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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“

    „Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“

    Alexander Bastrykin, Chef des einflussreichen Ermittlungskomitees und ein enger Vertrauter Wladimir Putins, hat Anfang der Woche heftige Debatten ausgelöst.

    In einem Artikel im – politisch weitgehend unabhängigen – Kommersant-Wlast erklärt Bastrykin, Russland sei Opfer eines hybriden Krieges des Westens, und schlägt radikale Gegenmaßnahmen vor: Umfangreiche Gesetzesverschärfungen, die zugleich auch den Terrorismus und extremistische Bedrohungen im Inneren Russlands eindämmen sollen. Viele Kommentatoren halten Bastrykins Lagebeschreibung für fragwürdig und merken an, dass die meisten dieser Gesetze kaum verfassungskonform wären und verheerende Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit hätten.

    Wir veröffentlichen den Text aus doppeltem Grund:

    Zum einen wird an ihm deutlich, wie der Begriff des hybriden Krieges derzeit von beiden Seiten verwendet wird, und zwar fast vollkommen spiegelbildlich – der Westen klagt Russland der hybriden Kriegsführung an, Russland seinerseits den Westen. (Über die Problematik des Begriffes „hybrider Krieg“ mehr in diesen Artikeln von Kofman, Galeotti, Siegert).

    Zum anderen gewährt der Text aber auch einen seltenen Einblick in die Vorstellungswelt eines Silowik, also eines Vertreters des staatlichen Machtapparats: Er malt die These des von allen Seiten bedrohten Russlands in grellen Farben aus und stellt Lösungsvorschläge in den Raum, die in ihrer Repressivität bisher ohnegleichen sind.

    Bastrykins Artikel hat in den vergangenen Tagen hohe Wellen geschlagen: Unabhängige Medien nehmen genauso auf ihn Bezug wie regierungsnahe Quellen, in den sozialen Netzwerken wird der Text heiß diskutiert. Die Fragen stehen im Raum: Steht der Text wirklich beispielhaft für Ideen der russischen Machtelite? Ist er gar eine programmatische Ansage, die in reale Politik umgesetzt werden soll? Oder handelt es sich eher um die – vielleicht bewusst überzeichnete – Darstellung einer persönlichen Meinung? Unsere Presseschau widmet sich ganz diesem Thema und fasst die Reaktionen mit übersetzten Original-Ausschnitten zusammen.

    Im Jahr 2015 gab es in der Russischen Föderation negative Entwicklungen in Bezug auf extremistische und terroristische Verbrechen.

    Es wurden 1329 Straftaten mit extremistischem Hintergrund registriert, das sind 28,5 % mehr als im Vorjahr (1043). In 56 Föderationssubjekten ist die Zahl von Straftaten dieser Art nachweislich gestiegen. Dieser Anstieg lässt sich sowohl auf äußere (geopolitische) als auch auf innenpolitische Faktoren zurückführen.

    Seit etwa zehn Jahren befindet sich Russland, wie viele andere Staaten auch, in einem sogenannten hybriden Krieg. Dieser Krieg wird auf verschiedenen Ebenen geführt – auf politischer, ökonomischer, medialer sowie auf juristischer Ebene. Wobei er in den vergangenen Jahren eine neue Qualität erreicht hat, nämlich die einer direkten Konfrontation.

    Zu den Mitteln ökonomischer Einflussnahme zählen vor allem Handels- und Finanzsanktionen, Dumpingschlachten auf dem Ölmarkt und Währungskriege. Solche Maßnahmen führten zu einer scharfen Abwertung des Rubels, zu sinkenden Realeinkommen in der Bevölkerung, einem Einbruch der industriellen Produktion und zur wirtschaftlichen Rezession.

    Leider werden das internationale Recht und die darauf gründende Justiz immer öfter zum Instrument dieses Krieges.

    Die USA haben durch ihre Unterstützung von radikal-islamistischen und anderen radikalen ideologischen Strömungen die Lage im Nahen Osten vollständig destabilisiert

    Markante Beispiele dafür sind die Entscheidungen im Fall YUKOS1, die Entscheidung im Mordfall des FSB-Offiziers Litwinenko, der Abschlussbericht des niederländischen Sicherheitsrates zum Absturz des Malaysia-Airlines-Flugs MH17 sowie die Prüfung durch den amerikanischen Geheimdienst, ob die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaften an Russland und Katar 2018 und 2022 rechtmäßig war – um nur einige zu nennen.

    Aber die verheerendste Wirkung hat der Informationskrieg. Die USA haben durch ihre Unterstützung von radikal-islamistischen und anderen radikalen ideologischen Strömungen die Lage im Nahen Osten vollständig destabilisiert. Die Auswirkungen von künstlich herbeigeführten Aufständen, Revolutionen und Krisen in dieser Region bekommt Europa derzeit zu spüren. Es wurde von Flüchtlingsmassen überrannt, die einem grundlegend anderen soziokulturellen Hintergrund entstammen und die ansässige Bevölkerung verdrängen.

    Folgen dieser Politik sind außerdem terroristische Vereinigungen wie der Islamische Staat, die Al-Nusra-Front, Al-Qaida und andere Organisationen, die am bewaffneten Konflikt in Syrien beteiligt sind. Personellen Nachschub werben diese Organisationen weltweit an, auch in Russland. Mehr als tausend russische Staatsbürger sind nach Syrien in den bewaffneten Kampf gezogen.

    Ein bewährtes Mittel im Informationskrieg ist die bis zur Radikalisierung reichende Manipulation einer Ideologie, mit der sich eine bestimmte soziale Gruppe identifiziert. Es ist offensichtlich: Das religiöse, ethnokulturelle und konfessionelle Wertesystem ist jene Schicht des gesellschaftlichen Daseins, die die Wesensmerkmale jeder Nation (jedes Volkes) und ähnlicher sozialer Gruppen bestimmt – es dient der Selbstidentifikation. Viele dieser Wertvorstellungen wurden über Jahrhunderte von Generation zu Generation entwickelt, bewahrt und tradiert. Deswegen möchte auch keine Nation auf ihre Identität verzichten. Sie ist wohl die einzige wertebasierte Gemeinsamkeit, die sie mit der Waffe in der Hand zu verteidigen bereit ist, bis zum bitteren Ende, wie man so sagt.

    Im vollen Bewusstsein darüber, welch zerstörerische Kraft Konflikte entfalten, die auf Hass zwischen Nationen (oder Ethnien) gründen, haben die USA gezielt auf den Faktor Information gesetzt. Aus heutiger Sicht wird Folgendes klar: Die Unterminierung und Sabotage des ideologischen Fundaments der UdSSR, das gegründet war auf dem Prinzip der Brüderlichkeit der Völker, wurde ebenfalls von außen veranlasst und basierte darauf, Zwist zwischen den Nationen (der UdSSR) zu schüren.

    Heute ist völlig offensichtlich, dass die Konfrontationen in den 90er Jahren bereits Elemente eines beginnenden, damals noch verdeckten Informationskrieges waren

    Es ist kein Zufall, dass Anfang der 90er Jahre praktisch zeitgleich so viele zwischenethnische Konflikte hochkochen: um Bergkarabach, um Transnistrien, zwischen Georgien und Abchasien, zwischen Osseten und Inguschen.

