Lesia Pcholka gründete 2017 die Initiative VEHA – „als eine Reaktion auf die Unzugänglichkeit der belarussischen Archive und die einseitige Darstellung unserer Geschichte”. Denn die sei vor allem über die Tragödie des Großen Vaterländischen Krieges konstruiert. Seitdem sammelt Pcholka mit Mitstreiterinnen Fotos aus Familienarchiven, um die Alltagsgeschichte der Belarussen visuell aufzuarbeiten.
Für das Projekt Najlepšy bok (dt. Die beste Seite) hat die Initiative Fotos von Belarussen in der Provinz zusammengetragen, die sich in den 1920er und 1950er Jahren vor Webteppichen fotografieren ließen. Wir haben mit Lesia Pcholka gesprochen und zeigen eine Bilderauswahl.
Lesia Pcholka:Najlepšy bok war unsere erste Sammlung und auch das erste Projekt, das vom VEHA-Archiv präsentiert wurde. Wir haben dafür dieses visuelle Thema ausgewählt, das Porträts von Menschen aus Belarus und dem Begriff der Schönheit nachgeht. Im Sammeln von Familienfotos sahen wir eine Möglichkeit, uns mit von allen geteilten Erinnerungen und den non-verbalen Seiten des Alltagslebens zu befassen. Diese Heimatfotografien sind soziale Artefakte, die die Identität, Werte und Ästhetik der Menschen einfangen und aufdecken, wie sie von anderen gesehen und erinnert werden wollen.
Es ging uns darum, die Menschen durch eine neue künstlerische Herangehensweise aktiv in die Bewahrung des kulturellen Erbes einzubeziehen. Für diese Idee waren die Webteppiche, die auf den Fotos der Sammlung Najlepšy bok als Hintergrund dienen, das perfekte Symbol.
Woher stammt die Tradition, Teppiche als Dekoration an die Wand zu hängen, und was verrät das über Belarus in diesen Zeiten?
Die Tradition, Teppiche als Wanddekoration aufzuhängen, entstand im ländlichen Belarus, vor allem zwischen den Kriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die meisten Fotos in unserer Sammlung Najlepšy bok wurden in Dörfern aufgenommen, oft von fahrenden Fotografen, die Webteppiche mit sich führten, um ein einfaches, mobiles Fotoatelier aufzubauen. Sie dienten als Hintergrund für Familienporträts, ähnlich wie die Kulissen in städtischen Ateliers.
Teppiche und Bettüberwürfe gehörten zu den schönsten Ausstattungsgegenständen in ländlichen Haushalten. Sie wurden von Frauen gefertigt, in Zeiten des Mangels und wirtschaftlicher Probleme. Das Weben war eine Notwendigkeit und zugleich eine Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken. Textilien standen für Schönheit, Behaglichkeit und den Traum von einem besseren Leben. Sie wurden als Teil der Aussteuer von Generation zu Generation weitergereicht und rückten so nach und nach ins Zentrum der Inneneinrichtung und der visuellen Kultur. Die Verwendung von Webteppichen als Fotohintergrund ist Ausdruck tief verwurzelter sozialer, wirtschaftlicher und politischer Gegebenheiten und zeugt zugleich von der starken Tradition des Textilhandwerks in der Region und von Praktiken des visuellen Erzählens.
Wer waren die „fahrenden Fotografen“?
Diese Fotografen reisten von Dorf zu Dorf, vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und machten Fotos der dort ansässigen Menschen. Fotoateliers befanden sich in den Städten, und die Dorfbevölkerung hatte oft nicht die Möglichkeit oder das Geld, dort Porträts oder Familienfotos machen zu lassen. Das war nicht gerade billig und der Weg dorthin war beschwerlich. Die fahrenden Fotografen wurden oft in Naturalien bezahlt – mit dem, was es im Dorf gerade gab, etwa Milch, Eier und andere Waren.
Existiert die Tradition, Teppiche als Hintergrund für Fotos zu nutzen, heute noch?
Die Tradition, Menschen vor Teppichen zu fotografieren, ist nicht verschwunden; sie hat sich verändert. Viele haben noch Fotos von sowjetischen Wohnungen, in denen ein Teppich an der Wand hinter dem Sofa hängt. Non-verbale Alltagspraktiken verschwinden nie völlig, sie entwickeln sich immer weiter. Das ist das Interessanteste an unserer Arbeit. Gewohnheiten und visuelle Codes dienen uns dazu, dass wir uns über die Gegenwart und die Alltagspraktiken verständigen, die uns prägen und von anderen unterscheiden.
Wie entstehen Projekte bei VEHA?
Bevor wir anfangen, Fotomaterial zu sammeln, legen wir ein Thema fest. Bei unserer Recherche in zahlreichen belarussischen Archiven sehen wir, dass bestimmte Stilmerkmale und Szenen immer wieder vorkommen. Aber am wichtigsten ist, dass wir – sobald das Thema steht – erst einmal abwarten, was die Menschen uns schicken und erst dann Schlussfolgerungen ziehen.
Das betrifft auch die Datierung: Wir analysieren die Objekte, die bei uns eingehen, und dann können wir das Jahr und den Ort der Aufnahme ermitteln. So haben wir festgestellt, dass die Fotos in dieser Sammlung überwiegend in der Zwischenkriegszeit und vor allem im westlichen Teil von Belarus entstanden sind. Wir legen in unseren Texten zu den Projekten immer offen, dass unsere Schlussfolgerungen auf unseren Methoden beruhen und auch andere Herangehensweisen an die Geschichte denkbar sind.
Unsere Recherche beschränkt sich auf die Gruppe derer, die sich aktiv beteiligen und uns Fotos zusenden. Das sind zwischen 50 und 500 Personen.
Wie erfahren die Leute von der Fotosammlung?
Wir machen öffentliche Aufrufe, um Fotos zu sammeln: Alle Menschen können uns Bilder aus ihrem Familienarchiv schicken, wenn diese vor 1980 auf dem Gebiet des heutigen Belarus aufgenommen wurden und in eine der fünf bestehenden VEHA-Sammlungen passen.
Bei den ersten Sammlungen wie Najlepšy bok haben wir auch staatliche Museen und ethnografische Institutionen kontaktiert. Dank der Unterstützung von Medien und dem öffentlichen Interesse konnten wir die Materialien für das Buch innerhalb kurzer Zeit zusammentragen.
Selbst wenn wir ein Foto nicht in die Sammlung aufnehmen, fördert das Stöbern im Familienarchiv das Bewusstsein für das Familiengedächtnis und trägt dazu bei, dass die Bilder weiter erhalten bleiben. Wir sammeln keine Originale, nur digitale Kopien.
Aber VEHA ist mehr als nur ein Onlinearchiv. Wir wollen neue Sinnschichten im Alltag freilegen und die visuelle Geschichte von Belarus sichtbar machen. Wir heben die Rolle der einfachen Menschen in der Geschichte hervor und präsentieren Archivmaterial in zeitgemäßen, zugänglichen Formen.
Mittlerweile dürfte eine Kooperation mit staatlichen Stellen schwierig sein.
Heute kontaktieren wir keine staatlichen Museen mehr – auch deshalb, weil es unter den jetzigen politischen Umständen für sie womöglich nicht sicher ist, mit uns zusammenzuarbeiten. Aber wir sind offen für die Kooperation mit europäischen Einrichtungen, die viele Fotos aus Belarus aufbewahren (auch wenn diese schwer auffindbar sind, weil sie oft fälschlicherweise Polen oder dem Russischen Reich zugeordnet werden). Trotz dieser Schwierigkeiten verfolgen und unterstützen die Menschen unsere Arbeit weiterhin und das VEHA-Archiv ist seit 2017 bis heute aktiv.
Zurzeit bereiten wir mit der Arsenal-Galerie in Białystok ein neues Buch mit dem Titel Ruinen von Belarus vor. Kürzlich ist unsere Arbeit in einer der umfassendsten Publikationen über belarussische Fotografie gewürdigt worden.1 Die Anerkennung durch die akademische Gemeinschaft und die Unterstützung durch so seriöse Institutionen wie Arsenal sind für uns ein sehr großer Ansporn.
Wir sind ja im Grunde immer noch Erinnerungsaktivistinnen, eine kleine Gruppe von Frauen, die ein Onlinemuseum der belarussischen Geschichte aufbauen.
Links: 1952, Dorf Sarytawa, Ljachawizki Rajon, Breszkaja Woblasz. Nadseja Mazjuschenka mit ihren Töchtern Ljubai und Waljai. Fotograf Petryk Taranda. Privatarchiv Mikola Taranda.
Links: Um1950, Dorf Aharodniki, Lidski Rajon, Hrodsenskaja Woblasz. Priester Boris Shabrouski der Pryabrashenskai Kirche mit seiner Frau. Privatarchiv Vera Tyschkewitsch.
1 Siarhiej Hruntoŭ, Photography and the Culture of Memory among Belarusians in the Second Half of the 19th – Early 21st Century, Belarusian Science, 2023. ↑
Wer in der Sowjetunion aufgewachsen ist, dem ist seine Garage heilig – besonders den Männern. Hier wird nicht nur das Auto untergestellt: Die Garage dient bis heute als Lager für Kartoffeln und Eingemachtes, den Samowar, die alte Waschmaschine, das Rad des „Desna“-Fahrrads, das Töpfchen des ersten Sohns und die Halbliterflasche Stolitschnaja-Wodka, die man vor 40 Jahren vor seiner Frau versteckt hat – also ausschließlich für dringend benötigte Dinge.
In der Garage feierte man Geburtstage und die Geburt eines Kindes, die erfolgreiche Autoreparatur, den Verkauf des Autos und den Kauf eines neuen. In Garagen wurden Kfz-Werkstätten eröffnet, Freundschaften geschlossen, nützliche Beziehungen geknüpft, und die Garagennachbarn waren im Freundeskreis eine Gruppe für sich. Die Jüngeren können das nicht mehr nachvollziehen, aber auch sie halten an ihren Garagen fest – das genetische Gedächtnis ist stark.
Einen Eindruck davon, was eine Garage in Russland alles sein kann, vermittelt das Fotoprojekt Zweckentfremdet der Fotografin Oksana Ozgur. Die Berliner Dokumentarfilmerin Natalija Yefimkina hat den Garagenbewohnern 2020 ihren wunderbaren Film Garagenvolk gewidmet. Aufnahmen aus Yefimkinas Film illustrieren auch diesen Text.
Trailer zu Garagenvolk von Natalija Yefimkina / YouTube
Doch die große Zeit der Garagenkultur geht zu Ende. In vielen Städten werden Grundstücke, auf denen einst Garagenkooperativen ihre Bauten errichteten, zu Bauland für moderne Wohn- und Geschäftsgebäude umgewidmet. Viele Besitzer wehren sich erbittert gegen die Räumung ihrer Garagen. Sie sind für sie Rückzugsort und Heiligtum, an dem sie fern von Staat und Ehefrau ihre ganz persönlichen Träume verwirklichen konnten.
Unweit von meinem Haus liegt ein Teich. Noch vor etwa zehn Jahren hat darin die halbe Nachbarschaft gebadet. An der Straße, die zu ihm führte, standen ein paar Behelfsgaragen, auch Rakuschki [rus. Muscheln)] genannt. Kaum wurden die Tage wärmer, versammelten sich die Garagenbesitzer, reparierten oder ersetzten den Steg, erneuerten die Seilschaukel, legten am Zugang zum Wasser Reifen aus, mähten den Rasen und verscheuchten die ganze Saison über die Ruhestörer, die laute Zechgelage veranstalteten und ihre Flaschen zerschmetterten. Dann ließ die Gemeinde die Garagen abräumen, weil sie angeblich schwarz errichtet worden seien – obwohl ein ortsansässiger Betrieb das Gelände 60 Jahre zuvor seinen Mitarbeitern dafür zugeteilt hatte. Wenige Jahre darauf war es auch mit dem Teich vorbei: Die Brücke stürzte ein, die Reifen wurden fortgeschwemmt, und das Ufer verwandelte sich in eine Müllkippe. So verschwand mit der „Garagen“-Gemeinschaft auch ein wichtiger Ort für die ganze Siedlung.
Laut der russischen Wikipedia ist „eine Garage (frz. garage, vom nautischen Begriff gare ‚Schiffsanleger, Liegestelle‘) […] ein Raum zum Abstellen und manchmal zum Reparieren von Autos, Motorrädern und anderen Fahrzeugen. Das Wort ‚Garage‘, das 1902 im Englischen auftauchte, leitet sich vom französischen Wort garer ab, das ‚Schutzraum‘ bedeutet“.
