützen sie vor solchen Informationen. Nicht unwichtig: Als das Fernsehen begann, harte Kriegspropaganda zu verbreiten, sanken die Einschaltquoten – die Laien wollten weiter ihre Seifenopern, Ernährungsberatung und Stand-up-Comedy sehen, keine langweilige Frontberichterstattung. 

    Die Radikalen

    Für die Radikalen war die ukrainische Gegenoffensive dagegen ein echter Schlag. Sie überboten sich mit Schuldzuweisungen und machten die Militärführung, einander und selbst Putin für diese Niederlage verantwortlich. Erstmals gibt es hitzige Diskussionen zwischen ihnen. Die Tonlagen reichen von relativem Optimismus („wir sollten uns um Putin scharen und Rache nehmen“) bis zu völligem Fatalismus („der Krieg ist verloren, das ist nicht zu ändern“). Was sie eint: Alle Radikalen fordern die totale Mobilmachung der russischen Gesellschaft und eine aggressivere Kriegsführung. Sie sind sich einig, dass es für Russland ein Leichtes gewesen wäre, die Ukraine zu erobern, aber aus irgendeinem Grund (Verrat, Unfähigkeit, Großzügigkeit) führt es den Krieg mit gebundenen Händen. 

    Alle Radikalen fordern die totale Mobilmachung der russischen Gesellschaft

    Diese Diskussion ist bemerkenswert. Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist. Es ist kaum zu überschätzen, wie viel Bedeutung dieser Mythos für Russland hat. Der Glaube, dass Putin sich am Ende sowieso durchsetzt, lähmt jedes eigenständige Handeln. Die Radikalen sind wütend auf die Laien, weil die ihr gewohntes Leben weiterführen, während Soldaten sterben, um das Überleben des von der NATO attackierten Landes zu sichern. Die Laien sind wütend auf die Radikalen, weil die versuchen, ihnen im Alltag Politik aufzudrängen, zum Beispiel durch die Einführung von Kriegspropaganda an den Schulen. 

    Risse im Narrativ?

    Manche haben Boris Nadeshdins Aussagen im russischen Fernsehen [der ehemalige Duma-abgeordnete Nadeshdin sagte auf NTW, Putin sei schlecht beraten worden, Russland könne den Krieg in der Ukraine nicht gewinnen – dek] als Anzeichen für Risse im vorherrschenden Narrativ gewertet. Das sind sie jedoch nicht. Nadeshdin ist ein alter Liberaler aus den 1990ern, ein Weggefährte von Boris Nemzow. Nemzow entschied sich, eine echte Opposition gegen Putin auf die Beine zu stellen (mit düsterem Resultat). Nadeshdin dagegen beschloss, nach Putins Regeln einer Pseudo-Opposition zu spielen und trat einer seiner Marionetten-Parteien bei. Der Vorteil dieser Strategie ist, dass man regelmäßig als Prügelknabe in die TV-Shitshows eingeladen wird. So verschafft man sich landesweite Bekanntheit (das nützt bei Wahlen!). Nadeshdin war jedoch ganz offen von Anfang an gegen diesen Krieg, und er ist auch klar gegen Putin – das kann man im russischen Fernsehen nur nicht laut sagen. Seine Einstellung hat sich durch die jüngsten militärischen Rückschläge nicht geändert. Auch die mutigen Äußerungen lokaler Abgeordneter, die ein Amtsenthebungsverfahren Putins fordern, sind kein Zeichen für eine Veränderung. Diese Leute gehören zu den Andersdenkenden und haben schon vorher nach Kräften gegen den Krieg protestiert. Ihr Aufruf ist eine Abschiedsgeste – nun endete ihre Amtszeit, viele dürfen nicht einmal erneut kandidieren.

    Eine totale Mobilmachung ist für die Laien völlig inakzeptabel. Für die Radikalen hingegen ist Putins Zögern, den Kriegszustand auszurufen, nicht mehr tolerierbar

    Trotzdem ist die Lage für Putin prekär. Er braucht die Passivität der Laien, aber auch das Engagement der Radikalen. Deshalb bietet er zwei widersprüchliche Narrative an – eines vom Krieg um Russlands Existenz und ein anderes, wonach alles weiterläuft wie gewohnt. Die Forderung der Radikalen nach einer totalen Mobilmachung ist jedoch für die Laien völlig inakzeptabel. Für die Radikalen hingegen ist Putins Zögern, den Kriegszustand auszurufen, nach den Niederlagen an der Front nicht mehr tolerierbar. Putin hat darauf bisher mit einer gezielten Mobilmachung reagiert – er rekrutiert unter den Radikalen und lässt die Laien in Ruhe. Diese Strategie lässt sich noch eine Weile fortsetzen, aber durch die militärischen Niederlagen wird sie zunehmend erschwert. Es ist unwahrscheinlich, dass Putin der Forderung nachgibt, jetzt die Generalmobilmachung zu verkünden. Dazu wäre erst eine politische Mobilisierung nötig. Doch dafür ist der Zeitpunkt ungünstig. Selbst die Freiwilligen gehen in die Ukraine, weil sie davon ausgehen, dass sie sich einer siegreichen Armee anschließen und Geld verdienen – und nicht, um sich mit einem starken Gegner zu messen. Unter Wehrdienstleistenden wird die Begeisterung noch geringer sein. 