    Zur selben Zeit gibt es die ersten Massendemonstrationen von nationalistisch gesinnten Bürgern in Kiew. Zusätzlich wurde das Staatssystem durch antisowjetische Propaganda unterminiert sowie durch die Finanzierung der politischen Opposition in Litauen, Lettland, Estland, Georgien und weiteren Ländern.

    Natürlich wurden diese Ereignisse damals von der jeweiligen Bevölkerung als lokale Konflikte aufgefasst. Doch heute ist völlig offensichtlich, dass all diese Konfrontationen Elemente eines beginnenden, damals noch verdeckten Informationskrieges waren.

    Es besteht kein Zweifel, dass diese informationsideologischen „Waffen“ auch weiterhin zur Anwendung kommen werden. Davon zeugen die gestiegenen Ausgaben im US-amerikanischen Staatshaushalt für Programme zur sogenannten Stärkung demokratischer Institutionen in an Russland grenzenden und zentralasiatischen Staaten. Der wahre Zweck dieser Mittel geht aus ihrer Bezeichnung im Haushalt hervor: „Gegenmaßnahmen gegen die russische Aggression durch Public Diplomacy und Hilfsprogramme sowie Schaffung einer stabilen Regierung in Europa.“2

    Laut Haushaltsplan sind 2017 etwa 4,3 Milliarden Dollar für solche Ausgaben vorgesehen. Davon fließt etwa eine Milliarde in Programme der sogenannten Korruptionsbekämpfung und in die Förderung der demokratischen Gesellschaften in Russlands Nachbarstaaten.

    Es ist höchste Zeit, diesem Informationskrieg einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Es braucht eine harte, adäquate und symmetrische Antwort

    Schon früher hatten sich verschiedenste öffentliche Organisationen Finanzmittel aus diesen Programmen zu eigen gemacht – unter dem Deckmantel der Förderung von Bildung, der Entwicklung der Zivilgesellschaft oder anderer scheinbar guter Absichten. Dadurch wurden im Ergebnis antirussische Stimmungen in den an unser Land grenzenden Staaten angeheizt, eine proamerikanische und prowestliche, nicht-systemische Opposition in Russland herausgebildet und interkonfessioneller wie politischer Extremismus in unserem Land verbreitet.

    Die aktuellen Ereignisse in Bergkarabach zeugen vom wiederholten Versuch jener russlandfeindlichen Kräfte, den Frieden zwischen dem armenischen und dem aserbaidschanischen Volk ins Wanken zu bringen und einen weiteren Kriegsherd an der Grenze Russlands zu schaffen.

    Ich denke, es ist höchste Zeit, diesem Informationskrieg einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Es braucht eine harte, adäquate und symmetrische Antwort. Insbesondere in Anbetracht der bevorstehenden Wahlen und des möglichen Risikos, dass weitere Kräfte aktiviert werden, um die politische Lage zu destabilisieren. Schluss mit dem Spiel der Scheindemokratie, bei dem man pseudoliberalen Werten folgt! Denn Demokratie oder Volksherrschaft ist nichts anderes als die Macht des Volkes selbst, die in seinem eigenen Interesse umgesetzt wird. Das Mittel zur Verwirklichung dieser Interessen liegt im Allgemeinwohl und nicht in der absoluten Freiheit und Willkür einiger weniger Mitglieder der Gesellschaft.

    Am Wichtigsten ist es, ein Konzept für eine ideologische Staatspolitik zu entwickeln. Grundelement sollte dabei die nationale Idee sein, sie allein vermag das multinationale russische Volk zu einen

    Zur Bekämpfung von Extremismus können folgende Maßnahmen vorgeschlagen werden:

    Am Wichtigsten ist es, ein Konzept für eine ideologische Staatspolitik zu entwickeln. Grundelement sollte dabei die nationale Idee sein, sie allein vermag das multinationale russische Volk zu einen. Dieses Konzept sollte konkrete lang- und mittelfristige Maßnahmen vorsehen, die die ideologische Bildung und Erziehung unserer heranwachsenden Generation betreffen. Gerade die bewusste Widerstandsfähigkeit gegenüber radikalen religiösen und anderen Ideologien würde jenes Fundament schwächen, auf dem die derzeitigen extremistischen Ideologien gedeihen. Mit einem derartigen Schutz wäre auch die großzügigste Finanzierung einer Destabilisierung der Lage in Russland wirkungslos.

    Außerdem muss unbedingt beachtet werden, dass terroristische Gruppierungen gerade Jugendliche als eine Art natürliche Reserve ansehen. Daher müssen wir unbedingt die Initiative ergreifen und die jungen Menschen aus dieser Risikogruppe einbeziehen, um Gegenmaßnahmen zum bewaffneten Extremismus zu erarbeiten und umzusetzen.

    Es wäre sinnvoll, mit Hilfe von Aufsichts- und Kontrollorganen eine breitangelegte und detaillierte verfassungsrechtliche Überprüfung aller religiösen, nationalkulturellen und Jugendorganisationen vorzunehmen, bei denen Anlass zum Verdacht besteht, dass sie verbotene extremistische Tätigkeiten ausüben.

    Ausgehend von den im Nordkaukasus gesammelten Erfahrungen, muss eine konkrete und höchst zielgerichtete Präventionsarbeit mit Vertretern aus informellen Jugendvereinigungen organisiert werden. Ziel des Ganzen ist es, durch spezielle Maßnahmen an Informationen über negative Entwicklungen unter Jugendlichen heranzukommen sowie Ideologen und Führer radikaler Organisationen zu ermitteln, die versuchen, junge Menschen in extremistische Aktivitäten hineinzuziehen.

    Unterstützenswert sind auch positive Erfahrungen wie die in der Republik Inguschetien. Hier ist ein militärpatriotischer Verein gegründet worden: Er bringt Kinder von Ermittlungsbehörden-Mitarbeitern, die im Dienst ums Lebens gekommen sind, in Kontakt mit Kindern ehemaliger Mitglieder bewaffneter Untergrundorganisationen. Dies ermöglicht ihnen eine Annäherung und schafft eine Atmosphäre gegenseitigen Verständnisses.

    Wir müssen festlegen, in welchem Maß in Russland das globale Netzwerk des Internets zensiert werden soll. In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen anderer Staaten interessant, die sich den USA und deren Verbündeten entgegenstellen

    Das hier vorgeschlagene Konzept betrachtet es als angebracht, festzulegen, in welchem Maß in Russland das globale Netzwerk des Internets zensiert werden soll. Dieses Problem verursacht ja derzeit hitzige Debatten dadurch, dass es die Verteidiger der Informationsfreiheit  auf den Plan gerufen hat.