Dem kann man nur zustimmen: In der Sowjetunion und dann auch in der Russischen Föderation war die Garage ein echtes Refugium. Sie bot Zuflucht vor Ehestreit, Problemen auf der Arbeit, der Enge der Wohnung. Eine Garage hat Raum genug für praktisch alles, was man braucht oder auch nicht: Man kann dort ein Kinderfahrrad reparieren, Bretter zuschneiden und ein Regal bauen, sogar ein Unternehmen starten. Einer meiner Bekannten hat zwei benachbarte Garagen gekauft und betreibt dort eine Autowerkstatt, ein anderer nutzt sie als Warenlager – er hat eine Verkaufsstelle für Haushaltsbedarf. Eine Freundin ist eine hervorragende Tierärztin mit eigener Klinik. Was das mit Garagen zu tun hat? Sie durfte als Kind kein Haustier haben. Deshalb ging sie zu den Garagen in der Nähe des Hauses, wo immer Straßenhunde nach Futter lungerten. Sie desinfizierte ihre Wunden mit Brillantgrün und bat die erwachsenen Männer, ihr zu helfen, die Meute von Grind, Flöhen und anderen Plagen zu heilen. Wenn man ihr heute Komplimente für ihr profundes Fachwissen macht, erwidert sie lachend: „Ich habe eben schon als Drittklässlerin angefangen, in Garagen zu praktizieren!“.
Für meinen 74-jährigen Vater ist der Gang zur Garage ein Ritual. Er zieht seine spezielle „Garagen-Kleidung“ an, die bedenkenlos schmutzig werden kann, packt Gurkengläser, Zucchinikaviar und ein paar Kilo Kartoffeln in die „Garagen-Tasche“ mit dem großen roten Karomuster und holt das Fresspaket für die Garagenhunde aus dem Kühlschrank: Knochen, Sardellenhaut, Brei- und Bulettenreste. Die bunt zusammengewürfelte Hundemeute wirft ihn zur Begrüßung fast um. Mein Vater ist Rentner; der Gang zur Garage ist das, was ihn noch im Lebensalltag verankert. Schrauben und Nägel müssen in die passenden Dosen sortiert, Wände getüncht, der Keller aufgeräumt werden. Meine Mutter hatte gegen Vaters „Garagentage“ nie etwas einzuwenden: Ihm die Garage zu nehmen, hieße, ihm das Leben zu nehmen.
Das Gelände der Garagengenossenschaft befindet sich in einer guten Lage, fast im Stadtzentrum, auch wenn es an eine Bahnstrecke grenzt, auf deren anderer Seite sich eine Erosionsrinne auftut. Als über einen bevorstehenden Abriss von Garagenbauten berichtet wurde, trieb mich der Teufel, meinen Vater zu fragen, ob in seiner Genossenschaft Gerüchte über eine Abwicklung kursierten.
„Was? Land und Gebäude gehören doch uns. Ich habe die Garage doch mit eigenen Händen gebaut, ich habe alles auf meinen Buckel genommen und dann mit gebrochenem Rücken im Krankenhaus gelegen“, erregte er sich. „Ich habe im Auto übernachtet und die Ziegelsteine bewacht. Später haben wir Männer uns dabei abgelöst. Und was wird aus den Kartoffeln, der Marmelade, dem eingelegten Gemüse? Wohin damit? Sollen wir dann vielleicht gleich auch noch die Datscha aufgeben? Hier sind Ersatzteile für drei Autos gelagert, die ich ein Leben lang gesammelt habe. Ich habe gelernt, ein Auto zu zerlegen und blind wieder zusammenzubauen. Erinnerst du dich noch an meinen Freund, Onkel Ljowa? Er hatte die Nachbargarage, ich war 50 Jahre lang mit ihm… zusammen. Vor drei Jahren ist er gestorben. Jetzt begleite ich seine Frau auf den Friedhof. Was soll das denn – die Garagen abreißen? Also praktisch mein ganzes Leben entsorgen? Ich werde für die Garage… Mit meinen eigenen Händen… Und scheiß drauf, wenn ich mein Leben im Knast beende!“
In vielen Regionen werden Garagen jedoch tatsächlich abgerissen oder sind zum Abriss vorgesehen – sowohl die blechernen „Rakuschki“ als auch die festen Bauten.
Die Sicht der Stadtverwaltung
Schon vor 20 Jahren begann man Garagen abzutragen – weil man eine neue Straße oder Wohnungen bauen wollte, und mancherorts auch einfach nur, damit ihr unansehnliches Äußeres das Auge nicht beleidige. Einige Garagenkomplexe werden zum Abriss freigegeben, weil es sich angeblich um Schwarzbauten handle. Das läuft ganz einfach: Das Land wurde den Besitzern zu Sowjetzeiten für den Garagenbau zugewiesen, doch die neue Stadtverwaltung weigert sich, es als Eigentum auf sie zu überschreiben und erklärt dann die Bauten für widerrechtlich. Das geschah zum Beispiel in Astrachan, wo 1.200 „schwarz errichtete“ Garagen auf einen Schlag abgerissen wurden. Hier drängt sich die Frage auf, seit wann es sich eigentlich um Schwarzbauten handeln soll: Von Anfang an? Wie konnten dann die Behörden jahrelang die Augen davor verschließen? Eine andere Methode besteht darin, dass der Vorsitzende der Garagengenossenschaft – aus eigenem Antrieb oder auf Wunsch von Dritten – den Pachtbetrag für das Gelände nicht zahlt. Aber dies sind Einzelfälle, so schmerzhaft sie für die Betroffenen auch sein mögen. Mit dem Aufkommen einer neuen Bebauungsstrategie hat sich das jetzt geändert: Durch den Ansatz der „komplexen Gebietsentwicklung“ (KGE) sind Tausende von Garagen vom Abriss bedroht.
In Rjasan wurden 2016 etwa 700 Garagen der „Tscheresowski“-Genossenschaft abgerissen. Ein großer Bauträger sollte dort kurzfristig eine Uferstraße errichten, die es bis heute nicht gibt. Er bot den Besitzern 12.000 Rubel [damals etwa 185 Euro – dek] je Blechgarage.
In Ufa fielen schon vor sechs Jahren 500 Blechgaragen der Räumung zum Opfer, und vor einem Jahr wurden im Rahmen der KGE der Abriss von 300 festen Garagenbauten sowie die Rodung des benachbarten Waldes angekündigt.
Die Stadtverwaltung von Nowosibirsk hat in drei Jahren 8.700 Blechgaragen beseitigt, und bald sollen 9.400 weitere verschwinden. Das private Eigentum musste neuen Wohnhäusern weichen, von denen einige bereits stehen und andere noch in Planung sind.
In Tjumen wurden infolge der KGE 200 Garagen in der Jelisarowa-Straße und weitere 42 in der Daudelnaja-Straße beschlagnahmt.
In Samara wurden vor zwei Jahren im Zuge des Baus der Autobahn „Zentralnaja“ Rakuschka-Behelfsgaragen abgerissen, obwohl man versprochen hatte, sie bis 2025 nicht anzurühren. Die Aufkäufer der Blechabfälle zahlten 15.000 Rubel [etwa 210 Euro – dek] pro Garage.
In Moskau werden im Rahmen der KGE nicht nur Garagen, sondern auch mehrstöckige Parkhäuser abgerissen.
Die Beseitigung tausender Garagen in Nowosibirsk galt im Vorjahr als das landesweit umfassendste derartige Projekt. In diesem Jahr stellt Twer den Negativrekord auf. Bezeichnenderweise fanden dort bereits öffentliche Anhörungen zur Frage der Übertragung von Grundstücken für die Wohnbebauung statt, bevor von einem Abriss des Garagenbestands überhaupt konkret die Rede war. Auf dem größten Teil des betreffenden Grundstücks befinden sich über 2000 Backsteingaragen.
Die Autokooperative Nr. 9 ist eine der größten Garagengenossenschaften in Twer. Sie umfasst 2.050 Backsteingaragen, die sich zum großen Teil im Privatbesitz ihrer Nutzer befinden. Ringsum liegen die Kläranlagen des „Twerwodokanals“, die Strafkolonie Nr. 1, die Chemiemülldeponie „Chimwolokna“ und zwei Friedhöfe. Dieses Gelände möchte die Stadtverwaltung im Rahmen der KGE zur Bebauung bereitstellen.
Eine beliebte satirische Tragikomödie des sowjetischen Filmregisseurs Eldar Rjasanow heißt Die Garage. Das „Garagenleben“ wird wissenschaftlich erforscht und es werden sogar Bücher darüber geschrieben.
Eldar Rjasanows satirische Komödie „Die Garage“ erschien im Jahr 1979. Die Mitglieder einer Garagenbaugenossenschaft stellen fest, dass eine Garage weniger gebaut wird, als Mitglieder in der Genossenschaft sind. Wer muss verzichten? Ein Kammerspiel über demokratische Entscheidungsfindung im realexistierenden Sozialismus / YouTube
Der erste, der sich aus wissenschaftlicher Sicht mit diesem Thema befasst hat, ist der Soziologe Simon Kordonski, Inhaber des Lehrstuhls für lokale Selbstverwaltung an der Higher School of Economics in Moskau. Die Garagen – so sein Befund – bilden einen eigenen, vorwiegend handwerklich geprägten Wirtschaftssektor, der es armen Familien erleichtert, ihre Existenz zu sichern. Kordonski vergleicht die Tätigkeit in den Garagenwerkstätten mit der Datschenwirtschaft und der industriellen Saisonarbeit der Landbevölkerung. Die „Garagentätigkeit“ ist keine industrielle Serienfertigung; sie produziert Unikate. Ein Beispiel ist der Meistertüftler Nail Poroschin, der in seiner Garage Vergaser so gekonnt umrüstet und verbessert, dass ihn Kunden aus ganz Russland aufsuchen. Sein YouTube-Kanal erlangte schon vor zehn Jahren große Beliebtheit und hat über 600.000 Abonnenten.
Gekleidet in sommerliche Garagen-Kluft gibt der Vergaser-Spezialist Nail Poroschin eine Lektion über Zündkerzen. Mehr als 1,8 Millionen Aufrufe hat das Video / YouTube
„Die Gewerbetreibenden in den Provinzen setzen auf Selbstversorgung. Der Staat ist ihnen gleichgültig, sie sind nicht von ihm abhängig“, sagt Kordonski. „Er versucht zwar, sie aus dem Schatten zu holen, durch Gesetze einzuengen und Steuern einzutreiben. Aber letztlich ist es schlicht nicht möglich, sie in normative Vorschriften zu zwängen. Sie werden immer Schlupflöcher finden, um ihr Geschäft weiter zu betreiben, auch wenn sie gewisse Verluste in Kauf nehmen müssen.“
Im Sektor der „Garagenwirtschaft“, wie Kordonski sie nennt, sind in den großen, aber armen Städten Russlands im Durchschnitt 15 % der arbeitsfähigen Bevölkerung tätig.
In der Perestroikazeit wurden ganze Industriezweige in Garagen geboren – etwa die moderne Möbelproduktion in Kusnezk, das heute als Möbelhauptstadt Russlands gilt. Die einen stellten in ihren Garagen Tischplatten her, andere Tischbeine, wieder andere Hocker. Heute sind in der Stadt etwa 150 offiziell eingetragene Möbelunternehmen ansässig; die inoffiziellen eingerechnet sind es ungefähr 300. Damit kommt auf 266 Kusnezker Bürger, einschließlich der Kinder und Rentner, ein Möbelunternehmen. Inzwischen sind die Betriebe in modernen Werkhallen untergebracht.
Heute, wo die Kosten für das Kaufen oder Mieten einer Wohnung ins Unvorstellbare gestiegen sind, werden Garagen auch in Wohn- und Unterhaltungsräume umgewandelt. Wer sich dringend am Meer erholen möchte, aber nur wenig Geld hat, kann Unterschlupf in einer preiswerten Garage – oder besser gesagt, Bude – finden, wie sie in großer Zahl inseriert werden. So kann man etwa in Sotschi schon ab 10.000 Rubel [100 Euro] monatlich einen Garagenraum von 30 Quadratmetern in Strandnähe mieten.
Garagen sind zu Fotostudios, Ferienapartments, Festsälen und sogar zu Saunas umgebaut worden.
Sergej Selejew und Alexander Pawlow haben in ihrem Buch Garaschniki [Die Garagenbesitzer (PDF)] die Evolutionsgeschichte der Garagen beschrieben: Zunächst waren sie Standardbauten für das Abstellen von Autos. Dann wurden sie angepasst, um Gemüse darin lagern zu können. Als nächstes folgten die Unterkellerung und die Aufstockung mit einer Etage zum Ausspannen. Später wurden die Garagen zu Handels- und Gewerberäumen und schließlich zu Wohnungen.
Nach der Überzeugung einiger Fachleute geht die Ära der Garagen ihrem Ende entgegen; sie würden zum einen durch Parkplätze im Hof der Wohnhäuser, zum anderen durch Kfz-Werkstätten ersetzt. Aus Daten, die die Onlineplattform Avito 2022 veröffentlichte, geht jedoch hervor, dass die Zahl der Kaufinteressenten für Garagen in Russland zum Ende des dritten Quartals um 8 Prozent höher lag als im Vorjahreszeitraum. Im Vergleich zum vorherigen Quartal war die Nachfrage nach Garagen sogar um 15 Prozent gestiegen.