    Kann er eine Niederlage als Sieg verkaufen? Nein

    Kurz: Der Spagat zwischen der Entpolitisierung der Gesellschaft und gleichzeitiger Mobilisierung ihres radikalen Teils wird für Putin angesichts des drohenden großen Rückschlags immer schwieriger. Kann er eine Niederlage als Sieg verkaufen? Nein. Die Radikalen werden sie rundheraus als das bezeichnen, was sie ist. Und die Laien werden ihm nicht verzeihen, dass er ihr tägliches Leben in Mitleidenschaft gezogen hat. Die militärische Niederlage in einem Krieg, bei dem er das ganze Land aufs Spiel gesetzt hat, wird Putin nicht überleben.

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  • Bystro #37: Ist das „Genozid-Gesetz“ in Belarus Geschichtsklitterung?

    Bystro #37: Ist das „Genozid-Gesetz“ in Belarus Geschichtsklitterung?

    Belarus und seine Bevölkerung haben im Zweiten Weltkrieg immens gelitten: unter der Nazi-Besatzung zwischen 1941 und 1944, dem Holocaust, der Vernichtungspolitik und der sogenannten Partisanenbekämpfung sowie unter den Schlachten selbst. Insgesamt gab es auf dem Territorium der damaligen BSSR mehr als zwei Millionen Opfer. Ein Gesetz, das der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko Anfang 2022 unterschrieben hat, stellt die Leugnung des „Völkermordes am belarussischen Volk“ nun unter Strafe – es drohen bis zu fünf Jahre Haft, bei Wiederholung bis zu zehn. „Die Umsetzung des Gesetzes wird dazu beitragen“, verlautbarte die staatliche Nachrichtenagentur Belta, „dass die Ergebnisse des Großen Vaterländischen Krieges nicht mehr verfälscht werden und der Zusammenhalt der belarussischen Gesellschaft gewahrt bleibt.“ 

    Was hat es mit dem Vorhaben auf sich? Schon im Vorfeld ist um das umstrittene Gesetz unter Historikern eine Debatte entbrannt. Was wird überhaupt unter dem „belarussischen Volk“ verstanden? Ist dieses weitreichende Gesetz selbst ein Versuch, Geschichte zu verfälschen? Geht es um echte Aufarbeitung oder darum, Geschichte zu instrumentalisieren und abweichende Meinungen im Keim zu unterdrücken? 

    Diese und andere Fragen beantwortet der belarussische Historiker Alexander Friedman in einem Bystro.

    1. Am 5. Januar 2022 hat Alexander Lukaschenko das Gesetz „Über den Völkermord am belarussischen Volk“ unterzeichnet. Worum geht es darin genau?

    In diesem Gesetz wird die offizielle Sicht der belarussischen Führung auf den Zweiten Weltkrieg und die NS-Verbrechen auf dem Territorium von Belarus formuliert. Damit wurde politisch beschlossen, diese Verbrechen zum „Genozid am belarussischen Volk“ zu erklären. Die Verabschiedung des Gesetzes wurde von langer Hand vorbereitet und kam nicht überraschend. Der Zweite Weltkrieg ist sowohl in Putins Russland als auch in Lukaschenkos Belarus ein historisches Schlüsselthema und wird seit Langem für politische, ideologische und propagandistische Zwecke instrumentalisiert. In der aktuellen Situation – nach den Protesten gegen das Lukaschenko-Regime im Jahr 2020 und mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine – dient es dazu, die Bevölkerung in der Konfrontation mit den USA und der EU um die Diktatoren zu scharen.  
    Das Gesetz hat repressiven Charakter und zwingt der Gesellschaft ein Narrativ auf, das seit der Sowjetzeit bekannt ist und jetzt an die Bedürfnisse der Lukaschenko-Diktatur angepasst wurde, als verzerrtes Schwarz-Weiß-Bild der Welt: hier das „Gute“ – die UdSSR und ihr geistiges Erbe in Gestalt der Russisch-Belarussischen Union –, dort das „Böse“ – die Nazis und der „kollektive Westen“ als ihr geistiges Erbe. Im Großen Vaterländischen Krieg, so heißt es, hat das Böse versucht, das Gute zu vernichten und im 21. Jahrhundert wiederholt sich nun die Geschichte.

     

    2. Was wird im Gesetz unter der Bezeichnung „belarussisches Volk“ verstanden?

    Bei der Ausarbeitung des Gesetzes hat das Lukaschenko-Regime drei Formulierungen verwendet: Genozid „am belarussischen Volk“, „am Volk von Belarus“ und sogar: „an den Völkern von Belarus“. Die beiden letzten, neutraleren Versionen sind verworfen worden, weil beschlossen wurde, den Akzent auf das „belarussische Volk“ zu legen und praktisch die gesamte Bevölkerung der Vorkriegs-BSSR, die in ethnischer, religiöser und sprachlicher Hinsicht sehr vielfältig war, darin aufgehen zu lassen. Dieser Begriff wird den verschiedenen Opfergruppen, die es gab, auch sonst nicht gerecht: den ermordeten Juden im Holocaust und den Getöteten in der Zivilbevölkerung, den Gefallenen an der Front oder den Opfern aus dem Feldzug der Nazis gegen die Partisanenbewegung, um nur einige zu nennen.
    Das Gesetz wurde ganz bewusst so gestaltet, um der Bevölkerung von Belarus das Verständnis des Begriffs zu erleichtern und dem „Genozid am belarussischen Volk“ durch eine höhere Opferzahl mehr Gewicht zu verleihen. Der Begriff „Genozid“ allein reicht Lukaschenko und seinem Umfeld nicht aus. Er braucht maximale Verlustzahlen, um die belarussische Bevölkerung und die Weltgemeinschaft zu beeindrucken. Auch den Entschädigungsforderungen, die voraussichtlich an Deutschland auf Grundlage des neuen Gesetzes gestellt werden, soll dieser Begriff zusätzliches Gewicht verleihen. 
     