    In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen anderer Staaten interessant, die sich den USA und deren Verbündeten entgegenstellen. Angesichts des beispiellosen medialen Drucks sind sie dazu übergegangen, die ausländische Presse einzuschränken, um den nationalen Informationsraum zu schützen. So hat beispielsweise das chinesische Ministerium für Industrie und Informatik zum 10. März 2016 ein Verbot von elektronischen Medien eingeführt, die vollständig oder teilweise im Besitz von im Ausland lebenden Personen sind. Solche Medien können keine Informationen mehr im Internet verbreiten, sondern bestenfalls im Printbereich. Chinesische Medien dürfen von nun an nur noch mit ausländischen Online-Medien zusammenarbeiten, wenn sie dafür eine Erlaubnis des entsprechenden Ministeriums haben. Die Leitung nationaler Medien ist chinesischen Staatsbürgern vorbehalten. Voraussetzung ist dabei, dass sich die Server von Online-Medien in der Volksrepublik befinden.

    Es ist durchaus vorstellbar, diese Erfahrungen in vernünftigem Maße auch in Russland umzusetzen.

    Internet-Provider müssen im notwendigen Umfang einheitliche Datenschutzregeln für Kunden und User ausarbeiten – für den Fall, dass derartige Auskünfte bei der Untersuchung von Gesetzesübertretungen im Bereich der IT-Sicherheit angefordert werden.

    An öffentlichen Orten mit Zugang zum World Wide Web (Bibliotheken, Schulen und andere Bildungseinrichtungen) müssen Webfilter eingebaut werden, die Websites mit extremistischen Inhalten blockieren.

    Migrationsbewegungen müssen besonders aufmerksam verfolgt werden. Gerade Migranten werden oft rekrutiert und radikalisiert

    Außerdem wäre es angebracht, ein außergerichtliches (administratives) Verfahren einzuführen, demzufolge extremistische Materialien auf eine landesweite Liste gesetzt werden. Auch müssen Domain-Namen von Websites blockiert werden können, wenn sie extremistische und radikal-nationalistische Informationen verbreiten. Falls sie den Extremismusvorwurf für nicht gerechtfertigt halten, können Informationseigner sich an die zuständigen staatlichen Organe wenden und vor Gericht ihre Unschuld beweisen.

    Mitunter rekrutieren Terrororganisationen ihren Nachwuchs im Netz. Um diese rechtswidrigen Handlungen bekämpfen zu können, muss das Spektrum strafrechtlicher Maßnahmen erweitert werden. Hierfür ist zu prüfen, wie der Besitz, die Sammlung oder das Herunterladen solchen Materials strafrechtlich zu ahnden ist.

    Migrationsbewegungen müssen besonders aufmerksam verfolgt werden. Gerade Migranten werden oft rekrutiert und radikalisiert. Viele von ihnen befinden sich trotz abgelaufener Aufenthaltserlaubnis in Russland und verschwinden so aus dem Blickfeld der Ermittlungsbehörden. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Fragen des Aufenthalts ausländischer Staatsbürger und Staatenloser auf dem Gebiet der Russischen Föderation regeln, müssen unbedingt überprüft werden. Basierend auf den Ergebnissen müssen Ergänzungen zur Verbesserung der Gesetzeslage erfolgen.

    Spezielle Charakteristika  extremistischer Tätigkeit haben sich im Föderationskreis Krim herausgebildet. Dort wird versucht, eine antirussische Stimmung zu schaffen

    Spezielle Charakteristika extremistischer Tätigkeit haben sich im Föderationskreis Krim herausgebildet. Dort wird versucht, eine antirussische Stimmung zu schaffen, indem Informationen über geschichtliche Tatsachen verfälscht und aktuelle Geschehnisse verzerrt dargestellt werden. So wird versucht, die Ergebnisse des Referendums über den Beitritt der Krim zu Russland in Zweifel zu ziehen. Dabei ist dieser Akt rechtlicher Willensbekundung der gesamten Krim-Bevölkerung zu einem unveräußerlichen Teil des russländischen Konstitutionalismus geworden. Im Hinblick auf den Rang, den dieser Akt in der Wertehierarchie von Staat und Gesellschaft in Russland einnimmt, muss ihm zweifellos besonderer rechtlicher Schutz zuteilwerden. Dazu gehören auch strafrechtliche Mittel.

    Hier ist anzumerken, dass es völlig üblich ist, das Leugnen oder die Verfälschung historischer Ereignisse, die von besonderer Bedeutung für den Staat und die Gesellschaft sind, unter Strafe zu stellen. So ist zum Beispiel in vielen Ländern der Welt, darunter auch in Russland, das Verbreiten faschistischer Propaganda strafbar. In Frankreich und auch in einer Reihe anderer Staaten steht mittlerweile das Leugnen des Völkermords an den Armeniern unter Strafe. In Israel steht das Leugnen des Holocaust unter Strafe.

    In Anbetracht dieser Ausführungen scheint es notwendig, den im föderalen Gesetz „Zur Bekämpfung extremistischer Tätigkeiten“ definierten Extremismusbegriff so zu erweitern, dass er auch ein Phänomen wie das Leugnen der Ergebnisse eines landesweiten Referendums umfasst. Auch die gezielte Verfälschung der Geschichte unseres Staates muss entschieden unterbunden werden. In diesem Zusammenhang könnte auch Artikel 280 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (öffentliches Anstiften zu extremistischen Handlungen) erweitert werden. Und zwar um ein Definitionsmerkmal, das ein Anstiften zu extremistischen Handlungen auch dann erkennt, wenn es in Zusammenhang mit verfälschten Informationen zu geschichtlichen Tatsachen und Ereignissen steht.

    Außerdem muss die Sozialgesetzgebung dahingehend überprüft werden, ob nahe Angehörige von Personen, die in irgendeiner Weise an Terrorismus beteiligt sind, im Fall des Todes der sie versorgenden Person Renten oder andere finanzielle Leistungen erhalten sollen. Eine Person, die sich zur Ausführung derartiger Verbrechen entschließt, muss sich darüber im Klaren sein, dass sie im Fall ihres Todes nicht nur in einem namenlosen Grab beerdigt wird, sondern dass sie damit auch ihre nahen Angehörigen um die finanzielle staatliche Unterstützung bringt.

    Eine weitere Möglichkeit des effektiven Kampfes gegen Extremismus, Terrorismus und andere kriminelle Gefahren stellt die strafrechtliche Konfiszierung von Eigentum dar.

    Entsprechende Gesetzesvorschläge sind bekanntlich in Vorbereitung und müssen schnellstmöglich verabschiedet werden. Leider hat sich dieser Prozess unnötig verzögert.

    Genauso wichtig ist es, das Rechtssystem für die internationale Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden und anderen staatlichen Organen auszubauen, denen die Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus obliegt.


    1.Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte das Den Haager Bezirksgericht die vom Schiedsgericht verfügte Strafzahlung von 50 Milliarden Dollar an ehemalige YUKOS-Aktionäre noch nicht aufgehoben. Dieses Urteil ist erst am 20. April gefallen. Eine weitere Runde in diesem Rechtsstreit ist zu erwarten.
    2. gemeint ist der Punkt: Countering Russian aggression through public diplomacy and foreign assistance programs, and building the resilience of governments and economies in Europe, Eurasia, and Central Asia in http://www.state.gov/r/pa/prs/ps/2016/02/252213.htm

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  • Das überschätzte Internet

    Das überschätzte Internet

    Das staatliche Fernsehen ist die wichtigste Nachrichtenquelle in Russland. Wie der Soziologe Denis Wolkow in seinem Beitrag auf Vedomosti schreibt, informiert sich gerade bei außenpolitisch wichtigen Ereignissen wie in der Ukraine oder in Syrien etwa die Hälfte der Bevölkerung ausschließlich über staatliche Kanäle. Das Staatsfernsehen ist über Infrastruktur aus Sowjetzeiten überall gut zu erreichen. Unabhängige Online-Medien dagegen haben eine weitaus geringere Reichweite. Auch deswegen hängen die meisten Russen der offiziellen Darstellung aktueller Ereignisse an. Wäre das anders, wenn sich mehr Menschen über unabhängige Medien informieren würden? Denis Wolkow, der am renommierten Lewada-Zentrum forscht, kommt zu einem überraschenden Schluss.