Die Sicht der Stadtforschung
Die Sympathie für die Garagen wird nicht von allen geteilt. Die moderne Stadtforschung betrachtet die Garagengenossenschaften unter dem Gesichtspunkt der effizienten Flächennutzung.
Lew Wladow, der bis zum Februar 2022 das Stadtplanungsprojekt Tscheljabinskij Urbanist leitete, ist überzeugt, dass Garagengenossenschaften in Stadtlage heute nicht mehr vonnöten sind:
„Eine typische Stadt in Russland unterscheidet sich von europäischen Städten durch ihre geringe Bebauungsdichte. Garagengenossenschaften, die zu Sowjetzeiten auf Brachflächen und am Stadtrand bauten, befinden sich heute oft in einer relativ zentralen, für die Stadtentwicklung relevanten Lage, weil die Städte weiter gewachsen sind.
Für die Stadt (und die Bürger) ist eine Garage ein äußerst ineffizientes und unattraktives Gebäude, das in keiner Weise zur städtischen Wirtschaft beiträgt und dem Haushalt nichts einbringt. Sie belegt nur wertvolle Fläche, auf der Stadtbewohner leben und arbeiten könnten, ohne ein Auto zu brauchen, weil sich die gesamte soziale Infrastruktur in der Nähe befindet.
Braucht es Garagen in der Stadt?
Garagen belegen heute wertvolle Flächen, die zur Stadtverdichtung genutzt werden könnten, was dringend nötig wäre, um die Attraktivität der Straßen in den Städten Russlands zu erhöhen. Stattdessen werden neue Stadtteile am Stadtrand und auf Brachflächen errichtet, was wiederum dazu führt, dass neue Straßen und Autobahnen gebaut werden und der Bedarf an Parkplätzen weiter zunimmt. Dadurch werden Lebensqualität und Lebensfreude in der Stadt systematisch beeinträchtigt.
Deshalb sollten die Regeln für Garagenbesitz revidiert werden. Das Ziel sollte sein, den Verkauf von Garagen zu fördern, damit die Flächen effizienter genutzt werden können, und dafür zu sorgen, dass von dem durchaus hinterfragbaren Recht einer Privatperson, 30 Quadratmeter Land im Stadtzentrum zu besitzen, für die sie praktisch nichts bezahlt hat, auch die Stadtbewohner profitieren. Zu diesem Zweck könnte die Grundsteuer auf Garageneigentum auf den in der Stadt allgemein geltenden Satz erhöht werden.
Der Bürgerrechtler Denis Galizki aus Perm hat sich in seinem Blog mit dem „sowjetischen Garagenerbe“ befasst. Seiner Meinung nach hängt es von der Situation vor Ort ab, ob Garagen nötig sind oder nicht. Während Autobesitzer ihr Auto früher nur nutzten, um aufs Land oder auf ihre Datscha zu fahren, und auch das nur in der warmen Jahreszeit, steht es heute vor der Haustür und wird täglich genutzt. Und es kommt auch weit seltener vor, dass Garagen als Kfz-Werkstätten dienen, weil Autos heute viel komplexer konstruiert sind als früher.
Die zweite Meinung: Braucht es Garagen in der Stadt?
„Das Schicksal der Garagengenossenschaften hängt von ihrer Lage ab – davon, ob sie sich in einer Kleinstadt oder Großstadt, im Zentrum oder am Stadtrand befinden. Je größer die Stadt und je zentraler die Lage, desto teurer sind die Grundstücke. Das macht es wirtschaftlich unrentabel, die Garagen stehen zu lassen. Sie werden früher oder später durch eine geeignetere Wohn- oder Gewerbebebauung ersetzt. In kleinen Ortschaften und am Stadtrand kommt es hingegen durchaus vor, dass die Garagen ähnlich weitergenutzt werden wie schon zu Sowjetzeiten.“
Selbst wenn eine Garagengenossenschaft seit langem einen anderen Zweck verfolgt, darf die Gemeinde sie nicht einfach auflösen, sondern muss ihr ein Ausweichgelände anbieten, etwa am Stadtrand. „Genau das macht Stadtplanungspolitik aus“, erklärt der Stadtforscher Galizki. Es sei wichtig, aktiv mit der Bevölkerung zu kommunizieren und dafür zu sorgen, dass für die Garagen ein angemessener Kaufpreis gezahlt wird, damit die Besitzer sich nicht betrogen fühlen.
„Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten“, lautet Galizkis Fazit. „Die Garagen werden verschwinden. Aber das muss auf organische Weise geschehen. ohne Tragödien und ohne dass es als Verletzung des Rechts auf Eigentum empfunden wird.“
Der pensionierte Architekt Alexej Kisselew (Name auf Wunsch des Betroffenen geändert) ist überzeugt, dass der Abriss der Garagen sich weiter beschleunigen wird: Der Stadtverwaltung sei es gleichgültig, ob die Leute ihre Garagen brauchen; sie sei genauso wie die Bauträger nur am Profit interessiert.
„Ich habe dem Stadtbaudirektor schon 2007 gesagt, dass wir bei der Planung von Stadtvierteln die Anzahl der Parkplätze berücksichtigen müssen, weil hier schon fast auf jede Familie ein Auto kommt. Wenn in der Stadt also zweihunderttausend Familien wohnen, braucht es auch ebenso viele Parkplätze. Er hat mich ausgelacht: ‚Wie sollen wir das denn durchsetzen?‘ Einerseits wird Falschparken bestraft, andererseits gibt es keine legalen Parkplätze. Erst heißt es: ‚Ohne Garage brauchst du dir gar nicht erst ein Auto zu kaufen‘ und dann werden die Garagen einfach abgerissen. Wo bleibt da die Logik?“
Die dritte Meinung: Garagen sind notwendig
Garagenkomplexe sind für die Bevölkerung nützlich, für Bauträger und Lobby hingegen nicht, weil sie zu viel Fläche einnehmen, auf der Geschäftsbauten errichtet werden könnten.
Statt nur über die Garagen sollte man besser allgemein über Stadtplanungspolitik sprechen. Ganz banal gesagt: Diese Politik ist insgesamt falsch, wenn nicht sogar kriminell. Russland hat Raum genug, eine verdichtende Bebauung ist hier nicht üblich. Psychologen haben gezeigt, dass sie sich ungünstig auf die menschliche Psyche auswirkt. Der Platz reicht aus, um sowohl Garagen als auch hohe und weniger hohe Häuser zu bauen, ohne dass sie sich gegenseitig im Weg sind. Aber unser „nationaler Leader“ hat angeordnet, Milliarden Quadratmeter Wohnfläche zu schaffen – und seine Untergebenen haben aufs Geratewohl losgebaut. Nicht, wo und wie es für die Menschen am passendsten war, sondern um des Profits willen. Inzwischen ist man schon so weit, Eigentum zu „expropriieren“.
Die „Räumung“ der Garagen
Die ersten Garagen in Russland wurden nach jetzigem Kenntnisstand im Jahr 1907 errichtet. Später gab es jahrzehntelang nur staatliche Autohöfe. In den 1960er Jahren wurde ein Dekret über die Gründung von Garagenbaugenossenschaften erlassen. Die Garagen hatten quasi den Status von Eigentum, das jedoch gemeinsam, genossenschaftlich organisiert war. In den 1980er Jahren kamen dann die Rakuschki auf – behelfsmäßige Garagen, die offiziell als Unterstände für Autos galten. Sie wurden zu Tausenden gekauft und auf Flächen aufgestellt, wo dies genehmigt wurde. Seit 2006 gelten sie als illegal und es heißt, sie würden „das Stadtbild verschandeln“.
In den festen Garagenbauten wie in den blechernen Rakuschki sind Jungen an der Seite ihrer Väter groß geworden. Sie nahmen Zauberworte wie „Jawa “, „Vergaser“, „Aufhängung“, „Lager“ oder „Motor“ auf, wuchsen heran und erlernten einen Beruf. Ist das nicht genau die Kontinuität der Generationen, das Erbe der Väter, von dem die Propagandisten in einem fort sprechen? Heut versuchen diese längst erwachsenen Jungen an verschiedenen Orten, ihr Eigentum, das mit der Änderung der Staatsordnung legalisiert wurde, zu verteidigen. Denn auf einmal stellt sich heraus, dass Eigentum nur so lange Eigentum ist, wie es vom Staat nicht benötigt wird. Die Medien begannen den Abbau von Garagen sogar als „Säuberung“ zu bezeichnen, so wie man im Krieg das Gelände vom Feind säubert.
In Deutschland ist hingegen bis heute die Anekdote von Friedrich dem Großen lebendig, der sich beim Anlegen eines Parks an einer Mühle störte, die „die Umgebung verschandelte“. Er machte dem Müller ein Kaufangebot. Dieser lehnte ohne zu zögern ab, denn die Mühle war das Erbe seiner Vorfahren, sein Handwerk, sein Leben. Der König sagte erstaunt: „Weiß Er wohl dass ich Ihm seine Mühle nehmen kann, ohne einen Groschen dafür zu geben?“ Worauf der Müller erwiderte: „Ja, Euer Majestät, wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre.“
Schätzungen zufolge gibt es in Russland mindestens 5,5 Millionen Garagen. Der Staat ist mächtig genug, um sie alle zu „räumen“. Aber auch die Millionen „Garagenjungen“ sind womöglich stark genug, um ihren Besitz zu verteidigen.
Seit seiner Jugend beschäftigt Wladimir Kara-Mursa der Widerstand gegen Diktaturen. Als junger Journalist drehte er Dokumentarfilme über das Leben sowjetischer Dissidenten. Später setzte er sich in Washington für die Verabschiedung des sogenannten Magnitski-Gesetzes ein, das Sanktionen gegen russische Politiker und Beamte vorsieht, wenn sie an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Er überlebte zwei Giftanschläge, die mutmaßlich vom selben FSB-Kommando verübt wurden, das auch den Anschlag auf Alexej Nawalny begangen haben soll. Im April 2023 verurteilte ein Moskauer Gericht Wladimir Kara-Mursa wegen der „Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee“, der „Mitwirkung bei einer unerwünschten Organisation“ und wegen „Hochverrats“ zu 25 Jahren Straflager. Kara-Mursa hat immer offen darüber gesprochen, dass er Kraft und Mut für seine Arbeit aus dem Glauben schöpft. Das christliche Portal Mir Vsem (dt. Friede sei mit euch) hat ihn gefragt, wie er seinen Glauben in der Haft praktizieren kann und wie er die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine beurteilt.
Mir Vsem: Sie sind jetzt schon zwei Jahre hinter Gittern. Wie hat sich diese Zeit auf Ihr Selbstverständnis als Christ ausgewirkt, und auf Ihr Verhältnis zum Glauben und zur Kirche?
Wladimir Kara-Mursa: Mein Verhältnis zum Glauben und mein Selbstverständnis als Christ haben sich nicht verändert. Und das gilt auch für das Verhältnis zur Kirche. Aber natürlich setze ich die Kirche weder mit ihrem Verwaltungsapparat gleich noch mit einzelnen Amtsträgern, auch nicht mit den höchstgestellten. Das hat mich Vater Georgi Edelstein gelehrt, ein sehr weiser und lauterer Mensch und, wie ich finde, ein wirklicher christlicher Geistlicher. Er betont immer – auch in seinen Büchern und in unserem gemeinsamen Film Die Pflicht, nicht zu schweigen von 2019 –, dass man die Kirche Christi nicht nach dem Verhalten einzelner Personen beurteilen darf, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Namen auftreten. Diese Personen können sich sehr unwürdig verhalten, aber das macht nicht das Wesen des Glaubens und der Kirche aus. Auch heute sind in meinen Augen die verfolgten Priester, die ihre Stimmen gegen Krieg, Blutvergießen und Brudermord erheben, diejenigen, die das eigentliche Wesen des Christentums und der Orthodoxen Kirche zum Ausdruck bringen – und nicht die kirchlichen Würdenträger, die ihnen deswegen verbieten, Gottesdienste abzuhalten und ihnen das Amt aberkennen. Diese verfolgten Geistlichen, die, um mit Martin Niemöller zu sprechen, nicht bereit sind, „auf menschliche Anordnung hin das zu verschweigen, was Gott uns zu sagen gebietet“, retten heute meiner Ansicht nach die Ehre der Russisch-Orthodoxen Kirche.
Sie standen vor der Entscheidung zwischen Ihren Prinzipien, die Sie in die Opposition geführt und schließlich ins Gefängnis gebracht haben, und dem nachvollziehbaren Wunsch, das zu vermeiden und Ihren Angehörigen Leid zu ersparen. Ist Ihnen die Wahl schwergefallen?