    3. Auf welchen Zeitraum zielen das Gesetz und somit das Verständnis der Begriffswahl „am belarussischen Volk“ denn genau ab?

    Das Gesetz bezieht sich auf den Zeitraum von 1941 bis 1951. Sowjetische Verbrechen im westlichen Belarus werden dabei aus ideologischen Gründen ausgeklammert. Außerdem wird die Nachkriegszeit bewusst einbezogen, um die damaligen polnisch-belarussischen Konflikte zum Thema zu machen. Schließlich gehört Polen in den Propaganda-Narrativen des Regimes heute zu den westlichen Staaten, die 2020 der offiziellen Erzählung nach über die Proteste einen Putsch gegen das Lukaschenko-Regime initiieren wollten. 
    In dem Gesetz werden alle Bürger der Sowjetunion, die sich im genannten Zeitraum auf dem Territorium von Belarus aufgehalten haben, zum „belarussischen Volk“ gezählt und dabei nivelliert, darunter auch Juden und Roma und auch Zuwanderer aus anderen Sowjetrepubliken. Im November 2021 hat Lukaschenko in einem Interview mit der BBC erklärt, Belarussen und Juden hätten während des Krieges das größte Leid erfahren. Aus seinen Worten geht klar hervor, dass er jüdische Menschen nicht als Teil des belarussischen Volkes ansieht; er zieht bewusst eine Grenze zwischen den Juden in Belarus und den Belarussen. Das Widersprüchliche daran: Das hindert ihn nicht, die jüdischen Opfer zu Opfern des „Genozids am belarussischen Volk“ zu erklären. Das Lukaschenko-Regime braucht zur Rechtfertigung die größte Zahl an Opfern, die irgend denkbar ist.
     

    4. In Bezug auf den Holocaust wird also die sowjetische Tradition der Legendenerzählung zum „Großen Vaterländischen Krieg“ übernommen?

    Der Einfluss der sowjetischen Tradition ist ganz offensichtlich. Die belarussische Führung war es seit jeher gewohnt, jüdische Menschen als solche weder zu erwähnen noch wahrzunehmen und verfolgt im Wesentlichen weiterhin diesen Kurs. Zu Sowjetzeiten wurde die Herkunft der jüdischen Opfer vertuscht, indem sie als „(friedliche) sowjetische Bürger“ bezeichnet wurden. Jetzt werden sie zum „belarussischen Volk“ erklärt.
    In der sowjetischen Erinnerungskultur kam der Holocaust nur am Rand vor. Und in der postsowjetischen Zeit galt er in Belarus als „jüdisches“ Thema. Die jüdischen Opfer galten als „unsere“, aber ihr Schicksal wurde als Tragödie der „anderen“ betrachtet. Nun hat man sich der jüdischen Opfer „erinnert“ – aber nicht mit Blick auf ihre Herkunft, sondern um sie im „belarussischen Volk“ aufgehen zu lassen. 
    Auf die Juden als solche besinnt sich das Lukaschenko-Regime nur, wenn es Israel oder den USA Avancen machen will. Die Verschwörungstheoretiker in den herrschenden Kreisen von Belarus glauben offenbar, dass die (westliche) Welt von Juden beherrscht werde und sie dieser vermeintlichen „Tatsache“ Rechnung tragen müssten.
     

    5. Ist diese Form des Antisemitismus ein fester Bestandteil in der Propaganda Lukaschenkos?

    In Belarus ist die Meinung verbreitet, es gebe dort praktisch keinen Antisemitismus und dass es ihn auch nie gegeben habe. Das stimmt natürlich nicht. Die Geschichte des Antisemitismus in Belarus ist noch sehr wenig erforscht.
    Und obwohl es nur noch wenige Juden im Land gibt, scheut die staatliche Propaganda nicht vor Antisemitismus zurück. Er taucht auf, sobald oppositionelle Journalisten und Intellektuelle oder ukrainische und westliche Politiker mit jüdischen Wurzeln das Regime attackieren. Dabei ist der Einfluss antisemitischer Narrative aus Russland in Belarus ziemlich stark zu spüren. Lukaschenko selbst hat keine Hemmungen, sich – offen oder verdeckt – antisemitisch zu äußern. Ein Beispiel dafür: Als Wolodymyr Selensky Russlands Angriff auf die Ukraine mit dem Angriff Nazideutschlands auf die UdSSR verglich, sagte Lukaschenko, der ukrainische Präsident, „der seiner Nationalität nach Jude ist“, solle sich bei diesem Thema „bedeckt halten und schweigen“ und behauptete, Belarussen seien bei der Verteidigung von Juden in der Ukraine und in Belarus gefallen.
    Für Lukaschenko ist Selensky also in erster Linie ein „Jude“, der nicht das Recht hat, über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zu sprechen und den Belarussen noch dankbar dafür sein muss, dass sie sein Volk vor dem Genozid der Nazis gerettet hätten. 

     

    6. Es gab seit 2020 auch zahlreiche Repressionen gegen Historiker und Wissenschaftler. Steht dieses  Vorgehen im Zusammenhang mit diesem Gesetz?