    Das Wie, die Art und Weise der Berichterstattung, wird in Russland in den letzten Jahren immer wesentlicher von den staatlichen Fernsehsendern gestaltet. Und das trotz der stetig wachsenden Bedeutung des Internets als Informationsquelle. Heute informiert sich ungefähr jeder fünfte Bewohner Russlands über verschiedene Websites und die sozialen Netze. Vor sieben Jahren waren es noch weniger als zehn Prozent. All das geschah auf Kosten von Radio und Presse – deren Reichweite sank erheblich.

    Mit dem Beginn des Ukraine-Konflikts hat sich der Propaganda-Ton in Sendungen heftig verschärft. Dann haben die Fernsehsender fast zwei Jahre lang in einem Ausnahmemodus gearbeitet, ähnlich dem während des Georgienkrieges 2008.

    DAS INTERNET NICHT ZU HOCH BEWERTEN

    Die Bedeutung des Internets als Raum frei zugänglicher Informationen sollte nicht zu hoch bewertet werden. Wenn auch fast 70 Prozent der Bevölkerung heute regelmäßig das Internet nutzen, beziehen je nach befragter Quelle nur 20 bis 25 Prozent der Russen Nachrichten aus dem Internet. Wobei der Hälfte von ihnen als Haupt-Informationsquelle Medien dienen, die Nachrichten aggregieren und nur selektive, bruchstückhafte Informationen bieten, ohne Kontext und Analyse.

    Unterteilt man das Segment der Nachrichten-Websites mit Hintergrundinformationen grob in regierungstreue und unabhängige, so ist die Leserschaft der unabhängigen Medien online sogar in etwa so groß wie die der regierungstreuen. Das ist nicht nur dem interessanten Content zu verdanken, den letztere produzieren, sondern liegt auch daran, dass die Redaktionspolitik erfolgreicher Online-Medien stark gesteuert wird.

    Lenta.ru beispielsweise, eines der beliebtesten Online-Nachrichtenportale Russlands (seine Leserschaft betrug in Moskau ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung, was mit der Publikumsgröße eines mittleren Fernsehsenders vergleichbar ist) verlor im Frühjahr 2014 seine Chefredakteurin [Galina Timtschenko – dek] samt Redaktion – infolge eines Konflikts mit dem Besitzer über die Berichterstattung zu den Ereignissen in der Ukraine. Das neue Onlineportal Meduza, das von einem Teil der einstigen Redaktionsmitglieder gegründet wurde, wird bisher von weniger als einem Prozent der Bevölkerung regelmäßig genutzt.

    QUALITÄTSJOURNALISMUS IST NUR IN INFORMATIONSGHETTOS MÖGLICH

    Mit anderen Worten: Erfreut sich ein russisches unabhängiges Medium zunehmender Beliebtheit, riskiert es den Verlust seiner Unabhängigkeit. Qualitätsjournalismus ist in Russland nur in kleinen, vom Staat sorgfältig überwachten Informationsghettos möglich. Wobei ein großer Teil der russischen Bevölkerung außerhalb der Reichweite der unabhängigen Medien liegt.

    Insgesamt lässt sich das Publikum aller unabhängigen russischen Medien – also die Zahl jener Menschen, die Beiträge von wenigstens einem unabhängigen Medium lesen, hören oder sehen – mit 30 Prozent der Bevölkerung beziffern, in Moskau mit ungefähr 60 Prozent. Denn in der Hauptstadt, der größten russischen Metropole, ist die Medienlandschaft am vielseitigsten.

    Der Zugang zu Informationsalternativen bedeutet allerdings noch nicht, dass man ihre Meinung übernimmt. Und die Ansichten der oben genannten Bevölkerungsgruppe zur Situation im Land und zur Regierungspolitik unterscheiden sich praktisch nicht von den Meinungen der Gesamtbevölkerung.

    AUCH DIE INFORMATIONSELITE BEFÜRWORTET DIE KRIM-ANNEXION

    Merklich andere Meinungen finden sich nur bei den Mediennutzern, die die Entwicklungen der Ereignisse über verschiedene unabhängige Kanäle gleichzeitig verfolgen und dafür drei oder mehr unabhängige Informationsquellen nutzen. Aber das sind nur rund 10 Prozent der Bevölkerung, unter den Moskauern ungefähr 30 Prozent. Diese besonders gut informierten Bürger kann man als Informationselite Russlands bezeichnen, und gerade bei ihr ist die Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik bedeutend größer als in der Gesamtbevölkerung.

    Auch diese elitäre Gruppe unterstützt jedoch in großen Teilen das russische Regime (wenn auch die Werte niedriger liegen als im Bevölkerungsdurchschnitt). Die Mehrheit von Lesern unabhängiger Medien befürwortet die Krim-Annexion, misst der Geschichte um den Tod der Pskower Fallschirmjäger keine große Bedeutung bei und freut sich, wenn von einem Schiff im Kaspischen Meer aus russische Raketen auf syrische Ziele geschossen werden.

    Diese Mediennutzer sollten besser als alle anderen Bescheid wissen, deshalb lassen sich ihre Ansichten nicht etwa damit erklären, dass sie zu wenig informiert seien, der offiziellen Propaganda blind vertrauten oder Geschichten über „gekreuzigte Jungen“ und „missbrauchte Mädchen“ glauben würden. Hier braucht es eine andere Erklärung.

    Untersuchungen zur Einstellung der Bevölkerung hinsichtlich der Vorkommnisse in der Ukraine oder in Syrien zeigen, dass die Zustimmung zur russischen Ukraine-Politik maßgeblich mit einer besonderen Sicht auf das Geschehen zusammenhängt.

    RUSSLAND IST DAS GUTE, SEINE GEGNER SIND DAS BÖSE

    Die russische Propaganda zeichnet ein ziemlich primitives Bild, wonach Russland ausschließlich auf der Seite des Guten, des Friedens und der Ordnung steht, alle seine Gegner dagegen das Böse, Chaos und Gewalt verkörpern. Eine solche Auffassung des Geschehens gibt dem russischen Durchschnittsbürger ein Gefühl des Auserwähltseins. Gleichzeitig erscheint die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen als Beweis der wiedererwachenden Größe des eigenen Landes.