Es gibt ein großartiges Buch von Ljudmila Ulitzkaja. Es heißt Die Dichterin und ist dem Andenken an die Lyrikerin Natalja Gorbanewskaja gewidmet, mit der sie befreundet war. Gorbanewskaja nahm im August 1968 an der Demonstration der Sieben teil – sieben Menschen [sic!], die auf dem Roten Platz gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierten. Ulitzkaja schreibt über sie: „Sie wollte Gott keinen Kummer machen. Sie war keine Heldin, sie war nicht auf Märtyrertum und Probleme aus. Sie hatte einfach keine andere Wahl.“ Das trifft es sehr genau. In solchen Zeiten, in denen Böses im Namen des „ganzen Volkes“, des „ganzen Landes“ getan wird, kann man nicht schweigen, sich abwenden, ignorieren – denn das würde bedeuten, dass all diese Taten auch in meinem Namen begangen werden. Deshalb gab es keine Wahl – Schweigen wäre für mich eine Form der Zustimmung gewesen. Und aus sicherer Entfernung zu reden, entspricht nicht meiner Vorstellung von der Verantwortung eines Politikers, der in der Öffentlichkeit steht. Aber Sie haben ganz recht damit, nach den Angehörigen zu fragen. Die Familien der politischen Gefangenen haben an dieser Last viel schwerer zu tragen als wir selbst.
Mir ist es leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen
Haben Sie die Möglichkeit, die Gefängniskirche zu besuchen oder einen Geistlichen zu sprechen? Wie läuft das ab? Nehmen Sie an den Sakramenten teil?
In den beiden Straflagern, zwischen denen ich in Omsk hin- und her verlegt werde gibt es zwar Kirchen, aber als „böswilliger Regelverletzer“, der im internen Lagergefängnis eingesperrt ist, darf ich sie nicht aufsuchen – so wie ich mich generell nicht auf dem Gelände des Lagers bewegen und keinen Kontakt zu anderen Häftlingen aufnehmen darf. Deshalb ist es mir leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen. Wenn ich beichten und das Abendmahl empfangen will, muss ich einen schriftlichen Antrag beim Leiter der Kolonie stellen. Dann sucht mich ein Geistlicher in Begleitung von Mitarbeitern des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN auf und vollzieht die Sakramente – entweder direkt in der Zelle oder in einem Dienstgebäude, zum Beispiel in der Sanitätsabteilung. Nach dem Strafgesetzbuch haben Gefangene das Recht, einen Geistlichen ihrer Wahl kommen zu lassen, damit sie auch im Gefängnis die Möglichkeit haben, Verbindung zu ihrem Seelsorger zu halten. Das ist sehr wichtig, doch bisher habe ich diese Möglichkeit nicht nutzen können. Im Moskauer Gefängnis hat mich Vater Alexej Uminski regelmäßig besucht, und im Winter wurden die nötigen Verwaltungsmaßnahmen in Gang gesetzt, damit er hierher kommen kann. Aber um die Weihnachtszeit wurde er dann wegen seiner Antikriegshaltung des Amtes enthoben, und ich erhielt von der Bezirksverwaltung des FSIN eine Absage. Der Rat und die Unterstützung eines Seelsorgers sind für mich schon im normalen Alltag sehr wichtig, und umso mehr im Gefängnis.
Können Sie in der Zelle beten? Und wie reagieren die Zellengenossen darauf?
Ich bete täglich, in der Regel morgens und zur Nacht. Alle Gebete verrichte ich hier nur still für mich und nur in der Zelle. Seit meiner Verlegung nach Sibirien im letzten Frühherbst befinde ich mich permanent in Einzelhaft, deshalb stellt sich die Frage nach den Zellengenossen nicht.
Die innere Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen
Es ist immer wieder zu hören und zu lesen, Freiheit sei etwas Inneres, man könne sich auch im Gefängnis frei fühlen. Das klingt gut, aber stimmt es auch?
In gewissem Sinn stimmt es tatsächlich. Wie ich gehört – oder besser gesagt, in einem Brief gelesen – habe, ist kürzlich ein Sammelband mit Schlussworten politischer Gefangener erschienen. Sie wurden eingesperrt, weil sie sich in Russland öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen haben (Anm. der Redaktion: Es geht um den Band Golosa rossiiskogo soprotiwlenija, dt. Stimmen des russischen Widerstands). Und vielen fällt auf, dass sich diese Menschen, die im Gefängnis sitzen, viel freier und offener äußern als diejenigen, die einstweilen in Freiheit sind. So war es auch schon zu Sowjetzeiten: Die Dissidenten sagten vor Gericht Dinge, für die alle andern sofort ins Gefängnis gekommen wären, denn sie waren ja schon dort. Diese innere Freiheit, die Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen. Aber die körperliche Unfreiheit in Raum und Zeit, die Tatsache, dass du nicht die Freiheit hast, bei deiner Familie zu sein, spürst du hier jeden Tag und jede Minute. Und das ist sehr belastend.
Erleben Sie die Unfreiheit als Prüfung für Ihren Glauben?
Es wäre unlauter, wenn ich das vollkommen verneinen würde. Im Großen und Ganzen nein. Aber meine Gedanken und Gefühle haben sich über die letzten gut zwei Jahre gewandelt. Auch wenn ich weiß, dass alles Gottes Wille ist, wie im Buch des Propheten Jeremia (29,11) geschrieben steht, dass nur der Herr weiß, was er mit jedem von uns vorhat, und dass Kleinmut für einen Christen Sünde ist, so ist es nicht immer leicht, gegen die rein menschlichen Empfindungen der Ungerechtigkeit, Verzweiflung und Schwermut anzukämpfen. Vor allem, wenn man die ganze Zeit völlig allein ist. Und man trägt seine Prüfung nicht immer mit der geschuldeten Demut.
Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat
Der Priester und Märtyrer Wassili Sokolow schrieb seinen Angehörigen 1922 aus dem Gefängnis: „Jedes Leiden gereicht dem Menschen und seiner unsterblichen Seele zum Vorteil.“ Glauben Sie, dass das, was Sie zurzeit durchmachen, gut für Ihre Seele ist?
Ich bin diesem Gedanken bei Menschen, die die Erfahrung der Gefangenschaft gemacht haben, häufig begegnet. Alexander Solschenizyn hat im Archipel GULAG geschrieben, er habe im Gefängnis seine „Seele großgezogen“ und es dafür gesegnet, dass es in seinem Leben gewesen ist. Im Moment kann ich Ihnen nicht antworten: „Ja, das ist es, was ich empfinde.“ Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat.
Haben Sie Zugang zu christlicher Literatur? Was lesen Sie gerade, was haben Sie in den beiden letzten Jahren gelesen?
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in Freiheit wenig in der Heiligen Schrift gelesen habe. Aber während der Haft habe ich alle fünf Bücher Mose, die vier Evangelien, die Apostelgeschichte und einige weitere Bücher der Bibel gelesen, aus dem Alten und Neuen Testament. Die Bergpredigt, die für mich den Kern des Christentums darstellt, habe ich immer wieder gelesen und lese sie weiterhin. Ich bin mit sieben Jahren Christ geworden. Damals bat ich meine Mutter darum, getauft zu werden. Das war Ende der 1980er Jahre, noch zur Zeit der Sowjetunion. Seither spielt der Glaube eine große Rolle in meinem Leben. Und es ist mir wichtig, jetzt, im fünften Jahrzehnt meines Lebens, bewusst und reflektiert die Bibel zu lesen und die Entscheidung, die ich im Alter von sieben Jahren getroffen habe, nochmals zu bekräftigen.
Es gibt die russische Gefängnisregel: „Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte um nichts.“ Passt das zu einem gläubigen Menschen?
Im Verhältnis zu Gott natürlich nicht, in keinem dieser drei Punkte. Aber die Regel bezieht sich ja nicht auf das geistliche Leben der Gefangenen. Als praktischer Ratschlag für das Überleben im Gefängnis hat sie nichts an Aktualität verloren.
Eine junge Frau steht in einem Treppenhaus, auf Wände und Decken fällt kühlweißes Neonlicht, andere Bereiche liegen im Schatten, wo auch diese Frau steht, die nur schwer zu erkennen ist. Dieses eindrucksvolle Foto ist das Cover des Buches, das enstanden ist aus dem Projekt Connecting einer belarussischen Fotografin, die anonym bleiben möchte. Das Foto steht metaphorisch für die Schwierigkeiten des Ankommens in einem anderen Land, an einem fremden Ort, für das Dazwischensein, in dem Migranten leben, für die Suche nach lichten Orten, die einem helfen anzukommen, sich selbst zu finden in einer neuen Umgebung.
Die Fotografin hat sich genau dies zur Aufgabe gemacht: Menschen, die aus vielen anderen Ländern in die polnische Stadt Wrocław gekommen sind, an den Orten zu fotografieren, zu denen sie auf der Suche nach Halt und Orientierung eine Verbindung aufgebaut haben. Es ist auch ein Prozess, den Hunderttausende Belarussen durchmachen, die nach den Ereignissen im Jahr 2020 ihre Heimat verlassen mussten. Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl von Bildern aus ihrem Projekt.
KK: Das Projekt Connecting entstand, als ich aus Belarus nach Polen zog. Ich hatte mich für den Studiengang für bildende Kunst MFA (Master of Fine Arts) an der Akademie für bildende Kunst und Gestaltung in Wrocław beworben und wurde zu meinem Erstaunen angenommen – zusammen mit elf weiteren großartigen Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt. Ich hatte nicht vorgehabt, nach Polen zu ziehen, aber ich konnte mir diese Chance nicht entgehen lassen. Und mein Mann dachte damals schon, dass es für uns immer schwieriger werden würde, in Belarus zu leben und unsere Kinder dort großzuziehen. Als ich Ende August 2019 in Wrocław ankam, fühlte ich mich – abgesehen von der Begeisterung über das neue Studium – vollkommen fremd. Wir kannten dort keine Leute, die wir um Unterstützung hätten bitten können. Ich hatte gedacht, ich sei organisiert und verantwortungsbewusst genug, um all die bekannten Probleme rund um die Auswanderung vorherzusehen und damit umzugehen. Aber die Wirklichkeit war dann ganz anders. Ich kam da nicht raus – ich fühlte mich völlig verloren. Um diese Situation psychisch zu bewältigen, traf ich andere Leute an der Akademie und anderen Orten. Ich begann, sie zu fragen und Erfahrungen auszutauschen, die ich bei dem Versuch machte, mich in der neuen, schönen, seltsamen und bis dahin entfernten Stadt Wrocław selbst zu finden. Die Kamera diente als Vorwand sich zu treffen und zugleich als Tool, um meine Gedanken und Gefühle zu analysieren.
Warum haben Sie Belarus schließlich vollends den Rücken gekehrt?
Ich bin in Minsk geboren und habe mein ganzes Leben dort verbracht. Und ich hatte wie gesagt auch nicht vor, Belarus zu verlassen. Aber im nächsten Jahr dann, 2020, passierte die Sache mit den Präsidentschaftswahlen. In der ersten Nacht der Anti-Regierungs-Proteste hielten meine Töchter die Schüsse für Feuerwerk. Da wurde uns klar, dass es kein Zurück mehr gab. Am nächsten Tag fuhren wir nach Polen, ohne moralisch oder finanziell darauf vorbereitet zu sein.
Wie war das Ankommen in einem fremden Land für Sie?
Ich kam also zweimal an, und beide Male waren schwierig. Beim ersten Mal war es dieser typische Migrationsprozess. Du glaubst, du weißt, was du tust und hältst dich für halbwegs vorbereitet. Aber du hast nie darüber nachgedacht, was es eigentlich wirklich heißt, bei Null anzufangen. Ganz einfache Dinge – das Lebensmittelgeschäft, die Apotheke, die Werkstatt, das Verwaltungsbüro, die Schule – musst du dir neu zusammensuchen. Du musst alle Formalitäten auf einmal erledigen, noch dazu in einer Fremdsprache. Mein Studium war auf Englisch, deshalb konnte ich kein Polnisch und hatte auch keine Menschen zum Üben. Ich habe einmal gelesen, dass eine Migration so etwas wie ein kleiner freiwilliger Tod ist. Heute kann ich das absolut verstehen. Auch wenn ich damals nicht begriff, warum Leute von Entbehrungen, Sorgen, Depressionen und Psychologen reden.
Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen
Ich weiß nur noch, dass ich zu dieser Zeit wie besessen Bilder mit einer Polaroid-Kamera aufnahm. Vielleicht war das für mich der einzige Prozess, den ich mehr oder weniger unter Kontrolle hatte und bei dem ich schnell Ergebnisse erzielen konnte. Du drückst auf den Auslöser und hast das Foto. Anders als bei all den anderen Sachen, die sich lange hinzogen und deren Ausgang ungewiss war. Die zweite Ankunft war für mich die Rückkehr nach Polen nach den Wahlen von 2020. Diesmal war es wegen des politischen Hintergrunds und der Covid-Einschränkungen einfach nur furchtbar. Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast oder es dir vielleicht sogar gestohlen wurde. Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen. Wir bekamen mit, was mit unseren Freunden, mit den Menschen in Belarus, geschah, und empfanden Hilflosigkeit, Scham und Frustration. Ich brauchte eine Weile, um auf all diese Ereignisse zu reagieren. 2022 begann ich mit dem Projekt My Hut is on the Edge, in dem ich die zeitgenössische Ignoranz gegenüber sozialen und politischen Themen visuell interpretiere.