    Das Lukaschenko-Regime braucht eigentlich keine speziellen Gesetze, um Historiker und Wissenschaftler zu verfolgen. Mit dem jetzt verabschiedeten Gesetz wird allerdings tatsächlich ein neuer Straftatbestand geschaffen: die öffentliche Leugnung des „Genozids am belarussischen Volk“. Es drohen bis zu zehn Jahre Haft. 
    Es kann und wird höchstwahrscheinlich sowohl gegen Wissenschaftler als auch gegen den Normalbürger verwendet werden. Man darf sich da nichts vormachen. Es gab schließlich auch schon Anklagen wegen „Rehabilitierung des Nationalsozialismus“, wie beispielsweise gegen den belarussischen Journalisten Andrzej Poczobut von der polnischen Gazeta Wyborcza, der sich seit April 2021 in Haft befindet.

     

    7. Wie reagiert die im Land verbliebene Wissenschaft auf das Gesetz?

    Als über das Gesetz beraten wurde, gab es tatsächlich Diskussionen, allerdings außerhalb von Belarus. Schon vorher hatten es Historiker – besonders die, die sich mit Stalins Verbrechen und den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs befassten –, in der Ära Lukaschenko schwer und waren immer Repressionen ausgesetzt. Jetzt bleiben den Experten für Kriegsgeschichte, die sich noch in Belarus befinden, im Grunde noch vier Optionen: Sie können sich den neuen Begriff zu eigen machen und propagieren, sei es aus Überzeugung oder aus Opportunismus; sie können ihren Forschungsschwerpunkt auf weniger brisante Themen verlagern; sie können ihren Beruf aufgeben oder das Land verlassen. Offene Kritik an dem aufgezwungenen Begriff kann schwerwiegende Folgen bis hin zu Gefängnisstrafen nach sich ziehen. 

    8. Mit dem Gesetz geht es also alles andere als um Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen? 

    Die Erforschung und Aufarbeitung der Kriegsereignisse – einschließlich eines so schwierigen Themas wie der Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den NS-Verbrechen gegen die Juden – kann das Anliegen einer demokratischen Gesellschaft sein, die Wesen, Ausmaß, Ursachen und Folgen der Gräueltaten begreifen möchte. Eine solche Gesellschaft will historische Erfahrungen nutzen, um sich weiterzuentwickeln. Das diktatorische Regime Lukaschenkos hat dieses Anliegen nicht und kann es auch gar nicht haben. Auf offizieller Ebene behandelt man die Geschichte in Belarus lieber nach dem Grundsatz „Geschichte ist in die Vergangenheit gekippte Politik“, es geht um die angesprochene Instrumentalisierung. Und in dieser Hinsicht nutzt Lukaschenko Geschichte auch, um seinen Machterhalt zu sichern. Das neue Gesetz dient dazu, Dissens schon im Ansatz zu verhindern, die eigenen Vorstellungen von der Vergangenheit durchzusetzen und damit die Position des Regimes zu festigen.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Alexander Friedmann 
    Übersetzer: Anselm Bühling
    Veröffentlicht am: 18. Mai 2022

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  • Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

    Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

    Die politische Krise, die mit den Protesten vom Sommer 2020 begann, hat zu einer neuen Welle der Massenmigration aus Belarus beigetragen und die  Politisierung der belarusischen Diaspora gefördert. Den vorliegenden Daten zufolge haben innerhalb des ersten Jahres seit den Ereignissen schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen das Land verlassen. Bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von insgesamt rund 4,3 Millionen Menschen ist dies eine sehr hohe Zahl. Zugleich ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Angesichts der anhaltenden Repressionen im Land planen oder erwägen weiterhin viele Menschen die Ausreise. Auch im Zuge des Krieges in der Ukraine sind viele Belarusen wieder auf der Flucht, denn viele hatten in Kiew oder anderen ukrainischen Städten neu angefangen. 
    Die neuen Migranten treffen auf eine Diaspora, die aus einer langen Geschichte mehrerer Auswanderungswellen hervorgegangen und in zahlreichen Ländern organisiert und politisch aktiv ist. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gibt der Demokratiebewegung im Ausland ein neues, international bekanntes Gesicht mit politischem Gewicht.

    Bereits die Wahlkampagne im Frühjahr 2020 in Belarus, in der Kandidaten nicht zugelassen, verhaftet oder ins Exil getrieben wurden, und die friedlichen Massenproteste nach der gefälschten Präsidentenwahl  gaben der Diaspora bemerkenswerten Aufschwung: Bestehende Auslandsorganisationen (unter anderem in den USA, Schweden, Großbritannien und Polen) wurden so gestärkt und neue Organisationen (unter anderem in Italien, Deutschland und der Tschechischen Republik sowie in den USA) registriert. 

    Diese neue Solidarität lässt sich an der hohen Beteiligung der belarusischen Diaspora an kontinuierlichen politischen Aktivitäten ablesen, mit denen auf Ungerechtigkeiten in Belarus aufmerksam gemacht wird. Daran zeigt sich auch, dass die außerhalb des Landes organisierte belarusische Demokratiebewegung eine wichtige Rolle spielt. Für Aljaxsandr Lukaschenka erschwert das ein neuerliches Lavieren zwischen dem Westen und Russland. Das ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine allerdings mehr denn je in den Bereich des Undenkbaren gerückt, da Lukaschenka der russischen Führung gewährt, Belarus  als Aufmarschgebiet für russische Truppen zu nutzen. In einer Zeit, in der die Opposition im Land selbst zunehmend unterdrückt wird, dient die Diaspora dabei als Stimme von außen, um demokratische Veränderungen einzufordern.