    Wie Teilnehmer aus den Fokusgruppen bei Diskussionen in soziologischen Untersuchungen meinen, „zeigt Russland die Zähne“, „zwingt es andere dazu, die Rechnung nicht ohne Russland zu machen“ und „ihm den nötigen Respekt zu erweisen“ und bringt anderen bei, wie man den internationalen Terrorismus bekämpft. Das erzeugt Befriedigung und vermittelt das Gefühl, bedeutend zu sein. Das Gefühl, am Wirken der Großmacht beteiligt zu sein, ist dem aufgeklärten russischen Publikum also genau so lieb und teuer wie dem russischen Durchschnittsbürger.

    Demgegenüber ist das Russlandbild, das unabhängige Medien zeichnen, weit weniger attraktiv: Hier wird Russland als Aggressor, Erpresser, Bremsklotz dargestellt. Weder Ruhm noch Respekt kann man hier ernten. Da ist es viel angenehmer, gegenüber all diesen unangenehmen Dingen die Augen zu verschließen und einfach die offizielle Version des Geschehens zu übernehmen.

    Nach wie vor ist für die Russen also das staatliche Fernsehen die wichtigste Nachrichtenquelle. Seine Bedeutung hat in den vergangenen Jahren sogar noch zugenommen, obwohl die Zahl der Internetnutzer im Verhältnis gestiegen ist. Unabhängige Qualitätsmedien sind nicht einmal im Internet die wichtigsten Nachrichtenvermittler. Die Frage, wie groß das Vertrauen der Russen ins Fernsehen ist, ist gar nicht entscheidend – das Bild, das es dem Großteil der Bevölkerung vermittelt, bleibt alternativlos.

    Aber sogar die bestinformierten Bürger, die in erster Linie unabhängige Medien nutzen und Zugang zu höchst detaillierten und objektiven Informationen haben, hängen mehrheitlich der offiziellen Darstellung an.

    Sogar bei den aufgeklärtesten Bürgern wird eine kritische Rezeption der Wirklichkeit durch Großmachtsambitionen blockiert. Es ist einfach zu betrügen – sowohl den, der keine Ahnung hat, als auch den, der sich selbst betrügen will.

     


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  • „Serow? Hauptsache, da drinnen ist es warm“

    „Serow? Hauptsache, da drinnen ist es warm“

    Je länger die Schlange, desto besser – jedenfalls, wenn es um eine Kunstausstellung geht. Die Länge der Warteschlange ist ihr Erfolgsthermometer. In Moskau hat es höchste Werte gezeigt: Täglich standen dort Menschenmassen vor der Tretjakow-Galerie an; die Serow-Ausstellung, die von Anfang Oktober bis Ende Januar lief, zog fast eine halbe Million Menschen an. Das ist zwar noch kein Weltrekord (die Ausstellung des MoMA in Berlin 2004 hatte beispielsweise 1,2 Mio. Besucher), aber doch eine Landesbestleistung.

    Anlässlich des 150. Geburtstags des Künstlers wurden mehr als 100 Gemälde und 150 graphische Werke gezeigt, die überwiegende Mehrheit davon aus einer einzigen Gattung: dem Porträt. Gemalte Blicke zweier Zaren, zahlloser Fürsten, Fabrikanten und Künstler kreuzten sich mit den lebendigen der Besucher, der einfachen wie auch der prominenten: Eine Woche vor der offiziellen Schließung der Ausstellung war in Begleitung des Kulturministers auch Wladimir Putin zu Gast. Kaum wurde dies publik, wuchs die Schlange noch einmal gewaltig – das Ministerium für Katastrophenschutz musste eingeschaltet werden, um sie zu bändigen, die Russische Militärhistorische Gesellschaft und der Menschenrechtsrat beim Präsidenten.

    Moskau ist sonst nicht dafür bekannt, dass seine Bevölkerung in derart fanatischer Weise kunstsinnig wäre. Was trieb die Menschen auf einmal zu Serow, dem Hausporträtisten eines längst verschwundenen Adels und des ihn nachahmenden russischen Großbürgertums? Die Suche nach nationaler Identität? Sahen die Besucher in den Serow-Bildern nicht die Porträtierten, sondern das vorrevolutionäre Russland, nostalgisch verklärt? Oder lag der Grund für den Besucheransturm gar nicht in den ausgestellten Bildern, sondern in der Schlange selbst? In der Schlange sind alle Menschen gleich, sie verkörperte in der sowjetischen Welt laut dem Riten- und Alltagsforscher Konstantin Bogdanow die Idee der Gerechtigkeit. Grund genug, um stundenlang in der Kälte vor einer Porträtsammlung auszuharren?

    Wie dem auch sei: Die Serow-Schlange ist ein Phänomen. Sogar in das russische Internet hat sie sich in Form populärer Internet-Meme hineingeschlängelt. Für Takie Dela hatte sich Nina Nasarowa eingereiht und nicht nur gefroren.

    Ein Notarztwagen. Mehrere Rettungsfahrzeuge. Ein orangefarbenes Riesenzelt mit Heizkanonen. Vorbeieilende Leute in Uniformen des Katastrophenministeriums. Auf beiden Seiten des Platzes stehen gleich mehrere Feldküchen: An der einen gibt es starken, süßen Schwarztee aus großen Kübeln, deren Inhalt für bis zu 600 Personen reicht, an der anderen Dosenrindfleisch und Schwarzbrot. In der Mitte stehen die Leute in zwei Reihen Schlange: die lange führt zur Kasse, die zweite, halb so lange, ist für die, die ihre Eintrittskarten rechtzeitig online gekauft haben.

    „Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm Buchweizengrütze verdrückt“ - Foto © Nina Nasarowa
    „Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm Buchweizengrütze verdrückt“ – Foto © Nina Nasarowa

    Seit vergangener Woche erinnern die Nachrichten aus der Zweigstelle der Tretjakow-Galerie am Krymski Wal an Meldungen aus Krisengebieten.

    Besucher der Serow-Ausstellung haben die Tür des Galeriegebäudes aufgebrochen. Der Rat für Menschenrechte setzte sich für eine einmonatige Verlängerung der Ausstellung ein. Eine Verlängerung ist allerdings nicht möglich, aus Gründen, die nicht in der Macht des Museums liegen.

    Auch die Pressestelle der Galerie griff auf Formulierungen zurück, die eine Katastrophensituation beschreiben. Auf Facebook wandte sie sich an Besucherinnen und Besucher mit den Worten: „Ziehen Sie sich warm an, und bewahren Sie Ruhe.“

    „Ich zog in die Ausstellung wie in eine Schlacht. Schon am Vorabend habe ich mich vorbereitet und alles rausgesucht, was ich anziehen will. Darüber habe ich den Pelzmantel probiert, um zu schauen, ob ich da so noch reinpasse“, erzählt Marina Afanasjewna vergnügt. Sie arbeitet als Ingenieurin in einem Moskauer Wissenschaftszentrum. Sogar an die anderen hat sie gedacht und als Reserve ein flauschiges Wolltuch und eine Flasche Cognac mitgebracht.

    Der Cognac kam gerade recht: Am Samstag, den 23. Januar hatten die Leute vor ihr schon rund zwei Stunden auf die Öffnung des Museums gewartet – die ersten hatten sich schon gegen acht Uhr morgens eingefunden.