Wie haben Sie die Menschen für Ihr Projekt ausgewählt?
Die Menschen, die ich für das Projekt Connecting fotografiert habe, waren unterschiedlicher Herkunft. Ich begann mit Leuten aus dem Ausland, die in irgendeiner Beziehung zur Akademie standen, und ihren Bekannten. Wrocław ist eine sehr internationale Stadt. Durch das Zusammentreffen mit meinen Protagonistinnen und Protagonisten wurde die Erfahrung, sich in einer fremden Stadt selbst zu finden, zu einer gemeinsamen, und zugleich lernte ich die Stadt auf diese Weise kennen. Für mich ist auch Wrocław eine Protagonistin dieses Projekts. Es hat eine einzigartig komplexe Geschichte mit zahlreichen Migrationsbiografien, mit denen ich mich später auch in meinem Fotoprojekt Locals beschäftigt habe.
Die Ausländerinnen und Ausländer, die ich getroffen habe, kamen aus allen Regionen der Welt – zum Beispiel Yukako Manabe aus Japan, Polina Schumkowa aus Russland, Fatima García aus Costa-Rica, Maryam Abid aus Pakistan oder Filippo Gualazzi aus Italien. Die meisten waren zum Studium nach Polen gekommen, aber manche arbeiten auch in internationalen Unternehmen. Eines ist interessant: Ich dachte, je weiter das eigene Land entfernt ist, desto weniger spürt man Wrocław. Aber ganz so ist es nicht. So hat etwa Nicolas Crocetti aus Italien gesagt, die großen Unternehmen wie McDonalds und Zara seien das Einzige, was seinen Heimatort und Wrocław verbinde. Ausländer und ein paar offene Menschen aus Polen machen ihm das Leben zwar leichter, aber im Großen und Ganzen fühlt er sich in dieser Stadt wie ein Fremder.
Was sind das für Orte, zu denen Sie selbst eine Verbindung spüren?
Ich suche noch immer nach meinem Ort. Oder genauer gesagt, mir ist klar geworden, dass mein Ort zurzeit vielleicht keine geografischen Koordinaten hat. Er ist immer bei mir, und ich nehme ihn überall hin mit. Zumindest kann ich mir so meine Beziehung zu Wrocław erklären. Natürlich bewundere ich seine Architektur und Geschichte. Aber vor kurzem habe ich festgestellt, dass mich viele nostalgische, sentimentale Gefühle überkamen, als ich durch die Plattenbauviertel lief. Der Stil ist dort eher postsowjetisch, aber er ist mir so verständlich und nahe. Vielleicht arbeite ich deshalb jetzt an meiner Serie Betonia.
Sehr viele Belarussen mussten ihre Heimat verlassen. Kann solch ein Projekt auch Ihnen helfen, Orientierung in einem neuen Leben zu finden?
Viele sagen, dass Fotografie eine Art Therapie ist. Sie sehen die Arbeit an Fotoprojekten als Heilungsprozess. Ich würde dem zustimmen und zugleich widersprechen. In einer Therapie arbeitet man die Probleme durch und reflektiert sie nicht nur. Bei der Arbeit an einem Fotoprojekt kann es vorkommen, dass man intensiv über den Stoff nachdenkt und zu bestimmten Schlüssen kommt. Aber vielleicht passiert das auch nicht. Wenn man ein Problem fotografisch bearbeitet, wird man es nicht unbedingt los. Deshalb überrascht es mich nicht, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen psychologische Hilfe in Anspruch nehmen mussten. Fotografie ist ein großartiger Vorwand, um eine Zeitlang vor seinen Problemen zu fliehen und bringt eine gewisse Freude und Befriedigung. Aber sie hat vielleicht nicht so großartige Heilkräfte. Trotzdem finde ich es wichtig, solche fotografischen Praktiken zu unterstützen – für die Künstlerinnen und Künstler, aber auch für das Publikum, damit es erfährt, dass solche Schwierigkeiten, Situationen, Probleme und Gefühle existieren. Die Erfahrung der Umsiedlung wird meiner Meinung nach die Belarussen auf alle Fälle verändern. Nicht nur wegen des Traumas, das wir durchleben, sondern auch wegen des neuen Umfelds, der Menschen und Erfahrungen, die uns bereichern.
Wie reagieren die Menschen auf die Fotos in dem Projekt?
Ich glaube, mein Projekt ist ein etwas naiver, aber aufrichtiger Versuch, mich mit mir selbst und der Stadt anzufreunden – offen zu sein für neue Erfahrungen, für Menschen und das Leben überhaupt. Ich bin in diesem Projekt eher eine Beobachterin und Fragenstellerin. Die Menschen oder Orte, die ich zeige, stehen für unterschiedliche Ansätze, sodass viele Menschen einen Bezug dazu finden können. Zudem geht es nicht nur um Migranten. Auch wenn man in seiner eigenen Stadt lebt, kann man sich darin fremd fühlen. Die Verbindung zwischen einer Person und einem Ort hat in meiner Arbeit also eine viel breitere Bedeutung.
Ein per internationalem Haftbefehl gesuchter mutmaßlicher Kriegsverbrecher im Propaganda-Gewand eines fürsorglichen Opas: Die sogenannten Imagemakery des russischen Präsidenten inszenieren ihn zunehmend als „gütigen Opa der Nation“. Die Philologin Xenja Turkowa beschreibt auf Holod, weshalb sie dieses Bild gebastelt haben – obwohl „Opa“ anfangs noch eine hämische Diffamierung war.
Am 8. Juli ließ der stellvertretende Chef des russischen Sicherheitsrats, Dimitri Medwedew, wieder einmal eines seiner patriotischen Postings vom Stapel, in dem er wie üblich nicht mit heftigen Ausdrücken geizte. Er nannte US-Präsident Joe Biden einen „verschlafenen Volltrottel“ und „kranken, dementen alten Mann“ und schloss mit der Vermutung: „Vielleicht ist aber auch alles ganz anders. Vielleicht hat der von kranken Fantasien geplagte sterbende Alte einfach beschlossen, einen schönen Abgang hinzulegen – das nukleare Armageddon auszulösen und die halbe Menschheit mit ins Jenseits zu nehmen …“
Medwedews Bild vom alten Biden, der die nukleare Keule schwingt
Medwedews Äußerung über „den Alten“ wurde prompt überall in den sozialen Netzwerken zitiert, allerdings aus dem Zusammenhang gerissen und umgedeutet. Bei dem Bild eines sterbenden alten Mannes, der die nukleare Keule schwingt und die halbe Welt mit in den Abgrund reißen will, dachten die Menschen an jemanden ganz anderen, als der Autor wohl beabsichtigt hatte.
Medwedews Worte sind schon die zweite öffentliche Äußerung in den letzten Monaten, bei der das Bild des Großvaters oder Opas als Anspielung auf Putin verstanden wird. Die erste hatte es in einem Monolog von Jewgeni Prigoshin gegeben, in dem der Chef der Wagner-Gruppe nach Kräften einen gewissen „Opi“ beschimpfte: „Opi ist glücklich und glaubt, dass es ihm gut geht. […] Aber was soll das Land tun, wenn sich, nur mal angenommen, plötzlich herausstellt, dass dieser Großvater eigentlich ein Flachwichser ist?“
Mit dem glücklichen Opi sei keinesfalls Putin gemeint, so Prigoshin
Prigoshin selbst erklärte dann, mit „Opi“ sei keinesfalls Putin gemeint gewesen, und bot drei Alternativen zur Auswahl an: Michail Misinzew, ehemaliger stellvertretender russischer Verteidigungsminister, Waleri Gerassimow, Chef des Generalstabs der russischen Armee, sowie Natalja Chim, ehemalige Teilnehmerin der Reality-Show Dom 2, die in den sozialen Netzwerken Kisten mit Munition feilgeboten hatte. Weshalb er für die Rolle des mysteriösen „Opas“ auch eine Frau aufführte, blieb Prigoshins Geheimnis.
Wen auch immer Prigoshin gemeint haben mag, sein Monolog und Medwedews Telegram-Post haben gezeigt, wie stark das Bild des Opas mittlerweile mit Wladimir Putin assoziiert wird.
Lange Zeit war er ein echter Superman und Macho
Der russische Präsident hat sich lange als echter Superman, Macho und Sexsymbol inszeniert: Er schwang sich mit nacktem Oberkörper aufs Pferd, tauchte nach antiken Amphoren, flog mit Kranichen, und Frauen besangen ihn und machten ihm Liebeserklärungen in den sozialen Medien.
Wann wurde aus dem Macho der „gute Opa der Nation“, und ab wann genau wurde „Großvater“ zum bevorzugten Spitznamen für Putin?
Dem Newsletter Signal zufolge verdankt er diese Bezeichnung dem Meme „Opa, nimm deine Tabletten, sonst kriegste nen Tritt in den Arsch“, das nach Alexej Nawalnys Verhaftung im Januar 2021 als Parole bei Unterstützungsaktionen verwendet wurde.
Wann wurde aus dem Macho der „gute Opa der Nation“?
In Wirklichkeit begann Putins Metamorphose jedoch schon lange davor. Anfang September 2017 erschien im Magazin The New Times die Kolumne Putin als Großvater der Nation. Der Journalist Andrej Kolesnikow verglich darin den russischen Präsidenten mit Lenin:
„Auch Putin trifft sich in letzter Zeit oft mit der Jugend – jedenfalls öfter als mit den Vertretern anderer Altersgruppen. Wladimir Iljitsch wurde „Großväterchen Lenin“ genannt, obwohl er in einem Alter war, in dem ein ordentlicher Staatsoligarch heute gerade mal seine alte Frau gegen eine neue austauscht, die besser zu seiner eben erworbenen Yacht passt. Und ja, auch Putin verwandelt sich im Lauf seiner Direkten Drähte, Tauriden und Offenen Unterrichtsstunden nach und nach vom Vater der Nation zu ihrem Opa. Die Jugend unterhält er größtenteils mit fantastischen Erzählungen über Drohnen, Marsflüge, künstliche Intelligenz und die Passionarität des russischen Volkes, dank derer es seine Souveränität für tausend Jahre sichern und ausweiten, die eigenen Stiefel im Pazifik sauber– und alle anderen im Scheißhaus kaltmachen wird.“
Tatsächlich wurden damals, 2017, einige Zusammentreffen Putins mit Studierenden und Schülern organisiert. Grund dafür war vermutlich die wachsende Popularität Nawalnys, der sich schon immer darauf verstand, eine gemeinsame Sprache mit der Jugend zu finden. Damals gab es überall im Land Kundgebungen seiner Anhänger gegen die Korruption. Laut der Politologin Maria Snegowaja „versuchten die Imagemacher des Kreml, als sie Nawalnys Popularität unter jungen Leuten bemerkten, zunächst auch Putin ein für diese Altersgruppe attraktives Image zu verleihen“. Dies habe jedoch nicht funktioniert und deshalb habe der Kreml auf das Bild des „Großvaters der Nation“ zurückgreifen müssen.
Selbst sein Markenzeichen, die politisch unkorrekten Scherze, sind schon veraltet
Die bekannte Linguistin Jelena Schmeljowa, die die rhetorischen Profile von Politikern untersucht, stellte schon 2018 in einem Interview mit dem Radiosender Golos Ameriki (Voice of America) fest, dass sich der Wandel von Putins Image vom Macho zum Großvater bereits vollzogen habe. Die Treffen mit den Schülern hätten nicht die (vom Kreml) erwünschte Wirkung gehabt, sondern Putins Unfähigkeit, die Sprache der heutigen Jugend zu sprechen, nur noch offensichtlicher werden lassen.
„Selbst sein Markenzeichen, die politisch unkorrekten Scherze, sind schon veraltet. Sie finden bei dieser Zielgruppe keinerlei Anklang. Bei einem Treffen mit Schülern des Sirius-Zentrums für hochbegabte Kinder in Sotschi stellte ein Junge eine Frage – eine sehr kluge übrigens: Er nannte seinen Familiennamen, der armenisch war, und sagte, er sei aus Tjumen. Darauf sagte Putin (ich erinnere mich nicht genau an den Familiennamen des Jungen, sagen wir Aslamasjan): ‚Aslamasjan aus Tjumen? Ist es da nicht ein bisschen zu kalt für dich?‘ Dem Jungen kippte die Kinnlade runter, er verstand das einfach nicht. Denn das ist nicht die Art von Scherzen, die bei der Jugend heute gut ankommt.“
Putin bekam das Image des drögen Großvaters verpasst
Laut Schmeljowa habe man wohl nach diesem Vorfall beschlossen, Putin das Image des redlichen, langweiligen Großvaters zu verpassen, der durch Erfahrung lebensklug ist und sich um alle kümmert.