    Vor der politischen Krise von 2020

    Die Geschichte der Auswanderung aus der Region des heutigen Belarus beginnt zur Zeit des Großfürstentums Litauen: Damals studierten Hunderte junger Belarusen an Universitäten in West- und Mitteleuropa. Emigranten wie Francysk Skaryna, Ilja Kapijewitsch und andere berühmte Persönlichkeiten der belarusischen Kultur haben im Ausland prägend gewirkt. 

    Die Massenauswanderung setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Zu dieser Zeit wurden Migranten nicht als Belarusen erfasst, weil die zaristische Regierung diese Nationalitätsbezeichnung offiziell nicht zuließ und es ablehnte, das ethnografisch belarusische Gebiet unter eine einheitliche Verwaltung zu stellen. Obwohl die Zahlenangaben schwanken, liegen sie überwiegend in derselben Größenordnung: Zwischen 1860 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließen etwa 1,5 Millionen Belarusen ihre Heimat. Die meisten gingen nach Sibirien, der Rest wanderte in Richtung Westen aus – nach Europa und in die USA. Diese Migrationswelle hatte einen vorwiegend wirtschaftlichen, teils aber auch politischen Hintergrund. Belarusische Juden wanderten in den 1850er Jahren aufgrund religiöser Verfolgung durch die Obrigkeiten aus.

    Die Entstehung der belarusischen Diaspora

    Die zweite Welle der belarusischen Emigration wurde durch den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse von 1917 ausgelöst. In den folgenden Jahren gab es in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Belarus, mehr als 100.000 Menschen gingen in andere Länder. Mit der Proklamation der Belarusischen Volksrepublik (BNR) 1918 und der Gründung der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) im Jahr 1919 erhielt das erwachende Nationalbewusstsein einen Schub. Die Belarusen sahen sich zunehmend als eigenständige Gruppe. 

    Die Politisierung der belarusischen Diaspora begann in den 1920er Jahren in den USA: Zu dieser Zeit nahm die Führung der Rada BNR Kontakt zu neu gegründeten belarusischen Organisationen in New York, New Jersey, Chicago, Michigan und Pennsylvania auf und begann, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

    Archivdokumente zeigen, dass die kommunistischen Führungen in Moskau und Minsk sogar Versuche unternahmen, belarusische Emigranten über die Schaffung pseudo-nationaler belarusischer Organisationen für die kommunistische Bewegung zu mobilisieren – um die Weltrevolution voranzutreiben. In seinem Buch Belarusians in the United States liefert Vitaut Kipel mit Gershan Duo-Bogen ein Beispiel eines kommunistischen Agenten, der daran beteiligt war, die kommunistische Bewegung auf der anderen Seite des Ozeans zu aktivieren.

    Belarusen engagieren sich von den USA aus für nationale Selbstbestimmung

    Der Zweite Weltkrieg führte zur dritten Auswanderungswelle. Bei Kriegsende zählte die belarusische Diaspora in Europa etwa eine Million Menschen, von denen es viele weiter in die USA zog. Die politischen Emigranten der 1950er Jahre und ihre Nachkommen bildeten die Basis der modernen belarusischen Diaspora. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA eingewanderten Belarusen waren nationalbewusst. Sie setzten sich bei der US-Regierung mit Nachdruck dafür ein, den belarusischen Staat als nationale und ethnische Einheit mit dem Recht auf Freiheit und nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So hielten beispielsweise belarusische Priester laut Protokoll des US-Kongresses in den 1960er bis 1980er Jahren fast an jedem Jahrestag der Proklamation der BNR Eröffnungsgebete für den Kongress ab. Zum 50. Jahrestag der BNR-Gründung im Jahr 1968 verzeichnet das Protokoll 23 Redebeiträge im US-Kongress, die die Unabhängigkeit von Belarus unterstützten.

    Von 1960 bis 1989 war kaum Auswanderung möglich

    In den 1960er bis und 1980er Jahren wuchs die belarusische Diaspora nicht nennenswert an, weil die Emigration aus der Sowjetunion rechtlich nicht möglich war. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der massiven Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Republik Belarus sowie den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 erhöhte sich die Zahl der Ausreisen wieder deutlich. Im Jahr 1989 erlaubte die Sowjetrepublik dem Innenministerium zufolge 14.700 Menschen auszureisen. 1990 lag diese Zahl bei 34.100 Menschen und war damit mehr als doppelt so hoch. 

    Feierlichkeiten der kanadischen Diaspora zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik / Foto © Rada BNR

    Nachdem Aljaxandr Lukaschenka im Jahr 1994 an die Macht gekommen war, schwand die anfängliche Hoffnung der belarusischen Diaspora auf eine demokratische Zukunft. An ihre Stelle traten politische Aktivitäten, die von dem Gedanken geleitet waren, Belarus als unabhängigen demokratischen Staat zu erneuern. Die neuen belarusischen Migranten konnten sich im Laufe der Zeit mit der älteren organisierten Diaspora in den USA, Kanada, Europa und anderen demokratischen Ländern auf gemeinsame Positionen verständigen. So wurde in den USA nach erheblichem Engagement der belarusischen Diaspora der Belarus Democracy Act von 2004 verabschiedet – ein US-Bundesgesetz, das erlaubte, politische Organisationen, NGOs und unabhängige Medien zu unterstützen, die sich für die Förderung von Demokratie und Menschenrechte in Belarus einsetzen. Diese Bewilligung wurde in den Jahren 2006, 2011 und 2020 erneuert.