    „Serow – sehr famous. Sogar in China“

    Neben Marina Afanasjewna steht Wangding Chen, ein 19-jähriger Chinese, der an der Petersburger Kunstakademie studiert und sich auf Porträts und Landschaften spezialisiert. Er ist das erste Mal in Moskau und aus mangelnder Erfahrung ist er ohne Mütze und nur mit einem leichten Mantel hergekommen. Wangding Chen friert offensichtlich furchtbar, aber der Student will nicht aufgeben. „Serow – sehr famous“, erklärt er in gebrochenem Russisch, „sogar in China.“

    Mona-Lisa-Moment bei Serow - Foto © Nina Nasarowa
    Mona-Lisa-Moment bei Serow – Foto © Nina Nasarowa

    Die Serow-Ausstellung ist die meistbesuchte Ausstellung in der Geschichte Russlands und der UdSSR. Bereits 440.000 Menschen haben sie besucht. Die Garderobe in der Tretjakow-Galerie fasst mit 1200 Plätzen weit weniger. Außerdem muss aus Sicherheitsgründen ein Teil des Foyers unbedingt freigehalten werden, damit die Schlangen zur Kasse, Garderobe, dem Café und den Toiletten nicht durcheinander geraten, wie Lara Bobkowa erklärt, die Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Museums.
    Wenn endlich wieder eine Gruppe von Menschen durch die metallene Absperrung hindurch darf, ertönt ab und zu ein lautes „Hurra!“ – so sieht in Filmen die Erstürmung einer Festung aus.

    Es ist nicht das erste Mal, dass am Krymski Wal eine Schlange steht. Wie sich eine andere Museumsmitarbeiterin erinnert, gab es bei der Ausstellung zu Isaak Lewitan sogar eine Schlägerei.

    Jeder beschuldigt vor allem sich selbst

    Nicht nur die Tretjakow-Galerie rühmt sich des Phänomens der langen Schlangen – auch das Staatliche Puschkin-Museum ist dafür bekannt, Besucheranstürme schlecht in den Griff zu bekommen. Die Leute in der Schlange erinnern sich noch, wie sie für Caravaggio anstanden („vier Stunden im Regen, und dann gab es da ganze neun Bilder“), für Picasso, Dalí, Turner, einem fällt sogar wieder ein, wie 2007 Modigliani nach Moskau kam. Man hört jedoch keinerlei Beschwerden über die Museen, jeder beschuldigt vor allem zuerst sich selbst: „wir Russen sind halt schlampig“, „ … machen immer alles auf den letzten Drücker …“

    Schon gegen 11 Uhr ist das orangefarbene Zelt, in dem Heizkanonen heiße Luft spenden, proppenvoll. An einer der Feldküchen ist gerade die mit Dosenrindfleisch vermischte Buchweizengrütze fertig geworden. Verteilt wird sie von Mitgliedern der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft, die sich sonst eher mit der Errichtung von Denkmälern und der Organisation von Ausstellungen, Festivals und Jugendfreizeitlagern beschäftigt. Eines ihrer letzten Projekte im Rahmen der Woche der Importsubstitution in St. Petersburg war eine Diskussion über militärpatriotischen Tourismus.

    Die Feldküche wurde auf persönliche Anweisung des Vorsitzenden der Gesellschaft, Kulturminister Wladimir Medinski, aufgestellt. Als Dank hat man den Freiwilligen an der Essensausgabe versprochen, sie abends nach Schließung des Museums in die Ausstellung zu lassen.
    Die Gesellschaft ist auch mit historischen Rekonstruktionen beschäftigt. Wahrscheinlich ist deshalb für die Buchweizengrütze mit Dosenfleisch ein Mann verantwortlich, der eine NKWD-Uniform aus dem Jahr 1941 trägt. Die Initiative hat ausschließlich einen wohltätigen Zweck, erklärt er gelassen: „Die Leute bekommen alles kostenlos. Wir haben das alles mit unseren Ressourcen organisiert. Die Ausgaben sind nicht hoch, nicht der Rede wert.“

    Bald merkt die Schlange, dass es keine Toiletten gibt

    Die Grütze erfreut sich großer Beliebtheit. „Wenn ich nach Hause komme, mach ich mir das auch. Ich kaufe Dosenfleisch. Da könnten noch gebratene Zwiebeln dazu“, sagt Marina Afanasjewna.

    Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm verdrückt. Wer zu spät kommt, kann sich noch mit Tee aufwärmen, der großzügig ausgeteilt wird, und bald merkt die Schlange, dass es keine Toilettenhäuschen gibt.

    Die Mitarbeiter des Katastrophenministeriums zucken mit den Schultern und raten dazu, den Wachmann am Mitarbeitereingang um Einlass zu bitten. In der Schlange wird geflüstert, dass man alternativ auch kurz ins Café Cervetti gehen kann.

    Wangding Chen lehnt die Buchweizengrütze mit Dosenfleisch rundweg ab und klagt, er sei ja selbst schuld: Er hat seinen Studentenausweis zu Hause vergessen, mit dem man ihn als Kunststudenten kostenlos und ohne Anstehen in der Schlange reingelassen hätte. Seine sechs gewissenhafteren chinesischen Studienkollegen schauen sich nun gerade die Ausstellung an.

    „Wir sehen, dass er schon ganz blau wird“

    „Wir haben ihm ja gleich gesagt: Pack dich warm ein, sonst erfrierst du“, erzählt Marina Afanasjewna besorgt. „Nein, sagt er, nur mein Handy kann erfrieren. Er steht und steht und wir sehen, dass er schon ganz blau wird. Ich habe ihm meine Wollhandschuhe gegeben und dann haben wir ihn dazu gebracht, sich wenigstens einen Schal um den Kopf zu binden. So haben wir ihn gerettet!“ Wangding Chen lächelt erschöpft: „Ich bin den Leuten in dieser Schlange sehr dankbar, dass ich erfahren durfte, wie freundlich die russischen Menschen sind.“

    Für den Rummel um die Serow-Ausstellung gibt es inzwischen viele Erklärungen: das durchdachte kuratorische Konzept, das dem Mythos vom goldenen Zeitalter der russischen Geschichte zuarbeitet, die professionelle PR-Kampagne des Museums, Putins Ausstellungsbesuch und letztlich auch die Möglichkeit, seltene Werke sehen zu können.

    „Serow liebe ich, aber Menschen nicht so“

    Michail Lwowitsch, ein pensionierter Ingenieur, ist mit seinem Sohn aus Tula angereist. Um Serow sehen zu können, ist er um 7.20 Uhr in die Elektritschka nach Moskau gestiegen.

    „Als wir wegen Korowin hergefahren sind, waren nur wenig Leute da“, spinnt er gelassen die Plauderei mit einer älteren Dame neben ihm fort. „Ich habe leider kein Maschinengewehr, hätte ich eins, wären hier auch nur wenig Leute. Serow liebe ich, aber Menschen nicht so.“ „Da gebe ich ihnen recht“, lacht die gebildete, ältere Dame laut auf.