Etwas später bestätigte auch Putin selbst, dass er sich dieses Image zu eigen gemacht hatte. Auf seiner traditionellen Pressekonferenz bemerkte er eine Journalistin, die ein Plakat mit der Aufschrift „Putin bye-bye“ hielt, und ließ ihr das Wort erteilen. Wie sich herausstellte, stand auf dem Plakat in Wirklichkeit „Putin – babai“. Die Journalistin, die aus Tatarstan kam, erklärte, dass „babai“ das tatarische Wort für „Großvater“ sei. Putin tat die Sache mit einem Scherz ab: Im Alter habe eben seine Sehkraft nachgelassen.
Beim Wettbewerb Wort des Jahres 2021 war „Bunker-Opa“ einer der Hauptkandidaten
Kurz, das Image Putins als Opa kam schon lange vor 2021 in Umlauf. Massenhafte Verbreitung, später dann noch mit dem Beiwort „Bunker-“, hat dieser Spitzname jedoch tatsächlich durch Nawalny und seine Anhänger gefunden. Beim unabhängigen russischen Wettbewerb Wort des Jahres 2021 war „Bunker-Opa“ einer der drei Hauptkandidaten.
Der Ausdruck entstand ursprünglich während der Pandemie, als viel von Putins Selbstisolierung, seiner Angst vor Ansteckung und den strikten Quarantänevorschriften für alle die Rede war, die öffentlich mit ihm zusammentrafen. Im Juni 2020 sagte Alexej Nawalny über Putin und die ungeheuren Ausgaben für die Siegesparade in Moskau:
„Kauft mit dem Geld doch Medikamente für Rentner. […] An die Parade denken die als Letztes. Aber der Bunker-Opa will seine Parade, er muss sich ja auf der Tribüne inszenieren.“
Dieser Spitzname etablierte sich später durch den Enthüllungsfilm des Nawalny-Teams zu Putins Palast in Gelendshik, in dem ein riesiger Bunker erwähnt wird.
Im Februar 2021 fügte Nawalny ihm bei seinem Schlusswort vor dem Stadtgericht in Chimki ein weiteres Beiwort an: „Der langfingrige Bunker-Opa“.
Yandex blockiert das Anzeigen von Putin-Bildern beim Suchbegriff Bunker-Opa
Im Januar 2023, auf dem Höhepunkt des Kriegs gegen die Ukraine, brachte ein großes Datenleck des Quellcodes der Yandex-Dienste an den Tag, dass die Suchmaschine das Anzeigen von Putin-Bildern blockiert, wenn der Suchbegriff „Bunker-Opa“ (bunkerny ded) eingegeben wird. Die Wörter „Ded“ und „Deduschka“ haben auf Russisch unterschiedliche Konnotationen. Inzwischen hat der Kreml jedoch offenbar mit beiden Probleme – sowohl mit dem Begriff „Ded“, der mit der Armee bzw. dem kriminellen Milieu assoziiert wird, als auch mit dem drolligen „Deduschka“ (dem Opa in Pantoffeln, der vergessen hat, seine Tabletten zu nehmen). Nach Informationen von Journalisten der Moscow Times wurde sofort nach Prigoshins Meuterei und seinen Anspielungen auf den „glücklichen Opi“ damit begonnen, auf schnellstem Weg ein neues Image für Putin zu kreieren.
Ein neuer Putin?
Der neue Putin soll nicht mehr im Bunker hocken, sondern für alle zugänglich sein – ein Präsident zum Anfassen, dem man sogar einen Kuss geben kann. Was bei Putins dritter Metamorphose nach dem Macho und dem Großvater herauskommen wird, ist noch offen. Doch es wird sicher nicht leicht werden, das neue Image durchzusetzen – gerade, weil der Spitzname schon ziemlich fest haftet. Um es mit Andrej Kolesnikows Worten aus der letztjährigen Kolumne zu sagen: „Man kann den Opa aus dem Bunker herausholen, aber nie den Bunker aus dem Opa.“
Die belarussisch-polnischen Beziehungen sind gegenwärtig praktisch inexistent. In den offiziellen Verlautbarungen beider Regierungen überwiegen wechselseitige Anschuldigungen wegen feindseliger Aktionen. Dabei ist das Narrativ der belarussischen Seite weitaus konfrontativer, was auch daran liegt, dass die belarussische Außenpolitik mehr als je zuvor den Interessen des Kreml untergeordnet ist. Dies zeigt sich gerade in dem jüngsten Konflikt um die Wagner-Söldner, die nach Prigoschins Aufstand teilweise in Belarus gelandet sind, was die polnische Regierung als Bedrohung auffasst.
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR Anfang der 1990er Jahre bot sich Polen und Belarus erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit, ihre Außenpolitik selbstständig als souveräne Länder zu gestalten. Rein theoretisch schienen die beiden Staaten auf eine Kooperation zum beiderseitigen Vorteil geradezu angewiesen zu sein. Minsk hatte keinen eigenen Zugang zum Meer und brauchte deshalb Partner unter den benachbarten Ostsee-Anrainerstaaten. Hier bot sich – neben Litauen – vor allem Polen an. Warschaus Außenpolitik wiederum orientierte sich an dem Konzept von Jerzy Giedroyc, das großen Wert auf die Unterstützung der Unabhängigkeit von Litauen, Belarus und der Ukraine legte. Darin lag eine Art Sicherheitsgarantie für Polen in der neuen politischen Geografie Europas nach dem Kalten Krieg. In der Praxis jedoch sah das alles ganz anders aus.
Die frühen 1990er: Eine kurze Phase der Offenheit
Da die polnische Elite für die Stärkung der Eigenstaatlichkeit der östlichen Nachbarländer in hohem Maße sensibilisiert war, erkannte Polen die Unabhängigkeit von Belarus – als eines der weltweit ersten Länder – schon im Dezember 1991 an. Beide Seiten konnten sich rasch verständigen und unterzeichneten schließlich am 23. Juni 1992 den Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, in dem wichtige Fragen der bilateralen Beziehungen umfassend geregelt wurden. Gleichzeitig schloss der damalige belarussische Premierminister Wjatschaslau Kebitsch mit der polnischen Seite vorläufige Abkommen über die Nutzung der Hafeninfrastruktur in Gdańsk zum Umschlag belarussischer Güter. Zudem wurde der Bau einer eigenen Breitspur-Eisenbahnstrecke zwischen Belarus und Gdańsk vereinbart. Weiterhin war die Einrichtung eines belarussischen Konsulats in Gdańsk vorgesehen, das die Import- und Exportaktivitäten des Landes über Polen unterstützen sollte.1 Dieses Konsulat (bis 2018 tätig) wurde letztlich als einziges Ergebnis der Verträge tatsächlich realisiert. Als Seehafen und „Fenster zur Welt“ nutzte Belarus den näher gelegenen Hafen im litauischen Klaipeda. Trotzdem war diese Zeit auf beiden Seiten von größtmöglicher Offenheit gekennzeichnet, die in späteren Jahren so nicht mehr möglich sein sollte. Die beiden mitteleuropäischen Nachbarstaaten waren damals noch nicht durch gravierende ideologische Differenzen belastet und nach Kräften bemüht, freundschaftliche Beziehungen zu etablieren.
Divergierende geopolitische Orientierung
Mit Aljaxandr Lukaschenkas Amtsantritt als Präsident 1994 nahm die belarussische Außenpolitik eine ideologische Prägung an. Im Vordergrund stand jetzt die Integration des Landes mit Russland, die im Kontext des slawischen Einheitsgedankens präsentiert und mit dem Versprechen auf eine konjunkturelle Verbesserung dank der Protektion durch den „Großen Bruder“ verbunden war. Infolge der Wiederannäherung an Moskau verschärften sich die antiwestlichen Töne in Minsk. Dazu trug auch Lukaschenka persönlich mit seiner ausgeprägt sowjetischen Mentalität bei. In den Beziehungen zu Polen, das entschlossen die Mitgliedschaft in der NATO und der EU anstrebte, musste das fast zwangsläufig zu Spannungen führen. Die zunehmende geopolitische Distanz zwischen beiden Ländern kam beim Staatsbesuch des polnischen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski zum Tragen, der am 30. März 1996 in der Puszcza Białowieska (belaruss. Belaweshskaja puschtscha) mit Lukaschenka zusammentraf. Die Differenzen in der Auffassung der regionalen Sicherheit und der Bündnisorientierung waren damals bereits so groß, dass die Gespräche über einen bloßen Meinungsaustausch nicht hinauskamen.2 Allein schon der Umstand, dass dies das einzige Treffen zwischen Lukaschenka und einem amtierenden Präsidenten Polens blieb, macht deutlich, wie sehr sich die fundamentale Begrenztheit der Verständigung zwischen den Regierungen beider Länder verfestigte.
Die polnische Seite verurteilte Lukaschenkas Bestrebungen, ein autoritäres Regierungsmodell zu etablieren, erhielt jedoch die bilateralen Beziehungen aufrecht. Diese Politik wurde als „kritischer Dialog“ bezeichnet.3
Die wachsenden Gegensätze zwischen dem autoritären Belarus und dem demokratischen Polen, das die Integration in den Westen vorantrieb, liefen unweigerlich auf eine Konfrontation zwischen beiden Ländern zu. Diese brach schließlich 2005 aus. Die belarussische Führung störte sich an der „übermäßigen“ Unabhängigkeit des Bundes der Polen in Belarus, eine der zahlenmäßig stärksten NGOs im Land, und nutzte die Vorstandswahlen dieser Organisation, um sie unter ihre Kontrolle zu bringen. Dieser Schlag gegen die polnische Minderheit markiert den Beginn einer tiefen Krise in den bilateralen Beziehungen. In der Folge entschied Polen, unter anderem in Minsk diplomatisch nur noch durch einen Geschäftsträger vertreten zu sein. Aus belarussischer Sicht dienten die Repressionen gegen den Bund der Polen in Belarus einfach der Vorbereitung für Lukaschenkas Wiederwahl 2006. Nach der Logik des autoritären Regimes war es hierfür notwendig, sich die Kontrolle über die größten NGOs zu sichern.4
Zugleich betrachtete die Minsker Regierung dieses Vorgehen als Verteidigungsmaßnahme gegen eine Fünfte Kolonne Polens, die ihrer Ansicht nach darauf hinarbeitete, Belarus unter polnische Kontrolle bringen und in extremen Fällen sogar die Ablösung der westlichen Teile des Landes im Zuge einer „Wiederherstellung der östlichen Grenzlande“ Polens anstrebte – also der Territorien, die von 1918 bis 1939 zur Zweiten Polnischen Republik gehört hatten. In dieser Wahrnehmung kam – nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal – ein gravierendes Problem zum Ausdruck, das zusätzlich zu den oben beschriebenen geopolitischen und systemischen Unterschieden auf den polnisch-belarussischen Beziehungen lastet: Die Führung in Minsk betrachtet die Warschauer Politik immer wieder durch das Prisma tief verwurzelter historischer Stereotype, wonach die Polen seit dem späten Mittelalter versucht hätten, die Vorherrschaft über die kulturell und politisch schwächeren Belarussen auszuüben.
Vom Dialog zur Konfrontation
2008 kam es vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf Georgien und der Anerkennung der abtrünnigen Republiken Abchasien und Südossetien durch Russland zu einem Neuanfang in den polnisch-belarussischen Beziehungen. Angesichts der aggressiven Politik des Kreml suchte Lukaschenka gezielt den Dialog mit dem Westen, um seine politischen Spielräume zu erweitern. Daher wurden im Sommer 2008 alle politischen Gefangenen freigelassen, darunter auch Lukaschenkas Gegner bei den Präsidentschaftswahlen von 2006. Als EU-Mitglied war Polen an der Neueröffnung der Verbindung Minsk-Brüssel nicht nur beteiligt, sondern trieb diese aktiv voran, weil es sie als Chance begriff, die Krise mit dem Nachbarn im Osten zumindest teilweise beizulegen. So wurde Belarus im Mai 2009 in die schwedisch-polnische Initiative „Östliche Partnerschaft“ einbezogen.5
Gleichwohl war der Dialog mit Belarus – sowohl EU-weit als auch auf der bilateralen Ebene – weiterhin von der politischen Systemgrenze geprägt. Lukaschenkas vorrangiges Ziel ist der Erhalt der eigenen Macht um jeden Preis. Die Stabilität des Regimes und die Unterdrückung abweichender Meinungen in der Bevölkerung sind für ihn deshalb seit jeher wichtiger als ein pragmatischer Blick auf die Vorteile, die sich aus dem Dialog mit dem Westen ergeben könnten. Nachdem im Jahr 2010 Demonstranten, die gegen die gefälschten Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen protestiert hatten, brutal niedergeschlagen wurden, kam es im Dezember zum Abbruch der Zusammenarbeit zwischen Belarus und dem Westen – einschließlich Polens, das von belarussischer Seite beschuldigt wurde, die Unruhen organisiert zu haben. Als Russland 2014 die Krim annektierte und die Separatistenrepubliken im Donbass unterstützte, folgte eine erneute Annäherung. Wie schon 2008 erkannte Lukaschenka auch diesmal die aggressive Politik des Kreml im postsowjetischen Raum als ernsthafte Bedrohung und ließ die politischen Gefangenen frei. So begann 2015 eine neue Phase des Dialogs, an dem Polen wieder führend beteiligt war. Diese recht intensive Zusammenarbeit, die von einer Reihe bilateraler Besuche auf Minister- und Parlamentspräsidentenebene begleitet wurde, endete jedoch 2020 mit den nächsten belarussischen Präsidentschaftswahlen.