    Neue Migrationswelle nach den Repressionen in Belarus

    Seit der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2019 emigrierten jährlich schätzungsweise zwischen 10.000 und 20.000 Menschen aus Belarus. Das brutale Vorgehen gegen die Opposition nach den größten Protesten in der Geschichte des unabhängigen Belarus 2020/2021 löste dagegen eine beispiellose Migrationswelle aus. Im ersten Jahr nach August 2020 haben etwa 100.000 bis 150.000 Menschen Belarus verlassen. Viele gingen nach Lettland, Estland und noch weiter weg. 

    Nicht eingerechnet sind diejenigen, die nach Russland oder in die Ukraine übersiedelten, weil es kein Visum braucht, um in diese Länder zu reisen. Mit präzisen Zahlen ist es dort daher schwierig. Trotzdem lässt sich die Vorstellung einer Größenordnung bekommen: Laut den Zahlen, die der Staatliche Migrationsdienst der Ukraine herausgibt, stiegen die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für belarusische Staatsbürger dort beispielsweise um 39 Prozent (von 2175 im Jahr 2019 auf 3042 im Jahr 2021). Im Oktober 2020 unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky zudem ein Dekret, das es Unternehmern und hochqualifizierten Fachkräften mit belarusischer Staatsangehörigkeit sowie deren Familienangehörigen erleichtert, eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine zu erhalten. Infolgedessen sind seit der Protestwelle nach der Präsidentschaftswahl bis zu 1500 belarusische IT-Spezialisten aus politischen Gründen in die Ukraine emigriert. 

    Doch die meisten Belarusen gingen nach Polen. Laut Eurostat sind dort zwischen August 2020 und November 2021 knapp 2000 Asylanträge von belarusischen Staatsbürgern eingegangen – mehr als in jedem anderen EU-Land. Das ist ein eindrucksvoller Zuwachs, denn zwischen  Anfang 2019 und  September 2020 hatten Belarusen in Polen nur 165 Asylanträge gestellt. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums hat das Nachbarland im Zeitraum von Juni 2020 bis Ende Juli 2021 zudem 178.711 Visa an Personen aus Belarus erteilt, darunter mehr als 20.000 „Poland.Business Harbour“-Visa, etwa für Programmierer und Unternehmer im IT-Bereich.

    Das EU-Land mit der zweithöchsten Zahl von Asylanträgen aus Belarus ist Litauen: Dort beantragten 235 belarusische Bürger Asyl – von Anfang 2019 bis zum Beginn der Proteste waren es dagegen nur 35. Nach den Zahlen der litauischen Migrationsbehörde hat das Land von September 2020 bis November 2021 zudem 26.200 nationale Visa an belarusische Bürger ausgestellt. 

    Die Politisierung der Diaspora nach den Protesten in Belarus

    Nach dem Ausbruch der Krise hat sich die belarusische Diaspora innerhalb weniger Monate weltweit zu einer ernstzunehmenden Kraft mit politischem Einfluss entwickelt. Ihre Aktivitäten sind jetzt eng mit neuen politischen Kräften verknüpft, etwa dem Koordinationsrat von Belarus, dem Büro der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja und dem NAM (Nationales Antikrisen-Management).

    Der Koordinationsrat von Belarus wurde im August 2020 von Zichanouskaja im litauischen Exil ins Leben gerufen, um auf eine friedliche Machtübergabe hinzuarbeiten und die Krise im Land zu überwinden. Er versteht sich als das ausschließliche Repräsentativorgan der demokratischen belarusischen Gesellschaft. Die Arbeitsgruppen des Rats befassen sich unter anderem damit, Bildungsinitiativen zu entwickeln, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und über Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen zu informieren, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.

    Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja ist eine separate Einrichtung. Es besteht aus ihr selbst, acht Beratern für nationale und internationale Angelegenheiten sowie Kommunikationsmitarbeitern.

    Die von Pawel Latuschka im Oktober 2020 gegründete Organisation NAM (Nationales Antikrisen-Management) in Warschau arbeitet mit dem Koordinationsrat und Zichanouskajas Büro zusammen. Zudem gibt es zahlreiche Initiativen, darunter ByPol, das von ehemaligen Sicherheitskräften gegründet wurde, und BySol für Sportler, ein Projekt von Sportfunktionären und Athleten.

    Die belarusische Diaspora hat viele Anstrengungen unternommen, um sich weltweit zu vernetzen und sich in das Ringen um ein künftiges Belarus einzubringen. Ein Beispiel dafür ist die neu gegründete Organisation Association of Belarusians in America (ABA), die Repräsentanten belarusischer Communitys aus 25 Städten in 18 US-Staaten verbindet. Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja organisierte im September 2021 eine Konferenz der Belarusen der Welt in Vilnius und brachte Vertreter belarusischer Communitys aus über 27 Ländern und 40 Organisationen zusammen. 

    Durch die Repressionen sind die Proteste 2021 abgeebbt. Infolge der brutalen Unterdrückung durch die belarusische Regierung und mit der Rückendeckung durch Russland bestand kaum noch Aussicht, etwas zu erreichen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die neu erstarkte und vereinte Diaspora sowie die organisierten demokratischen Kräfte von außen weiter und stärker als vor dem Krisenjahr 2020 eine demokratische Zukunft für Belarus einfordern und denjenigen helfen werden, die unter den Repressionen des Lukaschenka-Regimes leiden. 