    [video:https://www.youtube.com/watch?v=FRhysB-Ik_U align:left]
     
    Bitte anstellen! Besucher vor der Tretjakow-Galerie

    Die Mehrheit der Leute in der Schlange erinnert sich nicht mehr an die seltenen Arbeiten Serows, sondern weiß einfach: „Ein Volkskünstler, den kannte ich schon als Kind.“

    Ein  „Volkskünstler“ ist er auch in einem anderen Sinn, der in der Schlange mehrmals genannt wird. Auf die Frage: „Was hat Sie dazu gebracht, bei solchen Temperaturen die Ausstellung zu besuchen?“ antwortet eine junge Frau kurz: „Ich liebe die Impressionisten.“

    Der Minister verspricht seine Hilfe

    In der Wahrnehmung der breiten Masse gilt Serow als Repräsentant des russischen Impressionismus, deren Vertreter inzwischen schon lange zu den wohl wichtigsten Volkskünstlern geworden sind.

    Eine andere junge Frau, die endlich an der ersehnten Tür angelangt ist, sagt frohlockend zu ihrem Freund: „Das nächste Mal würde ich nur noch für Monet so lange in der Kälte warten!“

    Um 16 Uhr gibt der Museumsdirektor eine Sondererklärung ab: „Nach kurzfristig einberufenen Versammlungen unseres Museums haben wir nun beschlossen, die Ausstellung zu verlängern.“

    Sechs Bilder aus ausländischen Sammlungen müssten zurückgegeben werden, die anderen dürften noch eine Woche länger am Krymski Wal hängen. Diesen Kompromiss habe man gemeinsam mit dem Kulturministerium gefunden und der Minister persönlich habe Hilfe versprochen.

    Die Schlange als Traum von der Zivilgesellschaft

    Die Schlange zu Serow verkörpert plötzlich den Traum von der Zivilgesellschaft, ein Simulacrum für Reformen: Angefangen vom Volksaufruhr und der aufgebrochenen Tür, über die angespannte Suche nach einer Lösung, bis hin zur Einbeziehung staatlicher Organe – all das diente dazu, etwas zu verändern, was bis dahin scheinbar nicht zu ändern war.

    Das Katastrophenministerium, das den Frierenden tapfer seine volle Unterstützung gewährte (im Zentrum von Moskau), das Kulturministerium, die gemeinnützigen Vereine, die zu Hilfe eilten, sogar die Presseabteilung des Museums, die sich als ein Vorbild an Flexibilität und Geduld erwies – sie alle arbeiteten so vorbildlich, dass man über der ganzen Hektik schnell vergessen kann: Eigentlich hat es gar keine echte Krisensituation gegeben.

    Das Quentchen Freiraum am Krymski Wal wurde zum Eingang in den Kaninchenbau, durch den die ganze Schlange zu Serow verschwand. Sie kam am anderen Ende wieder raus und fand sich in einem anderen Land wieder.

    „Er hat umsonst angestanden, schade“

    „Er hat es nicht mehr ausgehalten und ist gegangen“, seufzt Marina Afanasjewna über Wangding Chen. „Nein, ich kann nicht mehr, hat er gesagt, kann mich nicht mehr auf den Beinen halten vor lauter Kälte. Dabei hatte er es fast geschafft.“

    „Er hat umsonst angestanden, schade“, ruft jemand aus der Schlange.

    „Na, zumindest hat er was, woran er sich erinnern wird.“

    Dann schweigen alle einen Moment und schauen gespannt und erwartungsvoll durch die Glasscheiben in das geräumige Foyer der Galerie. In dem sieht es wie zum Spott gerade völlig leer aus. „Ach, der Serow“, sagt Michail Lwowitsch, „Hauptsache, da drinnen ist es warm.“

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  • Aus der Filmfabrik

    Aus der Filmfabrik

    Wo Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge protestieren, hat oft auch das russische Staatsfernsehen seine Hand im Spiel. So berichten russische Medien derzeit ausgiebig über den Fall einer vermissten 13-Jährigen aus Berlin und behaupten, das Mädchen sei von Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden. Die Polizei sieht dafür allerdings keine Anhaltspunkte.

    Nachdem der russische Außenminister Lawrow deutschen Medien Vertuschung vorgeworfen hatte, schaltete sich schließlich auch Außenminister Steinmeier in die Debatte ein. Er warnte Russland davor, mit den Medienberichten über die angebliche Vergewaltigung Unfrieden zu stiften und die Migrationsdebatte unnötig anzuheizen.

    Etwa 1,2 Millionen Russlanddeutsche leben in Deutschland, einige Hundert von ihnen sind jeweils auf den Demonstrationen vertreten.

    The Insider, ein Portal für investigativen Journalismus, macht sich auf die Suche nach den Protagonisten der TV-Sujets, die derzeit für Aufruhr sorgen.

    Am 14. Januar hat der Kanal Swesda eine Erzählung von der Apokalypse der EU ausgestrahlt, wie sie derzeit typisch ist. Der Titel lautete: „Europa. Das Paradox der Toleranz“. Einen der Schlüsselkommentare liefert darin eine gewisse „Viktoria Schmidt“, die mit zitternder Stimme von durch Flüchtlinge begangenen Willkürakten in Deutschland berichtet. Sie erzählt, dass sie ein Abwehrspray bei sich tragen müsse und dass sie und ihr Mann planten, nach Russland zurückzukehren, weil das Leben in Deutschland immer gefährlicher werde.

     
    Reportage des Fernsehsenders Swesda über Russlanddeutsche, die von angeblichen Belästigungen durch Flüchtlinge erzählen

    In Wirklichkeit heißt diese „Viktoria Schmidt“ Natalja, tatsächlich lebt sie in Hannover, und ihre Tätigkeit besteht darin, russischen Fernsehsendern – darunter auch den großen staatlichen Kanälen – dabei zu helfen, Geschichten dieser Art gegen eine kleine Summe (rund 500 Euro) zu fabrizieren. Ein Korrespondent von The Insider nahm Kontakt zu Natalja auf, indem er sich als Produzent einer dieser Fernsehsender vorstellte und fand heraus, wie dieses einträgliche Geschäft funktioniert.

     
    „Ich spreche Ihnen jeden Text, den Sie wollen“ – „Viktoria Schmidt“ im Gespräch mit dem Insider-Redakteur, der sich als Produzent eines staatlichen Senders ausgibt

    „Horrorgeschichten“ aus der EU

    Natalja ist natürlich keinesfalls die Einzige in Deutschland, die „Horrorgeschichten“ über Europa fabriziert. Es gibt mehr als genug Leute, die sich mit Fakes schnelles Geld verdienen wollen. The Insider konnte mühelos einen anderen, ebenso erfolgreichen „Organisator“ solcher Geschichten für das Staatsfernsehen finden – den Kameramann Oleg T. Es beirrt ihn nicht, als ihn der Insider-Korrespondent, der sich als Produzent eines Fernsehsenders ausgibt, darauf hinweist, die Geschichte über Belästigungen seitens der Flüchtlinge müsse nicht den Tatsachen entsprechen. Und Oleg T. stellt eine bescheidenere Rechnung aus: 200 Euro. Was ja logisch ist, denn Natalja bietet ihre Storys, ihre Protagonisten und letztlich auch sich selbst an, Oleg T. dagegen nimmt die Geschichten nur auf Video auf.