Hier sei darauf hingewiesen, dass sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Polen und Belarus unabhängig vom Zustand der politischen Beziehungen fast vom Beginn der 1990er Jahre an dynamisch entwickelt hat. Über lange Zeit – praktisch bis zur Krise nach 2020 – gehörte Polen mit einem Handelswert zwischen zwei und drei Milliarden US-Dollar zu den zehn wichtigsten Wirtschaftspartnern von Belarus. Besonders erfolgreich waren dabei die Jahre 2013 und 2018/19. Ca. 500 Unternehmen in Belarus, die hauptsächlich in sechs Freihandelszonen angesiedelt waren, wurden mit polnischem Kapital gegründet – vorwiegend in Branchen wie dem Baugewerbe, IT, Lebensmittel, Möbel und Kunststoffe. Umgekehrt waren belarussische Exporteure und Investoren in Polen weit weniger aktiv. Belarus belegte unter den polnischen Handelspartnern einen Platz zwischen den Positionen zwanzig und dreißig, was vor allem an der geringeren Wirtschaftskraft der belarussischen Unternehmen lag.6
Nach 2020: Unumkehrbarer Zusammenbruch der bilateralen Beziehungen?
Die nächste Krise zwischen Minsk und Warschau dauert bis heute an. Sie begann scheinbar ähnlich wie die früheren. Nach den Präsidentschaftswahlen im August 2020 wies das belarussische Regime jegliche Kritik westlicher Länder – einschließlich Polens – ab, die sich empört über die gewalttätigen Repressionen nach den Protesten gegen die Wahlfälschung zeigten. Lukaschenka fühlte sich dadurch in der Überzeugung bestärkt, die westliche Elite habe sich gegen ihn verschworen. Die Propaganda des Regimes richtete sich hauptsächlich gegen Polen, das wieder beschuldigt wurde, es wolle die ehemaligen „östlichen Grenzlande“ annektieren. Gleichzeitig erhielt der Diktator die Unterstützung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der im Nachbarstaat Belarus, den der Kreml seiner unmittelbaren Einflusssphäre zurechnet, keinen Machtwechsel unter dem Druck der Straße riskieren wollte. Damit begann für Lukaschenka eine Zeit der Isolation im Verhältnis zum Westen, der seine Sanktionen gegen Belarus zunehmend verschärfte und unter anderem ein Handelsembargo verhängte.
Lukaschenka und seine Gefolgschaft unterstellten Polen, es plane einen bewaffneten Angriff zur „Wiedererlangung der ehemaligen östlichen Grenzlande“ und wolle „eine zweite Front gegen die in der Ukraine kämpfenden russischen Streitkräfte“ eröffnen. Zudem beschuldigt Minsk die polnische Führung, sie würde auf ihrem Territorium „belarussische paramilitärische Einheiten“ ausbilden, die einen Einmarsch in Belarus zum Sturz der „rechtmäßigen Regierung“ vorbereiteten. Dieses antipolnische Narrativ wird von verschiedenen Maßnahmen flankiert, die sich gezielt gegen Polen oder die polnische Minderheit in Belarus und das Erbe der gemeinsamen polnisch-belarussischen Vergangenheit richten. So wurden seit Juni 2022 eine Reihe polnischer Friedhöfe (vor allem in den westlichen Regionen von Belarus) und Gedenkstätten verwüstet. Aufgrund eines neuen Bildungsgesetzes ist der Gebrauch des Polnischen als Unterrichtssprache in den Minderheitenschulen in Hrodna und Waukawysk seit letztem Jahr fast vollständig abgeschafft. Auch der Druck auf den unabhängigen, nicht offiziell registrierten Bund der Polen in Belarus wird fortgesetzt. Der stellvertretende Vorsitzende der Organisation, Andrzej Poczobut, sitzt zurzeit eine achtjährige Gefängnisstrafe ab, und es gibt keine Anzeichen für eine mögliche Begnadigung oder Freilassung.
Als Grundlage für die Repressionen gegen Aktivisten der polnischen Minderheit dienen unter anderem die Ermittlungen zu Verbrechen gegen das belarussische Volk während des Zweiten Weltkrieges und danach, die das Untersuchungskomitee von Belarus 2021 einleitete. Sie wurden in den staatlichen Medien mit zahlreichen Beiträgen über angebliche Verbrechen gegen Belarussen begleitet, die unter anderem von Polen begangen worden seien. Eine antipolnische Stoßrichtung hat auch ein neu eingeführter Feiertag, der Tag der Nationalen Einheit. Er wird am 17. September begangen – dem Jahrestag des Einmarschs der Roten Armee in die östlichen Regionen der Zweiten Polnischen Republik, die damals gegen die deutschen Invasoren kämpfte.7 Zudem belastet die im Herbst 2021 offensichtlich von der belarussischen Führung lancierte Flüchtlingskrise das Verhältnis beider Staaten schwer, sowie die Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus.
Erstmals in der Geschichte der polnisch-belarussischen Beziehungen gibt es gegenwärtig keine reelle Möglichkeit für einen Ausweg aus der Krise. Die einzige Perspektive für einen Durchbruch wäre derzeit ein Machtwechsel in Belarus, im Idealfall als Ergebnis freier und demokratischer Wahlen.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Kłysiński, Kamil (2023): Iron curtain on Belarus’ western border: Does the crisis in Minsk’s relations with its Baltic neighbors threaten Belarusian independence? In: BSR Policy Briefing Series 4/2023↩︎
Snapkouski, Uładzimir (2003): Stosunki polsko-białoruskie (1990–2003), in: Polska i Białoruś/Беларусь i Польшча, Polski Instytut Stosunków Międzynarodowych, Warszawa, S. 19-22 ↩︎
Dębski, Sławomir (2003): Stosunki polsko-białoruskie – stan obecny i perspektywy, in: Polska i Białoruś/Беларусь i Польшча, Polski Instytut Stosunków Międzynarodowych, Warszawa, S. 14-15 ↩︎
Fedorowicz, Krzysztof (2019): Białoruś – zapomniany sąsiad Polski, in: Stosunki Polski z Litwą, Białorusią i Ukrainą 450 lat po unii lubelskiej, Instytut Europy Środkowo-Wschodniej, Lublin ↩︎
Polsko-białoruskie rozmowy gospodarcze, 12.02.19, in: Ministerium für Wirtschaftsentwicklung und Technologie ↩︎
Wer vor fünf Jahren in der Uralmetropole Jekaterinburg, der viertgrößten Stadt Russlands, den Bürgermeister Jewgeni Roisman sprechen wollte, wusste, wo dieser zu finden war: Man reihte sich einfach freitags in die Warteschlange am Rathaus ein. Roisman pflegte als wohl einziger Bürgermeister einer russischen Großstadt einen Politikstil der offenen Türen. Er führte stundenlang Einzelgespräche und hörte sich die Probleme und Beschwerden der Bürger an. Diese Sprechstunde behielt er auch nach seinem Rücktritt 2018 bei. Für viele blieb er der „Volksbürgermeister“. Oft ging es um Anliegen, bei denen er nichts ausrichten konnte, aber er versuchte, den Leuten Ratschläge zu geben. Wenn möglich, schaltete er auch jemanden aus seinem einflussreichen Bekanntenkreis ein – er wusste, wo er den Hebel ansetzen musste.
Im August 2022 hörten die Bürgersprechstunden von einem Tag auf den anderen auf. Roisman wurde wegen „Diskreditierung der Streitkräfte“ und Kritik am Angriff Russlands auf die Ukraine festgenommen und ein paar Tage später wieder freigelassen. Roisman lehnt den Krieg aus einer festen moralischen Überzeugung ab. Er nennt ihn den „Triumph des Bösen“ und zeigt sich verzweifelt, dass so viele Menschen Russland sich „behexen“ ließen. Zudem hat er enge persönliche Beziehungen zur Ukraine, der Heimat seiner Großmutter. Obwohl er so gut wie sicher mit einer Haftstrafe rechnen muss, sagt Roisman, er fühle sich „an den [russischen] Boden gebunden“ und werde „keinen Millimeter“ aus seinem geliebten Russland weichen.1 Er riskiert dafür fünf Jahre Gefängnis.
Roisman wird oft als „prominenter Kreml-Kritiker“ und „Oppositioneller“ bezeichnet. Allerdings passen die Kategorien, mit denen russische Oppositionspolitiker typischerweise charakterisiert werden, nicht ohne weiteres auf ihn. Der ehemalige militante Anti-Drogen-Aktivist, der gegen „abstrakten Humanismus“ ist, kann kaum als klassischer Liberaler gelten.2 Aber er ist ebenso frei von Sowjetnostalgie und schätzte Boris Jelzin sehr. Auf die Frage nach seinen politischen Forderungen nennt er das liberale Mindestprogramm: Freie und gerechte Wahlen, Pressefreiheit und eine unabhängige Justiz.3 Obgleich er seit über zwanzig Jahren politisch aktiv ist, hat er wenig von einem Berufspolitiker und versteht sich auch nicht als solcher.
Auch vor Beginn seiner politischen Laufbahn führte Roisman ein Leben, das alles andere als typisch für einen russischen Oppositionellen ist. Es war von Skandalen begleitet, die teils dokumentiert sind und zum Teil bis heute Rätsel aufgeben.
Der verlorene Sohn des Urals
Roismans Lebensgeschichte ist unauflöslich mit Jekaterinburg verbunden. Hier wurde er 1962 geboren, als die Stadt noch Swerdlowsk hieß. Seine Familie entstammt der Arbeiterschicht. Die Mutter war im Schwermaschinenbau-Großbetrieb Uralmaschsawod als Erzieherin im Betriebskindergarten tätig, der Vater im selben Betrieb als Energietechniker. Roisman hat einen russisch-jüdischen Hintergrund und bekennt sich zu beiden Identitäten.4
In der Schule tat er sich schwer und hatte Disziplinprobleme. Mit vierzehn Jahren ging er ab und wurde nach einigen kurzzeitigen Arbeitsverhältnissen zum Kleinkriminellen. 1980 kam es zur Festnahme und Anklage wegen Mitführens eines Messers, Diebstahl und Betrug. Um welche Delikte es dabei konkret ging, bleibt unklar. In dem Urteil gegen ihn heißt es, er habe Wohnungseinbrüche begangen und Frauen, mit denen er nähere Beziehungen unterhielt, bestohlen und betrogen, was er jedoch bestreitet.
Roisman verbrachte drei Jahre hinter Gittern und resozialisierte sich in dieser Zeit.5 Nach seiner Entlassung arbeitete er in dem Betrieb, in dem auch sein Vater tätig war. Zugleich setzte er seinen Bildungsweg fort – erst an der Abendschule und dann an der Gorki-Universität des Uralgebiets, wo er mit Unterbrechungen ganze neunzehn Jahre lang studierte und schließlich einen Abschluss in Geschichte und Archivwesen machte.
Im Laufe der darauffolgenden Jahre, in denen er in der Öffentlichkeit tätig war, hat sich Roisman ein recht vielschichtiges Image erworben. Er ist belesen, in der russischen und jüdischen Geschichte zuhause und zugleich berühmt für seine Wutausbrüche und seinen Hang zu Vulgärausdrücken. Er besitzt die Tiefsinnigkeit eines Vertreters der russischen Intelligenzija, schreibt Gedichte und hat ein Ikonenmuseum mit freiem Eintritt gegründet. Zugleich ist er auch Marathonläufer und ein mit allen Wassern gewaschener, tougher Typ – viele seiner Landsleute würden ihn als echten mushik [Pfundskerl – dek]bezeichnen. Und in der russischen Öffentlichkeit ist er vor allem durch seine Rolle bei der Drogenbekämpfung bekannt.