    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

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    Es ist Tag acht im russischen Krieg gegen die Ukraine. Aber ist es nur Wladimir Putins Krieg? Bei aller Ohnmacht müssen alle jetzt herausfinden, wo die eigene Verantwortung liegt – und was nötig ist, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können. Der russische Soziologe Grigori Judin spricht darüber im Interview mit Meduza, das hier in Ausschnitten zu lesen ist – und in dem er auch seine Einschätzung zur Proteststimmung darlegt. Er selbst ist am 24. Februar bei einem Antikriegsprotest in Moskau zusammengeschlagen worden.

    Swetlana Reiter: [Die unterschwellige Unzufriedenheit, die wir sehen,] steigt langsamer als der militärische Konflikt.

    Grigori Judin: Ja, sie steigt nicht schnell genug, aber sie steigt, und es steigt auch die Zahl der öffentlichen Personen, die sich dagegen aussprechen: Abgeordnete, verschiedene Verbände. Prominente versuchen zwar zu schweigen, äußern sich mittlerweile aber immer öfter dagegen als dafür. Das bringt zwar nicht viel, aber immerhin. 
    Sollten diese Äußerungen der subelitären Kreise auf die elitären, näher an der russischen Führung befindlichen übergehen, dann ist klar, was das für Putin heißt. Dann sieht plötzlich alles wie ein irrwitziges Abenteuer mit grauenhaften Folgen aus und einer unausweichlichen Niederlage am Horizont. Deswegen stehen wir jetzt an einem Wendepunkt: Die Welt, in der wir im jetzigen Moment leben, wird es nur sehr kurz geben … 

    Mir ist klar, dass das Land noch nie mit einer solchen Situation konfrontiert war. Aber können Sie als Soziologe trotzdem eine Prognose versuchen: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir nach diesem Wendepunkt, an dem wir derzeit stehen, den erfreulicheren Weg einschlagen oder das Gegenteil?  

    Das ist für die ganze Weltgeschichte eine nie dagewesene Situation – nie hat es etwas Derartiges gegeben. Die ganze Welt steht in diesem Augenblick auf der Kippe zu einer ungeheuren Katastrophe, daher verfügen wir über keinerlei logisches Wissen, auf das wir uns stützen könnten.  
    Schon jetzt wird der Welt bewusst, dass am 24. Februar die lange Nachkriegsepoche zu Ende gegangen ist, eine neue Ära ist angebrochen. Das hat Deutschlands Kanzler Olaf Scholz ganz richtig festgestellt: Unter anderem werden wir in dieser neuen Ära auch ein neues Deutschland sehen, das bereit ist, eine neue Verantwortung zu übernehmen.  

    Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen

    Wir stehen heute am Rand eines riesigen Krieges. Seine potenziellen Teilnehmer verfügen über Atomwaffen, und es gibt jemanden, der sogar schon ganz offen damit droht. Wörter wie „Nazis“ und „Entnazifizierung“ sind alles andere als harmlos – in der heutigen Sprache haben sie das Potenzial einer völligen Entmenschlichung und bilden die Grundlage für eine „Endlösung des Problems“. Es ist nicht auszuschließen, dass da etwas Vergleichbares zurückschallen wird … ​​Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39. Aber damals war die Welt gespalten und am Ende, heute findet sie zusammen. Vielleicht nicht vollständig, aber der Ernst der Lage wird von Tag zu Tag immer klarer erkannt. Deshalb stehen wir, wie mir scheint, an einer auf Jahrzehnte hinaus bestimmenden Wegscheide, an der die ganze Welt und vor allem die drei Völker stehen, die jetzt Geiseln von Leuten sind, die Waffen auf sie gerichtet haben und sie gegeneinander aufhetzen wollen. Das sind Belarus, Russland und die Ukraine.

    Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen und jetzt schlicht zu Kampfhandlungen gegen alle drei Völker übergegangen ist. 

    Fühlen Sie sich in solchen Momenten eher als Mensch oder als Wissenschaftler? Oder ist das eine zu dumme Frage? Lassen Sie es mich anders sagen: Soll man analysieren oder sich in Sicherheit bringen?

    Die Frage ist keineswegs dumm, sie liegt in entscheidenden historischen Momenten auf der Hand. Man muss verstehen, dass das zwei Haltungen sind, die sich in jedem Wissenschaftler finden und die miteinander in Kontakt kommen müssen. Du musst dir bewusst machen, woran du glaubst und zu welchem Zweck du deine Analysen vornimmst: Wenn du einfach nur auf Befehl oder Auftrag hin arbeitest, kannst du eine Elwira Nabiullina [die Chefin der Zentralbank der Russischen Föderation] werden und möglicherweise als Kriegsverbrecher enden.

    Sie halten Elwira Nabiullina für eine Kriegsverbrecherin?

    Albert Speer war ein Kriegsverbrecher.

    Ist sie nicht eine Geisel der Situation?

    War Adolf Eichmann eine Geisel der Situation? Ganz im Ernst: Irgendwann muss man aufhören, sich zum Rädchen zu machen und zu einer inneren moralischen Haltung finden. Und dann seine analytischen Fähigkeiten in den Dienst dieser Haltung stellen. 

    Es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen

    Und hier kommt es darauf an, kritische Distanz zu gewinnen, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Kontrolle über sich selbst nicht zu verlieren. Aber es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen. 