    Ein Kameramann erklärt sich bereit, ein Interview zu filmen, unabhängig von dessen Wahrheitsgehalt

    Was aber soll man von den zwar vereinzelten, aber dennoch das ganze Land überziehenden Kundgebungen gegen Flüchtlinge halten? Solche Massen können doch nicht von russischen Journalisten mobilisiert sein? Doch, können sie. Und das geht ziemlich einfach, wie The Insider recherchierte. Zuerst wird ein Anlass gefunden – dieses Mal war es der Fall eines 13-jährigen russischen Mädchens: Russlands Medien verbreiten massiv Falschmeldungen über eine „Entführung und Vergewaltigung“, würzen das Ganze mit Kommentaren über die angebliche „vollkommene Tatenlosigkeit“ der deutschen Ordnungskräfte und das Verschweigen der Situation in den deutschen Medien, und dann verkünden die Protagonisten in ihren Geschichten, dass man „auf Gewalt mit Gewalt“ antworten solle.

    Die russische Diaspora in Deutschland (es handelt sich um rund sechs Millionen Menschen) schaut russische Fernsehsender und wird zum Zielpublikum deutscher Rechter. The Insider hat bereits über Kundgebungen der NPD berichtet, die mit einer russischen Nachrichtenkampagne „synchronisiert“ werden. Aber in Deutschland gibt es noch eine weitere rechtslastige Randbewegung: PEGIDA, die seit 2014 existiert und sich erweitert, indem sie auch Vertreter der russischsprachigen Diaspora zu ihren Agitatoren macht.

    Neuer Aufschwung für PEGIDA

    Bereits ein Jahr nach ihrem Erscheinen schien PEGIDA kurz vor dem Verschwinden, nachdem Lutz Bachmann, der Gründer der Bewegung, zurückgetreten war. Auslöser war ein Skandal um Fotos, auf denen er als Hitler zu sehen ist, sowie sein Posting auf Facebook, das einen Menschen in Ku-Klux-Klan-Kluft zeigte und mit dem Slogan „Three K’s a day keeps the minorities away“ betitelt war.

    2016 hat die Bewegung nun neuen Aufschwung erfahren – überraschenderweise durch die russische Diaspora. Bei Kundgebungen in vielen Städten in Deutschland, als deren Anlass der Fall um das 13-jährige Mädchen diente, bezog man die russische Diaspora ein und machte russische PEGIDA-Funktionäre zu den Hauptrednern, die bei ihrem Auftritt auf Russisch sprachen. So gab ein Zeuge einer solchen Kundgebung in Hannover, der anonym bleiben will, The Insider folgenden Einblick:

    „Zuerst gab es einen Aufruf bei Facebook und per SMS, zur Kundgebung zu kommen. Ich erhielt sechs Mal solche Mitteilungen.
    In Hannover kamen ungefähr 500 Menschen zusammen. Und irgendwelche Kosaken und Nationalisten redeten irgendeinen unglaublichen Blödsinn. Eine Frau trat auf und stellte sich als ‚Verwandte und enge Bekannte der Familie des Opfers‘ vor. Eine ihrer Bekannten verriet zufällig, dass die Frau in Wirklichkeit eine PEGIDA-Funktionärin sei. Von den sechs Leuten, die auftraten, waren drei von PEGIDA. Außerdem trat noch ein kleiner Mann mit Cowboyhut auf, er war jüdischer Abstammung und kam aus der deutsch-russischen Gemeinde. Zuerst lief sein Auftritt wie geschmiert, aber dann hörte er nicht mehr auf zu reden und begann von einem Freund in Israel zu erzählen, der die Araber hassen würde. Dann verkündete er, dass wir hier alle Deutsche seien, dass wir eine deutsche Ordnung bräuchten, eine deutsche Kultur und ein deutsches Gesetz. Die Leute, die auf diese Kundgebung kamen, waren durch die ganzen Nachrichten verängstigt, und sofort wurden sie hier bearbeitet. Direkt von der Bühne herunter agitierte man, sich PEGIDA anzuschließen.“

    Dieser Aufruf an die „russischsprachige Bevölkerung“ sich auf wichtigen Plätzen und vor Rathäusern zu Protestkundgebungen zu versammeln beginnt mit den Worten „Achtung! Es ist Krieg!“
    Dieser Aufruf an die „russischsprachige Bevölkerung“ sich auf wichtigen Plätzen und vor Rathäusern zu Protestkundgebungen zu versammeln beginnt mit den Worten „Achtung! Es ist Krieg!“

    The Insider liegt ein Video von dieser Kundgebung vor, darin ruft tatsächlich eine russischsprachige Frau zur Unterstützung von PEGIDA auf. Es ist deutlich, dass sie schlecht Deutsch spricht.

     
    PEGIDA-Kundgebung in Hannover

    Die deutschen Behörden suchen den Dialog mit der russischen Diaspora. Auf einer ähnlichen Demonstration in Lahr (rund 40.000 Einwohner) versucht der Bürgermeister mit den Versammelten zu sprechen und kann die Menschenmenge kaum übertönen: „Jetzt fragen Sie, wie man in unser kleines Lahr tausend Flüchtlinge schicken kann. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich früher immer wieder gefragt worden bin: Wie sollen wir denn 9.000 Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion aufnehmen? Ja, es war schwierig, es hat Jahre gebraucht, bis die Leute diese Situation annehmen konnten. Aber wir haben es geschafft und ich finde es richtig, letztlich haben wir alle davon profitiert.“

     
    Rede des Bürgermeisters der Stadt Lahr

    Viele russische Emigranten sind von diesen Ereignissen nicht minder geschockt als andere in Deutschland lebende Menschen. Wo Russen früher stolz darauf sein konnten, Deutschland von den Nazis befreit zu haben, befürchten sie nun, in den Augen der Deutschen mit rechtsextremen Randgruppen assoziiert zu werden. Das wäre ungerecht, denn PEGIDA-Kundgebungen gibt es nur vereinzelt und sie versammeln einige Hundert Menschen – wohingegen an einer Kundgebung zur Unterstützung von Flüchtlingen allein in Berlin mehrere Zehntausend teilnahmen, darunter auch viele Russen.

    Russisches TV als Informationsquelle

    Wie sich die Situation weiterentwickelt, hängt zu einem großen Teil von den russischen Fernsehsendern ab. „Das russische Fernsehen ist zurzeit die wichtigste Quelle der chauvinistischen und fremdenfeindlichen Propaganda für einen ziemlich großen Teil des russischsprachigen Publikums“, erläutert der in Berlin lebende Künstler Dimitri Vrubel gegenüber The Insider.

    Aber was die Fernsehnachrichten bringen, ändert sich sowieso ständig. Ging es noch vor kurzem bei zwei von drei Meldungen der staatlichen russischen Fernsehsender um die „Greueltaten der Faschisten in Noworossija“, gefolgt von der „Zerstörung der IS-Hauptquartiere in Syrien“, so widmen sich die Nachrichten heute ausschließlich den „unter dem Flüchtlingsjoch leidenden EU-Bewohnern“. Viele hoffen, dass dieses Thema sich früher oder später auch wieder erschöpft und die rechtsextreme Bewegung ihre Unterstützung verliert.

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