Der Drogenbekämpfer
In den 1990er Jahren hatte Jekaterinburg neben zahlreichen anderen Missständen auch mit einem explosionsartigen Anstieg des Heroinkonsums zu kämpfen. Roisman hatte sich zu dieser Zeit mit einem Juwelierbetrieb erfolgreich als Unternehmer etabliert. Als gesundheitsbewusster Abstinenzler war er empört über die Zustände in der Stadt und beschloss, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.6 1999 gründete er mit zwei Gefolgsleuten die Stiftung Stadt ohne Drogen. Zu ihren Methoden gehörte es, „Leute, die des Drogenhandels verdächtigt wurden, mit einem Schild um den Hals durch die Straßen zu führen, ihre Häuser niederzubrennen und vermeintliche Dealer und Drogenkonsumenten zusammenzuschlagen“.7 Diese Selbstjustiz nahm offen rassistische Formen an und richtete sich gegen Roma und Tadschiken.8
Die Stiftung wollte nicht nur die Dealer vergraulen, sondern auch die Süchtigen heilen. Sie eröffnete Rehabilitationszentren, die auf Zwangsentzug setzten. Die Drogensüchtigen wurden „mit Handschellen ans Bettgestell gefesselt und starrten an die Decke“.9 Roisman bekennt sich bis heute zu diesen Methoden und sagt, sie seien notwendig, wirksam und nicht übermäßig drakonisch gewesen.10 Einige seiner Mitstreiter landeten jedoch wegen Freiheitsberaubung im Gefängnis – seiner Meinung nach aus politischen Gründen, was sicherlich nicht ganz ausgeschlossen ist.
Roisman konnte bei seinem Krieg gegen Drogen auf einen mächtigen Verbündeten zählen: eine lokale Verbrecherorganisation, die sich nach dem in Jekaterinburg ansässigen Maschienenbaukonzern Uralmasch nannte. Ihre Schläger beteiligten sich an zahlreichen Gewaltaktionen gegen den Drogenhandel. Die Organisation war in den 1980er Jahren von jungen Männern aus dem Arbeitermilieu gegründet worden, die sich bei einem Sportzentrum trafen. Sie hatten genau den gleichen Hintergrund wie Roisman selbst.11 Die Gruppe begann mit Schutzgelderpressungen, weitete dann ihre Aktivitäten aus und etablierte sich schließlich als Unternehmen, das von der lokalen Elite – bis hinauf zum Gouverneur der Oblast Swerdlowsk – als legitim anerkannt wurde.
Die Verbindung zwischen Uralmasch und Stadt ohne Drogen wird von niemandem bestritten; allerdings gehen die Meinungen darüber auseinander, wie sie genau aussah. Manche sagen, Uralmasch habe den Kreuzzug gegen Drogen „organisiert“. Nach Roismans Darstellung „unterstützte“ die Gruppe die Stiftung, weil Heroin etwas so Schlimmes war, dass sogar Gangster Angst davor hatten.12 In jedem Fall konnte sich die Uralmasch über die Finanzierung verschiedener Wohltätigkeitsorganisationen und gemeinnütziger Initiativen als legitim etablieren. Sie plante nun, auch politisch aktiv zu werden und hatte eine lokale Partei gegründet, die Gesellschaftlich-Politische Union. Ihr russischer Name – Obschtschestwenno-polititscheski sojus – hat sicher unbeabsichtigt dieselben Anfangsbuchstaben wie der Ausdruck für „Organisiertes Verbrechersyndikat“ (OPS). Der Vorsitzende der Partei war ins Stadtparlament gewählt worden.13 Ein Programm, das auf Fremdenfeindlichkeit und hartes Durchgreifen setzte, versprach politisch ambitionierten Kriminellen gute Erfolgschancen bei den Wählern.
Tatsächlich waren viele Menschen in Jekaterinburg zufrieden mit der Entwicklung und Roismans Popularität stieg.14 Der Gouverneur der Region, Eduard Rossel, wurde auf ihn aufmerksam und nahm ihn in sein Beraterteam auf. Damit begann eine lange politische Laufbahn voller Höhen und Tiefen.
Mr. Roisman geht nach Moskau
Ende der 1990er war Jekaterinburg noch vom Zusammenbruch der Sowjetunion gezeichnet. Metallbau und Maschinenindustrie hatten schwer gelitten. Doch mit dem Aufblühen der Finanz- und IT-Branche wendete sich das Schicksal der Stadt allmählich zum Besseren. Zudem war sie Hauptstadt der Oblast Swerdlowsk, einer Region mit starkem Identitätsbewusstsein, deren Beziehung zu Moskau traditionell von Spannungen geprägt ist. Als Anfang der 1990er Jahre eine Reihe ethnischer Republiken Autonomie beanspruchte, gab es in dieser Region die größte nicht ethnisch motivierte Bewegung für wirtschaftliche und politische Autonomie. 1993 erhob Gouverneur Rossel die Region sogar einseitig zur Republik Ural. Dieses Experiment wurde schon kurz darauf wieder beendet, aber bis heute legt die Elite in Jekaterinburg Wert auf Unabhängigkeit von Moskau und es gibt dort eine lebhafte Oppositionspolitik.
Roismans erste Vorstöße auf das Gebiet der Politik, hatten jedoch nichts mit politischer Programmatik, Opposition oder regionaler Identität zu tun, sondern waren rein persönlich motiviert. Seine Popularität und seine Methoden hatten ihm die Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehörden eingetragen. Er stand zunehmend unter Druck und war mehrmals in Polizeigewahrsam genommen worden. Heute sagt er, er habe „nie in die Politik gewollt“ und „ein ganz bestimmtes Ziel“ verfolgt: „Dem Gefängnis zu entgehen und die Zerschlagung der Stiftung und Zerstörung meines Geschäfts zu verhindern“.15 Kurz, es ging ihm nur um die parlamentarische Immunität. Er trat als unabhängiger Kandidat an und gab sich bodenständig, ortsverbunden und wehrhaft. Als Wahlslogan verwendete er ein Zitat aus dem berühmten Film Brat-2: „Die Macht liegt in der Wahrheit“. Die Regionalregierung unterstützte ihn, und er hat es geschafft 2003 in die Staatsduma gewählt zu werden.16
Als Abgeordneter nahm Roisman von Anfang an eine pragmatische Haltung ein. Die Handlungsunfähigkeit des Parlaments fasste er in dem Spruch zusammen: „In der Duma ist es wie in der Armee: Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, tust du am besten gar nichts.“ Aber er war nicht grundsätzlich gegen eine Zusammenarbeit mit der Regierung. Er erklärte sich bereit, sie zu unterstützen, wenn sie „ehrlich und korrekt“ handle.17 Auch für die Förderung durch Oligarchen zeigte er sich offen. So bot Michail Chodorkowski, damals der reichste Mann Russlands und ein großzügiger Förderer der Opposition, kurz vor seiner Verhaftung an, Roismans Wahlkampfteam finanziell zu unterstützen. Dieser sagt, er habe das Angebot abgelehnt. Aber er erhielt seine gute Beziehung zu dem ehemaligen Oligarchen aufrecht, was er damit begründete, dass in diesen Zeiten „jeder Verbündete wichtig“ sei.18
Roisman stand nie für eine bestimmte Partei oder Ideologie. Er hat Parteien für seine Zwecke genutzt, aber sich niemals ernsthaft mit Parteipolitik befasst oder selbst eine Partei gegründet. Eine Zeit lang stand er der von Sergej Mironow geführten Partei Gerechtes Russland nahe, dann der von dem Milliardär Michail Prochorow geführten Partei Rechte Sache. Beide Parteien befinden sich an den entgegengesetzten Enden des politischen Spektrums. Und in beiden Fällen war die Zusammenarbeit von kurzer Dauer – wahrscheinlich, weil der Kreml etwas gegen Parteien mit starken, unabhängig gesinnten Kandidaten hat.
Der letzte Bürgermeister von Jekaterinburg
Als Reaktion auf die Proteste gegen Wahlfälschung und die Bewegung für freie Wahlen 2011/2012 beschloss der Kreml, auf lokaler Ebene mit Demokratie zu experimentieren. Die Gouverneurswahlen wurden wieder eingeführt und oppositionelle Kandidaten durften sich registrieren lassen. Roisman kandidierte in seiner Heimatstadt als Bürgermeister. Seine Freundschaft mit dem Milliardär Prochorow kam ihm dabei zustatten – die neue Partei des Milliardärs unterstützte seine Kandidatur.
Gegen die Partei Putins gewählt zu werden ist kein leichtes Unterfangen. Doch die Gemüter in der Region waren aufgewühlt. 2012 war – zur großen Enttäuschung der lokalen Eliten und der Bevölkerung – ein Außenseiter aus Tjumen als amtierender Gouverneur eingesetzt worden. Das Thema der lokalen Identität wurde wieder virulent und beherrschte die Stimmung im Vorfeld des Wahlkampfs.19 Der Spitzenkandidat der Regierungspartei war kaum bekannt und hatte einen Teil seiner Berufslaufbahn in einer anderen Region verbracht. Roisman hingegen positionierte sich als Kandidat „von hier“. Er verkündete triumphierend: „Als ich Abgeordneter wurde, bin ich nicht nach Moskau gezogen und habe nicht angefangen, Geld zu scheffeln. Ich habe vom ersten bis zum letzten Tag den Kontakt zu meinen Wählern gepflegt.“20 Im Wahlkampf wurde mit schmutzigen Tricks gearbeitet. Die Regierung versuchte, Roisman aus dem Rennen zu katapultieren, indem sie Mitglieder seines Wahlkampfteams bedrohte und eine Verleumdungskampagne startete, die sich um seine dubiose Vergangenheit und seine angeblichen Beziehungen zum kriminellen Milieu drehte.21 Gegen jede Wahrscheinlichkeit gewann er mit 33 Prozent der Stimmen.
Doch mit der Wahl zum Bürgermeister hörten die Schwierigkeiten nicht auf. Jekaterinburg hatte damals faktisch zwei Stadtoberhäupter – den gewählten Bürgermeister und den „City-Manager“. Letzterer wurde vom Stadtrat ernannt, in dem die Regierungspartei Einiges Russland die Mehrheit hatte, und war unter anderem für das Budget zuständig. So war Roismans Handlungsspielraum begrenzt, während die Regionalregierung begann, die Voraussetzungen für die Abschaffung der Bürgermeisterwahlen zu schaffen. Nach Roismans Sieg in Jekaterinburg und Nawalnys gutem Abschneiden bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau 2013 erschien es dem Kreml nicht mehr ratsam, es mit kommunaler Demokratie zu versuchen – schließlich hatte sich gezeigt, dass dabei tatsächlich die Opposition siegen konnte. Roisman suchte die Nähe der nicht-systemischen Opposition und nahm an einer Demonstration für Frieden in der Ukraine teil. Hatte er sich zunächst uneindeutig zur Krim-Annexion geäußert, so verurteilte er sie später unmissverständlich.22 Er versuchte, den Einsatz noch einmal zu erhöhen, indem er bei den Gouverneurswahlen als einheimischer Kandidat gegen den von oben eingesetzten und nicht aus der Region stammenden Amtsinhaber antrat. Doch inzwischen hatte sich das Zeitfenster wieder geschlossen. Seine Kandidatur wurde nicht zugelassen, und wenige Monate darauf wurden Bürgermeisterwahlen in der Region wieder abgeschafft. Im Mai 2018 trat der letzte gewählte Bürgermeister von Jekaterinburg zurück. Er stand nun wieder außerhalb der Politik, auch wenn er für diejenigen, die sich in die Warteschlange vor seiner Wohltätigkeitsorganisation, der Roisman-Stiftung, einreihten, der „Bürgermeister des Volkes“ blieb.23
Die Geschichte von Roismans Auf- und Abstieg zeigt, welch große Bedeutung das Lokale hat und wie unwichtig im Vergleich dazu Etiketten sind. Sein Leben ist von Kompromissen geprägt, die zu einem großen Teil dubios sein mögen. Im Interesse seiner Stadt und ihrer Einwohner, seines Landes und auch seiner eigenen Person war er bereit, mit dem organisierten Verbrechen, Oligarchen und den politisch Mächtigen zu kooperieren. Doch die Mächtigen waren daran nicht interessiert, und selbst als machtloser Bürgermeister, der seine Meinung offen sagte, hatte er für ihren Geschmack noch zu viel Macht. Als 2022 der Angriffskrieg auf die Ukraine begann, hat dieser Mann, der Russland so leidenschaftlich liebt, kompromisslos Haltung gezeigt. Er war nicht bereit, sich mit dem Bösen abzufinden, selbst wenn ihn das die Freiheit kosten sollte.
Roismans Verhältnis zur Religion ist komplex. Er ist zwar gläubig, lehnt es jedoch ab, sich als „iudej“ (so der russische Ausdruck für Anhänger der jüdischen Religion) zu bezeichnen und gehört offenbar keiner bestimmten Religion an. Skaži Gordeevoj (YouTube): Evgenij Rojzman: «Kakoe my imeem k ėtomu otnošenie?», 16. August 2022 ↩︎
Es handelt sich hier um eine andere Stiftung als „Stadt ohne Drogen“. Nach seiner Wahl zum Bürgermeister geriet Roisman in Konflikt mit einem Mitgründer von „Stadt ohne Drogen“ und wurde offenbar aus der Stiftung hinausgedrängt. Beljanin, Aleksej (Meduza): Čto proischodit s fondom ‚Gorod bez narkotikov‘, 28.10.2014 ↩︎