    Wie sehr kann man darauf hoffen, dass jeder Mensch in sich selbst Halt findet? Und was muss getan werden, damit Elwira Nabiullina und, sagen wir, Sergej Schoigu ihr Verhalten ändern?

    Das ist eine Frage ihrer Beziehung zu Gott. Wissen Sie, wir sind jetzt an einem Punkt, der bei allem, was daran einmalig ist, doch an die Ereignisse des 20. Jahrhunderts erinnert. Hannah Arendt hat dazu sehr richtig gesagt, dass es Zeiten gibt, in denen man sich eingestehen muss, dass man die Welt im Ganzen nicht ändern kann. Man muss herausfinden, wo jetzt die eigene Verantwortung liegt – was man tun muss, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können.

    Durch kleine Aktionen mit deutlicher Wirkung lässt sich die Angst kurieren – und dann zeigt sich, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird

    Das ist die wichtigste Frage, und jeder Mensch muss diese Frage für sich selbst beantworten – im Bewusstsein, dass die Dinge sich nach dem schlimmsten überhaupt vorstellbaren Szenario entwickeln können und die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch ist. 

    Und wie bekämpft man in diesem Fall die eigene Angst?

    Es gibt da bekannte Methoden, die immer funktionieren: kleine Aktionen, die eine deutlich messbare Wirkung haben. So lässt sich die Angst kurieren, und dann zeigt sich immer wieder, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird. Wenn man eine Grundsatzposition einnimmt, wenn man die moralische Herausforderung annimmt, nicht so tut, als ob nichts wäre und man sowieso nichts machen könne, sondern begreift, dass man vor eine ungeheure moralische Aufgabe gestellt ist, auf die jeder Mensch reagieren muss, dann kann man sich nicht vormachen, dass man einfach nur Zuschauer ist. Man muss überlegen, wie man mit kleinen Aktionen eine messbare Wirkung erzielt. 

    Selbstanklagen, Scham … Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln

    Theodor W. Adorno hat einmal den Dramatiker Christian Dietrich Grabbe zitiert: „Nichts als nur Verzweiflung kann uns retten“. Viele Russen, die unter dem Geschehen leiden, reagieren gerade mit Selbstanklagen, Scham, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsversuchen. Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln. Dies ist letztlich kein Krieg, den das russische Volk gegen die Ukraine führt. Dieser Krieg wird den Russen nichts bringen. Sie werden auf die furchtbarste Weise verlieren. Das wird eine ungeheure Katastrophe für das Land, die uns allgemeinen Hass, eine zerstörte Wirtschaft, eine niedergewalzte Gesellschaft und vermutlich eine besiegte Armee einträgt.

    Wir müssen diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen

    Letztlich verlieren wir die unerschütterliche Grundlage für das Ansehen, das bei den Menschen auf der ganzen Welt immer Respekt hervorgerufen hat: Das Image des Befreiers, des Landes, das im denkbar schrecklichsten Krieg heldenhaft gesiegt hat. Deshalb müssen wir diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen. Nun ist es so gekommen, dass die Ukrainer das auf ihre Art tun und die Belarussen und Russen auf ihre eigene Weise handeln müssen – so, dass wir uns später ruhig in die Augen schauen können.

    Ich weiß, es ist merkwürdig, diese Frage an Sie zu richten, aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, wenn wir die Ereignisse vom 27. Februar analysieren?

    Eine solche Möglichkeit besteht. Nach Putins Aussagen zu urteilen, würde ich sie bisher nicht als unmittelbare und unabwendbare Gefahr betrachten. Bislang ist das eine Maßnahme, die zeitgleich mit der Anreise zu den Verhandlungen erfolgte – die natürlich rein dekorativen Charakter haben, es sind keine echten Verhandlungen. Aber diese Aussage (in Bezug auf die Waffen) ist eher eine Erpressungsmaßnahme, um die eigene Verhandlungsposition zu untermauern.

    Doch allein die Tatsache, dass diese Drohung ausgesprochen wurde – und das unter diesen Umständen, als Putin und seine Mannschaft deutlich machten, dass sie bereit sind, alles zu tun, um ihren Willen zu kriegen – macht die Nuklearfrage relevant. Zudem sollten wir die Risiken des Einsatzes taktischer Kernwaffen nicht vergessen.

    Ich habe immer geglaubt, dass der Mensch vor allem vom Selbsterhaltungstrieb geleitet wird. Die Entscheidung, Atomwaffen einzusetzen, wäre, gelinde gesagt, selbstmörderisch. 

    Der Mensch ist ein interessantes Wesen, das viele Denker gerade über seine Fähigkeit definiert haben, Selbstmord zu begehen. Aus irgendeinem Grund ist der Mensch imstande zu sagen: „Ich sage Nein zu meiner physischen Existenz.“ Sei es, weil er seine weitere Existenz als unvereinbar mit dem eigenen Selbst empfindet, sei es der Wunsch nach Prestige, nach Ruhm – solche Dinge haben Menschen in der Geschichte dazu gebracht, Selbstmord zu begehen.

    Allerdings hatten die keinen Atomknopf – aber was ändert das letztlich? Auch die, die nuklearen Selbstmord begehen, sind Menschen und also dazu imstande. 

    Entschuldigung, ich muss mich verabschieden – gerade ruft meine Frau an, die vermutlich bei einer Antikriegsaktion festgenommen worden ist.

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